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Wir dürfen nicht schweigen! Gemeinsam gegen Menschenhandel
„Der Spiegel“ griff in seiner Ausgabe 22/2013 tief in die Kiste des Boulevard-Journalismus. Reißerisch titelte das Magazin: „Bordell Deutschland“.
Es war ein Volltreffer. Denn damit gelang, was lange überfällig war: Die Ausmaße des Menschenhandels, eines weitgehend verschwiegenen Skandals in der Mitte unserer Gesellschaft, wurden öffentlich wahrgenommen. Andere Medien sprangen auf den nun rollenden Zug: Fernsehfilme und Reportagen entstanden. Die gesellschaftliche Debatte nahm an Fahrt auf.
Hatten viele Menschen bei den Themen Zwangsprostitution oder Arbeitssklaverei viele Jahre nur an die Situation in Asien oder Osteuropa gedacht, an schmierige Bordelle, grenznahe Straßenstrichs oder halbdunkle Kellerräume, so stand einem breiten Publikum nun deutlich vor Augen: Deutschland ist zur Drehscheibe für Menschenhandel geworden.
Der rasante weltweite Anstieg von Menschenhandel, bei dem schon Kinder als Arbeitssklaven oder Zwangsprostituierte verkauft werden, ist eines der schlimmsten Verbrechen des 21. Jahrhunderts. Die Entrüstung darüber ist auch beim sogenannten „Otto-Normal-Verbraucher“ groß. Doch nur Insidern war bis zu jenem Artikel vom „Bordell Deutschland“ klar: Dieses Verbrechen geschieht vor unserer eigenen Haustür. Europa hat sich zum größten Marktplatz von Sklaven, insbesondere von Sexsklaven, entwickelt. Und mittendrin: Deutschland.
Im April 2013 veröffentlichte das Statistische Amt der Europäischen Union, Eurostat, eine Studie zum Thema Menschenhandel. Darin wird diese traurige Tatsache mit Zahlen unterlegt: Die Zahl der erfassten Opfer war von 2008 bis 2010 um 18 Prozent gewachsen.
„Es ist schwer vorstellbar, dass in unserer freien und demokratischen EU Zehntausende Menschen ihrer Freiheit beraubt, ausgebeutet und wie Waren zu Profitzwecken gehandelt werden können. Aber es ist die traurige Wahrheit. Der Menschenhandel gehört zum Alltag und rückt uns näher, als wir denken“, sagte Cecilia Malmström, EU-Kommissarin für Inneres.
Erschütternd dabei: Die deutlich gestiegene Zahl der Opfer ging mit einer gesunkenen Zahl an Strafverfolgungen einher, weil viele Opfer nicht den Mut fanden, als Zeugen auszusagen, oder weil gesetzliche Grundlagen und personelle Ressourcen fehlen.
Eine absurde Situation ist entstanden.
In den westlichen Gesellschaften leben wir in Freiheit. Unsere Rechte werden durch Verfassungen und Gesetze geschützt. Wir stehen in der Tradition großer Vorbilder, die für die Abschaffung der Sklaverei gekämpft haben. Um einige Beispiele zu nennen:
William Wilberforce, der nach jahrelangem Kampf 1807 im britischen Parlament die Abschaffung des Sklavenhandels durchsetzte.
Abraham Lincoln, der im Amerikanischen Bürgerkrieg für die Freiheit der Sklaven kämpfte und am 1. Januar 1863 die „Emanzipations-Proklamation“ unterzeichnete, nach der alle Menschen, die als Sklaven gehalten werden, „fortan und für immer frei sein sollen“.
Und natürlich Martin Luther King, der seinen Kampf für die Gleichberechtigung der Schwarzen noch 1968 mit dem Leben bezahlte.
Die legale Sklaverei ist lange überwunden. In den meisten Staaten auf unserem Globus ist Sklaverei offiziell gesetzlich verboten.
Doch gleichzeitig blüht der illegale Sklavenmarkt. Kriminelle Banden machen brutale, aber lukrative Geschäfte in Milliardenhöhe. Die Internationale Arbeitsagentur ILO beziffert den Umsatz mit Arbeitssklaven auf 150 Milliarden US-Dollar. Menschenhandel ist neben Drogen- und Waffenhandel das größte Betätigungsfeld der Organisierten Kriminalität geworden. Die Statistiken steigen auf nie dagewesene „Rekordzahlen“. 23.632 Opfer von Menschenhandel hatte der erwähnte Eurostat-Bericht 2010 alleine in der Europäischen Union erfasst – und dabei ist das Dunkelfeld überhaupt nicht berücksichtigt. So überrascht es nicht, dass die ILO die Zahl der modernen Sklaven weltweit auf insgesamt über zwanzig Millionen schätzt, und der Global Slavery Index 2016 sogar von 45,8 Millionen Sklaven weltweit spricht.
Eine Million, das sind tausend mal tausend – und dahinter steht jeweils ein einzelnes Schicksal. Ein Mensch, ein Geschöpf Gottes.
