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Günther Weber, 17. Februar 1944, nach Lysjanka

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Bis zum Einbruch der Nacht des vorigen Tages hatten die SS-Grenadiere noch ihre Stellungen halten können, dann war in den frühen Morgenstunden der Rückzugsbefehl gekommen. Der Kessel war jetzt im östlichen Bereich nur noch ein schmaler Schlauch von knapp drei Kilometern Breite, und dieser Bereich war zum Friedhof für hunderte Soldaten und zum Schrottplatz für zerstörte Militärtechnik geworden. Es war vor allem das Bild der auf engem Raum liegenden Leichen, der gesprengten Geschütze, brennender LKW und einer total verwüsteten Landschaft, welches sich Weber einprägte. Irgendwie empfand er es als Vorschau auf kommende Zeiten, aber so würde es dann nicht mehr in Russland, sondern in Deutschland aussehen. Und vermutlich noch schlimmer, denn ein in die Enge getriebener Gegner, die sichere Niederlage vor Augen, würde selbst das eigene Land noch mit in den Abgrund reißen wollen. Die Wehrmacht und die anderen Truppengattungen waren angeschlagen, aber es war nicht so, dass sie zu schwach wären, um dem Gegner nichts mehr entgegensetzen zu können. Weber ging davon aus, dass sich der Widerstand sogar noch deutlich verhärten würde, je näher der Feind den Reichsgrenzen kommen würde. Momentan war aber ihre Aufgabe, jetzt noch das Schlupfloch aus dem Kessel zu erreichen, denn viel Zeit blieb nicht mehr, da der Kessel auch am westlichen Ende immer mehr zusammengedrückt wurde und kaum noch anderthalb Kilometer Breite aufwies. Dort drängten sich die demoralisierten deutschen Soldaten und hatten die Sowjets ihre Kräfte konzentriert. Alles, was hinter dieser Stelle lag, würde ihnen so wie so früher oder später in die Hände fallen.

Günther Weber stapfte mit seinen Männern kurz nach fünf Uhr auf die Ausbruchsstelle zu. Noch zirka 30 Grenadiere seiner Kompanie marschierten mit ihm mit. Überall im Gelände bewegten sich kleinere Trupps vorwärts. Es waren die Reste der Nachhut und im Gegensatz zu früher war der Gang der Soldaten nicht mehr aufrecht und selbstbewusst, sondern eher schlurfend, geduckt und mit auf den Boden gerichteten Blicken. Es schien so, als würden seelenlose Maschinen durch die Gegend ruckeln. Die meisten Männer führten nur noch Handfeuerwaffen mit sich, einige wenige schleppten Panzerfäuste. Für diese Waffen gab es keine Trageriemen, so dass die Soldaten sie am unteren Rohrende festhielten und schräg nach oben gerichtet auf ihren Schultern abstützten. Was den Optimismus der Männer sicher nicht erhöhte war der Marsch durch die Hinterlassenschaft der deutschen Divisionen. Man sah auch einige frisch aufgeschüttete Erdhügel, Massengräber, in denen die Toten eiligst verscharrt worden waren. Die Zeiten des Antretens der Einheit und des Salutschießens waren lange vorbei. Günther Weber erinnerte sich an die in seinen Augen feierliche Zeremonie nach ihrem ersten Einsatz im Polenfeldzug, bei dem einige Kameraden gefallen waren. Die Toten waren in noch offenen Särgen aufgebahrt worden, bis auf Lachmann, dem eine Kugel den halben Schädel weggerissen hatte. Dessen Sarg war bereits geschlossen und mit einer Reichskriegsflagge dekoriert worden. Der Kompaniechef hatte eine würdevolle Trauerrede gehalten, dann waren die Karabiner durchgeladen und dreimal abgefeuert worden. Heute war so etwas vollkommen unvorstellbar, denn es ging um die Rettung des eigenen nackten Lebens und es schmerzte Weber, dass sie ihre Toten ohne eine Geste des Abschieds zurücklassen mussten. In diesem Augenblick musste er darüber nachdenken, was eine Armee eigentlich so alles zu organisieren hatte. In den siegreichen Zeiten hatte sich hinter der Front eine regelrechte Armada von Verwaltungsdiensten etabliert, die heute zwar auch noch vorhanden war, aber durch die ständigen Auskämmungen stark geschrumpft war. Damals hatten diese Einheiten wie von deutschen Bürokraten geführte Organisationen funktioniert: an festen Regeln orientiert, keinen Deut bei ihren Entscheidungen und Handlungen davon abweichend, unnahbar, knochentrocken. Das hatte immerhin zur Folge, dass der Laden wie geschmiert lief. Das hatte auch die Bereitstellung von Särgen betroffen. Mit zunehmender Dauer des Krieges waren vor allem die Bestattungskompanien an ihre Grenzen gestoßen und die einst mit großem Aufwand angelegten Soldatenfriedhöfe Massengräbern gewichen. Der nächste Schritt war der gewesen, gefangen genommene Rotarmisten für das Verscharren der deutschen Gefallenen einzusetzen. Jetzt war weder das eine noch das andere möglich, die meisten der Toten bleiben unbestattet zurück.

