Читать книгу Im Nebel kein Wort - Frank Hebben - Страница 5

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I

Tier; als könne der Wald sie wittern, zieht kalter Wind durchs Gras: Dostya bleibt stehen. Blätterrieseln, ein Vogel singt – nichts Seltsames. Sie macht die Augen auf, prüft das Kraut am Wegesrand, die Büsche; und den Schatten der Bäume, bevor sie weitergeht, einen Schirm als Gehstock, die Eisenspitze klickt auf Steinchen, dann schlammiger Pfad; freie Wurzeln sind Stufen. Mollig, aber flink, mit festem Gang, folgt sie dem Weg hinauf, links ein Hang, mit Buchen bestanden, rechts Gefälle, Gestrüpp.

Je steiler, desto kürzer wird ihr Tritt: einen Fuß vorgesetzt, neben dem Schirm, auf dessen Griff sie auch das Gewicht des Rucksacks abstützt, klimpernde Schnallen — danach den zweiten Schritt.

In einer Mulde hält sie an. Trinkt aus der Feldflasche. Lupft ihre Mütze: graues Haar; reibt den Schweiß weg. Sie bückt sich, zieht Strümpfe und Wollstrapse nach; ordnet ihren Rock, klopft Dreck aus den Militärstiefeln – ehe sie die Steigung nimmt, zum Hügel hoch, wo sie oben, auf der Kuppe, fern ins Tal blicken kann: Kornfelder, Weide, dort grast das Vieh. Der Rauch eines Dorfes; der Himmel trist. Bergab bremst sie das Tempo, indem sie ihren Schirm in den Matsch steckt: welkes Laub, aufgespießt. Schaut auf die Uhr, die leise tickt.

An Stämmen sucht sie die bemooste Wetterseite, hier westlich, also Osten, Süden, Norden, worauf sie einen Zettel zückt: blutverschmiert, mit Fingerabdruck; ihn studiert, ins Hemd zurücksteckt und ihren Marsch fortsetzt.

Zweige, Pfützen. Großer Stein. Ein sturmgefällter Baum liegt quer, ein zweiter, drübergestiegen. Auf einer Rodung rotten Holzstapel, voller Pilze, auch ein Feuerschwamm – am Gürtel ihre Beiltasche, öffnet sie, zückt das Werkzeug und holt aus, schlägt den braunen Fruchtkörper ab; etwas Erde, weggepustet, wickelt ihn ins Taschentuch.

Talwärts zu einem Zaun, sie rastet. Verblühte Gräser, die Stängel knistern: Kamille und Teufelshaar. Es ist friedlich und still. Dennoch behält sie die Landschaft im Auge, den Nebel; den zitternden Tau in den Spinnweben …

Saatkrähen kreischen davon.

Unter Sträuchern graut der Tag, in Halmen und Ähren, noch unwirklich, als die Morgenröte hinter den Hügeln aufsteigt, bis das Licht blendet. Dostya kneift ein Auge zu, wobei sie ihren Arm hebt, den Stundenzeiger ausrichtet, den Winkel zur Zwölf halbiert: nach Süden. Dann wird die Sonne von Wolken verdeckt, und Nieselregen wäscht den Dunst von den Feldern.

Sie spannt ihren Schirm, schultert den Rucksack, läuft los; die Richtung stimmt, geradewegs auf ein Gehölz zu — niedrige Äste, nasse Blätter, die über den Stoff kratzen und schleifen. Im Freien. Ein Schotterweg, abschüssig, von Rasen und durch Löwenzahn erstickt, der vom Regen entfärbt ist: die Blüten so blass wie die Pusteblumen.

Dostya biegt ab, den Abhang hoch, an einem Gatter entlang. Und plötzlich:

Oh, sagt sie.

Ein Reh. Witternd, die Ohren zucken; das Fell glänzt feucht. Schaut sie an, mit klaren Augen, ehe es davonspringt.

Und sie steht da und weint.

Hand in Hand, wie Bruder und Schwesterchen, jagen sie die Heide zum Wald hoch. Schneller, lacht Lilja, zieht Andrej mit sich – den vertrauten Geruch des Hofs im Pullover: von Kohlen und Schwefel alter Feuer; nach Sauerkraut, ranzigem Fett und gebratenen Kartoffeln, deren Schalen im Kompost verfaulen; ein Blumengesteck auf dem Esstisch; nach Tabak, speckigen Spielkarten; ein Bettlaken, ein Kissen und das Plumpsklo; das Sägemehl in ihrer Werkstatt; nach Schafsbock und nach Hund. Der saure Duft des Heus in der Morgenluft.

