Читать книгу Mörder im Hansaviertel - Frank Goyke - Страница 4

Erstes Kapitel Mittwoch, 23. Juni

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Liselotte Hagemeister lauschte. Sie ließ das Buch, in dem sie seit einigen Tagen las, mit dem Rücken nach unten in den Schoß sinken und spitzte die Ohren. Ihr war gewesen, als hätte jemand auf dem Nachbargrundstück einen Automotor gestartet, aber sie hatte sich wieder getäuscht. Durch das gekippte Fenster drangen nur all jene Laute, die sie jeden Tag vernehmen konnte: Hin und wieder rollte ein Auto durch die im Allgemeinen sehr ruhige und wenig befahrene Schliemannstraße, doch durch das Kopfsteinpflaster waren die Rollgeräusche besonders eindringlich. Zu bestimmten Zeiten hörte sie die Stimmen von Kindern, die zur Schule gingen oder zu einer Straßenbahnhaltestelle. Oder zum Training. Oder zur Musikschule. Wohin auch immer – am Montag hatten die großen Ferien begonnen, wie man sie früher genannt hatte. Zur Schule fuhr niemand.

Nur noch selten spielten Kinder auf der Straße. Frau Hagemeister führte dies auf die unsozialen Sozialen Medien zurück, mit denen sie selbst sparsam umging. Als immer wieder unterbrochenes Summen drangen die Geräusche von der nahen Parkstraße herein, wo der Verkehr stärker war. Die Straßenbahnen und die S-Bahn hingegen vernahm sie nur in schlaflosen Nachtstunden, wenn die meisten anderen Töne der Großstadt erstorben waren. Das waren alles Alltagsgeräusche, an die sich ihr Ohr so gewöhnt hatte, dass sie diese nicht mehr oder nur nebenbei wahrnahm. Aber es gab auch ein Geräusch, auf das sie seit Montagmorgen immer angestrengter wartete: das Starten eines Motors fast unmittelbar vor ihrem Fenster.

Frau Hagemeister schaute zur Nostalgiependeluhr – angeblich mit Original Westminster-Klang, wie der kleine Aufdruck auf einer Metallplakette an ihrer Tür behauptete. Ihr Mann hatte sie angeschafft. Sie hatte diesen hölzernen Kasten und die messingfarbenen Pendel nie gemocht, aber als Funkuhr ging sie immer richtig. Fünf vor drei. Eigentlich trafen sich an jedem dritten Mittwochnachmittag im Monat um drei mehrere Kolleginnen, und zwar reihum bei jeder der ehemaligen Lehrerinnen, mit denen Frau Hagemeister einst zusammengearbeitet und sich auch privat angefreundet hatte. Als sie das Kränzchen vor beinahe 20 Jahren etabliert hatte – ihr Mann hatte da noch gelebt –, da waren sie in den besten Zeiten manchmal fünfzehn Personen gewesen. Es hatte nicht ausgereicht, den Esstisch auszuziehen, sondern sie hatte sich noch einen zusätzlichen Klapptisch kaufen müssen. Inzwischen waren sie nur noch zu dritt. Der Tod hatte reiche Ernte gehalten, anders konnte man es nicht sagen, aber was sollte man erwarten? Liselotte Hagemeister war seit dem 2. Mai 87 Jahre alt. Die Luft auf dem Gipfel wurde immer dünner, und eigentlich war es ein Wunder, dass sie immerhin noch drei waren. Ihre Freundinnen hatten nun aber absagen müssen, beide krankheitshalber. Felizitas konnte kaum noch gehen und rechnete damit, dass sie bald im Rollstuhl sitzen würde. Ingrid hatte sich erkältet: Sie lebte im Seniorenheim und beklagte sich schon seit Langem über die ewige Zugluft. Des Uringeruchs wegen, den die vielen inkontinenten Alten verströmten, riss das Personal immer viel zu viele Fenster auf.

Frau Hagemeister schüttelte sich. Auch ihre Beine waren schwach, aber ansonsten ging es ihr gut. Vor allem der Geist funktionierte noch und, was ihr als exzessiver Leserin enorm wichtig war, die Augen taten ihren Dienst.

