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KAPITEL 1

Als Chef in schwieriger Mission

Die Olympischen Spiele 1988

Die 20 jungen Männer, die an einem lauwarmen Augustabend des Jahres 1988 am Frankfurter Flughafen in eine Boeing 747 Richtung Osten einsteigen, stehen vor einer ungewissen, ja womöglich sogar gefährlichen Reise. Hitze wird sie empfangen, das wissen die prominenten Jungspunde bereits, darüber hinaus eine konstant schweißtreibende hohe Luftfeuchtigkeit und ein Potpourri aus neuen Gerüchen, Geräuschen und Farben. Vielleicht warten am Zielort Mahlzeiten, die noch auf den Tellern herumkrabbeln, unter Umständen auch Killerviren, Kriminelle oder kriechendes Giftgetier. Kurzum: Die Truppe geht auf Jugend-forscht-Mission und hat keinen Schimmer, was ihr blüht.

Reisen ist ein Abenteuer in den achtziger Jahren, viel mehr noch als in den Jahrzehnten, die folgen werden. Das Deutschland, aus dem die physisch gestählten Männer an diesem Abend abfliegen, ist durch eine Mauer und schwerbewaffnete Sicherheitskräfte von eingesperrten Landsleuten getrennt. Das Exotischste an der Bundesrepublik sind seine Dönerläden, China-Imbisse und ein paar multikulturelle Bahnhofsviertel, in die sich gemeinhin kein hochbezahlter Promi verirrt.

Auch weite Teile des europäischen Kontinents sind für viele Deutsche unerforschtes Terrain, mit Staaten, die sich mittels Grenzzäunen, Schlagbäumen und bewaffnetem Militär voneinander abschotten, vor allem im östlichen Zipfel. Der Super-GAU von Tschernobyl, zwei Jahre zurückliegend, hat aus der Sowjetunion die Angst vor Atomkatastrophen importiert. Aids wächst sich von Westen kommend zur neuen grenzüberschreitenden Bedrohung aus. Und selbst von den im sonnigen Süden beheimateten Urlaubsländern Frankreich, Spanien und Italien kennt der gewöhnliche deutsche Tourist mit Badelatschen und blutroter Birne in der Regel nicht viel mehr als das hotelnahe Kneipenviertel mit Schlagermucke und Schnitzel.

Wer sich informieren will über das, was auf dem Globus sonst noch so abgeht, der zappt durch eine Handvoll grobkörniger Fernsehprogramme, schaut Dokumentationen öffentlich-rechtlicher Fernsehsender oder blättert beim Schlückchen Kaffee in seiner Morgenzeitung. Bei Fußballern hat dieses Stück Papier im Normalfall vier fette Buchstaben auf dem Titel und augenfreundlich wenig Text. Meistens bleibt man eh beim Sportteil oder dem ordentlichen Stück Haut auf der Titelseite hängen.

In dieser Welt, die noch so ganz anders ist als die heutige, ahnt kaum jemand, welche völkerverbindenden Kommunikationswundergeräte bald die Menschheitsgeschichte revolutionieren werden. Zum Telefonieren steuert man einen der engen, stickigen Glaskästen mit seinen versifften Nummernbüchern an der Straßenecke an oder greift zum klobigen Apparat mit Schnur, der bei den meisten Menschen im Flur auf einem Tischchen steht. Würde man unseren durchtrainierten Jungs am Gate des Frankfurt Airport prophezeien, dass in einigen Jahren kleine Hochleistungscomputer auf den Markt kommen, mit denen sie überall kabellos telefonieren und auch sonst sämtliche Alltagsprobleme bis auf die Toilettengänge lösen können, würden sie mit ziemlicher Sicherheit antworten: »Ist klar, Kollege, und wann schweben die kleinen grünen Männchen ein?« Die Hippsten unserer Reisenden tragen als Tribut an die Postmoderne ein schwarzes Ding mit in den Flieger, in das man eine Kassette einlegen kann, deren blecherner Klang dann über schmucklos-schwarze Kopfhörer in die Gehörgänge dringt. Mit diesem Achtziger-Jahre-Kultobjekt namens Walkman geht es rein in die Maschine.

