Читать книгу Im Nebel kein Wort - Frank Hebben - Страница 6

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II

Reife, rote Hagebutten – und gegenüber ein Tümpel: Schilf an den Rädern; das Bächlein gluckert, fließt nach unten. Dostya horcht hin, worauf sie den Schirm zuklappt.

Der Regen hat aufgehört.

Die Spinnennetze sind gerissen, die Erde schwarz; die Bäume nässen. Ein Pfad schlängelt sich weiter bergan, freier Himmel, aber vorher wechseln beide die Kammseite, abwärts, zum Tal – hier sämiger Lehm, das Gras verklebt, unten aber fest und flach; und gleich die Strümpfe, die Hose triefnass, weil sie eiskalte Tropfen von den Stängeln abstreifen. Aus der Entfernung sehen beide ein Dorf, neben Scheunen grasen Kühe. Nimm Abschied.

Was?, fragt Lilja leise. Das ist Niederau, ich wohn in Lobstedt, die Landstraße hoch.

Eins wie das andere, schnauft Dostya.

Lilja zeigt auf ein Fachwerkhaus, grauer Rauch kräuselt aus dem Schornstein. Da holen wir immer die Brote vom Bäcker …

Ein hartes Lachen. Die wirst du selber backen müssen!

Warum bist du so fies zu mir?

Bin ich das?

Ja!

Hast du denn nicht verstanden, was mit dir passiert ist? Dass du ab jetzt auf der anderen Seite des Schützengrabens stehst? So wie ich – wie wir.

Ich will nach Hause.

Es gibt keinen Weg zurück. Sie lassen es nicht zu.

Wer, sie?

Die Steine.

Du glaubst mir nicht, dann geh. Kauf dir Milch und Kekse, ein paar leckere Süßigkeiten.

Ich hab kein Geld …

Ha! Das brauchst du auch nicht mehr.

Weißt du was‽, brüllt sie Dostya an, mein Papa sitzt im Dorfrat, der wird dich –

Verprügeln? Einsperren? Wie alt bist du eigentlich?

Lilja presst die Lippen zusammen; wankt ein paar Schritte, in den zu großen Schuhen und der zu weiten Hose – wie eine Vogelscheuche steht sie auf dem Feld, blickt zurück. Siehst du.

Nur zu, ruft Dostya. Mach Vati stolz. Nein, komm her!

Wieder verdunkelt sich die Welt, Tag wird Nacht, der Acker zum Schlachtfeld; und Pflugscharen zu Schwertern. Lilja, am Stacheldraht verheddert, sucht die Zange, um sich freizuschneiden. Wo sind ihre Kameraden? Ein jäher Ruck, etwas reißt sie nach hinten: ein Schuss durch den Hals, sie keucht, würgt Blut, das von ihren Lippen tropft, ehe —

Es reicht!, knurrt Dostya und zerrt sie zum Waldrand hin. Noch immer nicht genug?

Was ist das, was ich sehe?, fragt Lilja.

So sah der Krieg aus.

Im Sturmschritt voran; sie marschieren, bis der Pfad um den Hügel verläuft, steil aufstrebt. Felsschluchten links vor ihnen, rechtsseitig Sträucher. Der Himmel klart auf, wird grell, als aus den Wolken die Sonne hervorsticht: Regenpfützen spiegeln, der Matsch, die Blätter, die nassen Steine … Überall glimmert der Wald. Lilja seufzt. Wärme.

Was ist?, fragt Dostya.

Nichts.

Sie fällt zurück …

Nicht rumtrödeln.

Ich bin müde, klagt Lilja, ihre Schuhe schleifen durchs Laub. Außerdem hab ich Durst.

Leise. Und schau, wohin du trittst.

Jetzt warte auf mich!

Dostya dreht sich um. Hier draußen darf man nicht warten, hier ändert sich jede Minute alles.

Liljas Schritte hinter ihren – Gräser rascheln und Zweige. Sie folgen einem Wildwechsel tief in den Wald hinein: von Rehen frische Spuren, die von den Einständen zu den Äsungsstellen führen; Fellreste, ein angeknabberter Pilz und der herbe Geruch von Kot. Kein Tier in Sicht.

