Читать книгу Vampirnovelle - Frank Hebben - Страница 10
ОглавлениеFÜNF
Ava am Steuer, Ruth neben ihr – ich und Johann kleben am Rücksitz und bewegen uns kaum. Holprig lenkt sie das Taxi vom Bordstein, der zweite Gang knirscht; dann gleiten wir zur Kreuzung und biegen nach links in die Ringstraße ein.
Uhrzeit: 5:14.
Du fährst wie ne gesengte Sau, ruft Johann nach vorn, nippt am letzten oder am ersten Konterbier.
Mann, ich hatte eine Stunde auf dem Übungsplatz, mit Papa, und sechs Fahrstunden.
Wir lachen sie aus.
+
Dann der Flow … Wenn die Laternen im Takt der Musik vorbeiziehen mit diesem Heiligenschein aus Dunst. Wir hören Radio, irgendeinen Chillout-Sender, während die Vögel auf den Strommasten hocken und es mit jedem Kilometer heller wird: Sonnenaufgang, erst trübe, schmierig wie Butter auf Papier, dann grell! Wir ziehen die Köpfe ein. Der Regen glitzert, kleine Pfützen auf dem Asphalt. Ein Sonntag, an dem die Leute ausschlafen, später beim Bäcker die Brötchen holen fürs gemeinsame Frühstück.
Wohin soll ich fahren?, fragt Ava.
Geradeaus.
Also, wir packen ihn in den Container, erklärt Johann, nach Dubai oder Schottland oder woanders hin. Fällt keinem auf, sobald ich am Rechner sitze. Er grinst.
Gut, sage ich. Wie immer also. Aber wir müssen auch sein Taxi loswerden …
Mache ich bei der Spätschicht heute; lassen die Karre solange stehen.
Verbeulte Zäune, die Industrieruinen abgrenzen: Baukräne und Montagehallen. Ein heiles Fenster, eisüberkrustet. Eine Telefonzelle am Stadtrand; wir haben das Hafengebiet erreicht, dahinter: der Fluss, wo die Frachtschiffe vom Meer kommen oder ins Meer zurückgleiten.
Ich beuge mich vor, rüttle Ruth an der Schulter, die eingenickt ist: Hey, wach auf! Wir sind da.
Der Motor versackt.
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Ein Parkplatz an der Regiobahn: die Endhaltestelle. Im Sommer staubgrauer Sand, der bei jedem Schritt wölkt und in der Nase kitzelt, das Zirpen der Grillen; flimmernde Hitze, ein Geruch von Autoreifen und Kamille – doch jetzt ist der Boden steinhart, die Büsche kahl und vereist. Ein nackter Baum im Gegenlicht. Ihr Atem beschlägt, als wir aus dem Taxi steigen, meiner ist dünn, zu niedrige Körpertemperatur; lange her, dass ich getrunken oder etwas gefressen habe. Und ich spüre, wie der Entzug näherkommt, sich wie ein Tier im Käfig aufbäumen wird, wie jedes Mal, so, wie Ruth diese Enge nicht erträgt, wieder ausbricht im neuen Rausch …
Ich bin ein Junkie.
Wir alle sind es, stumpf, teilnahmslos oder gefährlich durch die Droge, die wir brauchen. Jeden Tag.
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In der ersten Bahn zurück; wortlos lassen wir das Bier kreisen, blicken an uns vorbei aus dem Fenster: noch diese magische Welt, wo Eistropfen schillern, an Ästen, an Grashalmen. Weite Felder, dann Teiche. Eine Vogelscheuche aus Besenstil und Mülltüten, einen Putzeimer als Kopf. Die Krähe fliegt davon …
Ava weint.
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Häuserschlucht, so viele Balkone im Schatten, dort eine Wäschespindel, hier stehen Plastikstühle, tote Blumen. Satellitenschüsseln. Eine schmutzige Deutschlandflagge. Mein Handy klingelt, ich gehe ran: Was?
Bist du crazy‽ Ein Meeting am Samstag? Sein englischer Akzent, den er einfach nicht loswird. Dein, wie heißt das: Betriebsrat hat mir eine E-Mail geschickt …
Hallo Vater.
Spar dir den Ton. Du kannst mit deinen Leuten nicht spielen wie mit Rats. Das ist schlecht für die Moral.
Okay.
Obwohl ich natürlich weiß, dass –
Genau, unterbreche ich ihn. Sehe ihn vor mir, sein kantiges Gesicht mit den eisgrauen Schläfen.
Wir sind eine Corporation, Martin. Wann begreifst du das endlich? Eine Dynastie, zieht er das Wort lang.
Nein, du bist die Dynastie! Ich bin dein missratener Sohn, eine herbe Enttäuschung.
Habe gedacht, dass sich das irgendwann ändert, aber –
… Ich bin immer noch der Taugenichts von früher: keine Ideale, keine Ziele vor Augen. Lebe einfach in den Tag hinein und lasse mich treiben wie ein Teenager.
