Читать книгу Afropessimismus - Frank B. Wilderson III - Страница 6
KAPITEL EINS Zu Halloween wusch ich mein Gesicht
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Eine psychotische Episode ist kein Picknick, besonders dann, wenn man weiß, dass man sie nicht als Wahnsinn bezeichnen kann, denn Wahnsinn setzt einen Wetterumschwung voraus, eine vorausgegangene Jahreszeit der geistigen Gesundheit.
Ich stöhnte. Schluchzte. Das knisternde Einweglaken, das die Bahre bedeckte, ratschte, wenn ich mich bewegte. Als sie den Raum betraten, setzte ich mich auf. Niemand würde mich fixieren. Allerdings stand ich nicht von der Bahre auf, aus Angst, ihnen einen Grund dafür zu geben, es doch zu tun. Im Fluoreszierlichterglanz waren sie – der Arzt und die Krankenschwester – weiß wie Staub. Die Bahre klapperte von meinem Zittern und Weinen. Sie kamen nicht näher. Sie riefen nicht um Hilfe, weder für sich selbst noch für mich, einen monströsen Aphasiker, der zu schwarz war für ihre Pflege. So, glaubte ich, müssten sie mich sehen. Und mein Drang, sie vor mir selbst zu bewahren, übertraf meinen Wunsch, geheilt zu werden. Doch ich konnte nicht sprechen. Nicht einmal, um ihnen mitzuteilen, dass ich sie vor mir schützen wollte.
Streubomben brachen in meinem Herzen. Ich umklammerte meine Brust und schrie auf. Machten sie darauf einen Schritt zurück? Ist es das Herz?, fragte der Arzt. Ich wollte lachen. Das Komische an einem Mund ist, dass er sich nicht nur öffnen, sondern auch schließen muss, wenn ein Wort gesagt werden soll. Meiner würde sich nicht schließen; ich wusste, wenn er sich schlösse, bekäme ich ihn nicht wieder auf. Die Scharniere meines Kiefers erzeugten Stöhnen oder Heulen, jedoch keine Worte. Ich dachte: Wie lustig ist das? Ich antwortete ihm mit den Worten eines Vogels, dessen Kehle man aufgeschlitzt hat.
Sie greifen sich ständig an Ihre Brust, sagte er. Spüren Sie einen stechenden Schmerz irgendwo in der Herzgegend? Ich nickte mit dem Kopf. Erzählen Sie mir mehr darüber, sagte er. Doch ich fühlte, wie sich meine Lippen grotesk verzogen; ich wollte nicht wieder anfangen zu schluchzen. Er sagte, ich solle mir Zeit lassen. Die Krankenschwester nickte auf eine ernste Art, als starrte sie einen mopsnasigen Welpen in seinem Käfig an. Ich hatte den Drang, ihren Blick mit einem mopsnasigen Welpenkläffen zu beantworten. Während dieser Drang in mir anwuchs, vertiefte sich ihre Traurigkeit. Mein Bellen und ihre betrübten, geweiteten Augen steuerten auf einen Zusammenstoß zu. Wauwau! Wauwau! Gib mir ein Leckerli! In meinem Kopf spürte ich heftige Erschütterungen, und auch mein Zwerchfell war erschüttert, auf ganz andere Weise. Der sehr verehrte Sir Schenkelklopfer erhob sich von meinem Oberkörper und stieß auf Mister Warum-zur-Hölle-bin-ich-überhaupt-am-Leben, der durch meinen tosenden Schädel gekracht und in meiner Kehle gelandet war. Die Traurigkeit sickerte aus den Augen der Krankenschwester. Sie war wieder ganz ihr verschüchtertes Selbst. Die Welpenliebe hatte sich verwandelt in ihr Bedürfnis nach Selbsterhaltung im Angesicht dieser unförmigen schwarzen Masse mit filzigem, ungekämmtem Haar und Feuerwerkskörpern, die aus den Höhlen herausschossen, in denen sich eigentlich die Augen befinden sollten.
Der Arzt saß auf einem Hocker, ein Fuß auf die untere Sprosse gestützt, der andere Fuß auf dem Boden. Die Krankenschwester blieb jedoch stehen. Er massierte eine üppige Augenbraue mit seinem Zeigefinger und wartete. Lachen ist gut, sagte er. Warum erzählen Sie uns nicht, was Sie so amüsiert? Ich wollte sagen: Wäre es in Ordnung, wenn ich bellen würde? Allerdings bemerkte ich, dass ich verrückter wirkte, wenn ich ihn um Erlaubnis zum Bellen bitten würde, als wenn ich Initiative zeigen und, ohne größere Anstalten zu machen, einfach loskläffen würde. Ich stürzte in die Kluft zwischen Lachen und Tränen.
Niemand hatte mich in das Studierendenkrankenhaus gebracht. Ich war auf eigene Faust hierhergekommen. Während ich wimmernd auf der Trage saß und die Angst vor der Welt in den Augen des Arztes und der Krankenschwester fürchtete, konnte ich nur eine ihrer Fragen (Ist jemand bei Ihnen?) durch Kopfschütteln beantworten. Wie sind Sie hergekommen? Wer hat Sie hergebracht? Als Antwort vernarbten die Tränen mein Gesicht. Sind Sie selbst gefahren?, sagte eine der beiden Personen. Ich schüttelte den Kopf. Sie bemerkten die Autoschlüssel in meiner Hand. Sie hatten immer noch nicht meinen Puls oder meinen Blutdruck gemessen. Der Arzt wies mich an, auszuruhen. Er sagte, sie seien gleich wieder zurück.
