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MENSCHENHANDEL IN DEUTSCHLAND: ZAHLEN UND FAKTEN
Оглавление„Und wenn es deine Schwester wäre?“ Diese provozierende Frage steht auf dem Info-Flyer von „Gemeinsam gegen Menschenhandel“. Absurd? Weit weg? Ist Menschenhandel ein Problem nur in Asien oder Osteuropa? Das war einmal.
Die bittere Realität ist: Menschenhandel geschieht mitten in unserer Gesellschaft. Und das ist nicht nur die subjektiv gefärbte Meinung einiger Sozialarbeiterinnen aus dem Rotlicht-Milieu. Längst bestätigen mehrere seriöse Studien: „Deutschland ist ein Herkunfts-, Transit- und Zielland für Menschenhandel mit Frauen, Kindern und Männern zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung.“ (TIP-Report: Bericht des US Department of State über „Trafficking in Persons“, 2014).
Und wenn nun Deutschland eine solche „Drehscheibe des Menschenhandels“ geworden ist, wie verschiedene Journalisten es bezeichnen, dann muss es uns etwas angehen.
Der TIP-Report liefert Daten. Bei diesen Zahlen wird allerdings ein großes Dilemma deutlich: Zwischen identifizierten und tatsächlichen Opfern besteht eine erhebliche Lücke: Obwohl weltweit „nur“ etwa 46.000 Opfer von Menschenhandel im Jahr 2012 offiziell identifiziert wurden, schätzt der Global Slavery Index, dass 2016 insgesamt 46 Millionen Menschen als Sklaven leben (Arbeitssklaven und Zwangsprostituierte). Die Europäische Kommission stellt fest: 80 Prozent von ihnen sind Mädchen, 20 Prozent Kinder.
Auch wenn die tatsächliche Opferzahl nur geschätzt werden kann, wird deutlich: Beim Thema Menschenhandel geht es nicht um eine gesellschaftliche Randerscheinung, sondern um ein gravierendes globales, europäisches – und deutsches! – Problem. 46 Millionen Menschen weltweit müssen ihr Dasein als Sklaven fristen, das entspricht ziemlich genau der Einwohnerzahl von Kenia oder der Zahl aller Australier und Rumänen zusammengenommen.
Woran liegt es dann aber, dass nur ein Bruchteil der „Fälle“ offiziell registriert sind, und es kaum möglich ist, valide und verlässliche Daten über die tatsächlichen Opferzahlen zu bekommen?
1. Es gibt kaum einheitliche globale Daten
Das Online-Magazin Menschenhandelheute.net schreibt dazu: „Es gibt keine globale Datenbank, die Daten aus erster Hand sammelt. […] Zwar haben inzwischen die Mehrheit der Staaten ein Gesetz gegen Menschenhandel, aber […] ein Fall, der in einem Land in der Statistik landet, fällt in einem anderen Land raus – weil die Gesetze und Definitionen anders sind. […] Die Daten, die wir aus zweiter Hand von verschiedenen Akteuren bekommen, sind also nicht vergleichbar, sodass eine saubere globale Statistik fast unmöglich ist – wir können nicht sicher sein, dass alle Statistiken das gleiche Phänomen erfasst haben. Wir haben also höchstens Daten von einzelnen Staaten und Organisationen.“ Ein Beispiel: In Deutschland sind Frauenhäuser Anlaufstelle für Opfer häuslicher Gewalt. In Rumänien dagegen für jede Frau in Not. Auch Opfer von Menschenhandel kommen dort unter, ohne dies explizit angeben zu müssen. Sie werden also nicht erfasst.
Aber immerhin, es besteht Hoffnung: Mit dem Global Slavery Index der von Andrew Forrest mitbegründeten australischen Menschenrechtsorganisation Walk Free Foundation gibt es seit einigen Jahren eine zunehmend aussagekräftige Datenbasis. Für die aktuelle Studie 2016 (die dritte ihrer Art) wurden Daten aus 167 Ländern berücksichtigt, die Kriterien werden zunehmend international vereinheitlicht.
2. Menschenhandel ist ein florierendes Geschäft
Schätzungen der International Labor Organisation gehen von einem weltweiten Umsatz durch Menschenhandel aus, der zwischen 30 und 150 Milliarden US-Dollar jährlich liegt. Tendenz steigend. Etwa Zweidrittel davon werden durch Sexsklaven erzielt.