Die Männer kamen relativ unbedrängt voran, nur ab und an schoss die russische Artillerie in diesen Bereich herein, denn die Sowjets wussten, dass eine allgemeine Flucht von dort eingesetzt hatte. Nach drei Stunden Marsch befahl Weber eine Pause. Die erschöpften, übermüdeten und ausgehungerten Soldaten suchten sich einen Platz zum Ausruhen. Keiner von ihnen sprach ein Wort, wer noch etwas in seinem Brotbeutel hatte aß es auf. Günther Weber hatte sich an einen ausgebrannten LKW gelehnt und rauchte. Er schaute sich seine Grenadiere an. Unter den Stahlhelmen sah er ausgemergelte und schmutzige Gesichter, schon von tiefen Falten durchzogene Wangen, dabei waren es noch junge Männer. Er würde ihnen jetzt noch 15 Minuten Pause gewähren, dann mussten sie weiter. Weber konnte auch nicht ausschließen, dass die Sowjets Kräfte an die Flanken des Restkessels dirigierten. Wenn sie auf feindliche Panzer stoßen würden wäre es vorbei, die wenigen Panzerfäuste konnten sie nicht retten. Also trieb er seine Leute etwas an, aber nicht übermäßig, denn vermutlich lag der schwierigste Teil des Weges noch vor ihnen, der Übergang über den kleinen Fluss. So wie er es einschätzte war das Durcheinander und Chaos schon so groß, dass die Bedingungen für einen geordneten Übergang über kleine Behelfsbrücken nicht geschaffen worden waren. Weber hatte einige Male Flüsse forcieren müssen, aber stets über Pontonbrücken oder in einem Boot. Kurz vor der Mittagszeit näherten sie sich der Ausbruchsstelle. Die Flanken dieses Bereiches wurden noch von Einheiten der deutschen Infanterie verteidigt, aber diese musste sich wegen der russischen Panzerangriffe immer weiter zurückziehen. An dieser Stelle hatte sich aber nochmals die Wirksamkeit der Panzerfäuste gezeigt, da etliche T 34 abgeschossen worden waren. Hier war das Bild noch schlimmer. Da der Schlauch kaum noch einen Kilometer breit war, und die Russen ständig mit der Artillerie auf diesen Bereich feuerten und trotz der Verluste noch Panzer vorschickten, waren hier hunderte deutsche Soldaten gefallen. Das Gelände war an vielen Stellen mit zertrümmerter Kriegstechnik gepflastert, dazwischen mit Leichen bedeckt. Über diesem schrecklichen Panorama zog eine dichte schwarze Qualmwolke hinweg, die den Männern den Atem nahm und ihnen Tränen in die Augen trieb. Weber ging mit seinen Männern noch ein Stück weiter, dann ließ er halten und nahm sie zusammen.

„Hört zu“ sagte er „wir werden jetzt gleich in ein riesengroßes Durcheinander kommen. Es hat keinen Sinn, auf Teufel komm raus zusammen zu bleiben, das wird sowie so nicht klappen. Seht euch die Massen an, die jetzt alle aus der Falle raus wollen. Also. Jeder wird sich ab hier auf eigene Faust durchschlagen, Treffpunkt ist Lsyjanka. Bildet höchstens kleine Gruppen. Und unterschätzt den Fluss nicht. Wartet lieber oder sucht euch halbwegs sichere Übergänge als ans andere Ufer zu schwimmen, ihr werdet es nicht schaffen, es ist Hochwasser. Vielleicht kommen unsere Truppen von draußen doch noch durch. Haltet die Ohren steif, wir haben schon ganz andere Probleme gemeistert.“

Weber ging los, zwei Männer waren bei ihm geblieben, Herbert Großmann und Dieter Kleber. Beide kannte er seit Beginn des Russlandfeldzuges. Großmann war kräftig, er hatte als Metzger gearbeitet. Kleber war ein zierlicherer Typ, er war direkt nach dem Abitur in die SS eingetreten. Obwohl er schmächtig wirkte war er einer der besten Handgranatenwerfer der Kompanie, er wandte eine etwas wundersam anmutende Technik an. Er warf die Granaten nicht wie die anderen mit nach vorn schnellendem Arm über den Schulterbereich sondern mehr aus Hüfthöhe. Das Ergebnis war frappierend, denn er erzielte große Weiten und eine hohe Treffgenauigkeit. Seine Ergebnisse kommentierte er immer gern, er war sehr gesprächig. Großmann war sein Gegenpart. Er wirkte wie ein Teddybär aber war dennoch sehr beweglich und schnell. Die drei Männer gingen hintereinander, keiner hatte Lust zum Reden. Mit ihnen marschierten hunderte Soldaten auf das Tor in die Freiheit zu, aber keiner wusste, wie lange sie es noch passieren konnten. Die in ihrem Rücken feuernde russische Artillerie trieb sie zusätzlich an. Die Einschläge schienen kein Muster zu haben, sie streuten willkürlich im Gelände und das vergrößerte die Panik noch mehr.