Als sie fort waren, stachen mir die fluoreszierenden Lichter in die Augen wie Eisdolche, die in den Wintern meiner Kindheit von den Villen heruntergehangen hatten. Ich hatte nicht genügend Vertrauen in meinen Gleichgewichtssinn, um von der Bahre herunterzurutschen und die Lichter auszuschalten. Ich wollte nicht auf dem Bauch liegen und nur dieses knitternde Wegwerflaken zwischen der Vorderseite meines Körpers und einer kalten Matratze haben, die mich mit dem Geräusch eines trockenen Hustens zurechtwies, wann immer ich mich regte. Also blieb ich auf dem Rücken liegen. Schloss ich meine Augen vor dem grellen Licht, explodierten Rosen an meinen Lidern.
War ich heute Morgen gerade beim Rasieren, als ich austickte? Ich trug einen Bart, also nein, es geschah nicht beim Rasieren. Doch ich wusste, es hatte angefangen, als ich in den Spiegel starrte. Ich wusch mir gerade das Gesicht, als die Strophe eines Gedichts in meine Gedanken aufstieg. Es begann mit einem Gefühl von Hitze im Gesicht und mit einem Engegefühl in der Brust. So wie ich mich häufig als Kind gefühlt hatte, wenn ich es morgens nicht ertragen konnte, der Tatsache ins Gesicht zu sehen, einen Tag voller Spott in einer weißen Grundschule durchstehen zu müssen, jener Grundschule, die in der Nähe des gesprenkelten Wassers eines langen, mit Weidenbäumen gesäumten Sees lag. Mein Fleisch zitterte, als wäre mein Hemd aus Insekten gemacht, und die Haut an meinem Rücken bewegte sich, wie sie es immer tat, wenn meine Mutter morgens die Tür hinter mir geschlossen hatte. Die Erinnerung an diesen ängstlichen kleinen Jungen, der auf meinen Namen hörte, ächzte in meinen Ohren wie die Echos der Ruderlager über einem ruhigen, menschenleeren Meer. Ich ruderte ans Ufer, wo jeder Kummer meiner Kindheit auf mich wartete.
Ich bin ein Doktorand mittleren Alters, waren die Worte, die ich zu dem Bild gesagt hatte, das der Spiegel zersplittert hatte. Ich. Reiße. Mich. Zusammen. Doch der stechende Schmerz in meiner Brust hatte einfach nicht auf mich gehört. Er wollte sich erinnern und dem Gedicht lauschen, das vor wenigen Augenblicken durch meinen Geist hindurchgeflossen war.
Mir war klar, dass ich hier rausmusste, bevor ich, ganz allein in meinem Badezimmer, an einem Herzinfarkt stürbe. Vom Gehen schien ich beinahe ohnmächtig zu werden. Die Wohnung war klein; nur ein Badezimmer, dann ein Schlafzimmer, eine Küche und ein Wohnzimmer. In jedem Zimmer fand ich etwas, woran ich mich mit der Hand festklammern konnte – die Schranktür, den Herd, die Lehne eines Küchenstuhls, die Reihen an Bücherregalen im Wohnzimmer, die bis zur Eingangstür reichten. Die Eingangstür fiel hinter mir ins Schloss.
Mir wurde schwindelig, als ich jene sieben Stufen hinabblickte, als schaute ich in eine tiefe Schlucht. Der Drang, in Ohnmacht zu fallen, und der Drang, zu erbrechen, bekämpften sich in meinem Körper. Schlechtes Karma, dachte ich hinter meinen tränenfeuchten, verschwommenen Augen. Ich glaubte, ich würde ohnmächtig werden. Mein Honda Civic döste am Bordstein wie eine kleine blaue Eidechse.
Meine Schlüssel schrappten gegen das gusseiserne Geländer, als ich die Treppe hinunterstolperte. Süßes, sonst gibt’s Saures, dachte ich mit einem Lachen, wir haben uns das Gesicht gewaschen, und wir stecken in unseren Schuluniformen. Eine wahnsinnig wütende Bestie rang darum, in einem Guss aus Blut und Galle aus meiner Haut zu fahren. Ich wollte heulen. Eine Handfläche stemmte sich gegen die Fensterscheibe. Eine Hand fummelte an den Schlüsseln herum. »Kann mir jemand helfen?«, schluchzte ich vor mich hin, hoffend, dass mich keine weiße Person hören konnte. »Kann mir bitte jemand helfen?«
Während ich nun auf der Bahre lag, erinnerte ich mich an die silbernen Kotzfäden, die sich auf der Motorhaube meines Autos kringelten. Dann, ohne zu wissen, wie oder warum, saß ich in einem Bus, der durch die Innenstadt von Berkeley fuhr. Ich sah dabei zu, wie ich mich selbst durch die Augen der Fahrgäste im Bus sah, während ich zur Seite sackte und leise schluchzte. Sie sollen sich sicher fühlen, hatte ich mir gedacht, auch wenn ich mich selbst noch nie so unsicher gefühlt hatte. Ich dachte noch einmal an diesen Moment zurück, als die Krankenschwester und der Arzt zum ersten Mal diese weiße Gruft betraten, in der ich aufgebahrt war. Sie sollen sich sicher fühlen – die Hauptregel der internationalen Negro-Diplomatie.