Warte, bittet sie. Und Dostya hält an. Kind, ich sagte doch –

Ich kann nicht mehr!

Gleich rasten wir.

Auf dieser Lichtung frisst das Wild: Das Gras ist kurz, die junge Rinde von den Zweigen genagt; freie Wurzeln faulen weiß. Dostya stellt ihren Rucksack hin, löst einen Knoten und entrollt die wasserdichte Zeltbahn wie eine Picknickdecke. Setz dich.

Beide im Schneidersitz, reichen sich die Feldflasche. Lilja meint: Es ist meine Schuld gewesen. Deshalb ist er tot.

Ein Vogel zirpt.

Was weißt du über die Steine?

Also, überlegt Lilja, in der Schule haben wir gelernt –

Und sonntags bei der Messe.

Du kennst das wohl schon.

Wollte dich nicht unterbrechen.

Findest du das lustig? Ist das ein Spaß für dich‽

Nein, ich – Hast du Hunger?, fragt Dostya schnell und wühlt nach dem Kastanienbrot, gibt es her. Iss doch.

Den harten Kanten in der Faust wartet Lilja die Antwort ab. Noch fallen die Tropfen des Schauers.

Was willst du hören?

Die Wahrheit.

Du meinst –

Ob es seine Tränen sind.

Brav aufgesagt. Seh dich vorn an der Tafel stehen, adrett im Kleidchen mit der Schleife. Jawohl, Herr Lehrer!

Kennst mich doch gar nicht, keift sie zurück. Musst du das ständig machen?

Dostya trinkt einen Schluck.

Also?

Das Weihnachtswunder? Frieden auf Erden und so? Keiner sieht, dass wir wie Kinder behandelt werden …

Jetzt sag: Sind es seine Tränen?

Weiß ich doch auch nicht, seufzt Dostya, die ihre Feldflasche verstaut und aufsteht. Es ist dumm, über solche Sachen nachzudenken. Und gefährlich.

Zwischen den Stämmen blinkt die Sonne, wie Morsezeichen, während sie durch Pfützen waten, in denen Grünzeug schwimmt. Noch mal piekst Dostya ihren Regenschirm in den Schlick: unten Stein; läuft weiter ohne einzusinken, da –

Ich spüre etwas, sagt Lilja.

Ja, ich auch. Bleib, wo du bist.

Was ist das?

Das Filigran, erklärt Dostya und streckt die Hand vor, als würde sie eine Herdplatte prüfen. Wir müssen warten.

Dieser Geruch …

Gas, ich weiß. Siehst du die Flämmchen?

Wo?, fragt Lilja.

Dostya zeigt auf einen Baumstumpf mit dicken, gelben, wurmstichigen Wurzeln, danach auf ein Gebüsch. Dort, schwer zu erkennen bei Tag. Wenn die zu flüstern anfangen, rennst du weg. Kapiert?

Sie stehen im Wasser und rühren sich nicht. Wie lange noch?, fragt Lilja. Meine Füße sind nass.

Leise.

Ein Wind geht,

Blätter rauschen.

Eine Amsel landet, um aus den Pfützen zu trinken; zitternde Kreise, als sie davonfliegt …

Ein Vogellaut, schrill; Lilja erschrickt — und flieht, links an Dostya vorbei, wird von ihr an der Hüfte gepackt. Kind!, hört sie ihre Stimme, beide straucheln und –

