Читать книгу Mörder im Hansaviertel - Frank Goyke - Страница 5

Zweites Kapitel In der Nacht von Mittwoch, 23. Juni, zu Donnerstag, 24. Juni

Оглавление

Der Große Bahnhof in der ruhigen, um nicht zu sagen weltabgeschiedenen Schliemannstraße hatte einen Publikumsauflauf verursacht. Hauptkommissarin Riedbiester, die zunächst im Sunset Orange zur Polizeiinspektion gefahren war und dann den Katzensprung in die Schliemannstraße mit Uplegger in einem Dienstwagen zurückgelegt hatte, schätzte die Zahl der Schaulustigen, die von Blaulicht und Sirenengeheul angezogen worden waren, auf etwa 30, darunter etliche Kinder. Viele hielten ihr Smartphone in die Höhe, um das Ereignis für die Nachwelt festzuhalten und für die Mitwelt zu posten. Das Lichtspiel der beleuchteten Displays erinnerte an ein Popkonzert.

Dieser Teil des Hansaviertels war eigentlich so etwas wie eine feinere Gegend, aber Sensationslust war dem Menschen eigen, unabhängig von Einkommen und Bildungsgrad. Dem Publikum wurde aber auch einiges geboten, wobei das Aufregendste sicher die beiden silber-blauen Kastenwagen mit der Aufschrift Kriminaltechnik und die Außerirdischen in ihren Kontaminationsschutzanzügen waren, die, in weiße Overalls gehüllt und mit blauen Plastikpuschen an den Füßen, ihre Pistolen vorschriftsmäßig an dunklen Gürteln trugen und Koffer in ein Einfamilienhaus schleppten. Das war Fernsehen live. Weniger Beachtung fand hingegen ein etwas abseits abgestelltes Fahrzeug, das zwar die Farben der Polizeifahrzeuge trug, jedoch mit Gerichtsmedizin beschriftet war, eine Institution, die neben Neugierde auch Schauder und sogar Ekel erregte. Die beiden Leichenträger standen neben ihrem noch geschlossenen Fahrzeug, hatten ihre Mund-Nasen-Bedeckung bis zum Hals herabgezogen und rauchten. Barbara kannte keinen Mitarbeiter der unteren Ebene des Rechtsmedizinischen Instituts, der nicht am Glimmstängel hing, und die Fahrer und Träger sahen allesamt wie – gewesene oder aktive – Alkoholiker aus. Das galt im Übrigen auch für manche Ärzte, die den Fachbereich Forensische Alkohologie ziemlich weit auslegten.

Uplegger lenkte den Mercedes vor dem Absperrband an den Straßenrand. Es wimmelte von Kollegen in Uniform, die den Ort sicherten oder einfach nur herumstanden, während andere im Licht greller Strahler auf dem Grundstück unterwegs waren und es Quadratzentimeter für Quadratzentimeter nach Spuren absuchten – so sollte es jedenfalls sein, aber mitunter war das graue Theorie. Barbara und Uplegger hatten schon so manche unqualifizierte Tatortaufnahme erlebt, bei der beispielsweise der Zentimeter sehr großzügig ausgelegt worden war und in den Dezi-, wenn nicht gar in den Meterbereich ragte. Und leider gab es auch immer wieder Kriminaltechniker, die Spuren nicht sicherten, sondern zerstörten, etwa weil sie einen Kater hatten oder keine Lust.

Von der Mordkommission war zunächst niemand zu sehen. Das änderte sich jedoch, nachdem Barbara und Uplegger ausgestiegen und ein paar Schritte näher an die Grundstückszufahrt getreten waren: Dort versammelte sich die Blüte der Rostocker Kriminalistik, wie die Kommissarin gern sagte, nicht ganz ohne ironischen Unterton. Die Kollegen bildeten einen regelrechten Pulk, niemand beachtete die AHA-Regeln. Den Mittelpunkt bildete Gunnar Wendel, der Chef, dem vor vielen Jahren der unpassende und ungerechte Spitzname »Der Mann ohne Eigenschaften« verpasst worden war, der nun an ihm klebte wie Pech. Wendel war auf dem Absprung in die Pension und würde sich am Jahresende für immer auf seine »Ranch« in Lübberstorf bei Neukloster zurückziehen. Er hatte vor, dort, in dem eigens ausgebauten Bauernhaus, seinen glücklichen Lebensabend zu verbringen, was ihm keiner verdenken konnte – nur eben: Lübberstorf. Dort gab es um die 200 Einwohner, drei denkmalgeschützte Bauernhäuser und ein paar Ferienwohnungen sowie zwei Magistralen mit den originellen Namen Haupt- und Dorfstraße. Allerdings war der Neuklostersee nicht weit, und der Chef freute sich schon auf Angelpartien im Morgennebel. Barbara Riedbiester bezweifelte, dass er den Ruhestand ertragen würde.

Links vom ihm stand, ein Klemmbrett unterm Arm, sein Stellvertreter Breithaupt, der auch einen Spitznamen hatte: Kofferträger. Dass Wendel den Dienst beenden würde, stand schon eine Weile fest, und natürlich befasste man sich im Kommissariat, wenn nicht in der gesamten Kriminalpolizei, mit der Frage seines Nachfolgers. »Oder seiner Nachfolgerin«, wie Ann-Kathrin Hölzel nicht müde wurde zu betonen. Hölzel, seit drei Monaten Oberkommissarin, hatte den Platz rechts neben dem Chef inne und sprach etwas in ein Diktiergerät. Peter Breithaupt als zweiter Mann des Kommissariats hatte in gewisser Weise einen Anspruch auf den Posten, aber er war ein Mann von geringen Ambitionen und sicher nicht mehr auf einen Karrieresprung erpicht: Er würde in drei Jahren in Pension gehen. Wahrscheinlich würde man jemanden von außerhalb holen, vielleicht einen dieser gutausgebildeten Digital-Autisten der jungen Generation. Hölzel meinte zwar gelegentlich, Barbara Riedbiester solle es machen, aber sie würde den Teufel tun. Außerdem würden weder der Chef der Kripo noch der Polizeipräsident je auf die Idee kommen, Hauptkommissarin Riedbiester könne die Mordkommission leiten. Das Einzige, was toll war an diesem Job, das war die Kohle: Mit diesem Geld könnte sie aus Sunset Orange eine Rakete machen, die arabische Clanbrüder vor Neid erblassen ließe.

Etwas abseits, die Arme vor der Brust verschränkt und in ein Gespräch mit Krüger vom KDD vertieft, stand die Neue. Ramona Brinkhart war aus Niedersachsen nach Mecklenburg gekommen: Sie war in einem Barbara vollkommen unbekannten Nordseebad namens Dangast zur Welt gekommen, hatte bis vor anderthalb Jahren bei der Zentralen Kriminalinspektion der Polizeidirektion Oldenburg gearbeitet, wollte aber unbedingt wieder in eine Stadt am Meer, also hatte sie sich um eine polizeiintern ausgeschriebene Stelle bei der Rostocker Kriminalpolizeiinspektion beworben. Sie hatte, oh Wunder, eine Wohnung in Warnemünde bezogen, in der Fritz-Reuter-Straße, war also so nahe am Meer wie in ihrer Kindheit und anscheinend wirklich glücklich. Natürlich gab es einen Wermutstropfen. Ihr Mann, ein Straßenbauingenieur, hatte noch keinen Job in Rostock oder Umgebung gefunden, und so pendelten die Eheleute an den Wochenenden zwischen Oldenburg und Warnemünde hin und her.

Barbara und Uplegger näherten sich der kleinen Gruppe, und die Kommissarin bat den Chef, sie kurz und knapp auf den Stand der Dinge zu bringen. Es war ein Ehepaar getötet worden, das wusste sie schon, ein Ehepaar namens Klaas. Und es war eindeutig ein Tötungsverbrechen. So war es schon vom KDD eingeschätzt worden, und das hatte sich inzwischen als korrekt erwiesen.