Jetzt, allein in der Klinik, blessierten Lichtposaunen meine Augen, und es wurde kalt im Raum. Schloss ich jedoch meine Lider, rauschte eine Kette vergangener Leben durch meinen Schädel wie ein Zug, der über einer Schlucht entgleiste. Jeder einzelne Eisenbahnwagen war ein Waggon aus Zeit. Die Lok war das Jetzt, die Zeit dieses gegenwärtigen Moments auf der Bahre. Anschließend stürzte ein Zeitwaggon herunter, der mein Leben im Apartheid-Südafrika in sich trug, wo Mandelas Versprechen flackerten und erstickten wie die letzten Japser von Straßenlaternen. All das Blutvergießen für eine Flaggen-und-Hymnen-Nation, für den Nebel der Mythologien, und die scharfe Kritik von Mandelas Kumpanen, die die sogenannte Ultralinke tadelte mit Worten wie: »Kameraden, jetzt müsst ihr endlich begreifen, dass ihr euch nicht von euren Prinzi pien ernähren könnt.« Der nächste Waggon, der die Felswand hinunterrauschte, waren die 1980er-Jahre: Ein Ersteklasseabteil voller Sorgen und Magengeschwüren. Ich war ein frischgebackener Universitätsabgänger, der glaubte, mit Schmerz könnte man auf dem Börsenparkett handeln, so wie mit allem anderen im Leben auch. Acht Jahre lang, von der Zeit, als ich meinen Universitätsabschluss machte, bis zu der Zeit, als ich nach Südafrika auswanderte, um gegen die Apartheid zu kämpfen, arbeitete ich als Börsenmakler. Der erste Schwarze Börsenhändler von Minnesota, wie mir damals von dem Sales Manager gesagt wurde, der mich stolzgeschwellt einstellte.
2
Jene acht Jahre haben meine Gesundheit fast vollständig ruiniert. Eine meiner Gesichtshälften zuckte und schauderte nach Belieben. Ein Geschwür zerfraß meine Magenschleimhaut. Mein Internist war nicht der erste Mensch, der diese Prognose gestellt hatte. Jasmine, eine Sekretärin in der Hauptverwaltung von Merrill Lynch an der Wall Street, die ich eines Sommers während eines Weiterbildungsmonats kennengelernt hatte, hatte mir ebenfalls gesagt, dass ich in diesem Berufsfeld nichts verloren hätte. Sie hatte recht, und auch ich wusste es damals, doch Geld ist eine enorme Motivation; jetzt bot sich mir die Gelegenheit, all das Geld für meine gesundheitliche Langzeitpflege auszugeben, wenn ich nicht sofort etwas unternahm.
»Sie sind kein Kapitalist«, sagte mir mein Internist. »Sie besitzen nicht den Mut, den man dazu braucht.«
»Ich will Geld. Ich brauche Geld.«
»Sie trinken acht Tassen Kaffee am Tag. Ihre Wange flackert wie eine Morselampe. Meinen Sie, dass Sie warten sollen, bis Ihr Geschwür die Größe meines kleinen Fingers hat, ist es das, was Sie machen sollten?«
Ich versuchte, kürzer zu treten, was bedeutete, dass ich weniger Umsatz machte, und bald war mir klar, dass ich kündigen sollte, bevor der Sales Manager mich in Verlegenheit brächte und mich hinausgeleiten würde. Ich trat eine Stelle als Kellner in einem exklusiven Beach Club am See an, der erst Ende der 1960er-Jahre Juden als Mitglieder aufnahm und erst Mitte der 1970er-Jahre sein erstes Schwarzes Mitglied hatte. Die Kundschaft reichte von Dan Aykroyd und Jim Belushi, deren Gefolge das Innere des Ballsaals so zurückgelassen hatte, dass es, gelinde gesagt, renoviert werden musste, bis zu den alten blaublütigen Familien, die 1962 versucht hatten, meine Eltern aus ihrer Nachbarschaft fernzuhalten. Eines Tages ging ich in den Ballsaal und balancierte ein großes Tablett mit neun Caesar-Salaten auf meiner Schulter. Das Tablett geriet ins Wanken und fiel mir fast hinunter, als ich die Gesichter an dem Tisch erblickte, an den ich geschickt worden war. Es waren Kollegen – ehemalige Kollegen – der Firma, bei der ich vor zwei Monaten gekündigt hatte. Langsam wurde ich der Lüge habhaft, die ich ihnen erzählt hatte, als ich damals ging. »Leute, ich bin es leid, fürs Establishment zu schuften. Ich probiere es jetzt als privater Dealmaker mit ein bisschen Finanzplanung nebenher.« Nach und nach servierte ich ihnen ihre Salate. Mein Name blubberte aus ihren Mündern: »Frank?« – eine Frage, die in ein Japsen gehüllt war. Ich kündigte auch hier eine Woche später – was keinen Sinn machte, denn sie hatten mich ja gesehen, die Lüge war bloßgelegt worden – und arbeitete dann für weniger Gehalt in einem Kunstmuseum.