Mit Hurra zum Feind! Auf morschen Leitern und Säcken voll Dreck ins Trümmerfeld: Bis vor wenigen Tagen stand hier ein Dorf, übrig ein Schornstein, ein gusseiserner Ofen, im Schlamm versackt, Holzlatten, Ziegel, Mauerreste. Durch die Krater – sie springen rein, klettern raus, suchen neue, frisch gesprengte, wollen dem Zufall ein Schnippchen schlagen; werden zerrissen. Mörser knallen, Granaten splittern; und Dauerfeuer, das sie zu Boden wirft. In der Hand das Gewehr, der Stahlhelm drückt auf ihre Stirn, sie rennen, rennen. Dostya drängt Lilja zu einer Backsteinwand, zerrt sie runter; auch andere Soldaten kauern dort, spähen, schießen über Deckung, ziehen den Kopf ein. Detonation! Erdbrocken regnen. Jemand schleudert eine Stielhandgranate, sie zündet nicht. Weiter, bellt einer, und sie robben vor, den Gestank des Schlamms in der Nase – stehen auf, laufen gebückt, lassen sich fallen. Der Verhau; im Laufen knöpft Lilja ihren Mantel auf, streift ihn ab, wirft ihn auf Stacheldraht und klettert drüber, packt ihre Waffe mit Bajonett, springt in die feindliche Stellung.

Als Gegner ein Knabe: roter Bartflaum; der Spaten zuckt in seiner Hand. Lilja zögert, schlägt ihm doch den Kolben ans Kinn, dreht das Gewehr, treibt die Klinge bis zur Mündung ins Herz. Blut tränkt den Stoff, ein handbreiter Fleck. Achtung, ruft Dostya hinter ihr, weil ein –

Warmes Holz; auf einem Strunk in der Sonne ruhen sie sich aus. Ihre Handflächen schmerzen, die Schultern, der Rücken, die Beine, Füße; Dostya stöhnt.

Haben wir wirklich gekämpft?, fragt Lilja, während sie die Schuhe auszieht, die Socken auswringt. Es fühlt sich so echt an.

Weil es echt ist – oder besser: war.

Versteh ich nicht.

Da gibt’s nichts zu verstehen. Was sagen die Pfaffen? Na, dieses Wunder, das uns das Gift der Schlange ausgesaugt hat …

Mysterium?

Ja genau, höhnt sie: Sein Wille geschehe und so.

Du glaubst nicht daran?

Dostya schaut hoch. Ich glaube an gar nichts mehr.

Der Wald trocknet.

Zeig mir deine Hände.

Lilja zögert.

Gib schon her! Mit beiden Daumen befühlt Dostya ihre Haut … Weich wie zwei Daunenkissen. Hast nie auf den Feldern geschuftet.

Doch. Oft sogar.

Wer ist dein Vater, der liebe Herr Pastor? Bist aber leicht wie ein Spatz, und deine dürren Ärmchen. Ist die Ernte nicht gut gewesen? Keine Kartoffeln in der Kollekte? Sie grunzt über den eigenen Scherz.

Hastig zieht Lilja die Finger zurück. Warum beleidigst du mich?

Tut mir leid …

Nein, sicher nicht!, springt sie auf; verschränkt die Arme. Bist doch bloß neidisch.

Dostya schweigt.

Und du bist schmutzig, sagt Lilja. Du stinkst!

Gewöhn dich besser dran.

Beide schmunzeln.

Eine schwarze Spinne krabbelt am Halm, Lilja beobachtet sie. Also darfst du auch nicht mehr heim?

Leider.

Wo hast du denn gelebt?

Dostya klopft verkrusteten Dreck aus den Sohlen. Also, hör zu: Ich kann dich zum Kloster mitnehmen, dort bist du sicher. Ist ein Tagesmarsch von hier; dann trennen sich unsere Wege.

Du willst mich allein lassen? Ich weiß gar nicht –

Jeder für sich. So sind die Regeln.

Wer sagt das? Diese blöden Steine‽ Sie kämpft mit den Tränen. Ich hab mir das doch nicht ausgesucht; was soll ich denn jetzt machen?

Überleben.

Ach ja? Was für ein Leben soll das sein?

Mittagsstille.

Deine Uhr tickt ja, staunt Lilja.

Manche Dinge können wir instand setzen. Autos, Lastwagen — sogar Waffen.

Wozu?