Mit der anderen trägt sie den Flechtkorb: kariertes Tuch, durch Nägel fest; rennt an einer Tränke vorbei, noch ein Zaun, ein Fliederbusch, dann der bemooste Wegstein, hier endet das Dorf, und passiert ihn.

Es regnet, keucht Andrej hinter ihr her. Wohin willst du?

Lilja zerrt ihn ins Dickicht: Efeu und Brombeerranken; von Dornen reißen sie sich los, laufen weiter – auf einen Hochstand zu, dessen Leiter schwarz verfault, aber die Sprossen halten, als sie die Bodenluke aufstoßen und nach innen klettern … düster. Das Fenster ist versperrt. Lilja schlägt den Riegel zurück, öffnet: draußen die Bäume, der Regen, stärker jetzt, es prasselt dumpf aufs Dach; schnell die Holzblende zu.

Im Korb verstecktes Brot, die Wurst, das Starkbier – und eine leere Konserve, von der sie den Bindfaden löst; das zerschnittene Blech flappt auf: ein Lichtspiegel, davor der Stumpen einer Kerze, mit dem Zündholz entfacht.

Warm und hell.

Das teilen wir uns, sagt sie, wobei sie die Flasche entkorkt; dran nippt. Sich die Lippen ableckt. Bitter. Wie Fencheltee. Willst du?

Weiß nicht.

Na; sie lächelt.

Gib her. Er trinkt. Und jetzt?

Warten wir ab.

Ich spüre nichts …

Wollen wir was spielen?

Klackernde Würfel im Becher.

Keine Lust.

Sie zuckt die Schultern, ehe sie die Strickjacke, dann hastig den Pullover auszieht: ihr Unterhemd, die schmalen Rippen. Mir ist zu warm, sagt Lilja. Dir nicht?

Andrej schluckt. Also, ich hab dich wirklich gern –

Ja?

Du weißt doch, dein Vater. Der hasst mich. Wenn er wüsste, dass ich hier, mit dir –

Zufrieden schließt sie die Augen: Küss mich.

Er beugt sich vor, und sie knutschen.

Regen, so stark, dass der Waldboden schäumt, plitscht aus den Kronen, in Wasserlachen, rinnt über Borke und Stein. Dostya, ein Geist, hebt ihren Schirm, um den Hügelkamm zu mustern: die Birken auf zerklüftetem Fels, krumm, sobald Böen ins Tal wehen.

Müde steigt sie zur Grenzmarke auf – eine von vielen, die hier oben wie Gräber stehen, uralt, mit traurigen Wappen; und weiß genau, wo sie ist. Zwischen Kletten, großen und kleinen, wandert sie auf dem Grat, bis sie einen Vorsprung erreicht, die Bäume im Rücken, vor ihr ein Hang, der zum Tiefland absinkt: Strauchschicht, und auf den Wiesen der Klee. Über einer Kapelle ziehen die Wolken dahin, Buntglas schillert, Kerzenlicht.

Ganz nah.

Sie nimmt den Steig zum höchsten Punkt, die Aussicht regengrau; und wieder abwärts — zum Gebetshaus oder ins Gebüsch: eine andächtige Stille, an den Bänken klebt Schweiß; der Weihrauch, das Kreuz; oder klamme Kälte in einer Nacht ohne Feuer.

Dostya flucht.

Lilja schlägt sich in die Büsche und pinkelt, wischt sich mit Blättern ab; zieht das Höschen von den Knöcheln, steigt die Leiter hinauf, als sie etwas hört, wie ein Flüstern … hält inne. Hallo, ruft sie, beide Hände an den Holmen. Jemand hier?

Wind zerzaust ihr Haar.

Alles gut?, steckt Andrej den Kopf durch die Luke.

Ja. Dann springt sie ab — im Schauer, der durch die Wipfel strömt, und lauscht.

Du erkältest dich.

Wir müssen los, flüstert sie.

Nach Hause?

Nein.

Eine Böe rüttelt am Schirm, sie umklammert den Elfenbeingriff. Bergab in kleinen Schritten – tritt Kiesel los, die kollernd ins Gras rollen. Unten flutet Regen den Waldweg, gestaut von Reisig, Schutt und Schlamm. Es gurgelt und plätschert.