Das große Abenteuer führt die jungen Männer nach Südkorea. Verursacht schon allein die Unkenntnis der landesspezifischen Besonderheiten bei unseren Hauptdarstellern nervöses Magengrummeln, so versteckt sich die vermutlich gefährlichste Bedrohung für sie jedoch in der Zielvorgabe fürs Zielland: Sie sind Bundesligakicker und sollen bei den Olympischen Sommerspielen Fußball spielen. Guten Fußball. Erfolgreichen Fußball.

Das ist ein ausgewachsenes Problem.

Denn guten und erfolgreichen Fußball haben deutsche Mannschaften bei Olympischen Spielen noch nie gespielt.

Vor vier Jahren, bei den Wettkämpfen von Los Angeles, waren die schwarz-rot-goldenen Medaillenjäger unter Leitung von Erich Rib-beck krachend vor 100.000 Menschen in Pasadena im Viertelfinale gescheitert. Resultat gegen Jugoslawien seinerzeit: 2:5. Der Einzug in die Runde der letzten acht markiert indes bis zu diesem Zeitpunkt tatsächlich das beste Ergebnis der stolzen Fußballnation Deutschland in der langen Geschichte des attraktivsten Sportturniers der Welt. Selbst 1972, bei den Spielen im eigenen Land im Olympiastadion zu München, schied das deutsche Team nach einem 1:4 gegen Ungarn und einem 2:3 gegen die DDR früh in der Zwischenrunde aus.

Wobei der Fairness halber natürlich angeführt werden muss, dass aufgrund der restriktiven Olympia-Statuten für Fußballteams bis zum Jahr 1984 immer nur Amateurmannschaften aufgestellt werden durften. Erst mit den Sommerspielen in den Vereinigten Staaten kam die Erlaubnis hinzu, Profis zu nominieren. Voraussetzung: Diese Spieler waren zuvor noch nie bei einer Weltmeisterschaft an den Start gegangen. Für das Projekt Seoul macht Trainer Hannes Löhr vom neuen Recht regen Gebrauch. Er holt durchweg hungrige Fußballer in seinen Kader. Spieler, die noch nicht viel gewonnen haben.

Dank des aufgepeppten Personals verstecken sich durchaus Ambitionen auf diesem Flug mit im Gepäck – neben Sonnenmilch, viel Sonnenmilch, denn das ein oder andere Kadermitglied rechnet damit, dass es vor und nach den Spielen genug Zeit haben wird, sich einen goldbraunen Teint zuzulegen. Warum auch sollte man sich vor dem Hintergrund der eher dürftigen deutschen Olympia-Historie einen mit Druck und Erwartungen gefüllten Rucksack aufsetzen?

Michael Schulz ist so ein Kadermitglied. Einen Tag vor dem Abflug hatte ihn der Chefcoach angerufen. Schulz, fast zwei Meter lang, das schwer zu bändigende Langhaar zu einem Pferdeschwanz gebunden, die Sonnenbrille hochgesteckt ins blonde Dickicht, war eigentlich längst im Urlaubsmodus. »Langer, kannste morgen mit?«, fragte Löhr durch den Hörer. »Klar, Trainer«, antwortete der Lange.

Jetzt sitzt Schulz mit im Lufthansa-Vogel, ausreichend Creme fürs Freizeitprogramm in den Taschen, ein breites Grinsen zwischen den Wangen. Der Schlaks mit den langen Gräten agiert beim 1. FC Kaiserslautern als linker Verteidiger und hat eine ganz gute Bundesligasaison hinter sich. Allerdings ist er mit seinen bereits 27 Jahren erst seit gut einem Jahr Fußballprofi. Vor seiner Zeit in der Pfalz hatte Schulz in Oldenburg gekickt und nebenher als Ausbilder bei der Polizei gearbeitet, da er gar nicht mehr damit gerechnet hatte, dass das mit einer Vollbeschäftigung in seinem geliebten Ballsport noch mal was wird. Dann kam der Anruf vom 1. FC Kaiserlautern. Es war der Auftakt zu einer ganzen Reihe schöner Überraschungen, die wahrscheinlich auch etwas mit seinem unerschütterlichen Optimismus zu tun haben.

Dieser zeigt sich immer wieder bei ihm, in nahezu jeder Lebenslage. Als der Olympia-Kader bekanntgegeben wurde, verfolgte der Lange die Zeremonie gemeinsam mit Freunden vor der Mattscheibe. Er hatte eine Party zu seinem Geburtstag organisiert. »Jungs, es könnte sein, dass ich doch noch mitfahre, passt mal auf«, sagte Schulz zu den Vertrauten, als sein Name nicht über den Bildschirm flimmerte. Der große Mann mit der großen Lockerheit sollte recht behalten. Er ist nun doch dabei.