Erstaunlicherweise war keine ihrer Freundinnen dem asiatischen Virus erlegen, das vor anderthalb Jahren seinen Siegeszug um die Welt angetreten hatte und das zu den Coronaviridae gehörte, von denen auch simple Erkältungen und grippale Infekte ausgelöst wurden; als ehemalige Lateinlehrerin bereitete es Frau Hagemeister ein gewisses Vergnügen, den lateinischen Terminus technicus zu denken. Aus China war das Virus gekommen, und schon nach den ersten Fernsehberichten über die neue Seuche hatte sie sich des Pastors erinnert, der in der Nachbarschaft gewohnt hatte. Liselotte Hagemeister war der Gegend zwischen Parkstraße, Hundertmännerstraße und Voßstraße immer treu geblieben – bis auf die ersten fünf Jahre ihrer Ehe, die sie in der Südstadt verbracht hatte, was beinahe einem Auslandsaufenthalt gleichkam. Sie musste schmunzeln. ›Auslandsaufenthalt‹, dachte sie amüsiert. Großgeworden war sie jedenfalls in der Eggersstraße um die Ecke. Ihre Eltern waren alles andere als strenge Christen gewesen – sie nannten sich selbst Feiertagsgläubige –, doch immerhin war Tochter Liselotte getauft und konfirmiert worden, beides in der Heilig-Geist-Kirche. Als dann um das Jahr 1950 die Johanniskirche im Barnstorfer Wald ihre Pforten geöffnet hatte, waren sie dort zum Gottesdienst gegangen, meistens jedoch nur zu Ostern und zu Weihnachten, wofür sie der Pfarrer ab und zu gescholten hatte. Es war der im Viertel legendäre Patter Rüh: Eigentlich hieß er Friedrich Carl Rüß, aber er laborierte an einem Artikulationsfehler und konnte den S-Laut nicht aussprechen, sodass er, abgeleitet vom plattdeutschen Wort Paster, von allen hinter seinem Rücken Patter Rüh genannt wurde. Alteingesessene wussten noch, wie er mit seinem Stock in der einen und mit seiner Geliebten an der anderen Hand durch das Viertel spaziert war, und auch seine ewigen Warnungen vor der »Gelben Gefahr« hatten jene noch im Ohr, die sich seiner erinnerten. Erst 1972 war er in Pension gegangen, exakt in jenem Jahr, als Frau Hagemeister zur Studienrätin befördert worden war, deshalb wusste sie es noch so genau. Die Gelbe Gefahr – an Viren hatte Patter Rüh kaum gedacht, eher an Panzer und Bombenflugzeuge und wohl auch an die Atombombe.

Das gehörte zum Fluch des Alters: Man lebte zu viel in der Vergangenheit. Liselotte Hagemeister schaute auf das Buch in ihrem Schoß. »Roda Rodas Cicerone« lautete der Titel. Zufällig hatte sie es beim Abstauben des Regals im Schlafzimmer entdeckt, wo es seit Jahrzehnten ein unbemerktes Dasein gefristet hatte, denn es war bereits 1965 im Aufbau Verlag erschienen. Der österreichische Satiriker brachte sie immer wieder zum Lachen, und Lachen war schließlich gesund. Manchmal schmunzelte sie auch nur, und einiges war so banal, dass sie nicht einmal mit dem Mundwinkel zuckte. Was hatte sie gerade gelesen?

›Auch wenn Sie keine Stimme haben, brauchen Sie an Ihrer Zukunft als Sängerin nicht zu verzweifeln. Fester Wille siegt über Mängel des Körpers: Demosthenes stotterte, Beethoven war taub, Raffael wurde ohne Arme geboren – und gar mancher Politiker hat es trotz angebornem Schwachsinn zum Parteiführer gebracht.‹

Frau Hagemeister schüttelte den Kopf: Politikerschelte war immer wohlfeil und kam gut an. Doch sie mochte kein Stammtischgerede und war auch das ewige Gemecker über die Politik leid. Mit Schülern hätte sie das »trotz angebornem Schwachsinn« diskutieren können: Regierte »trotz« den Dativ oder den Genitiv? Egal – die Präpositionalphrasen gingen sie nichts mehr an. Mochte regieren, wer wollte!

Die alte Frau schlug das Buch zu. Sie war zu beunruhigt und konnte nicht mehr lesen. Einmal noch nachschauen – blieb es bei demselben Ergebnis, dann würde sie die Polizei verständigen.

Barbara Riedbiester hockte vor einem Aktengebirge, das einem Besucher von der Tür her den Eindruck vermittelt hätte, sie verschanze sich dahinter. ›Alles eine Frage der Perspektive‹, dachte sie. Sie verschanzte sich keineswegs, sondern siebte aus der Unmenge von Material all das aus, was sie für die morgige Tatortbegehung brauchen würde – alle Akten konnte sie schon deshalb nicht mitnehmen, weil sie nur einen Vormittag Zeit hatte. Wichtig war zunächst einmal alles, was den Tatort betraf, den sich Barbara Riedbiester und ihr Kollege Jonas Uplegger noch einmal anschauen wollten, ohne dass die geringste Chance bestand, etwas zu finden, das mit dem Mord in Zusammenhang stand, denn seither waren fast 14 Jahre vergangen.

Immer wieder einmal hatte der Chef der Rostocker Mordkommission den in der Presse als Biendorfer Waldmord bezeichneten Fall auf die Tagesordnung gesetzt, aber der Waldwegemörder, wie er ebenfalls von den Medien getauft worden war, war immer noch nicht ermittelt. Inzwischen hatte es sich im Rahmen der Anglisierung der deutschen Sprache durchgesetzt, solche ungeklärten Fälle als Cold Cases zu bezeichnen, sogar in Polizeikreisen selbst. Vor allem Filme hatten dazu beigetragen. Die Allgemeinheit glaubte auch, bei der Polizei würden die Profiler ermitteln, während die entsprechenden Abteilungen »Operative Fallanalyse« hießen und keine Ermittlungshandlungen durchführten – Operative Fallanalyse war natürlich eine sperrige und wenig eingängige Bezeichnung. Sie seufzte. In einer Welt, in der es keinen Unterschied zwischen Lüge und Wahrheit mehr gab, glaubten die Leute dennoch daran, dass Fernsehfilme die Realität abbildeten. Mehr noch, sie schufen eine Realität, die für viel realer gehalten wurde als die Wirklichkeit, die die Menschen umgab – und die ja vielleicht nur der Traum eines schlafenden Gottes war, eines seinen ewigen Rausch ausschlafenden Gottes, um genau zu sein. Barbara seufzte erneut. Sie hatte das Gefühl, alles um sie herum würde sich zunehmend in Absurdität auflösen. Früher hatten manche Leute die DDR als Absurdistan bezeichnet, durchaus zu Recht. Aber die jetzige Welt war ein Absurdistan hoch drei.