Gunnar Wendel deutete auf Breithaupt, der einen Blick aufs Klemmbrett warf, obwohl er die wichtigsten Umstände sicher im Kopf hatte.

»Dorothee und Michael Klaas, sie 53 und er 51, also zirka zwei Jahre jünger.«

Das hatte Barbara auch sofort ausrechnen können, aber sie schwieg.

»Sie sind im Keller ihres Wohnhauses getötet worden. Beide mit einem Kopfschuss. Ein paar Sofakissen wurden als Schalldämpfer benutzt. Sieht wie eine Hinrichtung aus.«

Ann-Kathrin Hölzel ergänzte: »Auf dem Boden neben den Geschädigten wurde eine Jagdflinte gefunden, die als mögliche Tatwaffe in Betracht kommt.«

»Eine Beretta Bockdoppelflinte, Modell 686«, sagte Wendel. »So ein Ding kostet mehr als 2000 Euro.«

»Kein Pappenstiel«, bemerkte Barbara.

»Die größte Besonderheit der Tat ist allerdings der Umstand, dass die Eheleute Klaas gefoltert wurden«, sagte Ann-Kathrin Hölzel.

Uplegger riss die Augen auf: »Was wurden sie?«

»Gefoltert.«

»Beide weisen Folterspuren auf«, sagte Krüger vom KDD, der sich gemeinsam mit Ramona Brinkhart zu der Gruppe gesellt hatte. »Sie wurden geschlagen. Außerdem wurden ihnen tiefe Ritzwunden zugefügt, wahrscheinlich mit einer zerschlagenen Weinflasche. Eine solche lag neben dem Mann.«

»Puh«, machte Barbara. »Wo sind die Auffindungszeugen?«

Die zwei Auffindungszeuginnen hatten sich in die Reihenhaushälfte zurückgezogen, die an das Grundstück der Familie Klaas grenzte. Als sich Hauptkommissarin Riedbiester zu ihnen auf den Weg machte, kannte sie ihre Namen; es handelte sich um eine sehr betagte Frau namens Hagemeister, die Besitzerin der Haushälfte, sowie eine gewisse Annalena Meissner, eine Frau mittleren Alters und nach eigenen Angaben die beste Freundin der geschädigten Dorothee Klaas. An der 1. Erweiterten Oberschule, die von Barbara in grauer Vorzeit besucht worden war und an der sie ein mäßiges Abitur hingeschustert hatte, hatte es damals eine Lehrerin namens Hagemeister gegeben, die Deutsch, Russisch und Latein unterrichtet hatte. Barbara hatte sie zwei Jahre in Deutsch gehabt und in der 11. sowie der 12. Klasse in Latein, ein sogenanntes wahlobligatorisches Fach, dass nur die Schüler ernstgenommen hatten, die Medizin studieren wollten. Nur an eine Grausamkeit der lateinischen Grammatik konnte sich Barbara noch erinnern, an den berühmt-berüchtigten Accusativus cum infinitivo, den nur Masochisten liebevoll AcI abkürzten. Aber diese Frau Hagemeister musste längst tot sein.

Barbara betätigte die Türglocke neben dem Namensschild. Es dauerte keine zwei Minuten, dann wurde die Tür geöffnet. Eine etwas gebeugte, grauhaarige Frau in einem dunkelblauen Hauskleid schaute sie mit sehr ernstem Gesichtsausdruck an.

Sie war es. Barbara erkannte sie sofort, trotz des fortgeschrittenen Alters. Das war ihre ehemalige Lehrerin.

Und auch sie schien Barbara zu erkennen. Davon sprach etwas in ihrem Mienenspiel, eine kaum merkliche Bewegung der Brauen, ein Fragezeichen im Blick.

»Frau Hagemeister!«, rief Barbara und verbarg die Überraschung nicht.

»Sie waren meine Schülerin«, konstatierte die Angesprochene mit einer leichten Unsicherheit in der Stimme. »Ach … Barbara? Sie heißen Barbara?«

Barbara nickte. »Sie haben ein gutes Gedächtnis, Frau Hagemeister!«

»Vor allem in Bezug auf lange Zurückliegendes. Aber so ist das im Alter. Sie sind wohl bei der Kriminalpolizei gelandet?«

»Gelandet? Das ist ein schönes Wort dafür«, erwiderte Barbara mit einem flüchtigen Lächeln. »Leider habe ich wenig Zeit für einen Plausch …«

»Ich verstehe. Bitte, kommen Sie herein!«

Die Kommissarin trat ein. Nachdem Liselotte Hagemeister die Tür geschlossen hatte, stellte Barbara sofort fest, dass es nicht nach alter Frau roch. Vielleicht wurde jenes charakteristische Aroma von den vermutlich indischen Wohlgerüchen überlagert, die durch eine halbgeöffnete Tür in die kleine Diele strömten.

Frau Hagemeister schob diese Tür weiter auf und lud ihren Gast mit einer Handbewegung zum Nähertreten ein.

Der Raum, den Barbara vor der Gastgeberin betrat, war unzweifelhaft das Wohnzimmer. Sie nahm die Einrichtung ganz schnell auf Kriminalistenart, also in Uhrzeigerrichtung wahr: links eine Schrankwand aus DDR-Produktion, vis-à-vis eine Fensterfront mit Tür zur Terrasse, rechts deckenhohe Bücherregale, im Zentrum eine Sitzgarnitur, die aus vier um einen Glastisch herum gruppierten Sesseln im Bauhausstil bestand, in einem dieser Sessel eine totenbleiche Frau. Sie hatte rotgeweinte Augen und hielt ein Taschentuch auf dem Schoß. Barbara schätzte sie auf Anfang 50.

»Guten A… guten Morgen«, grüßte sie. »Mein Name ist Riedbiester. Kriminalpolizei.«

»Ach, ja, Riedbiester«, flüsterte Frau Hagemeister in ihrem Rücken.

»Sie sind Frau Meissner?«

Die Frau machte Anstalten aufzustehen, sie war aber vom Schock zu sehr geschwächt und ließ sich wieder in den Sessel sinken.

»Annalena Meissner«, bestätigte sie leise. Erneut rannen Tränen. »Ich bin eine Freundin von Dorothee.«

Barbara nickte. Auf dem Glastisch standen ein paar farbige Teelichter, die den Duft verbreiteten, den sie inzwischen ein wenig übelerregend fand.

»Wollen Sie sich nicht setzen?«, fragte Frau Hagemeister. »Darf ich Ihnen etwas anbieten?«

»Nein, vielen Dank!« Barbara nahm in einem der Sessel gegenüber der Freundin Platz. Frau Hagemeister schickte sich an, einen dritten Sessel zu okkupieren, doch die Hauptkommissarin sah sie mit aufgesetzt bedauernder Miene an. »Es ist natürlich sehr unhöflich von mir, aber ich muss mit jeder von Ihnen getrennt sprechen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass Sie sich gegenseitig beeinflussen. Nicht absichtlich, natürlich. Aber ich kann mit Frau Meissner …«

»Nein, nein!« Frau Hagemeister machte eine abwehrende Geste. »Ich verstehe das. Sie finden mich in der Küche.« Ohne viel Federlesen verließ sie den Raum und schloss die Tür hinter sich.

Aber es war Barbara Riedbiester nicht entgangen, dass sie beleidigt war.

Zur Gruppe vor dem Haus hatte sich Dr. Joachim Geldschläger vom Rechtsmedizinischen Institut gesellt, der mit wichtiger Miene die Ergebnisse seiner Leichenschau referierte. Geldschläger war seit zwei Jahren Privatdozent, und Uplegger teilte Riedbiesters Meinung, dass er seitdem die Nase so hoch trage, es müsse in die Nasenlöcher hineinregnen. In Hinsicht auf ihre Behauptung, ein Privatdozent sei eigentlich kein richtiger Dozent, war er jedoch anderer Meinung.