Nicht weit von Michael Schulz entfernt sitzt Ralf Sievers, auch er 27, defensiver Mittelfeldspieler von Eintracht Frankfurt. Bei der Eintracht hat das 1,75 Meter kleine Kraftpaket eine gute Saison hingelegt, die Hessen wurden mit Antreiber Sievers DFB-Pokalsieger. Wirklich damit gerechnet, Teil des Olympia-Teams zu werden, hatte indes auch der Frankfurter nicht. Bei den Qualifikationsspielen fürs Turnier war er zwar immer mit von der Partie gewesen, aber immer nur als unverzichtbarer Warmhalter der Ersatzbank. Auch ihn rief Löhr einen Tag vor dem Abflug an, weil der Bremer Uli Borowka ausgefallen war. »Ralf, wie sieht es aus bei dir?«, fragte Löhr durch den Hörer. Es sah gut aus bei Ralf. Auch er packte rasch und begab sich zum Flugzeug.

Eine kunterbunt zusammengewürfelte Combo macht sich da somit über den Wolken auf den Weg ins Asiatische. Dass diese Gemeinschaft auch sportlich sonnigere Aussichten hat als ihre meist in fußballerische Peinlichkeiten verstrickten Vorgänger, das liegt vor allem an einigen der Öffentlichkeit besser bekannten Gesichtern, die nun ebenfalls über die Flugzeugsessellehnen blicken.

Da hockt zum Beispiel Jürgen Klinsmann, blonder Nachwuchsstar vom VfB Stuttgart, im vergangenen Jahr aufgefallen durch ein Weltklasse-Fallrückziehertor gegen den FC Bayern München, in der gerade abgelaufenen Saison mit 19 Buden Torschützenkönig der Bundesliga geworden.

Thomas Häßler fliegt mit, der kleine Dribbelkönig vom 1. FC Köln, ein Meister der Haken, der Standardsituationen und der Spielstrategie.

Karl-Heinz Riedle hat es sich bequem gemacht in einem der Flugzeugsitze, das Kopfballwunder vom SV Werder Bremen, Trefferbilanz in der Saison: 18 Tore.

Wolfram Wuttke blickt über den Wolken durchs Fenster, die Zaubermaus mit dem grandiosen rechten Fuß, die jeden Außenspannstoß in einen Gänsehautmoment verwandelt.

Und dann sitzt da ja auch noch Frank Mill, seit zwei Jahren zuverlässiger Topstürmer von Borussia Dortmund. Vor etwa zehn Jahren war sein Stern am Fußballhimmel über dem im Industriedunst liegenden Essen aufgegangen, wo er bei Rot-Weiss Essen zusammen mit Horst Hrubesch und Willi Lippens Angst und Schrecken bei den Gegnern verbreitet hatte. Seitdem hat er in jeder Bundesligasaison bestens gewusst, wo das gegnerische Tor steht. Mit 30 Jahren befindet er sich jetzt im Zenit seines Könnens. Das »Schlitzohr«, wie Frank wegen seiner frappierenden Treffsicherheit genannt wird, hat ausreichend Erfahrung gesammelt, um auch fernab von zu Hause sein Näschen in Strafraumsituationen beweisen zu können. Vor dem Abflug hat er noch schnell einmal mit seiner Dortmunder Borussia trainiert, hat seine Ehefrau Beate und seine kleinen Kinder Kevin und Vanessa zu Hause in den Arm genommen und sich im Zug auf den Weg nach Frankfurt gemacht. Weiter, immer weiter. Es ist ein Sommer, in dem er sowieso selten zu Hause weilt und ständig als Dienstreisender mit dem ausdrücklichen Auftrag, Tornetze auszubeulen, andere Stadien ansteuert.

Klinsmann, Mill und Wuttke waren einige Wochen zuvor bei der EM in Deutschland am Start gewesen, als die Nationalelf im Halbfinale die bittere 1:2-Niederlage gegen die Niederlande kassiert hatte. Mill hatte gegen den Erzrivalen 79 Minuten gespielt, glücklos, sich oft an der vielbeinigen Oranje-Abwehr die Zähne ausgebissen. Alle drei sind heiß nach dieser Schmach, und sie sind froh, schon wenige Wochen nach dem Heimdesaster eine weitere große Chance zu bekommen. Riedle, Häßler und der Mittelfeldspieler Holger Fach hatten ein paar Wochen vor den Olympischen Spielen in der A-Nationalmannschaft debütiert. Das Sextett weckt zarte Hoffnungen auf ein passables Turnier – und es lässt fast vergessen, dass eine ganze Ansammlung von Stars wegen Verletzungen passen muss, darunter Torwart Andreas Köpke, das Mittelfeldass Michael Zorc sowie Stürmer Dieter Eckstein.