Ich arbeitete als Wachmann im Walker Art Center mit seinem Blick über Downtown Minneapolis, und ich leckte meine Wunden von der Zeit im Calhoun Beach Club und meinen acht ethisch bankrotten Jahren als Börsenmakler. In Palästina hatte gerade die Erste Intifada begonnen, und ich hatte einen lieben Freund aus Ramallah, der ebenfalls als Wachmann im Museum angestellt war. Sein Name war Sameer Bishara. Er war Fotograf und studierte an der Kunsthochschule von Minneapolis. Wir teilten die politische Einstellung: Revolutionär; und das Sternzeichen: Widder. Zwei Menschen, die sich häufig irrten, aber keinen Zweifel kannten. »Wenn wir in einem Flugzeug säßen«, sagte Sameer einmal zu mir, »und wir in der Wüste abstürzten und eine Gruppe aus den Überlebenden gebildet würde, dann hätten einige von ihnen die Aufgabe, Wasser zu finden, andere hätten die Aufgabe, Nahrung und Feuerholz aufzutreiben, und wir bräuchten ein Team, um einen Unterschlupf aus all dem zu bauen, was nach dem Absturz geborgen werden könnte. Aber du, Frank, du wärst derjenige, der sich zurücklehnen und uns Befehle erteilen würde.« Ich habe ihm die Genugtuung, die er bei dieser Spitze empfand, nicht dadurch getrübt, dass ich ihm sagte, er habe mir Charakterzüge zugeschrieben, die geradeso gut auf ihn zuträfen.
Die meisten der Wachleute waren entweder Künstlerinnen oder Schriftsteller oder Studierende. Aber nur Sameer teilte meine Politik des Aufstands. Früh wurden wir Freunde und hielten uns von den andern fern. Ich erzählte ihm von meinen Träumen während der College-Zeit, nach Simbabwe zu gehen und für die ZANU/ZAPU zu kämpfen, oder nach New York, um mich Assata Shakur und der Black Liberation Army, der Schwarzen Befreiungsarmee, anzuschließen. Sameer hatte den Traum, nach Ramallah zurückzukehren, um einen, wie er meinte, bedeutenderen Beitrag zur Intifada zu leisten als die Vorträge, die er vor Liberalen mit wässrigen Augen in Minnesota hielt. Er war 25. Ich war 31. In fünf Jahren würde ich so alt sein, wie Frantz Fanon war, als er im Gewahrsam der CIA verstarb. Als Fanon 1961 starb, war er aus seiner Heimat Martinique geflüchtet, hatte sich De Gaulles Armee angeschlossen und war im Kampf gegen die Nazis verwundet worden. Außerdem hatte er sein praktisches Jahr in Psychiatrie und Medizin absolviert, hatte sich während der algerischen Revolution der Nationalen Befreiungsfront angeschlossen und vier Bücher über Revolution und Psychoanalyse verfasst. Ich hatte fünf Jahre Zeit, um ihn einzuholen – eine Messlatte, die mir mein Dämon der Schande gesetzt hatte. Überheblichkeit bei völliger Niedergeschlagenheit – so lebte ich. Etwas ganz Ähnliches traf auch auf Sameer zu. Was für eine Verschwendung, sagte er mir, Skandinavier und Eistaucher zu fotografieren, während er glaubte, er sollte besser in seiner Heimat sein und Bomben bauen. Wir hatten unterschiedliche Schultern, doch sie trugen das gleiche Kreuz. Davon war ich überzeugt, seit er eines Morgens lächelnd zur Arbeit gekommen war, obwohl sein rechtes Auge leicht geschwollen und geschlossen war.
»Letzte Nacht«, erzählte er mir, »lernte ich mit einem Freund aus Palästina zwei unglaublich schöne Frauen kennen. Weiße natürlich«, fügte er flüsternd hinzu, und ich machte mir nicht die Mühe, sein »natürlich« infrage zu stellen, denn ich war mir nicht sicher, dass er falschlag. Dass es selbstverständlich ist, dass »weiß« gleichbedeutend ist mit Schönheit – das ist die Botschaft, die man sein ganzes Leben lang aufgezwungen bekommt. Das Gegenteil zu behaupten, ist so, als sagte man, Es geht nicht ums Geld, nachdem man übers Ohr gehauen wurde.
Sameer sagte, er und sein Freund hätten sie mit nach Hause nehmen können, wenn nicht drei reiche Kuwaiter in den Salon geschlendert gekommen wären. Als einer der Kuwaiter sich an die Frau ranmachte, mit der sich Sameer gerade unterhielt, sagte Sameer ihm freundlich, er solle zu seinem Tisch zurückgehen.
Der Mann höhnte: »Ihr habt ja nicht mal ein eigenes Land.«
Doch er ging zurück. Im Laufe des Abends schickten die Kuwaiter Champagner an Sameers Tisch. Dann kamen alle drei an den Tisch. Sie boten an, die Frauen zu einer exklusiven Afterparty in ein Penthouse im Vorort von Edina mitzunehmen.
»Nur ihr beide«, sagte der Kuwaiter, den Sameer weggeschickt hatte, zu den Frauen, »nicht diese Staatenlosen.«
Weil die Kuwaiter zu dritt und Sameer und sein Freund zu zweit waren, gingen die Kuwaiter auf Sameers Angebot ein, die »Details« der Afterparty auf dem Parkplatz zu klären.
Die Zähne der Stechuhr durchbohrten Sameers Stechkarte. Ich folgte ihm, als er sich einen der blauen Museumsblazer anzog, die wir alle trugen. Wir gingen zusammen in die Hauptgalerie. Als ich vorausging, um meine Position im Zwischengeschoss einzunehmen, lächelte er und flüsterte: »Wir haben diese Kuwaiter verprügelt, bis wir nicht mehr konnten.«
Es war nicht so sehr, dass die ineinander verkeilten Geweihe ob des Besitzerstolzes zweier verbotener Frauen den Wirbel auf dem Parkplatz ausgelöst hatten – auch wenn das sicher ein Teil davon war. Was ihn so sehr zur Weißglut getrieben hatte, war die Verhöhnung von Sameers Staatenlosigkeit durch die Kuwaiter. Ich meinte, auch ich hätte diesen Verlust erlitten, da ich glaubte, mein Leiden sei dem von Sameer sehr ähnlich. Damals war ich kein Afropessimist.