Ein Pfad aus Kieseln im Licht. An Ästen, an Wurzeln schimmert Nässe, aber der Schlamm wird schon rissig, die Erdkrume hell. Nach dem Regen gleicht der Weg einem Bachbett, das vertrocknet ist – Klunker von Steinen und Holzstückchen, abwärts geschwemmt; geriffelte Bahnen aus Rinde und Laub. Dann wieder breiig, ständig rutschen die Schuhe weg, weshalb beide am Rand auf Grasbüscheln weiterlaufen.

Wo bringst du mich hin?, fragt Lilja hinter ihr. Ein Kloster? Was –

Herrgott! Kannst du nicht Ruhe geben?

Was für ein Kloster?, beharrt sie.

Wirst ja sehen …

Am Überhang ragt ein Tropfstein in die Tiefe wie ein Reißzahn; links wird der Durchbruch von Fichten gerahmt. Noch Fels, noch fester Tritt, bis der Waldboden nachfedert: Ein Nadelteppich dämpft ihre Schritte. Es riecht nach Myrrhe. Farne sprießen und Moos.

Als hätten sie ein Tor passiert, bricht die Sonne plötzlich ab, sie folgen dem schattigen Pfad — ins Tannendunkel, wo die Stämme dicht an dicht stehen; unten kahles Geäst, wachsgelbes Harz klebt; und nur spärliches Licht dringt durch die Wipfel.

Wippender Zweig, landet ein Eichelhäher, um seine Beute zu äsen: rupft rotes Fleisch aus dem Fell einer Maus; und fliegt schnarrend auf, als ein Windstoß die Bäume schüttelt …

Staubige Luft.

Mir ist flau, seufzt Lilja und kippt um, liegt im Dreck, auf Tannennadeln und Steinchen, verkrampft sich, und ihre Lider flattern, während unter ihrer Haut die Signatur vom Rücken, vom Schulterblatt, am linken Ohr vorbei, bis zur Schläfe kriecht, silbrig wie Wasser im Mondlicht. Sie träumt, vom kitzelnden Bart ihres Vaters, wenn er sie küsst: Gute Nacht, mein Engel. Von ihrem Bett, dem kühlen Stoff, den Daunen in bestickten Kissen. Andrejs Stimme. Einem Teller in der Küche, der scheppernd zerbricht. Und wie sie das Gewehr anlegt, den Schluss an einer Stirn platziert; nochmals abdrückt.

Schreckt auf! Abends; ein Lagerfeuer brennt auf einer Lichtung, die Tannen im Hintergrund sind Geister. Dostya hat Grassoden eckig ausgestochen und beiseitegelegt und das Feuer mit einem Steinring gesichert – die Zeltbahn, im Rücken, an Sträucher geknotet und daneben der Schirm aufgespannt; großer und kleiner Wärmespiegel. Die Wäsche trocknet. Vorne ist Nadelholz geschichtet: Harzgallen platzen, versprühen Funken und Qualm, der in ihren Augen beißt, weil das Feuer schwelt; endlich aufprasselt, als ein kühler Hangwind weht.

Eng beisammen, mit ihrem Mantel bedeckt: Dostya hat den Arm um Lilja gelegt und hört, wie das Mädchen leise weint; beide starren zur Glut, wo ein Windhauch die Asche zerwühlt. Die Scheite glosen. Es knistert und knackt. Ich war Krankenschwester, sagt sie, um etwas zu sagen.

Hm?

Kurz nach Weihnachten, nach der Schlacht von Verdun, wir verluden gerade Invaliden in einen Lazarettzug, da fielen diese Splitter vom Himmel. Erst dachten wir noch: ein Beschuss, nur kein Laut, kein Flattern oder Sausen wie bei Granaten, nein, sie sanken so still wie der Schnee.

Das klingt schön, flüstert Lilja.

Dostya schüttelt den Kopf. Ganz in der Nähe ging einer davon runter, riss einen kleinen Krater ins Feld – lag, oder vielmehr stand er dort, funkelnd hell, wie ein Christbaum.

Seine Tränen …

Schwarzes Manna. Die zerbrochenen Schalen. Nenn’s, wie du willst!

Der Stein hat uns irgendwie … angelockt: eine Stimme, ganz leise, im Kopf. Nur an diesem einen Tag konnte ich sie hören, später nicht mehr.