Werdet erwachsen, das gilt für euch alle, übernehmt, damn: Wie heißt das Wort?
Verantwortung?, helfe ich nach.
Wir haben ein Erbe zu bewahren, das auch deins ist.
Schon klar.
No, ich denke nicht, dass dir das klar ist, Martin. Bitte, tu es nicht schon wieder, dafür habe ich dich nicht zum … Vampire gemacht. Du sollst mir eine Hilfe sein, in diesen harten Zeiten, und kein neues Ärgernis. Wäre dein Bruder nicht –
Tot, knurre ich. Ist er aber. Bist du fertig‽
Doch er hat schon aufgelegt.
Dein Dad? Ruth zieht die Stirn in Falten.
Wer sonst.
+
Hinter uns die Schiebetüren, und während die Bahn weiterzieht, wechseln wir die Straßenseite zum Hauseingang: Die Türklingeln sind adrett beschriftet, andere mit schrägen Etikettierbändern, mit Kreppband und Kuli – oder der Name fehlt ganz. Ich stecke den Schlüssel ins Schloss, schließe auf, und die anderen gleiten die Treppen hoch wie ein Nebel.
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Wir hocken am Frühstückstisch, es ist nach neun; im Ofen diese billigen Aufbackbrötchen, die Kaffeemaschine röchelt vor sich hin. Keiner sagt etwas, bis ich das Schweigen breche: Wo wart ihr gestern?
Um die Häuser gezogen, meint Johann, der aufsteht, die Klappe öffnet, das heiße Blech mit dem Spültuch herausnimmt. Dampfend. Heiß!
Sicher, ich meinte … ach egal. Ich sehe ihm dabei zu, wie er die Brötchen einzeln in eine Bastschale legt, dann auf den Tisch stellt. Bedient euch. Ruth greift zu, ich greife zu – Ava hält die Hände im Schoß, schaut nicht auf. Er nimmt sich selbst eins, zersäbelt es in zwei Hälften und streicht Butter und die Marmelade drauf. Beißt rein.
+
Erzähl uns von dir … Ruth will sie aufmuntern. Liest du denn gern?
Was?, fragt Ava.
Na, welche Bücher kennst du?
Keine Ahnung.
Lass dir Zeit.
Wir warten, während sie an diesen Puffärmeln zerrt.
Sag schon, herrsche ich sie an – und Ava ruckt hoch: Gestern hat mich das klare Porzellanweiß ihrer Augen fasziniert, dieses Zerbrechliche, und ihr hoffnungsfrohes Lächeln. Heute sind sie stumpf, gerötet und verquollen. An Daumen und Zeigefinger ist schwarzer Nagellack abgeblättert. Ja, beginnt sie, plötzlich ganz ruhig: Harry Potter.
Logisch …
Alice im Wunderland. Lolita. Knochenmädchen im Pelze mit Peitsche.
Von Sacher-Masoch?, grinst Ruth. Ich mag dich, kleine Schwindlerin.
Das zählt nicht, sage ich.
Und ob das zählt!
Na, besser als Der kleine Prinz.
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Wie hat Santana dich gefunden?, wechselt Ruth das Thema und legt sich eine Salami auf die Brötchenhälfte, starrt sie an, ohne zu essen.
Wer?, fragt Ava.
Was, wer, fluche ich. Scheiße auch.
Entspann dich. Johann greift meine Hand, die ich zurückziehe. Ist bloß der Entzug.
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Es war zu kühl, als ich aufgewacht bin. Du hast das Fenster auf Kipp gelassen. Die Bettdecke neben mir. Habe gefroren; wollte noch duschen – überall Blut im Kissen. Hastig die Strümpfe gesucht, meine Sachen. Konnte mein Smartphone nicht finden. Vorm Aufzug gestanden, die grellen Lichter, die Treppen genommen.
An der Empfangsdame vorbei, erkläre ich.
Ja, nickt sie, einfach nur raus.
Ruth knabbert am Brötchen. Und weiter?
Schmerzen, am Hals, an meinen Handgelenken. Was hast du mit mir angestellt? Das tat höllisch weh!
Ich zucke die Schultern.
Alles wie im Traum: verbogene Laternen, ihr wisst schon: solche Uhren wie bei Dalí, dann ein verzerrtes Gesicht, in einer Ecke, das zu mir aufschaut, und plötzlich falle ich sie an: eine Obdachlose, versuche, es aus ihr rauszuholen, obwohl ich gar nicht weiß, was ich von ihr will. Es war … ein Drang, ich konnte mich nicht beherrschen. Kapiert ihr das?
Sicher, sage ich. Netter Vergleich.
Kitschig, meint Ruth. Aber das wird schon.