»Ich hätte sie auch verdroschen«, sagte ich.
Ein hoher, grasbewachsener Hügel grenzte an das Gebäude, in dem das Walker Art Center beherbergt war. Die Anhöhe ist heute verschwunden, sauber abgetragen wie nach einer Wurzelbehandlung, um Platz zu schaffen für ein Restaurant. Als es jedoch noch ein Hügel war, aßen Sameer und ich dort zu Mittag. Im Frühling, wenn die Kälte nachließ und der Himmel sich aufhellte, bot die Kuppe des Hügels einen umfassenden Blick auf die weißen Schwäne, die den See des Loring-Parks abschwammen. Entfernte Autos in den Innenstadtstraßen funkelten paillettengleich in der Sonne. Von diesem Hügel aus konnte man die Kupferkuppel der Basilica of Saint Mary erkennen, die durch geschmolzenen Schnee und strömenden Regen zu einem einzigen blaugrünen Glänzen korrodiert war und mich glauben machte, der Verfall sei das einzig wahre Objekt der Liebe. Auch war der Hügel ein Aussichtspunkt, von dem aus man den sich anbahnenden Tod erkennen würde. Direkt darunter befand sich der Bottleneck, eine Kreuzung, an der drei Straßen zu einer einzigen zusammenliefen, ein Ort, an dem sich einige der schrecklichsten Unfälle ereigneten. Als ich in meinen Zwanzigern Spionageromane las, stellte ich mir den Bottleneck manchmal als einen Abschnitt der deutschen Autobahn vor, auf der John le Carrés unglücklicher Spion Alec Leamas zwei Kinder in einem Kleinwagen beobachtete, die ihm fröhlich zuwinkten; und er im nächsten Moment sah, wie der Wagen zwischen zwei großen Lastwagen zerquetscht wurde. Dies war der Hügel, auf dem mir Sameer von seinem Cousin erzählte, der in Ramallah getötet worden war – in die Luft gesprengt beim Bau einer Bombe. Doch er war kein Selbstmordattentäter. Es war ein Unfall. Sameer gab sich selbst die Schuld, so wie es Überlebende häufig tun, ganz gleich, wie nah oder wie fern – räumlich oder zeitlich – ihre Toten auch sind. Er hatte überlebt, weil er hier war und nicht dort.
Mein Freund sprach offen, während wir zusahen, wie die Welt unter uns vorbeirauschte, ohne zu uns aufzuschauen und uns ihren Respekt zu zollen. Irgendwann erzählte Sameer davon, wie er an israelischen Grenzposten angehalten und kontrolliert worden war. Er sprach auf eine Weise, für die meine Anwesenheit scheinbar nicht notwendig war. Nie zuvor hatte ich dieses Maß an Konzentration und Distanz an ihm erlebt. Es war in Ordnung. Er trauerte.
»Die beschämende und demütigende Art und Weise, wie die Soldaten ihre Hände über deinen Körper gleiten lassen«, sagte er. Dann fügte er hinzu: »Aber die Scham und die Demütigung ist noch viel schlimmer, wenn der israelische Soldat ein Jude aus Äthiopien ist.« Der Boden unter meinen Füßen brach weg. Der Gedanke, dass mein Platz im Unbewussten der Palästinenser:innen, die für ihre Freiheit kämpfen, der gleiche unehrenhafte Platz war, den ich in den Köpfen der Weißen in Amerika und Israel einnahm, ließ mich erschaudern. Ich besaß genügend Geistesgegenwärtigkeit, um ihm zu sagen, dass seine Ansichten merkwürdig waren, wenn man bedachte, dass Palästinenser:innen sich in einem Krieg mit Israelis befanden, und dazu noch mit weißen Israelis. Wie kam es, dass die Leute, die sich sein Land aneigneten und seine Verwandten abschlachteten, in seiner Vorstellung irgendwie eine geringere Bedrohung darstellten als Schwarze Juden, die so oft Werkzeuge des israelischen Wahnsinns waren und gelegentlich ihre Drecksarbeit verrichteten? Was, fragte ich mich im Stillen, was an Schwarzen (an mir) war es, das uns so ersetzbar machte, dass man uns in den Köpfen der Unterdrücker und Unterdrückten derartig herumwürfeln konnte?