Vor allem Mädchen und Frauen werden tagtäglich wie Vieh verkauft und behandelt. Verängstigt müssen sie sich in ihr Schicksal beugen und oft ohne Lohn 16 Stunden täglich ihren „Herren“ gefügig sein. Sie werden ausgebeutet, geschlagen, missbraucht.
Dazu dürfen wir nicht schweigen!
Schon bevor der „Spiegel“ das Thema entdeckte und die Öffentlichkeit aufmerksam wurde, gab es Menschen, die diesen Skandal nicht hinnehmen wollten. Frauenrechtlerinnen wie die Journalistin Alice Schwarzer mit ihrer scharfen und pointierten Berichterstattung, oder die katholische Ordensfrau Lea Ackermann, die seit 30 Jahren mit ihrem in Kenia gegründeten Verein Solwodi auch in Deutschland aktiv ist.
Der Verein „Gemeinsam gegen Menschenhandel“ (GGMH) wurde als Bündnis gegründet, um verschiedene Initiativen in Deutschland und Europa zu vernetzen und damit in ihrem Kampf gegen Zwangsprostitution zu unterstützen.
Jedes der Mitglieder hat eine eigene Geschichte, die zu seinem Engagement geführt hat. Bei mir persönlich ist es eng mit der Heilsarmee verknüpft. Zwölf Jahre arbeitete ich als Offizier in dieser „Armee Gottes“.
In der Heilsarmee ist Menschenhandel ein Schwerpunktthema. William Booth, der Gründer, und sein Sohn Bramwell hatten bereits 1885 gemeinsam mit dem Journalisten William Stead eine erfolgreiche Presse-Kampagne („The Maiden Tribut“) lanciert, in deren Folge das Mindestalter von Prostituierten in Großbritannien von 13 auf 16 Jahre heraufgesetzt wurde.
Als ich 2009 in den Deutschen Bundestag gewählt wurde, hatte ich mir das Thema ebenfalls ganz oben auf die Agenda geschrieben.
In Thorsten Riewesell, dem Gründer von „jumpers“ (Jugend mit Perspektive e. V.), fand ich einen Mitstreiter. Wir luden zunächst einige uns bekannte Initiativen und Vereine, die mit Opfern von Menschenhandel arbeiten, zu einem Erfahrungsaustausch ein. Aus diesem ersten Treffen wurden regelmäßige Runde Tische, und ein Bündnis entstand: „Gemeinsam gegen Menschenhandel“ (GGMH), das sich 2013 als eingetragener Verein konstituierte. Seitdem ist die Zahl der Mitglieder und Partner kontinuierlich gewachsen. Das Bündnis ersetzt dabei nicht die Arbeit der einzelnen Mitglieder, sondern unterstützt und ergänzt diese.
GGMH verfolgt vier Ziele:
1 Öffentlichkeitsarbeit: Den Skandal Menschenhandel, insbesondere in der Form der Zwangsprostitution, durch Kampagnen und Publikationen sichtbar machen.
2 Prävention: Aufklärung in Herkunftsländern und Deutschland.
3 Opferhilfe und Opferschutz: Durch Unterstützung und Vernetzung der Mitglieds-Organisationen, die sich um Opfer kümmern.
4 Verbesserung der juristischen Rahmenbedingungen: Unterstützung von Maßnahmen, die die strafrechtliche Verfolgung von Menschenhändlern sowie Opferschutz und -entschädigung verbessern. Hierzu gehören auch politische Forderungen und Initiativen.
GGMH hat drei Magazine herausgebracht, in denen wir über Menschenhandel informieren. Im politischen Bereich haben wir Briefkampagnen initiiert. Viele Bürgerinnen und Bürger haben das genutzt, um die Abgeordneten ihres Wahlkreises auf das Problem der Zwangsprostitution aufmerksam zu machen. Ein wesentlicher Bestandteil der Arbeit des Vereins sind Veranstaltungen und Netzwerktreffen.
Mit diesem Buch bietet sich die Gelegenheit, das Thema „Menschenhandel in Deutschland“ noch breiter bekannt zu machen und zugleich die Arbeit von GGMH vorzustellen. Unser Dank gilt dem Brendow Verlag und Herrn Nicolas Koch für die Initiative zu diesem Buch.
In einigen Grundsatzartikeln werden das Ausmaß und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Menschenhandel dargestellt. Daneben kommen Betroffene zu Wort: Ihre Schicksale werden erzählt, anonym – aber erschütternd offen. Und dann stellen einige Mitglieder beispielhaft ihre Arbeit vor. Sei es als Streetworker mit einer Thermoskanne direkt auf der Straße, als Seelsorger mit einem offenen Ohr in einem Café, als Sozialpädagoge in einer Schutzwohnung – sie alle sind „Anwälte“ für die Rechte der misshandelten und missbrauchten Frauen.
Sie alle haben sich entschieden, nicht zu schweigen, sondern etwas gegen Menschenhandel zu tun.
Damit die Opfer nicht länger Opfer bleiben, sondern ihre Würde wiederentdecken: Als von Gott geschaffene Persönlichkeiten.
Als Christ bin ich überzeugt: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit.“ (Galater 6,1)
Frank Heinrich, MdB