Die Äste neigen sich knarzend. Lilja stapft durchs Laub, bis ihr der Fuß weggleitet; ihre Hände im Schlick, der weich und schwarz wie Tierkot ist, und schüttelt ihn ab, steht auf. Nackte Beine, die Strickjacke pitschnass.

Andrej, neben ihr im Unterhemd, rote Hosenträger, aber barfuß wie sie: Wo, zum Teufel, willst du hin?

Komm.

Ein Knistern in der Luft, ehe Lichter über die Anhöhe tasten: bleiche Flammen, gasblau und gelb – kribbelnd, wie Niesel auf der Haut, dann ein Ziehen, es brennt; ihr Arm versteift, der Schirm rutscht aus ihrer Hand und der Rucksack in den Matsch, bevor Dostya umfällt, zum Wald starrt, jetzt eine graue, zerbombte Kraterlandschaft. Verkohlte Bäume. Granathülsen stapeln sich. Und Schatten zielen auf Schatten. Nein!

Nur ein Erdloch; doch so, als würde der Wald mit reingezerrt: struppiges Gras und Wilderdbeeren. Die Stämme wie Säulen einer Kirche. Lilja, an knotigen Ästen verheddert, zwängt sich hindurch.

Andrej folgt ihr.

Mittig sind Stöcke wie zum Feuer aufgestellt, und Lilja geht vor, kippt alles um, darunter verborgen ein Quarzkristall, der aus einer Stufe emporgewachsen scheint; kindsgroß. Auf den glatten Seiten spiegeln sich Himmel und Erde – lupenrein: Ameisen, Blätter, Wolken. In den Ohren pocht das Blut.

Oh, macht Andrej.

Lass es uns anfassen! Ihre Wangen glühen. Sie nimmt seine Hand.

Das dürfen wir nicht.

Lässt sie los. Ach so?

Es ist verboten, und das weißt du.

Feigling.

Bin ich nicht …

Bist du wohl!

Na gut, auf drei.

Zwei, sagt Lilja. Eins.

Sie nicken sich zu, sie lächeln — worauf beide jeweils eine Facette berühren: kalt; schmerzt, saugt sich fest! Es tut weh, schreit er.

Dostya, schwankend, noch immer die Bombentrichter vor Augen und den Stacheldraht; hört das Geschrei der Soldaten, das Knattern der Gewehre, wie aus weiter Ferne, ehe die Bilder ganz verblassen. Schaut mit an, wie Lilja den Leib schüttelt; ihm auf die Brust boxt, ihn beatmet, weint. Blut überall – quillt dem Mädchen aus der Nase, rinnt dem Jungen aus dem Schädel, dünn vom Liquor, ins Laub. Jetzt hilf uns doch!

Andrej, verkrümmt, er stöhnt.

Mach was, schreit Lilja.

Gut, sagt sie. Dreh dich um.

Hinter ihr ein scharfes Knacken.

Kauernd, die Hände im Schoß; das Blut tröpfelt über ihren Mund, vom Kinn, sie wischt es ab, es läuft nach.

Drück zwei Finger auf deine Nase.

Hast ihn einfach totgemacht. Wie kann das sein? Das ist unmöglich!

Nicht für uns Steinkinder.

… Müssen ihn begraben, wimmert Lilja.

Nein, das Fleisch gehört dem Wald.

Ich hole Papa! Sie will aufstehen, wird von Dostya auf die Füße gezerrt. Hör zu, Kind: Du bist markiert, du kannst nie mehr zurück.

Lilja rührt sich nicht.

Und wieso hast du kaum was an? Wirst dich noch erkälten.

Doch egal, brüllt sie, heftig schlotternd; reißt sich los. Lass mich in Frieden, Hexe! Lilja dreht sich weg und rennt davon.

Dumme Göre, flucht Dostya, den Zettel zerreißend, betrachtet danach den Stein: ein Bruchstück, vielkantig, glasklar und mit reinen Kristallflächen. Wie schön er ist! Sie legt ihre Hand auf, schließt die Augen – zieht die restliche Kraft ab.

Noch der Wald; noch ein Abhang, Halme kitzeln, dann querbeet – ein Acker, wo der Rotkohl verfault, Rillen und Furchen, plötzlich: Schützengräben, Knochen, Schädel. Niemandsland. Todeszone. Das Kampfgas kratzt in ihrer Kehle. Ein Geheul in der Luft, leiernd, als die Geschosse niederregnen, sind Blindgänger; eine Kapsel qualmt gelb und zischelt. Lilja hinkt übers Feld. Hilfe, schreit sie.