Ich war konfrontiert mit der Erkenntnis, dass palästinensische Aufständische im kollektiven Unbewussten mehr mit dem israelischen Staat und der israelischen Zivilgesellschaft gemeinsam haben als mit Schwarzen. Was sie teilen, ist ein größtenteils unbewusster Konsens, dass Blackness, Schwarzsein, ein Raum von Abjektion, von Elendigkeit, ist,3 der sich beliebig instrumentalisieren lässt. Einmal ist Blackness ein entstelltes und entstellendes phobisches Phänomen; dann wieder ist Blackness ein empfindungsfähiges Werkzeug,4 das freimütig eingesetzt wird zu Zwecken und mit Zielen, die wenig mit Black Liberation, Schwarzer Befreiung, gemein haben. Da saß ich also und sehnte mich, solidarisch mit der Sehnsucht meines palästinensischen Freundes, nach der vollständigen Wiederherstellung palästinensischer Souveränität; ich trauerte, solidarisch mit der Trauer meines Freundes, über den Verlust seines aufständischen Cousins; ich sehnte mich also nach der historischen und politischen Erlösung dessen, was ich für eine verletzte Gemeinschaft von Menschen hielt, der wir beide angehörten – bis mein Freund plötzlich ins Unbewusste seines Volkes hinuntergriff und mir einen nassen Turnschuh von unten übers Kinn zog: die erschreckende Erkenntnis, dass ich nicht nur von Anfang an vom Ausgang der geschichtlichen und politischen Erlösung ausgeschlossen bin, sondern dass die Grenzen der Erlösung gleichermaßen von Weißen und Nicht-Weißen kontrolliert werden, obwohl sie sich gegenseitig die Köpfe einschlagen.
Es ist sogar noch schlimmer als das. Ich, als Schwarze Person (falls Person, Subjekt, Wesen geeignete Begriffe sind, denn Mensch ist es nicht), bin vom Ausgang der gesellschaftlichen und geschichtlichen Erlösung ausgeschlossen und werde gleichzeitig dafür gebraucht, dass Erlösung irgendeine Form von Kohärenz erlangen kann. Ohne den Ausdruck einer geteilten Negrophobogenese, die zwischen Israel und Palästina vermittelt, würde die narrative Kohärenz ihres blutigen Konflikts einfach verpuffen. Die Negrophobogenese meines Freundes und seiner palästinensischen Landsleute bildet das Fundament, die Betonplatten, auf denen jedes Gebäude von menschlichem Ausdruck (ob Liebe oder Krieg) errichtet wird. Die erniedrigte Menschheit (Palästinenser:innen) kann von der erhabenen Menschheit (aschkenasische Jüd:innen) gefilzt werden, und die Mauern der Vernunft bleiben stehen (ungeachtet der universellen Würdelosigkeit von unmotivierten Durchsuchungsaktionen). Doch wenn der Soldat stattdessen ein äthiopischer Jude ist …
Meine Brust war von Schmerz durchstoßen. Sameer und ich waren Gegner, nicht weil wir als Freunde ungleich waren, und auch nicht weil unsere politischen Einstellungen unvereinbar waren; sondern weil die Imago des Schwarzen »für alle irgend entstehenden Konflikte verantwortlich ist«.5 Denn die libidinöse Ökonomie, die die Schwarze Imago als phobogenes* Objekt positioniert, durchtränkt das kollektive Bewusstsein;** ich werde durch sie angeeignet als ein Werkzeug für die Sorgen aller Nationen – sogar zweier Nationen, die sich bekriegen –, jedoch niemals als ein Nutznießer dieser Sorgen.
1988 war ich kein Afropessimist. Mit anderen Worten, ich betrachtete mich selbst als erniedrigten Menschen und betrachtete meine Notlage analog zur Notlage der Palästinenser:innen, der indigenen Einwohner:innen der USA sowie der Arbeiter:innenklasse. Heute weiß ich, diese Analogie war falsch. Ich war die Kontrastfigur zur Menschheit. Die Menschheit blickte auf mich, wenn sie sich über sich selbst im Unklaren war. Mit einem existenziellen Seufzer konnte die Menschheit durch mich sagen: »Wenigstens sind wir nicht er.« Um Saidiya Hartman zu zitieren: »Der Sklave ist weder ein zivilisierter Mensch noch ein freier Arbeiter, sondern vielmehr ausgeschlossen von der Erzählung ›we the people‹, durch die sich die Verbindung zwischen modernem Individuum und Staat vollzieht […]. Die täglichen Praktiken der Versklavten geschehen abgespalten vom Politischen, in Ermangelung der Menschenrechte oder der Sicherheiten des selbstbestimmten Individuums und vielleicht sogar ohne eine ›Person‹ im herkömmlichen Sinne des Begriffes.«6
Schwarze Menschen verkörpern eine Meta-Aporie des politischen Denkens und Handelns (was etwas anderes ist, als zu sagen, sie sind immer gewillt oder es ist ihnen immer gestattet, diese Meta-Aporie auch auszudrücken).
Die meisten kritischen Denker:innen, die nach 1968 geschrieben haben, verwenden das Wort Aporie, um einen Widerspruch innerhalb eines Textes oder eines theoretischen Unterfangens zu bezeichnen. So deutet Jacques Derrida beispielsweise an, eine Aporie kennzeichne »einen Punkt der Unentscheidbarkeit, der jene Stelle markiert, an der ein Text am deutlichsten seine eigene rhetorische Struktur unterläuft oder sich selbst dekonstruiert«.7 Wenn ich jedoch sage, Schwarze Personen verkörpern eine Meta-Aporie des politischen Denkens und Handelns, so geht die Vorsilbe Meta- über das hinaus, was Derrida und der Poststrukturalismus damit meinen – es erhöht den Grad von Abstraktion und damit auch den Einsatz.
In der Epistemologie, einem Teilbereich der Philosophie, der sich mit der Theorie von Wissen beschäftigt, wird die Vorsilbe Meta- verwendet für über (seine eigene Kategorie reflektierend). Metadaten sind beispielsweise Daten über Daten (wer sie produziert hat und wann, welches Format die Daten haben und so weiter). In der Linguistik sieht man eine Grammatik als etwas an, das in einer Metasprache ausgedrückt wird, als eine Sprache, die auf einer höheren Stufe der Abstraktion operiert, um die Eigenschaften von einfacher Sprache (anstatt sich selbst) zu beschreiben. Eine Metadiskussion ist eine Diskussion über Diskussionen (nicht über ein spezielles Thema einer Diskussion, sondern über Diskussion an sich). Und in der Informatik mag eine theoretische Softwareprogrammiererin sich mit Metaprogrammierung beschäftigen (das heißt mit dem Schreiben von Programmen, die Programme manipulieren).
