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David und Goliath
ОглавлениеAus der jüdischen Kultur ist uns ein Mythos überliefert, der heute zu einem tragenden Element unserer Zivilisation geworden ist: Jemanden, der körperlich überlegen ist, kann man mit geistigen Waffen schlagen. Schlau muss man dazu sein und schnell. Die ostasiatischen Kampftechniken, die die Kraft des Gegners elegant nutzen, gab es noch nicht; die Kraft des Goliath wurde von David einfach umgangen, nivelliert, ausgeschaltet. Sogar im direkten Kampf Mann gegen Mann wird vom Denken verlangt, über die Kraft zu siegen: Das Großhirn glaubt, archaische Kräfte in Schach halten und kontrollieren zu können.
Individuelle Menschenwürde ist ein Konstrukt der Kultur und des Denkens, und sie ist in der Großhirnrinde beheimatet. Sie ist ein Ausweg vor der Übermacht archaischer Kräfte. Sich diesen Kräften ausgeliefert zu fühlen, ist eine Kränkung für das Individuum.
Beim Versuch, archaische Kräfte zu leugnen, spaltet man seine Sinnlichkeit ab, man verleugnet seine sinnlichen Bedürfnisse – und dann rennt man vielleicht heimlich ins Bordell. Was derzeit unsere Kultur vergiftet ist Folgendes: Je stärker man Sinnlichkeit und Emotion aus seinem Leben verbannt, desto leichter fällt es, so zu tun, als gäbe es keine archaischen Kräfte – desto stärker ist man ihnen aber ausgeliefert. Wenn man Körperlichkeit prinzipiell für bedrohlich hält, wird man dazu neigen, seine Sinne und Sinnlichkeit vorsorglich abzuspalten, sie zu rationalisieren oder zu ignorieren. Dabei sind die archaischen Kräfte, die uns Gewalt androhen, auch im Neocortex abgespeichert! – als Erinnerungen an Erlebnisse von Grenzverletzungen, Kränkungen, Gewalt, die immer wieder mit ihrer Botschaft unsere aktuelle Wahrnehmung überlagern, so lange, bis die ursprüngliche aufgelöst und versöhnt ist.
Je stärker wir schon bei einfachen Problemen mit Polarisierung reagieren, desto mehr deutet das darauf hin, dass sich unser Nervensystem „im Krieg“ befindet. Womit im Krieg? Diese Frage ist noch zu beantworten.