Später seine Hand, ich drehe mich um, und als würde ich in mein eigenes Spiegelbild schauen, ist da dieser Mann …
Santana, erklärt Ruth.
Genau. Ihr kennt den?
Jepp.
So hat er sich vorgestellt: mit tiefer Verbeugung, Frack und Zylinder und einer Plastikblume am Revers.
Der alte Poser, sage ich, und Johann grunzt.
+
Erzähl!, fordert Ruth; sie liebt das.
Na ja, fährt Ava zögernd fort. Durch die Innenstadt zur U-Bahn. Wie eine Hochzeitsbraut hat er mich die Treppen runtergeführt – am Automaten zwei Tickets gezogen, und wir sind rein, hocken auf den gelben Schalensitzen, während draußen die Häuser und Straßen vorbeiziehen. Plötzlich steht er auf, ruft irgendwas; bückt sich zu mir runter, sagt:
Spuck mir in die Hand.
Wieso?, frage ich, und er: Jetzt mach schon! Und ich tu’s. Dann zieht er seinen Daumen durch den Speichel, drückt ihn mir auf die Stirn. Du bist die Ava. Sei in der Familie herzlich willkommen!
Er und seine Rituale. Und dann?, frage ich.
Hat er sein Smartphone entsperrt, um dich anzurufen.
+
Wie heißt du wirklich?
Annika Lindemann, antwortet sie. Und ihr?
Johann Dunker, sehr angenehm.
Ruth …
Einfach Ruth?
Ja, sagt sie. Bin auf dem Land aufgewachsen, da bekam nicht jeder einen Nachnamen; dunkle Zeiten.
Sie ist die Älteste von uns, erkläre ich, und wechselt ihre Namen wie Unterwäsche.
… alles Künstlernamen. Zurzeit heiße ich: Ruth Goldmann.
Und ich bin Martin Tudor.
+
Wann seid ihr geboren, fragt Ava.
1810, sagt Johann.
1648, sagt Ruth. Du?
1959, sage ich.
2000.
Wow, macht Ruth. Das große Millennium!
Ich rolle mit den Augen.
+
Und … Wie habt ihr euch kennengelernt?
Oh, erwidert Ruth lächelnd. Das ist eine lange Geschichte.
Ich habe Zeit, grinst Ava.
Nicht heute, sage ich. Ein andermal vielleicht.
+
Darf ich hier rauchen?, fragt ihr Mädchenmund, oder soll ich raus auf den Balkon? Ihre Nase, ihre kurzen Wimpern, gezupfte Augenbrauen. Die Stirn glänzt. Verliere mich wieder in Details.
Du brauchst nicht um Erlaubnis zu bitten, erklärt ihr Ruth, worauf sie mir, dann sich selbst, Kaffee nachschenkt. Tu einfach, was dir so gefällt.
Aber es ist deine Wohnung.
Brauchst sie ja nicht gleich verwüsten …
Zögernd nimmt Ava eine E-Dampfe aus ihrer Lacktasche, pafft dicke Wolken, die nach Vanille riechen.
Neumodisches Zeug, sagt Johann. Gut für die Gesundheit?
Muss hysterisch auflachen.
+
Kann ich euch was fragen?, fragt sie, und ich bilde mir ein, dass ihre Worte als Buchstabenkette von den Lippen aufsteigen.
Gern, antwortet Ruth.
Warum kann ich nicht nach Hause?
Kannst du schon, sagt Johann, der gerade hinter sich greift, um das Radio anzustellen.
Nicht jetzt, zische ich. Er lässt den Knopf wieder los.
Ruth sagt zu ihr: Du kannst tun und lassen, was dir gefällt. Aber auch wir haben Regeln. Oder nenn es: mehr Erfahrung …
Die Sache ist die, gehe ich lustlos dazwischen: Früher oder später werden sie merken, dass du dich verändert hast. Weil du rastlos bist, unruhig. Schlaflos. Morgens launisch, in der Schule unaufmerksam, weil du auf eine Fliege starrst, die am Fenster entlangkrabbelt. Der Schnürsenkel eines Schuhs. Ein Kichern in der hintersten Reihe und das Knarren der Äste vorm Klassenraum. Du wirst krank aussehen, also bringt man dich zum Arzt, der dir Medikamente verschreibt, die du nicht nehmen wirst. Plötzlich das blühende Leben! Dann wieder lethargisch, dass deine Eltern sich langsam sorgen: Was ist los mit unserem Kind? Deine Freunde werden dich erst schräg, später seltsam finden … Du wirst einen nach dem anderen verlieren, jeden, wirklich jeden, bis du mutterseelenallein bist. Schließlich kommst du her und heulst uns die Ohren voll, weil du –
Okay, ranzt Johann mich an. Denke, sie hat verstanden.
Wo ist mein Smartphone, meine Geldbörse?
In der Mülltonne. Entsorgt. Du kriegst neue Papiere. Kein Problem.