Nach weiteren vier Kilometern erreichten sie den Gniloi Tikisch. Der sonst so sanft vor sich hin plätschernde Bach war durch die Schneeschmelze zu einem reißenden Fluss mit gut 15 Meter Breite angeschwollen. Am Ufer drängten sich hunderte deutsche Soldaten. Sie mussten ans andere Ufer kommen, dort lag Lysjanka. Im Wasser erkannte Weber einige Pferdefuhrwerke. Die verzweifelten Männer hatten die Pferde ausgeschirrt und die Wagen ins Wasser gestoßen, denn es gab, so wie er es vermutet hatte, keine Behelfsbrücken. Etwas weiter rechts von ihnen versuchten Soldaten eine Menschenkette im Wasser zu bilden. Der erst Mann stand bis zum Brustkorb im Wasser, und er hatte noch nicht einmal die Mitte erreicht. Offensichtlich war das Wasser mehr als zwei Meter tief. Als der Soldat noch weiter ans andere Ufer gelangen wollte wurde er von den Füßen gerissen und von der starken Strömung mitgenommen. Die anderen in der Kette hatten jetzt eingesehen, dass sie so nicht weiter vorankommen könnten und dann versuchten sie schwimmend herüberzukommen. Günther Weber hatte schon von der Uferböschung aus gesehen dass die Kraft des Wassers enorm hoch war, und dass selbst ein geübter Schwimmer kaum eine Chance haben würde das andere Ufer zu erreichen, zumal alle ihre schweren Winterdienstuniformen trugen und die Stiefel voller Wasser waren. Die Männer im Wasser wurden flussabwärts abgetrieben und nur einigen wenigen gelang es an westliche Ufer zu kommen und sich an Wurzeln festzuhalten. Damit waren sie aber noch keineswegs gerettet, denn die Uferböschung war sehr steil und zum Teil stark ausgewaschen. Trotz des Tauwetters waren im Schutz der Uferböschung noch Teile des Flusses vereist, und einige Männer wurden unter diese Schicht gedrückt und ertranken. Günther Weber wollte sich dieses Drama nicht mehr länger mit ansehen, aber Kleber kam ihm zuvor.

„Das gefällt mir gar nicht“ sagte er „das ist die falsche Stelle. Eigentlich müsste man am anderen Ufer Lysjanka sehen können. Ich sehe aber nur freies Feld. Hier rüberzugehen ist Quatsch. Selbst wenn wir es schaffen sollten wären wir bis auf die Knochen nass, und das bei diesen Temperaturen. Es ist zwar kein Frost, aber ich schätze, es sind gerade einmal zwei Grad. Da wäre es besser sich gleich zu erschießen, dann geht es schneller.“

„Dafür gibt es noch keinen Grund“ erwiderte Großmann ruhig „wir sind noch lange nicht am Arsch.“

„Hier rüberkommen zu wollen ist aussichtslos“ stimmte Weber Kleber zu „wir müssen uns eine andere Stelle suchen. Flussabwärts müsste die Strömung eigentlich abnehmen. Wir gehen in diese Richtung. Dort müsste auch Lysjanka liegen.“

Die drei Männer gingen am Fluss entlang in nördliche Richtung. Hinter ihnen schoben die Soldaten weitere Pferdefuhrwerke in das tosende Wasser. Die leichteren Gefährte wurden sofort von der Strömung weggerissen und trieben ab. Einige schwerere Wagen blieben verkeilt im Fluss liegen, aber diese hölzerne Brücke in die Freiheit reichte gerade einmal bis in die Mitte des Gewässers. Das war nicht weit genug. Aber die Soldaten verloren durch die näherkommenden Granateinschläge immer mehr die Nerven und konnten nicht mehr klar denken. Einige kletterten über die im Fluss liegenden Fuhrwerke, standen dann unentschlossen da, aber sprangen schließlich in das eiskalte Wasser.

Günther Weber war mit seinen beiden Begleitern gut zwei Kilometer marschiert, als ein paar schäbige Holzhäuser sichtbar wurden, Lysjanka. Auch dort waren viele Soldaten zu erkennen. Zu seiner großen Erleichterung sah Weber, dass es eine Behelfsbrücke gab, und am anderen Ufer drei Panzer IV standen. Sie hatten doch noch einen Ausweg gefunden. Als sie am Flussufer auf diese Stelle zugingen schaute Weber in das Wasser.

Immer wieder trieben leblose Körper vorbei, diese Männer würden zwar auch Lysjanka erreichen, aber als Leichen.

Drei Musketiere - Eine verlorene Jugend im Krieg, Band 18

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