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Günther Weber, 5. Oktober 1941, Russland

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Ihr Auftrag war klar formuliert gewesen: das Bataillon sollte mit anderen Einheiten der 4. und 9. Armee hinter den Panzergruppen 3 und 4 vorgehen und so dafür sorgen, dass etliche russische Armeen sowie Truppen der sowjetischen Reservefront bei Wjasma in einen Kessel gerieten. Der Plan sah vor, dass sich die Panzergruppen möglichst schnell vom Kessel lösen sollten und das Ausräumen der Einschließung anderen Truppen überlassen würden, denn die noch schlagkräftigen Panzergruppen 3 und 4 sollten sofort auf Moskau eindrehen und den Vorstoß unbedingt forcieren, um die russische Hauptstadt vor dem endgültigen Einsetzen des Winters einzunehmen. Die Männer hockten im Schützenpanzerwagen und hatten die Plane aufgespannt, so waren sie vor dem Schneeregen geschützt. Günther Weber döste vor sich hin und sagte sich, dass sie schon mehr als ein viertel Jahr wie Nomaden durch das Land zogen. Er konnte nicht verleugnen, dass er sich oft erschöpft fühlte und das war seiner Meinung nach auch nicht sonderlich verwunderlich. Wochenlang kamen die Männer nicht aus ihren Sachen, Hygiene war zum Fremdwort geworden und der Schlafmangel sowie die Gewissheit, fortlaufend Gefahren ausgesetzt zu sein und getötet werden zu können zehrten an den Nerven der Soldaten. Obwohl der Reichsgesundheitsführer Conti Pervitin seit Mitte des Jahres nur noch auf Rezept verordnen ließ weil er die Verwendung von chemischen Hilfsmitteln ablehnte, hatte sich Günther Weber mit dem Sani angefreundet, der immer einen ausreichenden Vorrat in seinem Bestand hatte. Wenn er einen körperlichen Leistungsabfall oder eine seelische Bedrücktheit nahen fühlte nahm er eine Tablette ein und sein Zustand besserte sich spürbar und schnell.

„Schluck nicht so viel von diesen Dingern“ hatte ihm ein Kamerad einmal gesagt „man wird schnell abhängig davon. Ist wie mit dem Saufen und Rauchen. Wenn‘s wieder mal zu viel war nimmt man sich doch öfter mal vor, n bisschen kürzer zu treten aber nach n paar Tagen ist diese Anwandlung wieder vorbei.“

„Ich habe mir vorgenommen diese Pillen nur solange zu nehmen, bis wir die Russen besiegt haben. Verstehst du, ich will ständig einsatzbereit sein, das ist der Grund. Danach höre ich auf damit.“

Günther Weber wusste, dass das schon der Anfang eines Selbstbetrugs war. Dennoch redete er sich ein, dass er jederzeit auf das Pervitin verzichten könnte. Jedenfalls versuchte er die Tabletten nur in absoluten Tiefphasen einzunehmen und da diese nicht permanent und aller paar Tage vorkamen war er sich sicher, die Sache eigentlich im Griff zu haben. Außerdem musste er mit dem Mittel sparsam umgehen, wer wusste schon, wie lange er es noch vom Sani bekommen würde.

Die anfängliche Euphorie während des ungebremsten Vorwärtsstürmens war einer fatalistischen Haltung gewichen, aber die Meinung, dass man seine Pflicht weiter ohne Wenn und Aber erfüllen müsste, noch ungebrochen. Manchmal kamen bei Weber aber leichte Zweifel auf, ob sie die gesteckten Ziele rechtzeitig erreichen könnten, denn abseits befestigter Straßen war kein Vorankommen mehr möglich gewesen. Das Bataillon war aus diesem Grund auf eine andere Vormarschroute eingeschwenkt und da dadurch Zeit verlorengegangen war hatte der Bataillonskommandeur eine Verschärfung des Tempos befohlen. Die Soldaten versuchten sich gegenseitig Mut zu machen und hofften darauf, Moskau bald erreichen zu können. Dann, das war ihre Überlegung, würde sich die Regierung dort panikartig nach Osten absetzen und das würde das Ende der roten Herrschaft bedeuten. Da die Einheit in den letzten Kämpfen hohe Verluste gehabt hatte sollte sie bei der Ausräumung des Kessels von Brjansk nicht eingesetzt werden sondern für eine Woche in einer Ruhestellung bleiben und dann am weiteren Vormarsch auf Moskau teilnehmen.