Weitgehende Übereinstimmung bestand zwischen ihnen hingegen in Bezug auf den jungen Staatsanwalt Michael Bormann, der auch am Ort des Geschehens aufgetaucht war und sich an Kommissariatsleiter Gunnar Wendel geradezu anschmiegte: Bormann war ein Karrierist. Barbara fand, dass bereits seine Haartolle, die Schweinsäuglein und der fette Hals den rücksichtslosen Aufsteiger verrieten, Uplegger war nicht so radikal und vermochte auch keine Schweinsäuglein zu entdecken. Außerdem hielt er, auch hierin von seiner Kollegin abweichend, nicht alle Staatsanwälte für Karrieristen.

»Zunächst deuten zahlreiche Hämatome am Körper beider Personen auf Prellungen hin«, sagte Dr. Geldschläger. »Ich erlaube mir zu vermuten, dass sie die Treppe zum Keller hinuntergestoßen wurden – zumindest wäre es eine Möglichkeit. Dann wurden sie von den Tätern übel zugerichtet.«

»Wie viele Täter mindestens?«, wollte Wendel wissen.

»Mindestens zwei. Eher drei bis vier. Wenn es nur zwei waren, müssen sie sehr kräftig sein. – Weiter im Text: Sie wurden geschlagen. Die Täter haben einen Gegenstand benutzt, den sie im Haus vorgefunden haben. Das Ehepaar scheint ja Kunst gesammelt zu haben …« Der Privatdozent räusperte sich. »Das Schlaginstrument, wenn ich es so nennen darf, lag keine 80 Zentimeter von der weiblichen Leiche entfernt und hatte Blutanhaftungen. Es handelt sich um eine Skulptur.« Er räusperte sich abermals und zog einen Zettel aus der Jackentasche. »Eine 90 Zentimeter messende massive Bronzeskulptur mit dem Titel ›Diaphragmatisches Rumpfstück‹ von John Hengst-Brueback aus Ahrenshoop.« Nun seufzte er.

»Wie war noch mal der Titel?«, fragte KDD-Mann Krüger nicht ohne Süffisanz.

Geldschläger kam um eine Antwort herum, weil Staatsanwalt Bormann Krüger ins Wort fiel und wissen wollte, ob sich Dr. Geldschläger mit einheimischer Kunst auskenne.

»Nein«, entgegnete der Gerichtsmediziner pikiert. »Das stand alles auf der Bodenplatte der Skulptur. – Wollen wir jetzt eine Kunstdebatte führen oder darf ich fortfahren?«

»Bitte fortfahren!«, sagte Gunnar Wendel.

»Um das Ehepaar zu quälen, haben die Täter den Hals einer Weinflasche der Marke … tja …« Geldschläger blickte etwas unschlüssig auf seinen Zettel. »Schlah…tina? Also es schreibt sich am Anfang mit so einem Z mit einem umgekehrten Dach drauf …«

»Ein Hatschek«, platzte Uplegger heraus und hätte sich sofort auf die Lippen beißen mögen, denn Geldschläger konnte seit seinem universitären Aufstieg keine Menschen ertragen, die etwas wussten, was er nicht kannte.

»Meinetwegen so etwas«, sagte er aufgebracht. »Hatschek oder wie auch immer. Es scheint jedenfalls ein jugoslawischer Wein zu sein. – Jajaja, Herr Kollege, ich weiß: Jugoslawien gibt es nicht mehr. – Die Täter haben den Hals der Flasche abgeschlagen und den Geschädigten damit tiefe Ritzwunden beigebracht. Zu diesem Zweck haben sie beiden zunächst den Oberkörper entblößt. Die Details erfahren Sie aus meinem Bericht nach der Obduktion.«

»Der erste Eindruck war also richtig«, bemerkte Ann-Kathrin Hölzel.

»Welcher erste Eindruck?«

»Dass sie gefoltert wurden.«

»Kann man so sagen«, meinte Dr. Geldschläger und steckte seinen Zettel ein.

Annalena Meissner, die 54 Jahre alt war und im Labor des Instituts für Ostseefischerei arbeitete, war zutiefst verstört und wurde während des Gesprächs immer wieder von Weinkrämpfen geschüttelt. Barbara hatte ihr zugesichert, diese Erstbefragung diene nur einem ersten Eindruck und würde daher vielleicht eine Viertel-, höchstens eine halbe Stunde in Anspruch nehmen; erst an einem der folgenden Tage müsse sie zu einer Vernehmung in der Ulmenstraße erscheinen.

Meissner hatte den Schlüssel zum Haus erhalten, um die Pflanzen zu gießen, aber auch, um den Briefkasten zu leeren, die Post auf der Flurgarderobe zu deponieren und allgemein nach dem Rechten zu schauen. Einmal in der Woche sollte sie den Rasen sprengen und sich auch um die Gartenpflanzen kümmern. Das war sozusagen ein Liebesdienst um Gotteslohn, allerdings brachten ihr die Klaas’sens immer einen Karton sehr guten Weins und ein riesiges Stück luftgetrockneten Schinken aus Istrien mit. Auch kümmerten sie sich um ihre Wohnung, wenn Annalena Urlaub machte. Allerdings gab es in dieser Hinsicht einen auffälligen Unterschied: Das Ehepaar verbrachte oft ein Vierteljahr an der Adria, während Meissner nie länger als drei Wochen verreiste.

»Und sie fahren immer nach Kroatien?«, erkundigte sich Barbara.

»Seit Jahren. Dorothee … sie hat damals noch im Kulturhistorischen Museum gearbeitet, bevor sie sich dann selbstständig machte.«

»Was macht sie denn beruflich?«

»Sie arbeitet als Kunsthistorikerin, Kunsthändlerin und Kuratorin. Freiberuflich. Wenn Sie Zeitung lesen, müssen Sie ihren Namen eigentlich kennen, denn gerade in der letzten Zeit war sie viel in der Presse. Sogar im Fernsehen. Im Nordmagazin habe ich sie mindestens zweimal gesehen.« Annalena Meissner kamen die Tränen und sie nestelte ein frisches Papiertaschentuch aus ihrer Handtasche, mit dem sie sich über die Augen fuhr. »Zum 55. Jubiläum der Städtepartnerschaft zwischen Rostock und Rijeka hat sie die Ausstellung in der Kunsthalle organisiert. Oder kuratiert, so heißt das wohl.«

Barbara wusste augenblicklich, wovon die Frau sprach, obwohl sie die Ausstellung nicht gesehen hatte und auch keinen Grund sah, diesen Mangel zu beheben. In der Ostsee-Zeitung hatte man Bilder gezeigt, auf deren Anblick sie gern verzichtete. »Der Titel ist ›Rostock 55 Rijeka‹, nicht wahr?«

Annalena Meissner nickte. »Es gibt auch eine Parallelausstellung in Rijeka. Die heißt ›Rijeka 55 Rostock‹. Dorothee präsentiert …« – ein kurzes Aufstöhnen – »Dorothee hat dort Künstler aus Mecklenburg-Vorpommern präsentiert. Und hier bei uns natürlich Künstler aus Rijeka. Wobei, es geht ja um eine Partnerschaft … also es hängen immer Werke von Gästen und Einheimischen zusammen in den Ausstellungen.«

»Verstehe. Ich muss Sie leider bitten, mir so genau wie möglich zu beschreiben, was heute Abend passiert ist. Aber zuvor möchte ich noch wissen, woher Sie Frau Klaas und natürlich auch ihren Mann kennen.«

Meissner nickte und wischte sich noch einmal über das Gesicht. »Wissen Sie, ich habe meine ganze Kindheit und Jugend in Reutershagen verbracht. Wir haben in der Kuphalstraße gewohnt, also direkt am Schwanenteich. Wie weit mag es zur Kunsthalle gewesen sein? Fünf-, sechshundert Meter? Aber, ich muss es zugeben, meine Eltern hatten einen sehr eingeschränkten Horizont. Obwohl mein Vater Ingenieur war und meine Mutter Ökonomie studiert hatte.«

Eigentlich war jetzt nicht die Zeit für Annalena Meissners Lebensgeschichte, doch Barbara schwieg in der Hoffnung, etwas Relevantes zu erfahren.