Doch wie hieß es so schön? »So what?« Barbara Riedbiester hatte unlängst eine Solderhöhung erhalten und bekam nun 4500 Euro im Monat, darüber konnte sie sich weiß Gott nicht beklagen. Im Gegenteil, das war ein hübsches Sümmchen für eine alleinstehende Person, von der sie einiges zur Seite legen konnte, und inzwischen wusste sie auch, wofür sie sparte: für sich.

Durch die angelehnte Tür trat Jonas Uplegger zu ihr in das Dienstzimmer, das sie sich teilten. Daran hatte der Umzug von der zugigen Polizeiruine in der Blücherstraße in die Ulmenstraße nichts geändert. In dem Altbau von 1920 hatte wohl schon immer die Polizei residiert, und Barbara Riedbiester erinnerte sich noch an die Zeiten, als hier das Volkspolizei-Kreisamt Rostock seinen Sitz hatte. Inzwischen hatte man das Gebäude saniert und um einen langgestreckten Neubau an der Hansastraße erweitert, in dem die Kriminalpolizeiinspektion Rostock mit ihren 120 Mitarbeitern untergebracht war, mittenmang die Hauptkommissare Riedbiester und Uplegger. Die Fenster waren dicht, die Möbel fielen nicht mehr auseinander, die Technik funktionierte – nach all den Leidensjahren in dem heruntergewirtschafteten Bau in der City kam sich Barbara noch immer wie im Paradies vor. Nur die Kollegen waren keine Engel geworden, und wer blöd gewesen war, der war es auch geblieben. Leider gab es, jedenfalls aus ihrer Sicht, viel zu viele blöde Polizisten, aber es gab ja auch blöde Ärzte, blöde Nachbarn und blöde Hundebesitzer – nur nicht so viele!

»Na, Kollege! Brauchen Sie Nachschub?« Barbara schob vier Ordner an den Rand ihres Schreibtisches.

Uplegger war damit beschäftigt, die Akten in den Hof zu tragen und dort im Kofferraum eines Dienstwagens zu verstauen. Er war alles andere als blöd, trotzdem konnte sie ihn zurzeit nur schwer ertragen, denn er erlitt, wie sie es gern nannte, seit Wochen eine Co-Schwangerschaft. Vor etlichen Jahren hatte er sich in eine Zeugin verguckt, eine Lehrerin am Ostseegymnasium Evershagen namens Kerstin Lindner, und wie immer er es auch angestellt hatte, inzwischen lebten sie zusammen. Es schien eine sogenannte große Liebe zu sein, und nun erwarteten sie auch noch »was Kleines«.

Barbara, inzwischen mit den Risiken einer späten Schwangerschaft bis zum Überdruss vertraut, sah ihm an der Nasenspitze an, dass er gerade mit Kerstin telefoniert hatte. Das Schlimme war, dass mit der Geburt erst in sieben Monaten zu rechnen war, Barbara also sieben Monate wochentäglicher »Lageberichte von der Schwangerschaftsfront« bevorstanden – und so bösartig war sie nicht, ihm eine Frühgeburt an den Hals zu wünschen. In schwachen Momenten allerdings …

»Ich mache Feierabend«, sagte Uplegger und klemmte sich je zwei der Ordner unter beide Arme. »Mehr als die Tatort- und Spurenakten können wir sowieso nicht durchackern.«

»Wir schaffen nicht mal die«, erwiderte Barbara. »Es ist nur mein Perfektionismus, dass ich uns belade wie Lastesel. Oder mein Komplettierungswahn.«

»Wir müssen’s ja nicht schleppen.« Uplegger war bereits an der Tür. »Ich hole morgen den Wagen und stehe acht Uhr vor Ihrem Haus.«

»Wie abgemacht. Grüße an Kerstin.«

»Danke. Werde ich ausrichten. Schönen Feierabend!«

»Dito.« Barbara betrachtete noch einmal die Akten-Alpen, griff nach drei Ordnern, die sie bereits beiseitegelegt hatte, und schob diese in eine Ikea-Tragetasche namens FRAKTA, die 71 Liter fasste und sich ausgezeichnet zum Transportieren von vielen Ordnern eignete – für bloß drei war sie viel zu groß. Einen schönen Feierabend würde Barbara nicht haben, da sie sich vorgenommen hatte, daheim die wichtigsten Fakten zum Waldwegemord zusammenzutragen. Sowohl sie als auch Uplegger hatten seinerzeit der Sonderkommission angehört, die den Namen der getöteten Frau getragen hatte, aber sie beide hatten den Tatort nie gesehen. Sie kannten ihn nur aus der Lichtbildmappe. Da sie den Cold Case wieder einmal aufwärmten, war es an der Zeit, sich vor Ort umzuschauen, um ein Gefühl für ihn zu bekommen.

Es war kurz vor halb sechs, als Barbara auf dem Parkplatz die hintere Fahrertür ihres erst ein Jahr alten fahrbaren Untersatzes öffnete und FRAKTA auf den Rücksitz stellte. Ein neuer Wagen war schon lange fällig gewesen, aber wie immer bei größeren Anschaffungen hatte sie sich nicht entscheiden können; das hatte sich bei ihr nicht geändert. Ansonsten hatte sie ihr Leben vollkommen umgekrempelt: Seit fast acht Jahren trank sie keinen Tropfen Alkohol mehr, und sie hatte beachtliche 19,5 Kilogramm abgespeckt. Damit war sie immer noch mehr als vollschlank, aber immerhin.