So ein Flüstern?

Genau.

Lilja blickt auf. Ich habe ein Wort davon behalten. Willst du wissen, welches?

Ehrlich?, staunt sie.

Sei …

Sei was‽, fragt Dostya laut.

Woher soll ich das wissen?

Sie streicht Liljas fettiges Haar aus dem Nacken, um ihre Signatur zu sehen: silberne Muster, Kreise. Armes Kind. Blutjung und schon gezeichnet.

Was uns gar nicht in den Sinn kam, fährt sie fort, dass es eine neue Waffe hätte sein können, etwas Chemisches; etwas aus den Laboren des Feindes – eine Kriegslist, verstehst du?

Wie das trojanische Pferd?

Hallo! Sie hat in der Schule aufgepasst.

Kannst du das nicht einfach lassen?

Von mir aus, grient sie.

Danke.

Sternklare Nacht, ein Halbmond steigt. Der erste Tau. Unter der Kapuze des Lodenmantels lugt Lilja zum Busch, aus dem die Matrone gerade zwei dicke, grüne Äste schlägt und mitbringt.

Es wird eiskalt heute, sagt Dostya, während sie beide Knüppel schräg ins Glutbett rammt, dann Scheite zu einer Holzwand stapelt.

Was machst du da?

Ein Kaminfeuer.

Ja?

Pass auf, Kind – das ist wichtiger als Algebra: Diese Schräge strahlt die Wärme zu uns her, und wenn das untere Scheitholz zerfällt, rutscht das obere gleich nach. Kapiert?

Ein Feuer, das sich selbst nachlegt.

Richtig, lobt Dostya. So können wir in Ruhe durchschlafen. Kriegst dafür ein Fleißbienchen …

Du wolltest damit aufhören.

Stimmt.

Beide in Decken, in den Mantel eingehüllt. Erzähl mir von deinen Eltern …

Papa ist unser Dorflehrer, beginnt sie, und –

Ich wusste es, lacht Dostya. Wirklich?

Lilja streckt ihr die Zunge raus: Das hast du dir verdient! Nein, er war Anwalt, in einer Kanzlei in Leipzig, bevor die großen Städte –

Und jetzt?

Ein Tischler, wie mein Opa. Sie dreht sich zum Feuer. Manchmal riecht er nach Malzbonbons; das mag ich gern.

Wohl mehr nach Bier.

Er trinkt nicht.

Wenn du das sagst. Und deine Mutter?

Hatte Scharlach, da war ich vier, und ist daran gestorben.

Oh, tut mir leid zu hören.

Na ja, seufzt Lilja. Ist lange her.

Wer war der Junge?

Andrej, sagt sie.

Ein Verehrer von dir?

Funken steigen und verglühen. Ein Nachtvogel ruft.

Was war mit dem Christbaum?, fragt Lilja leise.

Ach … Sie nickt. Weißt schon.

Nein?

Zuerst kam ein Soldat an die Reihe, dem das Bein verfaulte, dieser elende Wundbrand; auf Krücken stand er da, streckte die Hand aus: Ich sah es auf seinem Gesicht, als hätte er das Paradies gefunden und Vergebung. Brandblasen an den Fingern. Für mich war es einfach nur kalt, eine Kälte, die in mich reinkroch wie Frost. Und nach mir sind alle tot umgefallen wie von Kopfschüssen: Peng! Dann Stacheldraht drumrum; wir haben das Ding eingezäunt.

Und?

Nichts und.

Am nächsten Tag waren die Kämpfe vorbei: Kein Gewehr funktionierte, kein Geschoss; kein Flugzeug kam vom Boden weg – kein Tank, kein Laster rollte. Auch die Gaskartuschen blieben zu. Mit dem Bajonett, mit dem Messer, mit dem Säbel konnten sie nicht mehr aufeinander losgehen, es war wie eine spontane Schüttellähmung; sie standen da, zum Angriff bereit, und rührten sich nicht von der Stelle.