»Mein Vater hat auf der Neptunwerft gearbeitet, allerdings nicht für die Werft selbst, sondern für die dortige Außenstelle der Schiffswerft Rechlin. Sie haben Rettungsboote entworfen, Rettungsmittel für die Seefahrt überhaupt. Meine Mutter war im VEB Schiffselektronik, zuletzt war sie Abteilungsleiterin. Beides gehörte ja zum Kombinat Schiffbau und … Verzeihung, ich will nicht abschweifen.« Meissner klaubte ein weiteres Papiertaschentuch aus der Tasche, behielt es aber nur in der Hand. »Sie sind studierte Menschen … beide leben noch, im PflegeWohnPark Kühlungsborn … Ja, studierte Leute, aber ihre Interessen beschränkten sich auf Wohnung, Garten, Datsche und Lada. Dieses Auto, Sie wissen sicher? Und nach der Wende? Nur noch Reisen! ›Wir müssen ja was nachholen‹, haben sie gesagt und sind jedes Jahr an die spanischen Mittelmeerküsten gefahren, an Orte, an denen man Deutsch spricht. Sie wissen weniger über Spanien als ich, die ich nur einmal für eine Woche in Sevilla gewesen bin.«

Nun war sie doch wieder abgeschweift, was Barbara mit einem Zusammenziehen der Brauen quittierte.

Meissner begriff sofort. »Kurz und gut, ich bin nie in der Kunsthalle gewesen. Aber dann … Es ist Jahre her … Ich habe eine Bekannte, wir waren früher an der Heinrich-Schütz-Schule, und sie arbeitete damals im Rathaus. Unter diesem Oberbürgermeister, wissen Sie, für den sich Kultur auf Windjammerparaden, Bier und Bockwurst reduzierte. So hat das jedenfalls Dorothee ausgedrückt. Da wollte wohl die Stadtverwaltung aus der Kunsthalle ein Autohaus machen. Und da endlich habe ich mir gesagt: Das geht nicht! So kann man mit einer Kultureinrichtung nicht umgehen! Als gäbe es nicht genug Autohäuser. Warum werfen wir die Rostocker Filetstücke immer nur schmierigen Typen in den Rachen? Nee! Und ich bin Mitglied im Förderverein ›Freunde der Kunsthalle‹ geworden. Keinen Tag habe ich diesen Schritt bedauert.«

»Und dort …«, fragte die nun doch etwas enervierte Barbara, »dort haben Sie Frau Klaas kennengelernt?«

»Ja. Und später auch ihn. Also den Mann. Michael. Er ist inzwischen auch Mitglied.«

Der Chef der Spurensicherung, Manfred Pentzien, bat zu Tisch. So nannte er es, wenn er ausgewählten Mitarbeitern der Mordkommission gestattete, einen Tatort näher in Augenschein zu nehmen. Bisher war das Haus der Familie Klaas allein sein Reich gewesen, nun war er bereit, sein Herrschaftswissen zu teilen.

Es war Uplegger, der den Chef Gunnar Wendel ins Haus begleitete. Zunächst betraten sie einen Flur, der mit den üblichen Möbeln zum Aufbewahren von Garderobe und Schuhen aussah wie die meisten Flure der Welt. Ungewöhnlich war die weiße Wandgarderobe, die aus einzelnen braunen Sticks bestand, die man vorklappen konnte, um Kleidungsstücke aufzuhängen. Im Kontrast zu diesem modernen Stück stand das barocke Tischchen, dessen Schublade herausgerissen worden war. Der Inhalt lag auf dem Boden zerstreut und bestand aus mehreren Schlüsselbunden, einem Paar roter Lederhandschuhe für Damen, ein paar Quittungen und Werbebriefen. Über dem Tischchen hingen zwei Stiche, die ältere Ansichten der See- und Hansestadt Rostock zeigten. Im Schuhregal, das auch neueren Datums war, standen die Schuhe so ordentlich aufgereiht, als erwarte man jederzeit die Stubenrevision eines Oberfeldwebels. Im Schirmständer befanden sich keine Schirme, sondern drei Paar Fußballschuhe unterschiedlicher Größe, doch auf jeden Fall für ein Kind bestimmt. Die Schuhe hatten einiges durchgemacht, von dem Kind wusste Uplegger noch nichts.

»Hatten sie Kinder?«, erkundigte er sich. Seine Frage war an beide Chefs gerichtet.

»Mindestens eins, denn die Mansarde ist eindeutig ein Kinderzimmer«, erwiderte Pentzien. »Ein Jungenzimmer, wenn es politisch korrekt ist, es so zu nennen. Ohne Gendersternchen und so. Hansa-Plakate an den Wänden, ein Hansa-Wimpel steht im Regal und ein Hansa-Schal hängt am Fensterknauf.«

»Es könnte ja auch ein Mädchen sein, das sich für Fußball interessiert«, meinte Uplegger.

»Mädchen haben mehr Bücher«, behauptete Pentzien.

»Sie haben drei Kinder«, ließ Gunnar Wendel verlauten. »Eine Tochter, zwei Söhne. Der älteste Sohn und die Tochter sind meines Wissens schon aus dem Haus. Es muss das Zimmer des Jüngsten sein.«

»Voilà!« Pentzien stieß eine Tür auf und wies in einen Raum, der hell erleuchtet war, weil seine Leute alle Lampen eingeschaltet hatten. Seine Geste gemahnte an einen Immobilienmakler.

Was Uplegger neben der unbeschreiblichen Unordnung und neben der jungen Frau im weißen Overall als Erstes auffiel, waren die teuren Möbel im Bauhausstil. Zweifellos handelte es sich um Repliken, aber auch diese waren teuer. Da Upleggers verstorbene Ehefrau als Designerin ihr Geld verdient hatte, kannte er sich ein wenig aus und erkannte das nougatfarbene Sofa und die beiden dazu passenden Sessel als Werke von Le Corbusier. Für die drei Stücke hatte man bestimmt mehrere Tausender hinblättern müssen. Im Übrigen war das große, zum Garten hin gelegene Zimmer minimalistisch eingerichtet, vermutlich damit die drei Gemälde an den weißen Wänden den Raumeindruck bestimmen konnten. Doch alles, was es sonst noch gab, hatte zumindest einmal an der Wand des Bauhauses gelehnt – der Esstisch mit den sechs Armlehnstühlen, die niedrigen kommodenartigen Schränke, die beiden schlanken Bücherregale. Auf einer der Kommoden stand ein großer Flachbildfernseher, daneben ein Hi-Fi-Tower von Bose. ›Von wem auch sonst‹, dachte Uplegger und ein leises Neidgefühl krampfte sein Herz zusammen. So einen Tower hätte auch er gern sein Eigen genannt.

Die gut verpackte junge Kollegin von Manfred Pentzien hatte nur kurz aufgeschaut und sich dann wieder der Sicherung von Fingerspuren gewidmet. Dass sie jung war, verriet allein ihr Gesicht, vor allem der jugendlich frische Teint. Pentzien, der nicht müde wurde, sich darüber zu beklagen, dass alle Schutz- und Kriminalpolizisten der Welt an Tatorten mehr Spuren verursachten als sicherten, hatte seine Kapuze in den Nacken geschoben und verteilte Haare und Schuppen.

Die Gemälde sagten Uplegger zunächst nichts. Es waren eher zeitgenössische Werke, jedenfalls durften sie alle nach 1945 entstanden sein, vermutlich sogar vor gar nicht langer Zeit. Ein ziemlich großer Schinken, der zwischen dem Eckfenster und der Gartentür hing, zeigte auf eine pastose weiße Leinwand aufgetragene, extrem breite schwarze Pinselstriche, was an Franz Kline gemahnte, aber beim Nähertreten entdeckte Uplegger die Signatur P. Fischer. Ein in schreienden Acrylfarben gehaltenes, der Farbfeldmalerei ähnelndes Werk, das an der Wand neben dem Bildschirm angebracht war, war von H.P. signiert, und das dritte Gemälde im Bunde enthielt auf cremefarbenem Grund einen breiten orangefarbenen Querstrich, auf dem schwarze Buchstaben tanzten und das Wort ETERNITY bildeten. Der Stil erinnerte Uplegger an etwas. Die Signatur überzeugte ihn vollends: Penelope Pastor. Die Künstlerin aus Schwaan kannte er. Wenn er Barbara davon berichtete, würde sie aufschreien, denn für sie war die Pastor ein dunkelrotes Tuch.