Barbara schloss die hintere Autotür, öffnete die Fahrertür und stieg ein. Sie war sich durchaus bewusst, dass sie diese großartige Leistung nicht nur sich selbst, sondern auch anderen verdankte, nämlich der Polizeipsychologin Christiane Grünberg, die inzwischen leider nicht mehr in Rostock arbeitete, sowie dem »Trockendock«, einer Selbsthilfegruppe für Alkoholiker. Hier hatte Barbara zunächst gelernt, ihre Krankheit anzunehmen und sich selbst als Alkoholikerin zu begreifen – und sich so zu nennen. Aber ein noch viel größeres Wunder war geschehen, sie hatte eine Freundin gefunden! Eine beste Freundin wie Barbara sie zuletzt in ihrer freudlosen Grevesmühlener Kindheit gehabt hatte.

Barbara verließ den Parkplatz und bog nach rechts in die Maßmannstraße. Immer wieder einmal fragte sie sich, wer dieser Maßmann wohl gewesen sein mochte. Zur DDR-Zeit hatte die Straße Leninallee geheißen, aber als das Quartier in den Zwanziger- oder Dreißigerjahren erbaut worden war, das wusste sie, war diese Straße nach Maßmann benannt worden und hatte nach der Wende den alten Namen zurückbekommen. Doch: Who the fuck was Maßmann? Ab und zu nahm sie sich vor, ihn zu googeln, doch rasch vergaß sie es wieder.

Nachdem Kriminalhauptkommissarin Riedbiester in die Lübecker Straße eingebogen war, stand sie im Stau.

Fast zwei Stunden hatte Liselotte Hagemeister warten müssen, bis sich eine Polizeistreife in die Schliemannstraße bequemt hatte. Die beiden Polizisten waren jung und durchaus attraktiv: der eine blond mit einem Dreitagebart, der andere dunkel und womöglich sogar ein Ausländer. Dass es so gutaussehende Polizisten in Rostock gab, war der ehemaligen Lehrerin bisher entgangen. Der Anblick war also erfreulich, nicht aber die Art, wie die beiden eine alte Dame behandelten.

»Seit Montag, sagen Sie?«, fragte der Dunkelhaarige.

Frau Hagemeister lauschte nach einem Akzent, hörte aber keinen. Nun schon zum dritten Mal erklärte sie, dass ihre Nachbarn Dorothee und Michael Klaas am Montag in einen etwa dreimonatigen Segelurlaub nach Kroatien aufbrechen wollten. Am Sonntag hätten sie ihren Van vollgepackt, um am Montag in aller Herrgottsfrühe loszufahren. Aber der Wagen, wie man sogar mit Tomaten auf den Augen sehen könne, stehe immer noch in der Auffahrt, was ja wohl bedeuten müsse, dass das Ehepaar Klaas nicht nach Kroatien gefahren war. Das sei doch wohl ein Grund, sich Sorgen zu machen.

»Wo genau in Kroatien?«, wollte der Dunkelhaarige wissen, während der Blonde an der Klaas’schen Haustür klingelte, was er zuvor bereits mehrmals getan hatte. Er war auch um das Haus herumgegangen und hatte in die Fenster gespäht, vor denen die Außenjalousien nicht heruntergelassen worden waren – genau wie Frau Hagemeister es zuletzt vor einer Dreiviertelstunde getan hatte, doch das verschwieg sie.

»Ja, wie hieß der Ort noch?« Dass Liselotte Hagemeister auf den Namen nicht kam, ärgerte sie nicht nur, es war vermutlich auch der Grund, dass die Polizisten sie behandelten, als wäre sie dement. Aber vielleicht gingen sie mit allen alten Menschen so um. Sie waren jung, verkörperten die Staatsmacht und strotzten vor Gesundheit. Vielleicht meinten sie insgeheim, dass alle Menschen jenseits der 65 in die Gaskammer gehörten. Oder sie waren Rechtsradikale – man las ja so einiges über solche Typen bei der Polizei.

»Sie wissen es nicht?« Der Dunkle schaute sie vielsagend an und schloss sein kleines Notizbuch.

»Es handelt sich um eine Partnerstadt von Rostock«, erwiderte Frau Hagemeister. »Da ist doch so eine Ausstellung in der Kunsthalle …«

»Ach so, ja!« Der Dunkelhaarige warf einen Blick zu dem Blonden. »Wie heißt noch mal diese Stadt, wegen der sie da eine Ausstellung machen in der Kunsthalle?«

»Riga, glaube ich.« Der Blonde kam näher.

»Nicht Riga, sondern Rijeka!« Endlich war es ihr eingefallen. Ein »Heureka« ersparte sie sich, obwohl es ihr auf der Zunge lag. ›Heureka, Rijeka!‹, das war ein arger Kalauer.