Afropessimismus ist also weniger eine Theorie als vielmehr eine Metatheorie: ein kritisches Projekt, das Blackness als Interpretationslinse verwendet, um die unausgesprochene logische Vorannahme des Marxismus, des Postkolonialismus, der Psychoanalyse und des Feminismus zu hinterfragen, und zwar durch eine streng theoretische Betrachtung ihrer Eigenschaften und Vorannahmen, zum Beispiel ihrer Grundlagen, ihrer Methoden, ihrer Form und ihrer Nützlichkeit; und diese Theorie tut dies wiederum auf einer höheren Abstraktionsebene als die Diskurse und Theorien, die sie hinterfragt. Noch einmal: Afropessimismus ist in erster Linie eher eine Metatheorie als eine Theorie. Sie ist pessimistisch, was die Aussagen von Theorien des Liberalismus betrifft, sofern diese Theorien versuchen, Schwarzes Leiden zu erklären, oder sofern sie Schwarzes Leiden mit dem Leiden anderer unterdrückter Lebewesen in Analogie bringen. Der Afropessimismus tut dies, indem er die Meta-Aporien ausgräbt und aufdeckt, die wie Landminen verstreut sind in alledem, was diese Theorien sogenannter universeller Befreiung als Wahrheit erachten.
Wenn, wie der Afropessimismus argumentiert, Schwarze keine menschlichen Subjekte sind, sondern strukturell unbewegliche Requisiten, Werkzeuge für die Ausführung weißer und nicht-Schwarzer Fantasien und sadomasochistischer Vergnügungen, dann bedeutet dies auch, dass auf einer höheren Abstraktionsebene die Ansprüche der allgemeinen Menschlichkeit, denen die oben genannten Theorien anhängen, von einer Meta-Aporie behindert werden: ein Widerspruch, der sich immer dann manifestiert, wenn man sich ernsthaft mit der Struktur von Schwarzem Leiden im Vergleich mit der vermuteten universellen Struktur aller fühlenden Wesen beschäftigt. Auch hier verkörpern Schwarze eine Meta-Aporie des politischen Denkens und Handelns – Schwarze sind der Stock in den Speichen.
Schwarze nehmen nicht dieselbe Rolle ein wie politische Subjekte; stattdessen werden unsere Körper und unsere Energien für postkoloniale, migrantische, feministische, LGBTQ-, Transgender- und Arbeiter-Agenden instrumentalisiert. Diese sogenannten Verbündeten werden niemals durch Schwarze Agenden autorisiert, die auf den ethischen Dilemmata der Schwarzen selbst basieren. Eine Schwarze radikale Agenda ist für die meisten Linken zutiefst verstörend – man erinnere sich an Bernie Sanders –, denn sie entstammt dem Umstand eines Leidens, für das keine denkbare Strategie der Wiedergutmachung existiert – kein Narrativ sozialer, politischer oder nationaler Erlösung. Diese Krise, nein, diese Katastrophe, diese Erkenntnis, dass ich ein fühlendes Wesen bin, das Worte wie »Sein« oder »Person« nicht zur Selbstbeschreibung verwenden kann, ohne Anführungszeichen oder die hochgezogenen Augenbrauen von jemandem in Hörweite zu riskieren, war paralysierend.
Ich war überzeugt, wenn eine Geschichte der palästinensischen Erlösung erzählbar wäre …, dann würde ihre Auflösung in der Rückgabe des Landes, einer räumlichen, kartografischen Erlösung gipfeln; und wenn eine Geschichte von der Erlösung der Klassen erzählt werden könnte …, dann würde ihre Auflösung in der Wiederherstellung des Arbeitstages kulminieren, sodass die Arbeit endete, wenn der Mehrwert auf den Müllhaufen der Geschichte verbannt würde, eine Erlösung des Zeitlichen; mit anderen Worten: Wenn eine Erzählung von postkolonialer Erlösung und die Erlösung der Arbeiter:innenklassen möglich war, dann müsste es auch ein Narrativ geben, das die Erlösung der Schwarzen erzählte und die Zeit wie den Ort ihrer Unterwerfung zurückerstattete. Ich habe mich geirrt.