»Habt ihr schon Anhaltspunkte dafür, was die Täter gesucht haben könnten?«, fragte der Mann ohne Eigenschaften.

»Raubgut, würde ich meinen«, sagte Pentzien. »In einem der Arbeitszimmer – dem des Mannes wohl – gibt es einen Wandtresor. Die Tür war zwar zu, aber nicht abgeschlossen. Einer meiner Leute hat sie einfach aufgezogen, und siehe da: Der Safe ist leer.«

Inzwischen war der neue Tag angebrochen. Das Gespräch mit Annalena Meissner hatte nun doch länger gedauert als beabsichtigt, aber das hatte nicht an der Kommissarin gelegen, sondern an der unerwarteten Mitteilungsfreude der Zeugin. Barbara hatte ein schlechtes Gewissen gegenüber Liselotte Hagemeister, aber sie hatte dafür ein erstes Bild von den Geschädigten, das recht umfassend war. Sie wusste nun, dass Dorothee Klaas vor ungefähr sechs Jahren die Galerie Art’s Art am Alten Markt erworben und damit vor der Pleite bewahrt hatte. Spezialisiert hatte sie sich auf norddeutsche Künstler und auf das östliche Europa, schließlich war man in Stettin ebenso schnell wie in Berlin. Dank ihrer und ihres Mannes Begeisterung für Kroatien vertrat sie auch kroatische Künstler und welche aus anderen Ländern des ehemaligen Jugoslawien, vor allem aus Slowenien.

Annalena Meissner hatte das Haus verlassen und sich auf den Heimweg gemacht, Barbara Riedbiester hatte sich bei ihrer ehemaligen Lehrerin Hagemeister entschuldigt. Sie waren gleich in der gemütlichen Küche geblieben, die alte Frau hatte Tee gekocht, und nun saßen sie an dem rustikalen Küchentisch. Durch das Fenster konnte man in den Nachbargarten blicken, wo noch immer Kriminaltechniker und Schutzpolizisten im Licht der Strahler nach Spuren suchten.

Frau Hagemeister blickte immer mal wieder hinaus und seufzte. »Es muss um das Jahr 2000 gewesen sein, also vor ungefähr 20, 21 Jahren, da hat das Ehepaar Klaas das Haus gekauft. Vorher hat ein hoher SED-Funktionär darin gewohnt, der ist dann 1999 gestorben. Er wollte unbedingt noch den Jahrtausendwechsel erleben … Aber der Mensch kann ja viel wollen, wenn das Schicksal anders entschieden hat. In seinem Fall hieß das Schicksal schlicht und ergreifend Altersschwäche. Er war Jahrgang 1901!« Frau Hagemeister nahm einen Schluck Tee, dann fuhr sie fort: »Ich war ganz froh, dass junge Leute eingezogen sind. Obwohl ich ja damals selbst noch keine vertrocknete alte Schachtel war. Mein Mann war nicht so begeistert. Kurz und gut: Sie zogen ein. Die Eltern und die beiden Kinder Johannes und Miriam. Der Große dürfte acht oder neun gewesen sein, die Schwester vier oder fünf. Frau Klaas hat sich damals in der Nachbarschaft vorgestellt und jedem eine kleine Pralinenschachtel gebracht, auf gutes Zusammenleben und gegenseitige Hilfe. Das wäre heute unvorstellbar.«

»Warum?«, erkundigte sich Barbara.

»Erfolg und Geld haben aus zwei liebenswürdigen Menschen zwei arrogante Ekel gemacht«, antwortete Frau Hagemeister. »Sie betrachten alle Menschen von oben herab. Sie würden nie etwas in der Nachbarschaft borgen, weil sie sich alles kaufen können. Das ist ihre Botschaft. Gegen zwei Familien haben sie wegen Lärmbelästigung geklagt. Einmal gegen Leute vorn in der Parkstraße, weil ihre Kinder zu laut im Garten spielen. In dieser Sache haben sie verloren. Anders beim Hund.«

Barbara runzelte die Stirn. »Welcher Hund?«

»Die Kruses, die zwei Häuser weiter in Richtung Laurembergstraße wohnen, haben einen großen Hund … Labrador?« Frau Hagemeister zuckte mit den Schultern. »Ich habe nicht die geringste Ahnung von Hunden. Aber so absurd es klingen mag: Eine Richterin am Amtsgericht hat Bellzeiten verordnet. Vormittags und nachmittags je eine halbe Stunde, und ab 22 Uhr ist generell Schluss. Dorothee und Michael Klaas sind vermutlich die unbeliebtesten Bewohner der Schliemannstraße zwischen Liskow-, Park- und Laurembergstraße. Das hat sogar auf ihre Kinder abgefärbt. Sie hatten zwar Freunde, aber nicht aus der Umgebung.«

Das Arbeitszimmer im ersten Stock machte einen aufgeräumten Eindruck, was zu dem Umstand, dass die Täter das ganze Haus durchsucht haben sollten, nicht recht zu passen schien. Jonas Uplegger registrierte es, sagte aber noch nichts dazu. Das Zimmer war eindeutig das des getöteten Mannes, der als Architekt gearbeitet und gemeinsam mit seinem Sohn Johannes das Architekturbüro Klaas & Klaas betrieben hatte. Allein die Aufschriften der Aktenordner verrieten es: Da war von einem Bauvorhaben Stadtvillen Froschgraben die Rede oder vom Projekt TOI-Rand 1. Planungsstadium Entwürfe unrein, aber noch beweiskräftiger waren die Ordner und Mappen mit den Aufklebern Klaas & Klaas GbR. Auch die Bücher in einem niedrigen, aber breiten Regal sprachen Bände: »Brandschutz«, »Musterbuch Isolierung«, »Fachkunde Holztechnik«, »Türen- und Fensterbau«. Auf dem ziemlich aufgeräumten Schreibtisch am Fenster, aus dem man einen Blick auf die Schliemannstraße und ein gegenüberliegendes Haus hatte, standen mehrere Bände einer juristischen Schriftenreihe: »Öffentliches Baurecht Band I: Bauordnungsrecht«, »Öffentliches Baurecht Band II: Bauordnungsrecht, Nachbarschutz, Rechtsschutz« sowie »Kreditsicherungsrecht« und »Umweltrecht«, vermutlich alles Dinge, die ein Architekt zu berücksichtigen hatte.

Neben dem Schreibtisch, den Aktenregalen und niedrigen Schränken fanden sich in dem nicht sehr großen Raum eine Couch, auf der mehrere zerwühlte Decken lagen, davor ein runder Glastisch und zwei Stühle aus namenloser Herstellung. Auf diese Weise war eine kleine Sitzecke improvisiert worden, außerdem sah es danach aus, als hätte Michael Klaas in Arbeitspausen ein Nickerchen gemacht. Oder gelesen, denn auf dem Glastisch lag ein Buch. Das große Titelbild zeigte in den Himmel ragende Betontürme, womöglich zwei Silos. Darüber stand in schlichter zweireihiger Schrift: TOWARD A CONCRETE UTOPIA: ARCHITECTURE IN YUGOSLAVIA 1948–1980. Rechts unten war bescheiden ein Signet angebracht: MoMA. Uplegger hatte eine Ahnung, was es bedeutete. Er hatte bereits vor dem Betreten des Hauses Handschuhe übergestreift und konnte sich daher erlauben, das Buch aufzuschlagen. Tatsächlich, so verriet der Klappentext, handelte es sich um das Museum of Modern Art in New York.

In einer dem Fenster und damit auch dem Schreibtisch gegenüberliegenden Ecke stand ein offener Waffenschrank mit Platz für fünf Gewehre und einem Fach für Munition. Uplegger deutete dorthin.