»Herr und Frau Klaas wollten also am Montag sehr früh nach Rijeka fahren«, fasste der Dunkle zusammen. »Mit dem Auto, das sie am Sonntag gepackt haben. Da kann natürlich einiges dazwischengekommen sein. Vielleicht ein Todesfall? Würden Ihre Nachbarn Ihnen Bescheid geben?«

»Mir?« Die alte Frau lachte. »Wir sprechen wenig miteinander.«

Der Blonde mischte sich ein: »Aber, dass sie nach Kroatien wollten, das haben sie Ihnen gesagt?«

»Nein, aber ich weiß es. Sie fahren seit Jahren immer um die gleiche Zeit runter. Das haben sie mir erzählt, als wir noch mehr Kontakt hatten.«

»Und warum haben Sie jetzt weniger Kontakt?«

»Sie haben Erfolg und sind mittlerweile so arrogant und zanksüchtig, dass in der Nachbarschaft keiner mehr mit Ihnen etwas zu tun haben will«, sagte Liselotte.

»Verstehe«, sagte der Blonde, doch war deutlich zu sehen, dass er nicht verstand. »Frau Hagemeister, ich mache Ihnen einen Vorschlag: Lassen Sie uns noch bis zum Wochenende warten. Vielleicht ist ja wirklich jemand aus der Verwandtschaft verstorben. Oder gar nicht so schlimm: Er musste plötzlich ins Krankenhaus. Aber wenn am … sagen wir mal, wenn sich bis Sonnabend nichts tut, oder bis Sonntag … dann rufen Sie einfach noch mal an. Ja, Frau Hagemeister?«

›Ja, Frau Hagemeister? Ja, Frau Hagemeister?‹, äffte sie ihn im Stillen nach. Sie hatte schon kapiert.

»Gut.« Er reichte ihr eine Karte. »Sie können das Revier anrufen und müssen nicht die 110 wählen. Schönen Tag noch.«

»Wiedersehen«, sagte Frau Hagemeister.

»Tschüs!«, sagte der Dunkle.

Liselotte Hagemeister schaute ihnen nach, wie sie zum Streifenwagen gingen. Sie hatten sehr straffe, sehr jugendliche Hinterteile. Erreicht hatte sie nichts, aber hübsch waren die Jungs, wirklich sehr hübsch.

Jonas Uplegger hatte noch einen Abstecher zum Biomarkt gemacht, und so war es bereits kurz vor sieben, als er zu Hause eintraf. Kerstin wohnte noch nicht lange bei ihm in seiner schönen Wohnung am Puschkinplatz; sie war zu ihm gezogen, als sie von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte. Es war sein Wunsch gewesen, diese Zeit gemeinsam intensiv zu erleben. So hatte er sich ausgedrückt und schämte sich inzwischen für seine großen Worte. Doch nun wohnte sie bei ihm, was er genoss. Sie natürlich auch. Ihre Wohnung in Lütten Klein nutzte sie kaum noch; selbst nach langen Abendsitzungen in der Schule kam sie zu ihm.

Uplegger hatte einen Gruß ins Wohnzimmer gerufen und war dann stracks in die Küche gegangen, um die Einkäufe auszupacken.

Kerstin war ihm gefolgt. Sie stand in der Küchentür, schaute ihm zu und rief, nachdem er die Lebensmittel auf dem Küchentisch ausgebreitet hatte: »Oh Gott, nein, Jonas! Nicht schon wieder dieses Viehfutter!«

»Aber …« Er wandte sich ihr zu. »Es ist gut für die Gesundheit … auch des Kleinen. Und nicht vergiftet wie die Sachen aus dem Supermarkt.«

»Wieso des Kleinen? Es kann ja auch eine Kleine werden.«

»Natürlich.«

»Weißt du, wovon ich seit Tagen träume?«, fragte sie, kam zu ihm und legte ihm die Hände auf die Schultern. »Von riesigen Koteletts. Ich will Fleisch essen, Jonas! Es muss keine Grillhaxe sein, obwohl ich die einmal im Jahr in der Winterzeit auch nicht ablehne. Aber nein, mir reicht ein Kotelett, groß wie eine Pfanne. Meinetwegen bio und vom Hof nebenan. Aber Fleisch, Jonas! Etwas mit Fasern, die zwischen den Zähnen klemmen bleiben. Und wenn es mein Leben um drei Minuten, drei Stunden oder drei Tage verkürzt: Ich will Fleisch!«

»Nun ja …« Verlegen senkte er den Blick. »Ich habe nichts im Haus …«

»Ich weiß. Der Inhalt deines Kühlschranks und deiner Küchenschränke ist mir bekannt.«

»Wir könnten essen gehen. Vielleicht ins Leon’s in der Kröpi? Wir könnten mit der Straßenbahn …«

»Wir gehen zu Fuß. Ich bin schwanger, nicht behindert. Wie lange brauchen wir?«

Uplegger zuckte mit den Achseln. »20, 25 Minuten.«

»Für ein Steak nehme ich auch eine Stunde in Kauf. Ich mache mich ein wenig frisch.« Fröhlich tänzelnd ging sie ins Bad.

Uplegger schob die Lebensmittel in die dafür vorgesehenen Fächer von Kühl- und Hängeschrank und warf die Türen zu. Es freute ihn sehr, seine Kerstin zum Essen ausführen zu dürfen, und auf das Steak freute er sich auch.

Liselotte Hagemeister kam nicht zur Ruhe. Mit Roda Rodas Buch in der linken Hand stand sie am Fenster und starrte auf das Nachbarhaus. Natürlich tat sich dort nichts. Was sollte sich denn auch tun? Ihre Überzeugung wuchs, dass etwas Schreckliches geschehen war: Das Ehepaar war Opfer von Einbrechern geworden.