Dass die Zahlen nicht übertrieben sind, zeigt ein Blick auf Deutschland. Das Statistische Bundesamt schätzt, dass mit Prostitution in Deutschland jährlich 14,6 Milliarden Euro umgesetzt werden. Durch ein einziges Opfer in der Prostitution kann in Deutschland nach Angaben des BKA jährlich ein Gewinn von 35.000 bis 100.000 Euro erzielt werden. Ein erheblicher Teil des Umsatzes wird durch Zwangsprostitution generiert. Viele Experten rechnen mit einem Anteil von deutlich über 50 Prozent, Christian Zabel, Leiter Organisierte Kriminalität (OK), Landeskriminalamt Niedersachsen, spricht sogar davon, dass nach seiner Erfahrung etwa 90 Prozent der Prostituierten gezwungen werden.
Weite Teile dieses „Geschäftes“ befinden sich in den Händen der OK oder geschlossener Familienclans. Und natürlich haben die Mafia und die Clans ein Interesse daran, das sogenannte „Graufeld“ schwer zugänglich und unübersichtlich zu halten. Dabei sind alle Mittel recht. Den Opfern, die vom Ausland nach Deutschland geschmuggelt werden, werden die Pässe entzogen, sie bekommen keine Möglichkeit, die Sprache zu lernen. Häufige Ortswechsel erschweren die Registrierung. Mit Bedrohungen und tatsächlicher Gewalt werden Opfer und Mittelsmänner eingeschüchtert. Korruption auf allen Ebenen ist an der Tagesordnung.
Zugleich werden schillernde Lobbyistinnen in Talkshows geschickt, um ein glänzendes Bild des Prostitutionsgewerbes zu malen, in welchem die meisten Frauen aus freien Stücken den Beruf der Sexarbeiterin wählen. Die Realität sieht anders aus: Zwang, Gewalt und Missbrauch herrschen vor, Frauen werden auf brutale Weise ausgebeutet.
3. Menschenhandel ist weitestgehend unsichtbar
Dazu noch einmal Menschenhandelheute.net: „Die Opfer und Überlebenden von Menschenhandel sind in der Gesellschaft und in der Öffentlichkeit nicht sichtbar, sie gehören zur sogenannten ,versteckten Bevölkerung‘ (hidden population). Die ,Unsichtbarkeit‘ gehört schon fast zur Definition von Menschenhandel. ,Versteckte Bevölkerungen‘ sind meistens stigmatisiert und/oder illegalisiert (z. B. Prostituierte und undokumentierte Migrant/innen). Um sich selbst zu schützen und weil sie den Behörden nicht vertrauen, werden sie auch nicht mit den Behörden kooperieren oder ohne weiteres sich auf Gespräche mit SozialarbeiterInnen oder ForscherInnen einlassen. Selbst wenn sie Opfer von Menschenhandel sind, […] wenden sich Menschen aus diesen Gruppen aus Angst und Misstrauen eher nicht an die Polizei oder andere Institutionen.“
Betroffene von Menschenhandel sind außerdem oft in einer Doppelrolle. Sie werden normalerweise als Beschuldigte (illegaler Aufenthalt bzw. keine Arbeitserlaubnis) und zugleich als potenzielle Zeugen vor Gericht vernommen. Menschenhandelsopfer haben das Recht auf eine 30-tägige Duldung, während der sie überlegen können, ob sie eine Aussage machen wollen oder nicht. Selbst, wenn ein Opfer dann aussagt, ist seine Aufenthaltsgenehmigung nach Abschluss des Strafverfahrens nicht gesichert. Nach dem Prozess wird die Zeugin oder der Zeuge wieder sich selbst überlassen oder abgeschoben. Vielen Opfern ist eine Aussage daher zu unsicher. Besonders gefährdet sind Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ohne familiären Schutz.
4. Unzureichende Bekämpfung
Eine Statistik kann nur aussagen, was auch tatsächlich dokumentiert wurde. Viele Polizisten, die mit dem Thema befasst sind, stellen fest, dass die finanziellen Mittel nicht ausreichen. Dazu kommen fehlende Rechtsinstrumente, um Zuhälter zu kontrollieren, Menschenhändler festzunehmen und Mafiastrukturen abzubauen.
Was lässt sich nun über die tatsächlichen Zahlen von Menschenhandel bzw. Zwangsprostitution in Deutschland sagen?
Schon bei der Anzahl der Prostituierten in Deutschland gibt es keine zuverlässige Statistik auf einer wissenschaftlichen Grundlage. Auch die Gewerbeanmeldungen bei der Bundesagentur für Arbeit (BfA) sind letztlich eine Farce. Im Jahr 2013 zählte die BfA genau 44 sozialversicherungspflichtig beschäftigte Prostituierte, darunter 4 Männer. Deutlicher kann ja kaum ausgedrückt werden, dass sich Prostitution im halblegalen oder illegalen Raum abspielt.