„Na da machen wir es uns hier mal ein Weilchen gemütlich“ sagte einer der Männer „bei diesem Scheißwetter draußen rumzulatschen ist auch kein Vergnügen.“

„Gemütlich machen“ sagte Günther Weber mürrisch „in Erdbunkern! Wenigstens müssen wir die Dinger nicht selber graben, das haben ja die erledigt, die schon vor uns hier waren. Sogar Öfen sind drin. Allerdings gibt es kein Holz, das müssen wir uns schon selber organisieren. Aber da am Fluss gibt es Bäume. Das erledigen wir zuerst, dann können wir uns einrichten.“

Die Kompanie hatte ihre Schützenpanzerwagen jeweils neben den Erdbunkern aufgestellt, zwei Doppelwachen patrouillierte um das Areal. Das Gelände war übersichtlich und eben, lediglich zu dem nur kleinen und gerade einmal knietiefen Fluss hin fiel der Boden ab. Weber zog mit seinen Männern los und selbst die wenigen Meter zu dem Wäldchen zu bewältigen war mühevoll, da der Boden tiefgründig schlammig war. Fluchend hieben die Männer auf die Zweige mit ihren Spaten ein aber hatten recht schnell ausreichend Holz für vielleicht zwei Tage zusammen.

„Da brennt doch niemals“ gab einer der Männer zu bedenken „ist doch viel zu nass und zu frisch.“

„Da müssen wir eben ein bisschen nachhelfen“ sagte ein anderer „und zwar mit dem Benzin unserer Fahrzeuge. Bisschen aus dem Kanister drüber und das Problem ist gelöst. Und das Holz müssen wir im Bunker lagern, ansonsten bekommen wir es nicht zum Brennen.“

Nach einigen erfolglosen Versuchen knisterten Scheite im Ofen. Dieser war eine einfache Konstruktion, einfach in die lehmige Erde gepresst und mit einer Art Ofenrohr durch die Decke der Erdhöhle geführt. Diejenigen, die vorher hier campiert hatten, hatten mit ihren Spaten Liegeflächen geschaffen, die sich an den vier Wänden des Erdbunkers entlang zogen.

„Das ist ja fast wie zu Hause hier“ höhnte einer der Männer „fehlt bloß noch die feine Seidenbettwäsche und eine Badewanne. Die Betten sind ja nicht schlecht, richtig gemütlich.“

„Hör jetzt auf zu meckern“ sagte Günther Weber unwirsch „wir sitzen erst mal im Trockenen und können uns langmachen. Heute sind wir noch nicht mit der Wache dran, wir können uns also wirklich mal ausruhen. Und bald wird es auch warm sein. Wenn der Winter hier richtig einsetzt werdet ihr euch noch umsehen und euch so eine Behausung zurückwünschen.“

Vor einigen Tagen waren einige Sätze Winterdienstuniformen auf rätselhaften Wegen zur Einheit gekommen die aber kaum für ein Drittel der Männer reichten, denn wenn die Temperaturen auf russische Verhältnisse und damit sehr tief fallen würden, würden sie keine große Hilfe sein, denn sie waren für mitteleuropäische Bedingungen ausgelegt. Für Günther Weber stand fest, dass der deutsche Generalstab seine Vormarschplanung zu optimistisch ausgelegt hatte und die Truppen weit hinter den Zielen zurückhingen. Dennoch war er sich sicher, dass Moskau noch vor Weihnachten fallen würde, es bedurfte nur noch einer letzten Kraftanstrengung.

„Walther“ sprach er einen der Männer an „du gehst jetzt mal zum Fluss und holst einen Eimer Wasser. Falls wir das warm kriegen können wir uns auch endlich wieder mal ein bisschen waschen.“

Der Soldat verließ den Bunker. Zwei zusammengeknöpfte Zeltbahnen bildeten eine Art Tür und als der Mann hinausging wehte etwas Schnee hinein.

„Auf den guten Teppich“ jammerte einer theatralisch „da gibt’s doch wieder Ärger mit der Frau. Und wir müssen uns dringend einen Fußabtreter beschaffen, nein, dieser Dreck hier drinnen, nicht auszuhalten.“

Einige lachten. Die Männer hatten die Aussicht, ein paar Tage in relativer Ruhe verbringen zu können und sich etwas zu erholen. Sie hatten sich seit langem an schlechte Lebensbedingungen gewöhnt und dieser Erdbunker kam ihnen tatsächlich als ein Ort vor, in dem sie nicht gefährdet waren und einfach nur dösen oder Karten spielen konnten. Günther Weber hatte eine Zeltbahn auf seiner Liegefläche ausgebreitet und sich hingelegt, dann brannte er sich eine Zigarette an und blies den Rauch in die Luft. Durch die dickere Winterjacke und Hose spürte er die feuchte Erde nur wenig und bald würde es im Bunker auch wärmer sein und somit durchaus erträglich. Unter seinen Kopf hatte er das Sturmgepäck geschoben und sich eine Decke über den Körper gezogen. Heute Nacht werde ich sicher mal gut schlafen sagte er sich. Plötzlich peitschte ein Schuss. Mit einem Satz war Weber auf den Beinen und stürmte mit dem Karabiner in der Hand nach draußen. Die anderen Männer folgten ihm. Weber orientierte sich mit einem schnellen Blick, aber er konnte trotz des leichten Schneetreibens keine Gegner erkennen. Auch aus den anderen Bunkern waren die Männer herausgekommen und suchten die Gegend ab. Die beiden Doppelposten hatten auch nichts gesehen. Günther Weber wandte sich seinen Leuten zu und sagte:

„Möglicherweise treiben sich hier Partisanen herum. Haltet die Augen offen. Wo ist Walther überhaupt? Der müsste doch längst zurück sein. Klaus, wir gehen mal zum Fluss runter.“

Auch auf der anderen Flussseite befand sich ein kleiner Wald mit Bäumen, aber diese standen nicht dicht beieinander sondern nur in größeren Abständen, so dass man die Gegend gut im Blick hatte. Weber und sein Kamerad gingen nebeneinander vorsichtig auf den Fluss zu, beide hatten ihre Karabiner durchgeladen. Als sie noch knapp 20 Meter vom Flussufer entfernt waren sahen sie eine verkrümmte Gestalt nahe dem Wasser auf dem Boden liegen.

„Walther“ rief Weber nervös.

Klaus ging jetzt schnell auf die Stelle zu und Weber lief 2 Meter etwas links versetzt hinter ihm. Im nächsten Augenblick ging ein Ruck durch den Körper des Soldaten, gleichzeitig war ein Schuss zu hören. Der Mann taumelte einen Moment, dann fiel er nach vorn auf den Boden. Günther Weber hatte sich sofort fallen gelassen. Er war vollkommen hilflos und erwartete den nächsten Schuss. Er hörte, dass die Motoren von einigen Schützenpanzerwagen ansprangen, dann wühlten sich die Fahrzeuge durch den morastischen Boden auf den Fluss zu. Drei überwanden mühelos den flachen Fluss und bewegten sich auf den Wald zu. Die MG-Schützen hinter den aufgeklappten Schutzschildern feuerten auf Verdacht in den Wald hinein. Sie durchquerten diesen Bereich und drangen weiter vorwärts. Dort erstreckte sich ein Stück freie frei Fläche aber dann kam dichter Wald. Die Fahrzeuge blieben stehen, dann drehten sie um und die Schützen besetzten die MG an der Heckseite.

„Sani“ brüllte Günther Weber denn Klaus bewegte sich schwach.

Der Mann kam herangerannt, dann drehte er den Soldaten auf den Rücken und öffnete seine Jacke. Gleich darauf wuchtete er ihn wieder auf den Bauch und zog ihm geschickt die Jacke aus.

„Keine Austrittswunde“ sagte er und drehte den Mann erneut um.

„Steckschuss, vermutlich in der Lunge. Kannst du deine Beine bewegen“ fragte er den Verwundeten ruhig.

„Ja“ stöhnte dieser.

„Zwei Leute mit einer Trage her, bringt ihn in einen Wagen, er muss schnell ins Lazarett“ rief der Sani, dann ging er mit Weber zu der am Flussufer auf dem Rücken liegenden Gestalt.

Der Sani kniete sich nieder und sah dem Soldaten ins Gesicht, dann stand er schwerfällig auf und sagte tonlos zu Weber:

„Ihr könnt ihn begraben. Muss ein Scharfschütze gewesen sein. Direkt in die Herzgegend.“

Günther Weber stand eine Weile neben der Leiche seines Kameraden. Ihn kannte er schon aus der Ausbildungskompanie und war mit ihm in Polen und Frankreich gewesen. Walther Bergmann war ein ruhiger Mann gewesen der sich nie durch große Sprüche hervorgetan hatte sondern lieber schwieg. Wenn er aber von der Zeit nach dem Krieg sprach konnte er viel Phantasie entwickeln und er hatte auch ganz klar gesagt, dass er sich an der Kolonialisierung Russlands gern beteiligen würde und sich vorstellen könnte, später dort zu leben. Jetzt würde er hier sein Grab finden, fern seiner schwäbischen Heimat. Wir müssen die Russen schlagen dachte sich Weber verbittert, so viele Männer sind schon gefallen, das darf nicht umsonst gewesen sein. Er schaute Walther noch einmal an, dann gab er seinen Leuten den Befehl ihn zu beerdigen. Mit hängenden Schultern ging er zurück zum Erdbunker und rauchte vor dem Eingang noch eine Zigarette.

Er hatte die Vermutung, dass sich die Hoffnung auf eine richtige Ruhephase an diesem Ort wohl nicht erfüllen würde.

Drei Musketiere - Eine verlorene Jugend im Krieg, Band 3

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