Frau Hagemeister hielt seit prähistorischer Zeit die Ostsee-Zeitung, früher um sich zu informieren, heute aus eher sentimentalen Gründen, denn viel Interessantes stand nicht mehr drin. Das war insofern zu bedauern, weil sie sich früher mindestens eine halbe Stunde mit dem Blatt beschäftigen konnte, während sie sich heute in wenigen Minuten durch die Seiten blätterte. Die Artikel über die Einbruchserie, die Rostock im Frühjahr in Atem gehalten hatte, die hatte sie allerdings gelesen, wenn auch mit einem mulmigen Gefühl. Vor allem auf Einfamilienhäuser und Villen hatten es die Diebe abgesehen, und die Handschrift, so hatte es in der Zeitung geheißen, sprach für immer dieselben Täter. Menschen waren allerdings nicht zu Schaden gekommen. Doch wie hieß es so schön: Einmal ist immer das erste Mal.

Liselotte Hagemeister wollte sich schon wieder ihrer Lektüre zuwenden, als eine Frau das Nachbargrundstück betrat. Es war eine ziemlich füllige Person, die allerdings ihren Körperumfang mit großem Geschick und unter Zuhilfenahme wallender Tücher zu verbergen vermochte, und diese Tücher sprachen nicht nur von Geschmack, sondern auch von einem gut gefüllten Geldbeutel. Es war eine Freundin von Dorothee Klaas, die, wenn sich Frau Hagemeister nicht irrte, Meissner hieß. Die Frau blieb stehen und betrachtete überrascht den vollgepackten Wagen.

Frau Hagemeister öffnete das Fenster. »Guten Abend!«

»’n Abend!« Die Besucherin deutete auf den Van. »Wie ist denn das zu verstehen? Sie wollten doch am Montag fahren!«

»Ich verstehe es auch nicht und habe schon die Polizei gerufen«, entgegnete Liselotte Hagemeister. »Aber die …« Sie breitete die Arme zu einer hilflosen Geste aus.

»Ich habe einen Schlüssel.« Die Besucherin hielt ihn wie eine Trophäe in die Höhe. »Ich soll die Blumen gießen.«

»Warten Sie!« Frau Hagemeister wurde ganz aufgeregt. »Wer weiß, was Sie im Haus erwartet. Ich begleite Sie!« Äußerst flink, wenn man ihre schweren und schwachen Beine berücksichtigte, war sie in Straßenschuhe geschlüpft und hatte das Haus verlassen; sie bewohnte kein Einfamilienhaus wie Klaas’sens, sondern eine Reihenhaushälfte. Wenig später hatte sie die Frau erreicht.

»Das ist doch sehr seltsam«, sagte diese. »Aber ich habe mich schon gewundert, weil Doro … also Frau Klaas ruft mich immer an, wenn sie ihr Ziel erreicht haben. Bisher kam nichts.« Sie schaute auf den Schlüssel, dann zu Frau Hagemeister. »Wollen wir wirklich? Ich habe so ein ungutes Gefühl.«

»Ich auch. Übrigens, mein Name ist Hagemeister. Liselotte Hagemeister.«

»Ja, natürlich … Annalena Meissner.« Sie atmete tief durch.

»Sollte etwas Schlimmes geschehen sein, müssen wir doch helfen«, meinte Liselotte, die ihre Neugierde kaum zähmen konnte, sie aber nicht zu deutlich zeigen wollte. Sollte jemals wieder ein Mittwochskränzchen stattfinden, würde sie eine Menge zu erzählen haben.

»Sie haben recht.« Kurzentschlossen trat Meissner an die Tür des Hauses. Sie war mit zwei Schlössern gesichert, und anscheinend musste sie jedes Mal erst den richtigen Schlüssel finden. Es dauerte eine Weile, dann konnte sie die Tür aufsperren. Sie trat mit einem Schritt über die Schwelle, tastete nach dem Schalter und machte Licht.

Der recht kurze Flur war mit rötlichen Terrakottafliesen ausgelegt und sparsam möbliert. Drei Türen gingen von ihm ab, eine Treppe aus hellem Holz führte ins Obergeschoss, wobei sie eine halbe Drehung vollführte. Es gab eine Garderobe, an der ein paar Damenjacken und eine wattierte grünliche Joppe hingen, wie sie Jäger trugen. Frau Hagemeister hatte schon mehrmals beobachtet, wie Herr Klaas ein paar Jagdgewehre in seinem Wagen verstaut hatte und dann für mehrere Tage weggefahren war. Außer der Garderobe befanden sich im Flur ein Schirmständer, ein Schuhregal sowie ein antikes Tischchen. Die Schublade war herausgerissen, der Inhalt lag auf den Fliesen verstreut, und auch die Lade hatte man auf den Boden geworfen. Durch die erste Tür links drang ein eigenartiger, etwas muffiger und gleichzeitig süßlicher, aber irgendwie auch strenger Geruch.

»Mein Gott!«, flüsterte Annalena Meissner. Sie machte ein paar Schritte und öffnete die Tür, die sich dem Eingang gegenüber befand. Sofort prallte sie zurück.

Liselotte Hagemeister schaute an ihr vorbei in ein außerordentlich großes Wohnzimmer. Die Möbel nahm sie nur aus den Augenwinkeln wahr, denn ihre Aufmerksamkeit wurde von den auf den Dielen und den Teppichen liegenden Gegenständen gefesselt. Wie Kraut und Rüben lagen sie, darunter etliche Ordner, Mappen und lose Papiere. Wie sie vermutet hatte: ein Einbruch! Aber wo waren die Bewohner? Hatte man sie vielleicht entführt?