Ihre Stimme am Ohr, leise und warm, gar nicht wie sonst, sie erzählt, während Lilja in den Schlaf hinübergleitet, noch traumlos, noch schwarz; aber dann, eine Blase, die zur Oberfläche steigt, tritt der Kristall aus dunkler Tiefe, und in seinen Facetten flackern Szenen des Weltkriegs als Filme auf der Leinwand eines Lichtspielhauses: Sie sitzt vorn, in erster Reihe, schaut hin, während das Klavier klimpernd dröhnt — und sieht den Zug kommen. Dann die Kranken und Verletzten, von den Lastern gezogen wie Brote aus dem Ofen; und wie sie an den Leibern nähen und schneidern wie an Stoff. Blut, Dreck. Wolken. Himmel. Und über allem die Sterne …

Wacht auf.

Schläft wieder ein.

Der Mond steht tief und fahle Wolken. Am Feuer, am Dreibein, von dem eine Kochkette mit dem Topf runterhängt, brockt Dostya die letzten Brotkrumen in eine Suppe ein, gibt Salz hinzu, etwas Zucker, etwas Schmalz – rührt um, hebt den Löffel zum Mund; pustet und probiert: Schmeckt! Sie zieht eine Blechtasse durch den Brei, streckt sie ihr hin. Noch Kümmel rein und ein Starkbier, seufzt sie, dann wär’s richtig lecker …

Schade drum. Lilja greift nach der Tasse.

Was meinst du, Kind?

Ich hatte eins. Hab’s ausgetrunken.

Im Morgengrauen treten sie das Feuer aus, werfen Erde drauf, bis die letzte Glut erstickt ist und legen alle Grassoden zurück an ihren Platz — erst danach schnallt Dostya den Rucksack auf, trägt erneut die eingerollte Zeltbahn, das Kochgeschirr, Jagdmesser, Gabel und Löffel; einen geschärften Klappspaten, die kleine, die große Decke; eine Zunderbüchse und den Feuerschwamm, das Taschentuch, den leeren Brotbeutel; die wenigen Gewürze, eine lindgrüne Schmalzdose mit Scharnier und Schloss, die innen emailliert ist; einen Angelhaken mit Schnur; eine Kernseife im Waschlappen und das Handtuch; fünf Binden aus Verbandsresten, das Unterzeug, Socken, eine Schere, einen Wetzstein; einen Taschenspiegel aus Metall, der bruchfest ist – einen Bleistiftstummel, ein Buch, drei Seiten fehlen; eine Fotografie, eine Ledertasche mit Reißverschluss, darin sind Mullrollen, Nadel und Faden, ein Fläschchen braunes Jod zum Desinfizieren.

Den Rest hat Lilja am Leib, auch ihre Mütze – und den Pullover unter der roten Strickjacke unter dem gefütterten Mantel. Trotzdem ist ihr kalt.

Der Boden wird zum Filz aus schwefelgelben Flechten, aus Kraut, das auch im Schatten blüht. Sie treten auf Wurzeln, auf Rinde, Lehm – eine blaue Scherbe, vielleicht von einem Krug, eingedrückt; wandern über Stock und Stein: Unter den Sohlen knacken die Zweige, Tannzapfen.

Schau! Ein Eichhörnchen, flink erklettert es den Stamm, dreht sich, Nase zum Boden, verharrt krallend, ehe es hochhüpft: großer Ast, kleiner Ast – springt ab; noch ein Gurren. Verschwunden.

En garde! Lilja ficht mit dem Regenschirm, sticht zu; klappt ihn auf, lässt ihn zuschnappen, wirbelt im Kreis herum.

Bist du fertig?

Ich beschütze euch, holde Maid! Leichte Verbeugung.

Dostya muss lachen. Schluss damit.

Beide erreichen den Scheideweg – lassen die Siedlungen hinter sich: diese Gülle im Acker, die gemauerten Schornsteine, das Meckern der Ziegen. Wie durch Kirchenfenster fällt Sonne ins Unterholz, sprenkelt die Bäume, den Weg vor ihren Füßen. Eine tiefgrüne Stille.

Sie schweigen.

Im Nebel kein Wort

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