Eine häufig zitierte Schätzung, die auf die Berliner Prostituiertenberatungsstelle Hydra e. V. zurückgeht, spricht von bis zu 400.000 Prostituierten in Deutschland, so noch zitiert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) am 10. 10. 2014. Aus den Reihen von Hydra selbst wird diese Zahl allerdings mittlerweile revidiert. Die Hilfsorganisation Solwodi weist darauf hin, dass es selbst in offiziellen Dokumenten des Bundestags unterschiedliche Schätzungen gibt (Bundestagsdrucksache 11/7140, S. 5 ff.; 13/6372, S. 5 ff.; 14/4456, S. 5). Angesichts dessen müsse man von einer geschätzten Zahl von mindestens 200.000 Prostituierten in Deutschland ausgehen.
Rund 500.000 Frauen werden nach Angaben der EU jährlich in Westeuropa zur Prostitution gezwungen (United Nations Development Programme 1999).
Gemäß dem vom Bundeskriminalamt (BKA) herausgegebenen „Bundeslagebild Menschenhandel“ wurden im Jahr 2010 in Deutschland 470 Ermittlungsverfahren von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung abgeschlossen. 2012 gab es 491 Ermittlungsverfahren. Im Jahr 2013 wurde bereits von 542 Opfern gesprochen. Eine deutlich steigende Tendenz.
Wenn man bedenkt, dass die „International Organization for Migration“ für Deutschland in einer sehr vorsichtigen Schätzung bereits im Jahr 1998 von 10.000 bis 20.000 Menschenhandelsopfern ausging (IOM, Trafficked Migrant Women in Germany, Report 2, 1998, S. 1), dann lässt sich aus den Steigerungsraten klar ableiten, dass sich die Opferzahlen in den vergangenen 18 Jahren vervielfacht haben.
Alarmierend ist die Tatsache, dass die Opfer immer jünger werden. Mehr als die Hälfte der Opfer im Jahr 2012, nämlich 52 Prozent, waren unter 21 Jahre alt. Experten gehen davon aus, dass die meisten Mädchen, die durch Menschenhandel zur Prostitution gezwungen werden, zwischen 15 und 17 Jahre alt sind. Zwölf der ermittelten Opfer im Jahr 2012 waren Mädchen unter 14 Jahren. Zunehmend werden Kinder und Jugendliche auch in die Pornoindustrie weitergereicht.
Waren es Mitte der 1970er Jahren vor allem Frauen aus Südostasien und Lateinamerika, die nach Deutschland kamen, sind es seit den frühen 1990er Jahren überwiegend Frauen aus Osteuropa, hauptsächlich aus Bulgarien und Rumänien. Als Herkunftsstaaten der Opfer nennt das BKA 2013: Bulgarien: 26 Prozent; Rumänien: 23 Prozent und Deutschland mit 16 Prozent.
Etwas anders sieht es bei den Tätern bzw. Tatverdächtigen aus, hier besteht die Hauptgruppe aus Deutschen:
Eine wenig beachtete, aber immens wichtige Perspektive auf das Thema Menschenhandel betrifft die Nachfrage. Ohne Nachfrage kein Umsatz.
Laut einer Studie der Frauenzeitschrift „Brigitte“ hatten 88 Prozent der deutschen Männer bereits mindestens ein Mal in ihrem Leben Sex mit einer Prostituierten. 47 Prozent der Männer bezahlten sogar ein Mal im Monat für Sex. Auch wenn es sich dabei keineswegs um eine wissenschaftlich fundierte, repräsentative Umfrage handelt, zeigt sie doch eine deutliche Tendenz. Die Gewerkschaft Verdi schätzt, dass täglich bis zu 1,2 Millionen Männer in Deutschland zu einer Prostituierten gehen.
Sexkauf ist nicht nur in vielen Fällen selbst bereits die Ausnutzung einer Zwangslage, es verändert auch die Ansichten der Männer. In einer Studie von 2011 hat die US-Amerikanerin Melissa Farley nachgewiesen, dass sich die Ansichten von Sexkäufern und Nicht-Sexkäufern deutlich unterscheiden („Comparing Sex Buyers with Men Who Don’t Buy Sex”). Signifikante Unterschiede zeigen sich etwa bei der Aussage: „Wenn ich bezahle, muss die Prostituierte machen, was ich will“. Mit diesem wachsenden Dominanzanspruch steigt auch das Gewaltpotenzial gegenüber den Prostituierten.
Zusammenfassend muss man sagen: Menschenhandel und Zwangsprostitution haben sich in den vergangenen Jahren nach Europa verlagert. Deutschland ist dabei zu einer Drehscheibe geworden. Menschenhandel spielt sich in Deutschland aber weiterhin zu einem erheblichen Maße im Graufeld ab. Hier wäre es wichtig, genauere Zahlen zu gewinnen. Es lässt sich dennoch ein deutlicher Anstieg feststellen, und die Opfer werden zunehmend jünger.
Christine und Uwe Heimowski