»Was … was …?« Mehr brachte Meissner nicht heraus.

Frau Hagemeister zückte ihr Smartphone, das sie vorsorglich eingesteckt hatte und mit dem sie gern vor ihren alten Kolleginnen angab, die sich beide vor der modernen Technik fürchteten. Sie aber liebte dieses Spielzeug und war sogar bei WhatsApp, obwohl sie nur einen Menschen hatte, mit dem sie Botschaften – Messages! – tauschte: ihren Fensterputzer. Ihre Freundinnen hatte sie noch nicht überzeugen können, und mit ihren Nachbarn wollte sie keinen solchen Kontakt.

Liselotte Hagemeister rief keinesfalls beim Revier an, dessen Nummer auf der Karte stand. Nein, sie wählte die 110.

Und es geschah ein Wunder. Die beiden Frauen hatten auf Anweisung des Mannes, mit dem sie telefoniert hatte, das Haus verlassen. Meissner ging es so schlecht, Liselotte Hagemeister hatte sie zu sich in die Wohnung gebracht, ihr einen Platz in einem der bequemen Sessel angeboten und eine Karaffe mit Wasser vor ihr auf den Tisch gestellt. Dann war sie wieder hinausgegangen.

Sechs Minuten waren seit ihrem Anruf vergangen, als ein ziviles Fahrzeug mit Blaulicht vorfuhr, das erlosch, nachdem der Wagen zum Stehen gekommen war. Zwei Kriminalbeamte stiegen aus. Sie waren keineswegs hübsch, aber die 87-Jährige spürte sofort, dass diese Männer wussten, was sie zu tun hatten.

»Frau Hagemeister?«, fragte der eine.

Sie nickte.

»Mein Name ist Krüger. Wir sind vom Kriminaldauerdienst. Bitte zeigen Sie uns, was Sie entdeckt haben!«

Barbara Riedbiesters neueste Errungenschaft war ein karmesinroter Seidenkimono. Früher wäre ihr nicht einmal im Traum eingefallen, sich so etwas zu kaufen, und sie hatte zunächst gezögert; ihr alter DDR-Frotteebademantel war zwar schon fadenscheinig und inzwischen auch um einiges zu weit, aber ihr hatte er gereicht, schon weil niemand sah, wie sie zu Hause herumlief. Claudia hatte sie überzeugt. Sie selbst würde sich doch sehen, hatte sie gesagt. Die Anschaffung lag nun schon fast ein halbes Jahr zurück, aber erst, als es in der vergangenen Woche ein paar heiße Tage gegeben hatte, da hatte Barbara ihn zum ersten Mal angezogen. Mittlerweile begeisterte sie sich für das Stück, das so unendlich leicht zu tragen war und bei furchtbar hohen Temperaturen eine Verbesserung der Lebensqualität bedeutete. Auf der Lebensqualität und ihrer Verbesserung war die Psychologin Grünberg ständig herumgeritten. Dauerbrenner waren zwei Fragen gewesen: »Frau Riedbiester, warum tun Sie sich nicht einfach mal was Gutes?« und »Warum machen Sie am nächsten Wochenende nicht etwas Schönes?« Barbara hatte gar nicht gewusst, was ihr guttat oder was sie schön fand. Nun ja, schon als Schülerin hatte sie sich für Literatur und Geschichte, für das Theater und auch etwas für Kunst interessiert, und sie las ja auch viel, aber eine Ausstellung hatte sie aus freien Stücken lange nicht besucht, nicht mehr seit dem Abitur. War das vielleicht etwas Gutes? Sie hatte es mit dem Museum der Künstlerkolonie Schwaan versucht und war nach der Rückkehr in ein Restaurant gegangen, hatte, denn es war in der Adventszeit gewesen, Entenkeule mit Klößen und Grünkohl bestellt, hatte danach, vollkommen verbrecherisch, ein Tiramisu gegessen, einen Espresso getrunken und war vollkommen glücklich gewesen – weniger wegen der Kunstwerke als wegen des guten Essens. So hatte ihr Ausflug in die Welt des Genusses begonnen: mit Landschaftsmalerei, Entenkeule und Grünkohl. Wenn sie daran dachte, musste sie lachen. Inzwischen gehörte mehr zum Wohlgefühl dazu, etwa die Blechkiste, mit der sie sich durch den Stau gequält hatte: der 3er BMW der 7. Generation in der unübertrefflichen Metallicfarbe Sunset Orange. Auch zu diesem Gefährt hatte sie die beste Freundin überredet. Barbara fuhr im Dienst mitunter BMW, aber sie hätte es nie für notwendig befunden, privat mit so einem Wagen herumzukutschieren. Claudia, die ihren Führerschein versoffen hatte, hatte natürlich auch an sich selbst gedacht, und seit dem Kauf des Wagens machten sie immer einmal eine Spritztour im Sunset Orange.