Manfred Pentzien verstand die Geste. »Zur Untersuchung beschlagnahmt«, sagte er knapp.

»Wie viele Waffen hatte er?«, fragte Wendel.

»Fünf, die mutmaßliche Tatwaffe eingeschlossen. Mehr hätten in den Schrank ja auch nicht gepasst.«

»Alles Jagdwaffen?«

»Alles Jagdwaffen«, bestätigte Pentzien. »Also Gewehre. Waidmesser und dergleichen haben wir bisher nicht gefunden, aber wir stehen ja auch erst am Anfang.«

Die Wände in dem Arbeitszimmer waren ebenfalls mit Kunstwerken geschmückt, die allerdings kleiner ausfielen als im Wohnbereich, was sicher mit der Raumgröße zu tun hatte. Dominierend war jedoch ein sehr sorgfältig gezeichneter Plan für ein Wohngebiet, der an der Wand links vom Schreibtisch hing: Wer an dem Schreibtisch saß, musste nur ein wenig den Kopf wenden, um ihn zu sehen. Auf dem Plan gab es ein Schriftfeld, darauf befand sich der Firmenaufkleber sowie die Beschreibung: Projekt TOI-Rand 1. Planungsstadium Reinentwurf 17 IV 21. Jemand hatte den Plan mit rotem und schwarzem Filzstift so heftig durchgestrichen, dass er an einer Stelle einen Riss von mindestens zehn Zentimetern Länge aufwies.

Uplegger warf nur einen kurzen Blick auf die gerahmten Zeichnungen, Ölskizzen und Aquarelle, die keineswegs alle abstrakt waren, eher im Gegenteil. Nur bei einer Ölstudie verweilte er etwas länger. Dargestellt war ein Fischerdorf, jedenfalls nahm Uplegger das an; allem Anschein nach ein mediterranes. Es gab eine Signatur: V. Bukovac 09. Der Name sagte dem Kommissar überhaupt nichts. Allerdings hielt er ihn für südosteuropäisch, für kroatisch oder serbisch oder dergleichen. Er wollte ihn schon googeln, hielt es aber dann doch nicht für wichtig genug angesichts der Umstände, unter denen er sich hier befand.

Viel wichtiger war im Moment der Tresor. Es handelte sich nach der fachkundigen Auskunft ihres Begleiters um einen Wandtresor der Firma Eisenbach mit einem elektronischen Zahlenschloss und doppelwandiger Tür. Sehr groß war er nicht, aber wichtige Unterlagen oder kostbaren Schmuck konnte man schon in ihm aufbewahren. Der Tresor war in die Wand eingemauert, die das Arbeits- vom Nachbarzimmer schied, das nach Auskunft von Manfred Pentzien das Schlafzimmer des Ehepaares war. Anders als in allen Filmen, in denen Wandtresore vorkamen, hatte man ihn nicht hinter einem Bild verborgen, sondern er war für jedermann sichtbar. Vielleicht ließ das darauf schließen, dass Michael Klaas’ Arbeitszimmer für Besucher tabu gewesen war. Wie angekündigt war der Safe leer.

»Was mich irritiert, ist die Ordnung«, sagte Uplegger. »Es sieht aus, als wäre dieser Raum nicht durchsucht worden.«

»Das haben wir natürlich auch registriert«, meinte Pentzien. »Ich kann nicht definitiv sagen, dass die Täter nicht im Schreibtisch gewühlt haben, denn darin sah es aus wie bei Hempels unterm Sofa. Könnte natürlich auch die schöpferische Unordnung des Herrn Architekten gewesen sein.«

»Sind denn alle anderen Räume durchwühlt worden?«, fragte Uplegger noch einmal nach.

»Alle, sogar die Schränke in Bad und Küche. Nun ist dieses Zimmer das letzte im Obergeschoss nach Schlaf- und Kinderzimmer. Will sagen, nachdem die Täter den Tresor entdeckt und die Zahlenkombination aus den Geschädigten herausgeschnitten hatten«, Pentzien hüstelte, »haben sie vielleicht die Schätze gefunden, auf die sie scharf waren. Warum hätten sie dann noch weitersuchen sollen?«

»Klingt logisch.«

»Ihnen, Kollege Uplegger, dürfte aus langjähriger Zusammenarbeit bekannt sein, dass ich nie etwas sage, das nicht logisch ist.« Das hörte sich zwar überheblich an, war aber eher selbstironisch gemeint, denn Pentzien grinste von Ohr zu Ohr.

»Ihre Logik ist legendär«, bestätigte Uplegger schmunzelnd.

Der Mann ohne Eigenschaften hatte inzwischen eine Schreibtischschublade und dann noch eine geöffnet und rief: »Die sind ja leer!«

»Wir haben schon alles sichergestellt. Das meiste ist bereits auf dem Weg ins Labor be-zett-weh zur Auswertung.«

»Und? Etwas auf den ersten Blick Interessantes?«

Pentzien hob die Achseln. »Das aus meiner Sicht Interessanteste dürfte die Mappe mit Kontoauszügen und dann das Inventarverzeichnis der Gemälde, Zeichnungen, Stiche und Grafikmappen sein.«

»Grafikmappen?« Uplegger schaute sich suchend um. Wo sollten hier solche Mappen Platz gefunden haben?

»Im Homeoffice der Frau. Das ist unten. Aber keinen Schreck kriegen, dort sieht es aus wie nach einem Bombeneinschlag.«

Jonas Uplegger und der Chef hatten nur einen flüchtigen Blick in das Schlafzimmer und dann in das Zimmer des jüngsten Sohnes geworfen, die beide deutliche Zeichen einer hektischen Durchsuchung aufwiesen. Wendel hatte sich in den Keller begeben, um sich die Opfer und die Tatortsituation anzuschauen, sodass Uplegger nur in Begleitung von Pentzien ins Arbeitszimmer der Frau getreten war. Doch Pentzien hatte ihn mit den Worten »Sie sind ja schon groß« allein gelassen, weil er sich um die Arbeit seiner Leute im Garten kümmern wollte.

Uplegger hatte sich noch nicht umgesehen, als Barbara hereinkam. Sie hatte von Pentzien erfahren, wo er sich aufhielt, und den dringenden Wunsch geäußert, sich mit ihm auszutauschen. Zunächst blieb sie wie angewurzelt stehen. »Das sieht ja hier noch katastrophaler aus als im Wohnzimmer!«, bemerkte sie. In das hatte sie soeben einen Blick geworfen.

»Ja. Bis auf das Arbeitszimmer des Mannes wurden alle Räume durchwühlt. Eigentlich kann das nur bedeuten, dass sowohl die Frau als auch der Mann der Folter zunächst standgehalten haben. Wohl sogar lange Zeit, aber irgendwann müssen sie dann doch die Zahlenkombination des Tresors verraten haben.«

»Der Herr über Pinsel und Pinzette meint, sie hätten bisher keine Einbruchspuren gefunden«, sagte Barbara. »Möglicherweise haben sich die Täter unter einem Vorwand Zugang verschafft. Oder sie waren sogar Bekannte. Im schlimmsten Fall Freunde. Wobei es mit Freundschaften wohl eher mau aussah.« Im selben Moment fiel ihr ein, dass der Verfasser der Studie über Lütten Klein auch Mau hieß, und sie musste schmunzeln.