Am Horizont stehen Bäume wie abgebrannte Streichhölzer. Und über allem das Flugzeug – ein Vogel, nach Aas spähend; dreht lautlos ab.

Und sie sieht Zinnsoldaten, die sich mit dem Bajonett abstechen; sich ins Herz schießen, in die Lunge, in den Kopf. Den Reiter auf seinem Ross, mit rostiger Stacheldrahtkrone, dessen Gesicht spiegelglatt ist: weder Augen, noch Nase, nur der Mund obszön verfärbt, trunkene Lippen; mit gezücktem Säbel galoppiert er – voran, voran! –, bis ihn die Kugel im Maschinenfeuer abwirft. Der Krieg. Und der Tod stakst auf Krücken, als Pestarzt oder Vogelscheuche, zählt seine Beute wie Münzen. Hilfe!

Im Dunkeln ein Licht. Lilja folgt ihm zur Ruine einer Kathedrale: Gewölbe und Altar sind weggebombt und die Fenster in bunten Scherben auf dem Marmor verstreut. Die Bänke schwarz verkohlt, schwelend, die Pfeiler gesplittert; auf der Apsis steht die Madonna neben Heiligen wie eine Krankenschwester bei den Feldgrauen.

Das Kreuz hängt schief.

Lilja macht kehrt, stolpert einen Erdwall entlang, in einen Schützengraben — über Säcke und Helme, Patronenkästen, Holzbalken; über Telefonkabel, Kochgeschirr; über Spielkarten, Zigaretten, Flaschen, Schaufeln, Maschinengewehre, die nach Urin stinken wie alles andere auch; und nach Blut, nach Fäulnis; ein abgetrennter Arm, eine Leiche, ewig schlafend, an die Bretterwand gelehnt; und niemand hockt im Unterstand, um die Kanonade auszusitzen. Sie ist allein, und es wird hell.

Sie flieht nicht länger, liegt, mit gefalteten Händen, rücklings im Schlamm und schaut zum Firmament: Wie groß der Mond steht! Diese herrliche Ruhe, seit der Angriff vorbei ist. Kein Floh beißt sie mehr, kein Ungeziefer in der Uniform. Lilja seufzt erleichtert; sie hat Durst, sucht nach dem Tornister: nicht da; auch ihr Gewehr fehlt. Seltsam alles.

Wind streicht durchs Gras.

Ein Knall, ein neues Licht – wie Signalraketen in den Himmel aufschießend, quarzgrau. Müde hebt Lilja den Kopf, reibt sich den Schlaf aus den Augen. Ich will nicht mehr, sagt sie.

Neben Rotkohlköpfen, dort findet sie das Mädchen, halb erfroren, blaue Lippen. Meine Güte, steh auf! Und hält den Schirm über sie, während Lilja sich aufrappelt, so dürr, wie eine Porzellanpuppe zerbrechlich. Komm mit, sagt Dostya, hakt sich bei ihr unter, schleppt sie zur Kastanie, wo eine verwitterte Bank steht.

Lilja zittert, die Augen rot verheult. Ich möchte sterben, sagt sie.

Unsinn. Dostya kramt im Rucksack, nimmt Unterzeug, Wollsocken, den Zweitpullover, eine weite Hose, die Lederschuhe und ein Handtuch, das sie gleich ausbreitet. Zieh die feuchte Wäsche aus! Lilja tut es, stocksteif, es dauert. Gut so … Behutsam reibt Dostya ihr den Rücken ab, danach Arme und Gesicht, Brust und Beine, bis die Nässe, der Dreck weg sind — reicht ihr die neuen Sachen. Zuletzt streift sie ihre Mütze vom Kopf, stülpt sie Lilja übers Haar. Na? Schon besser. Ein Wolfsgrienen.

Danke.

Deine Hose ist mir viel zu groß! Lilja zieht den Bund lang. Auch diese Schlappen …

Haben wir gleich, sagt Dostya und hilft mit einer Kordel aus, stopft ihr jeweils eine Socke vorne in den Schuh. Besser?

Na ja.

Geh weiter.

Wohin?

Bloß weg, sonst kriegen wir Besuch.

Im Nebel kein Wort

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