Barbara nahm die Teekanne – Tee! Auch vor einigen Jahren noch unvorstellbar gewesen! – und ging von der Küche durch den langen Flur ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch lagen die Ordner, die sie mitgenommen hatte, und daneben das Schulterhalfter mit der SFP9. Bis vor einem Jahr hatte Barbara noch eine P6 von SIG Sauer gehabt, eine Modellvariante aus der SIG-Serie P220, die bei der Polizei Mecklenburg-Vorpommerns auch noch im Einsatz war, aber nicht mehr neu vergeben und nach und nach durch die Selbstladepistole von Heckler & Koch ersetzt wurde. Sie lag dort, wo sie eigentlich nicht liegen durfte. Es war Vorschrift, dass Polizeibeamte im Dienst eine Waffe trugen, und die morgige Fahrt nach Biendorf war ein dienstlicher Einsatz. Die Pistole mit nach Hause zu nehmen, war nur in Ausnahmefällen und auf Weisung des Dienststellenleiters gestattet, die Hauptkommissarin hätte sie also in ihr Waffenfach einschließen und am kommenden Morgen in der Ulmenstraße abholen müssen. Dazu hatte sie nicht die geringste Lust, also verstieß sie einmal mehr gegen die Dienstvorschrift. Bisher war es eigenartiger Weise noch niemandem aufgefallen, obwohl sich doch jeder Kollege fragen musste, wie es möglich war, dass sie mit einer Waffe unterwegs sein konnte, die sie gar nicht abgeholt hatte.

Schmunzelnd schlug Barbara Riedbiester den ersten Ordner der Hauptakte auf. So richtig motiviert war sie nicht und hätte viel lieber in dem Buch geschmökert, dass ihr Uplegger empfohlen hatte. Genauer gesagt, hatte er eine Empfehlung seiner Kerstin weitergeleitet. Auch die Ostsee-Zeitung hatte es gelobt. »Lütten Klein: Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft«, so lautete der Titel, und ein aus Rostock stammender Soziologe hatte es verfasst.

Barbara würde es später lesen, an einem freien Tag. Der Biendorfer Waldmord hatte Vorrang. ›Am 18. Juli 2007 hatte die Krankenschwester …‹ Ihr Telefon intonierte die ersten Takte von »Lady Greensleeves«, ihr Klingelton seit Anno Krug. Wahrscheinlich rief Claudia an, um etwas fürs nächste Wochenende zu verabreden. Gutgelaunt zog sie ihr iPhone unter der Akte hervor. Als sie die Nummer des Anrufers erkannte, verdüsterte sich ihre Miene. Der Feierabend, der ohnehin kein richtiger geworden wäre, war vorbei.

Jonas Uplegger war von Kerstins geradezu überbordendem Appetit überrascht worden: Sie hatte nicht nur eine scharfe mexikanische Suppe und ein 400-Gramm-T-Bone-Steak haben wollen, sondern verlangte sogar noch ein Dessert, während er sich mit Spareribs begnügt hatte. Eigentlich war er nicht geizig, aber er sah eine Rechnung auf sich zukommen, die einen Betrag um die 70 Euro ausweisen würde, und das fand er dann doch happig; das »Viehfutter«, das er eigentlich fürs Abendessen vorgesehen hatte, war nur mit 9,23 Euro zu Buche geschlagen.

Er schmunzelte. Barbara Riedbiester, die im Kommissariat immer noch Dampframme genannt wurde, obwohl sie in beachtlichem Umfang abgespeckt hatte, würde vermutlich sagen: »Kollege Uplegger, auch bei Ihnen klaffen Selbst- und Fremdwahrnehmung eklatant auseinander. Sie halten sich für freigebig. Andere finden Sie geizig.« Wahrscheinlich hätte sie damit recht. Seine Selbstwahrnehmung stammte aus der Vorzeit. Er war wohl wirklich immer sparsamer geworden, oder eben immer geiziger. Und hatte jetzt sogar einen Vorwand: Er müsse sparen für das Kind.

Noch etwas anderes stimmte, nämlich dass man mit zunehmendem Alter eigentümliche Wesenszüge annahm. Im nächsten Jahr würde er 52 werden, aber es zeigten sich schon erste Anzeichen einer Marotte: Jeden Abend bilanzierte er den Inhalt seines Portemonnaies. Während seine Kollegin vor einiger Zeit begonnen hatte, Geld beinahe suchthaft auszugeben, war er dazu übergegangen, bei jeder größeren Anschaffung eine Pro-und-Kontra-Liste aufzustellen. Er war ohne Zweifel auf dem Weg zum Geizhals und beschloss aus therapeutischen Gründen, noch so viel zu bestellen, dass die Rechnung wenigstens 100 Euro betragen würde. »Möchtest du noch etwas?«, erkundigte er sich.

Kerstin schüttelte heftig den Kopf. »Ich platze gleich«, sagte sie.

Er nahm ihre Hände. »Das kannst du mir nicht antun!«

»Aber hier ist der beste Ort dafür. Es gibt Personal, das saubermacht.«

»Ach«, seufzte Uplegger, der die Anspielung genau verstand. Seine zweite Marotte war ein Ordnungs- und Sauberkeitsfimmel, der auch immer schlimmer wurde. Neuerdings legte er das Druckerpapier auf Kante, was Barbara veranlasst hatte, einen Satz mit dem Wort »Zwangsstörung« vor sich hin zu murmeln.

Sein Mobiltelefon gab den grässlichen Rufton der Werkseinstellung von sich – von seiner Kollegin als »jenseits der Beschreibbarkeit« qualifiziert. Er hatte ihn nur deshalb nicht geändert, weil sie sich über den Lärm ärgerte. Ohne auf das Display zu schauen, nahm er den Anruf entgegen.

Keine fünf Minuten später hatte er gezahlt.

Mörder im Hansaviertel

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