»Tja …« Uplegger widmete sich zunächst den Kunstwerken, die die Wände zierten; es waren überwiegend eher abstrakte oder am Expressionismus und Konstruktivismus orientierte Arbeiten, aber auch ein paar Landschaften und sogar ein Porträt: die Kohlezeichnung einer Frau mittleren Alters. Das Ehepaar Klaas hatte sich eine umfangreiche Sammlung zugelegt, über deren Wert er nicht einmal spekulieren konnte. Ob etwas aus der Kollektion gestohlen worden war, entzog sich ebenfalls seiner Kenntnis, allerdings schien auf den ersten Blick nichts zu fehlen, zumindest nicht an den Wänden. Die Gemälde in Acryl und Öl, die Aquarelle und Zeichnungen, die er in Augenschein nahm, waren allesamt signiert. Manchmal war es mühsam, die Signaturen zu entziffern, und eigentlich war es auch überflüssig, da ja eine Inventurliste vorlag, doch Uplegger hatte nun einmal von seiner verstorbenen Frau ein gewisses Interesse für die Künste geerbt. Die Namen T. Dąbrowski, Anđelko Kos oder Vuk Kovačić sagten ihm nichts, deuteten aber ein Interesse für östliche Künstler an. Eine kleine Landschaftsskizze war von dem Künstler Bukovac signiert, dem er im Arbeitszimmer des Mannes bereits begegnet war, hier nun erfuhr er obendrein den Vornamen: Vlaho. Es gab auch zwei eher expressionistische Aquarelle von einer Küste mit Windflüchtern, die aus dem Pinsel eines gewissen Rolf Kammerer stammten, dessen Namen Uplegger bereits gehört oder gelesen hatte und der seiner Meinung nach in oder bei Rostock lebte. Ein schlichter Holzrahmen enthielt die mit Goldfarbe auf blaues Papier geschriebenen Worte:

RIONER

ICH bin mit dem ersten schmutzigen HINTERN zufrieden, der sich bei mir vorstellt, nur muss er eine HAUT haben, die das LICHT nicht abstößt. ICH HINTERNHAUTLICHT.

Auguste RENOIR

Auch das sollte zweifellos ein Kunstwerk sein.

Über Dorothee Klaas’ Schreibtisch hingen drei Bleistiftskizzen eines Segelschiffs mit geblähtem, aus einzelnen Bildern zusammengesetztem Segel, eindeutig das zum Stadtjubiläum entstandene und im Stadthafen festgemachte SHIP OF TOLERANCE. Auf einer der Skizzen stand die Widmung: For Doro the Best. Emilia & Ilya K.

»Dunnerlittchen!«, entfuhr es Uplegger.

»Was Sie nicht sagen!« Barbara Riedbiester war neben ihn getreten und beugte sich zu den Skizzen vor. »Gott, wie uninteressant! Ich habe etwas, da können Sie mindestens zweimal ›Dunnerlittchen!‹ rufen.«

»Aber sehen Sie denn nicht? Zur 800-Jahr-Feier hat ein russisches Künstlerehepaar … Inzwischen leben sie wohl in den USA, in New York. Ich komme nicht auf den Namen …« Uplegger schnippte mit den Fingern, aber das half seinem Gedächtnis auch nicht auf die Sprünge. »Ka… Kabu…? Ich weiß es nicht. Es sind jedenfalls Konzeptkünstler …«

»Uns bleibt auch nichts erspart«, sagte Barbara. »Konzeptkünstler! Aber noch schlimmer …«

»Frau Klaas muss mit beiden befreundet gewesen sein.«

»Sie sind ja ganz außer Atem vor Begeisterung«, stellte die Hauptkommissarin fest. »Frau Klaas hatte ihre Finger in allen möglichen Sachen: Sie ist Mitglied im Rostocker Kunstverein, sie ist an der Organisation der Rostocker Kunstnacht und der OZ-Kunstbörse beteiligt, sie hat Ausstellungen zum Jubiläum der Städtepartnerschaft Rostock-Rijeka kuratiert und und und. Habe ich etwas vergessen? Ja. Im letzten Jahr war Rijeka europäische Kulturhauptstadt. Es gab ein paar Beiträge aus Rostock, sozusagen freundschaftliche oder partnerschaftliche Beiträge. Maßgeblich beteiligt waren Dorothee Klaas, ihre Galerie und einige von ihr vertretene Künstler. Allerdings waren die Ausstellungsorte dann aufgrund von Corona lange geschlossen, einige Künstler bestanden darauf, ihre Werke nach Ablauf der vereinbarten Zeit zurückzuerhalten, obwohl die Veranstaltungen verschoben oder verlängert worden waren. Die Frau hatte das, was man früher Beziehungen nannte. Oder wie man es heutzutage ausdrückt: Sie war gut vernetzt. Und nun schauen sie doch endlich, was ich gefunden habe!« Barbara hielt ein Buch in der behandschuhten linken Hand und zeigte ihm zunächst die Vorderseite: Unter den Namen von vier Autorinnen stand der Titel Hrvatski za početnike 1. Udžbenik i rječnik. Der Verlag oder Herausgeber belegte ein kleines Feld in der linken unteren Ecke: Hrvatska Sveučilišna Naklada. Darunter befand sich ein kleines Symbol, ein aus 16 winzigen roten Quadraten gebildetes Quadrat, unter dem wiederum stand: Croaticum. Centar za hrvatski kao drugi i strani jezik. »Das allein ist schon furchtbar«, meinte Barbara. »Diese Sonderzeichen …«

»Diakritische Zeichen«, sagte Uplegger.

»Ach, Sie! Wie viel überflüssiges Wissen Sie angehäuft haben. Und nun schauen Sie weiter! Ich habe willkürlich eine Seite aufgeschlagen. Hier!« Sie öffnete das Buch. »Seite 213.« Barbara tippte auf eine Liste von Vokabeln, die offenbar zu einer Übung gehörten, bei der man Sätze ergänzen sollte. Die Sätze begannen mit Ponedjeljkom, Utorkom, Srijedom, Četvrtkom …

»Sieht aus wie die Wochentage«, murmelte Uplegger. »Instrumental …«

»Aber sehen Sie sich mal dieses Wort an!« Barbara wies auf Četvrtkom. »Ein Wort, das nicht nur mit einem Sonder… mit einem dia…?«

»Diakritisch.«

»… mit einem diakritischen Zeichen anfängt, nein, es gibt auch fünf aufeinanderfolgende Konsonanten. Wer soll denn so etwas aussprechen können?«

»Kroaten«, erwiderte Uplegger lapidar.

»Eine Sprache, in der es fünf aufeinanderfolgende Konsonanten gibt … Und in einem Fall, in der womöglich eine solche Sprache eine Rolle spielt, ermitteln wir … Heinrich, mir graut vor dir!«

»Heinrich? Ach, so, natürlich … Sieht so aus, als hätte Frau Klaas Kroatisch gelernt.«

»Genau danach sieht es aus.« Barbara zeigte auf ein Regal, auf dem mehrere Bücher lagen – in den Regalfächern standen dagegen Akten. »Ihre Liebe zu Kroatien muss wirklich riesig gewesen sein. Aber eins sage ich Ihnen, Uplegger, Sie sind derjenige von uns, der sein Abitur an der Herder-EOS gemacht hat. Das war eine Schule mit erweitertem Russischunterricht. Ich weiß es genau, Russisch ab der dritten Klasse.« Sie feixte. »Habe ich nicht gehört, wie sie voll Inbrunst ›Instrumental‹ geflüstert, nein, was sage ich, gestöhnt haben? Alle diese Sprache betreffenden Sachen erledigen Sie!«

»Ich habe fast alles vergessen«, bekannte Uplegger, der sich dem Bücherstapel näherte, auf den seine Kollegin gedeutet hatte. Dieser befand sich neben einer ungefähr 30 Zentimeter hohen Drahtskulptur. Aus dem Draht war ein menschlicher Körper geformt, jedenfalls konnte man das mit etwas gutem Willen vermuten. Zunächst nahm Uplegger eine »Kompaktgrammatik Kroatisch« zur Hand, unter der sich ein Buch mit Verbtabellen befand. Dem folgte eine Broschüre mit dem Titel »Deutsche Lehnwörter in der Stadtsprache von Zagreb«, und er konnte nicht widerstehen, eine beliebige Seite aufzuschlagen. AUFGEREGT, las er, was wenig überraschend aufgeregt bedeutete, darunter das Wort AUFŠNIT für Aufschnitt und AUSPUH für Auspuff, was ihn amüsierte. Das nächste Buch machte bereits vom Titel einen anspruchsvollen Eindruck: »Heidelberger Publikationen zur Slavistik: Grammatikhandbuch des Kroatischen«. »Frau Klaas scheint Kroatisch nicht nur gelernt, sondern regelrecht studiert zu haben«, meinte er. »Mit geradezu wissenschaftlicher Akribie.«

»Tja, bei dieser anscheinend überbordenden Liebe zu Kroatien wohl kein Wunder«, erwiderte Barbara, die sich über die Aktenordner hermachte. Auf den ersten Blick gab es nichts, was ihre Aufmerksamkeit zu fesseln vermochte.