Ich hatte nicht tief genug gegraben, um zu erkennen, dass die Schwarzen zwar die zeitliche und räumliche Unterwerfung durch die kartografische Entwurzelung und die Hydraulik des kapitalistischen Arbeitstages erleiden, dass wir aber auch als die Wirte menschlicher Parasiten leiden, obwohl diese Menschen selbst die Wirte des parasitären Kapitals und des Kolonialismus sein konnten. Ich hatte mich der Theorie zugewandt (zunächst im kreativen Schreiben und erst viel später als kritischer Theoretiker), auf dass sie mir dabei hilft, die Geschichte von der Befreiung der Schwarzen – der politischen Erlösung der Schwarzen – zu finden und zu erfinden. Was ich stattdessen fand, war, dass Erlösung als Erzähltechnik parasitär war und sich zu Zwecken ihrer Kohärenz von mir ernährte. Alles, was in meinem Leben Bedeutung besaß, war unter den Begriffen der »kritischen Theorie« und der »radikalen Politik« rubriziert, und die Parasiten waren das Kapital, der Kolonialismus, das Patriarchat und die Homophobie gewesen. Und nun war mir klar, dass ich den Anschluss verpasst hatte. Meine Parasiten waren Menschen, alle Menschen – die Habenden wie die Habenichtse. Wenn kritische Theorie und radikale Politik sich von dem Parasitismus befreien wollen, den sie bisher mit den radikalen und progressiven Bewegungen der Linken gemeinsam hatten, das heißt, wenn wir nicht leugnen wollen, sondern uns befassen wollen mit dem Unterschied zwischen Menschen, die unter einer »Ökonomie der Verfügbarkeit«8 leiden, und Schwarzen, die einen »sozialen Tod«9 erleiden, dann müssen wir uns damit auseinandersetzen, wie die Erlösung der Subalternen (eine Erzählung zum Beispiel von palästinensischer Fülle, Verlust und Wiederherstellung) gerade durch die (Wieder-)Einsetzung eines Gewaltregimes ermöglicht wird, das Schwarze von der Erlösungserzählung ausschließt. Dies erfordert erstens ein Verständnis des Unterschieds zwischen Verlust und Mangel und zweitens ein Verständnis dafür, wie die Erzählung von subalternem Verlust auf den Trümmern Schwarzen Mangels errichtet ist.
Sameer und ich teilten keine universelle postkoloniale Grammatik des Leidens. Sameers Verlust ist greifbar: Land. Das Paradigma seiner Enteignung entfaltet den Kapitalismus und die Kolonie. Wenn es nicht greifbar ist, so ist es zumindest kohärent, wie beim Verlust von Arbeitskraft. Doch wie soll man den Verlust beschreiben, der die Welt ausmacht, wenn alles, was man über diesen Verlust sagen kann, in der Welt verkapselt ist? Wie erzählt man den Verlust des Verlustes? Was ist der »Unterschied zwischen […] etwas zu retten […] [und nichts] zu verlieren zu haben«? 10 Sameer zwang mich, der Tiefe meiner Isolation auf eine Art und Weise gegenüberzutreten, die ich hatte vermeiden wollen; eine tiefe Grube, aus der mich weder die postkoloniale Theorie noch der Marxismus oder die Geschlechterpolitik eines unnachgiebigen Feminismus zu retten vermochten.
Warum ist Gewalt gegen Schwarze keine Form von rassistischem Hass, sondern das Genom der menschlichen Erneuerung; ein therapeutischer Balsam, den das Menschengeschlecht zu seiner Selbstvergewisserung und zu seiner Heilung bedarf? Warum muss die Welt diese Gewalt reproduzieren, diesen sozialen Tod, sodass das soziale Leben die Menschen regeneriert und davor bewahrt, die Katastrophen einer psychischen Inkohärenz zu erleiden, sprich eines Mangels? Warum muss die Welt sich von Schwarzem Fleisch ernähren?
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Als der Arzt und die Krankenschwester zurückkamen, war ich endlich in der Lage zu sprechen. Sie fragten, wie es zu meinem Zusammenbruch gekommen sei. Ich sagte ihnen, es sei der Stress der Graduiertenschule. Der beste Weg, mit einem Verhör klarzukommen, ist, ein wenig Wahrheit in die Lüge einzuweben. Ich konnte ihnen nicht sagen, dass mir plötzlich klar geworden war, was es heißt, ein Afropessimist zu sein; dass mein Zusammenbruch durch einen Durchbruch ausgelöst worden war, bei dem ich endlich verstanden hatte, warum ich zu schwarz war, um gepflegt und umsorgt zu werden. Wie eine Fledermaus, die durch eine Höhle flitzt, suchte mein Geist nach Antworten durch Echoortung. Doch keine Fackel warf ihr Licht auf die Medikamente, die ich einnahm; stattdessen fand ich die vergessenen Zeilen meines Gedichts.
zu Halloween wusch ich mein
Gesicht und zog meine
Schulkleidung an ging von Tür zu
Tür als Alptraum.
for Halloween I washed my
face and wore my
school clothes went door to
door as a nightmare.
*Etwas, das durch Angst hervorgerufen oder verursacht wird.
**Jared Sexton beschreibt libidinöse Ökonomie als »die Ökonomie, oder Distribution und Arrangement, von Begierde und Identifikation (ihre Kondensation und Verschiebung) sowie die komplexe Beziehung zwischen Sexualität und Unbewusstem.« Zweifellos agiert die libidinöse Ökonomie in verschiedenen Ausmaßen und ist so »objektiv« wie die politische Ökonomie. Es ist wichtig zu sehen, dass sie nicht nur in Verbindung steht mit Formen von Anziehung, Zuneigung, Allianz, sondern auch mit Formen von Aggression, Zerstörung und der Gewalt von tödlichem Konsum. Marriott unterstreicht, die libidinöse Ökonomie sei »die gesamte Struktur des psychischen und emotionalen Lebens«, etwas, das die von Gramsci und anderen Marxist:innen beschriebene »Gefühlsstruktur« einbezieht und über sie hinausgeht; sie ist eine »Ausschüttung von Energien, Sorgen, Aufmerksamkeiten, Lüsten, Geschmäckern, Abneigungen und Phobien, die sowohl zu enormer Beweglichkeit als auch hartnäckiger Fixation in der Lage sind.«