Uplegger schlug auch das Grammatikhandbuch auf. Er las nur die eine Überschrift: Das präsentische Adverbialpartizip – das genügte ihm schon. Eine gewisse Bewunderung für die Tote erfüllte ihn, aber das Buch wollte er sofort schließen. Dann bemerkte er jedoch, dass einige Seiten weiter ein Foto einige Millimeter aus dem oberen Schnitt ragte, das vermutlich als Lesezeichen diente. Er öffnete das Buch an dieser Stelle. Ein sehr hübscher junger Mann lächelte ihn an. »Hier!«, rief er.

Barbara Riedbiester, die stirnrunzelnd vor der Ablage mit der Aufschrift Penelope Pastor verharrte, drehte sich um. Mit dieser Künstlerin hatte sie bei einem früheren Fall zu tun gehabt; ihre Begegnung war nicht der Beginn einer wunderbaren Freundschaft gewesen, sondern hatte viel mehr eine ewige Aversion begründet.

»Diente als eine Art Lesezeichen. Sie war bis zum nichtmodalen Vorgangspassiv vorgestoßen …«

»Die Glückliche!« Seine Kollegin kam näher und betrachtete die Aufnahme. Der abgebildete junge Mann war um die 30 und sah aus wie ein Fotomodell. Er war schwarzhaarig, hatte braune Augen und ein strahlendes Zahnpasta-Werbungslächeln – ein solcher Mann kriegte alles herum, was er haben wollte – Frau, Mann, Diverses. Das wusste er, und das Lächeln hatte etwas Selbstverliebtes. Der Fotograf oder die Fotografin hatte nicht nur sein Gesicht aufgenommen, sondern auch seinen vielversprechenden Oberkörper, der in einem quergestreiften Shirt verpackt war und verriet, dass in dieser sterblichen Hülle jede Menge Sport steckte. Den Hintergrund bildete das Bugspriet eines Seglers, dann waren ein Stück Meer in Touristikerblau und in der dunstigen Ferne eine olivgrüne Insel zu sehen, vielleicht auch eine Landzunge. Das Bild sah nach Urlaub aus, nach Sommerliebe oder Kurschatten. Barbara Riedbiester fand es zum Kotzen.

»Hinten steht was drauf«, sagte Uplegger und drehte das Foto um.

Die Kommissarin musste die Augen zusammenkneifen. Seit Jahren hatte sie eine Brille, aber sie setzte sie nicht gern auf, obwohl sie damit wie eine Professorin aussah. Das behauptete jedenfalls ihre beste Freundin Claudia. Barbara wollte nicht wie eine Professorin aussehen. Cavtat, August 2019 entzifferte sie und fragte: »Was ist Cavtat? Oder wo?«

»›Wo?‹ scheint mir die korrektere Frage zu sein«, erwiderte Uplegger, legte die Fotografie auf den antiken Tisch und zückte sein Smartphone.

Sie grinste.

Er wusste, was dieses Grinsen bedeutete, und nahm ihr den Wind aus dem Segeln: »Ja, es ist urkomisch, dass ich bloß ein Nokia habe, also das zweifelhafte Produkt einer ehemaligen Gummistiefelfabrik. Ich bewundere zutiefst Ihr iPhone und bin furchtbar neidisch. Eines Tages lauere ich Ihnen auf dem Heimweg auf, schlage Sie nieder und stehle es. Das wollten Sie doch hören?«

»Nein, ich wollte was über Cavtat hören.«

»Wikipedia behauptet, dass es Tsavtat ausgesprochen wird, nicht ›Kavtat‹. Es ist eine Ortschaft 20 Kilometer südlich von Dubrovnik mit knapp über 2000 Einwohnern. In der Antike gab es dort die griechische Siedlung Epidauros, später eine römische Kolonie namens Epidaurum. Der Hafen ist attraktiv für Jachten. – Das gibt’s doch nicht! – Einer der Söhne der Stadt ist Vlaho Bukovac! Kroatischer Maler.«

»Den kennen Sie wohl?«

Uplegger schwieg. Er tippte den blau hervorgehobenen Namen an und gelangte so zu der Seite über Bukovac. Der Maler hatte von 1855 bis 1922 gelebt und wurde als herausragender Vertreter des kroatischen Jugendstils bezeichnet – dann waren die beiden kleinformatigen Werke im Besitz des Ehepaares Klaas womöglich einiges wert.

»Und in diesem Tsavtat wachsen so schöne Männer?«, fragte Barbara mit Blick auf das Foto.

»An jeder Pinie einer«, sagte Uplegger und steckte sein Telefon wieder ein.

Liselotte Hagemeister fühlte sich unbehaglich. Sie hatte kein Auge zugetan und war während der Nacht immer wieder an das Fenster getreten, von dem aus sie das Nachbarhaus sehen konnte. Inzwischen waren die Strahler im Garten erloschen und abgebaut, aber hinter den erleuchteten Fenstern sah sie immer wieder jemanden in einem weißen Schutzanzug vorbeihuschen. Die Morgendämmerung kroch herauf.

Vom Abtransport der Leichen hatte Frau Hagemeister nichts mitbekommen – oder befanden sie sich noch im Haus? Die alte Lehrerin fröstelte. Sie war nicht neugieriger als andere und wollte die Nachbarschaft keineswegs kontrollieren, aber um sich nach langem Sitzen und Lesen die Beine zu vertreten, kam es häufiger vor, dass sie aus einem Fenster schaute. Manchmal blickte sie in den Garten und schaute den Vögeln zu, sah eine Katze vorbeischleichen oder erfreute sich einfach an den Blumen. Hin und wieder guckte sie auf die Schliemannstraße, auf der aber selten etwas geschah, das sie nicht sofort wieder vergaß. Ja, auch das Haus der Familie Klaas nahm sie gelegentlich in Augenschein. Nun beunruhigte sie das Gefühl, irgendetwas Wichtiges gesehen zu haben. Dass da etwas gewesen war, was die Polizei wissen sollte. Sie wusste aber nicht was.

Ihre frühere Schülerin hatte sie gefragt, ob sie in den vergangenen Tagen, vor allem jedoch am Montag etwas Verdächtiges bemerkt habe. Was war etwas Verdächtiges? An den Vornamen hatte sie sich komischerweise auf Anhieb erinnert, doch wusste sie überhaupt nicht mehr, wie die Kommissarin als Schülerin gewesen war. Durch irgendetwas ausgezeichnet konnte sie sich nicht haben, denn Schüler, bei denen das Leistungspendel in die eine oder andere Richtung ausschlug oder die durch ein besonderes Talent herausragten, vergaß man nicht. Barbara Riedbiester hatte nach Besuchern gefragt, auf der Straße parkenden Fahrzeugen, die noch nie auf der Schliemannstraße gestanden hatten, nach Leuten, die sich auffallend für das Haus interessierten – etwas in dieser Art. Frau Hagemeister hatte nichts zu antworten gewusst. Doch seit geraumer Zeit glaubte sie, dass sie tatsächlich etwas gesehen hatte. Etwas scheinbar Belangloses, wie die Polizistin sich ausgedrückt hatte. Oder etwas, das gar nicht so belanglos war.

Liselotte Hagemeister, die sich zeitlebens gerade gehalten hatte, schlurfte gebeugt in die Küche. Was hatte sie gesehen? Einen Wagen? Nein, eher eine Person. Sie musste sich am Türgriff festhalten, als sie begriff, dass nicht nur sie jemanden gesehen, sondern dass dieser Jemand auch sie angestarrt hatte.

Plötzlich hatte sie furchtbare Angst.

Mörder im Hansaviertel

Подняться наверх