Südkorea ist ein spannendes Land, seit Ende der vierziger Jahre getrennt auf dem 38. Breitengrad von seinem kommunistischen Bruder Nordkorea. Das Austragungsland des größten Sportereignisses der Welt befindet sich geradewegs auf dem Weg zu marktwirtschaftlichen Reformen, auf dem Weg auch zu einer langsamen Demokratisierung. Zwar wird der Staat seit Anfang der sechziger Jahre von autoritären Präsidenten regiert. Doch seit einem Machtwechsel von Park Chung-hee zu Chun Doo-hwan hat sich größerer innenpolitischer Druck entfacht. Eine Gegenbewegung unter den beiden Oppositionsführern Kim Young-sam und Kim Dae-jung führte dazu, dass im Juni 1987, also gut ein Jahr vor Beginn der Olympischen Spiele, freie Wahlen abgehalten werden konnten. Der Kandidat der herrschenden Regimekoalition, Roh Tae-woo, gewann, aber da es ihm gelang, das Militär zu zähmen und in die politische Arbeit einzubinden, konnte der Boden bereitet werden für die erste Machtübernahme eines Zivilisten einige Jahre später. Reformen im Militär und im Geheimdienst, in der Justiz und in der Verwaltung sowie in der Parteiengesetzgebung und bei der Wahlordnung stehen an.

Parallel dazu entwickelt sich der Staat zum industriellen Schwellenland, zu einem der sogenannten Tigerstaaten, die als Vorbilder für Entwicklungsländer herhalten. Die Regierung lenkt die heimische Wirtschaft mit strikten Vorgaben, schützt den Binnenmarkt mit Zöllen. Auf dieser Protektionsbasis mausern sich viele Unternehmen in der Zusammenarbeit mit China, den USA oder Japan zu exportorientierten großen Playern, unter den Einheimischen »Jaebeols« genannt. Elektronik, Halbleiter, Autos, Schiffbau – Firmen des Landes sind auf vielen Gebieten erfolgreich. Die Wirtschaft verzeichnet ein jährliches Wachstum von fast neun Prozent. Das schafft Arbeitsplätze, die Nachfrage nach Industriearbeitern steigt rapide. Zudem gelingt es den Machthabern, die sozialen Gräben nicht zu tief und Einkommensunterschiede nicht zu groß werden zu lassen. Als die Welt 1988 am Vorabend der Olympischen Spiele mit Kameras und Fernsehsatelliten auf Südkorea blickt, verwandelt sich der Staat, der einst zu den ärmsten Agrarländern zählte, gerade zu einer der zwölf größten Industrienationen der Welt. Die wirtschaftliche Transformation nennen viele Bewohner Südkoreas »Das Wunder vom Hangang« in Anspielung auf den gleichnamigen Fluss, der durch die Hauptstadt Seoul fließt.

Der zweitgrößte Ballungsraum dieses prosperierenden Staatsgebildes mit seinen mehr als 40 Millionen Einwohnern ist Busan. 3,5 Millionen Menschen leben dort. Die Stadt liegt an der Küste des Japanischen Meeres, ist berühmt für ihre Buchten und sanften Hügellandschaften im Herzen der Metropole, alle zwischen 100 und 400 Meter hoch. Nach rund zehn Stunden landen unsere Fußballhelden in spe im Lufthansa-Flugzeug in Seoul. Anschließend holpern sie etwa vier Stunden lang in einem Klapperbus weiter in eben dieses Busan. Ziel dort: das Best-Western-Hotel. Es gibt Zweibettzimmer für die Fußballer. Erste Zeit zum Beschnuppern. In Busan wird die deutsche Olympia-Auswahlmannschaft ihre Vorrundenspiele absolvieren.

Nur zwei Tage Vorbereitung haben die jungen Männer bis zum ersten Spiel, aber das ist wahrscheinlich ganz gut so, weil kaum Zeit besteht, über den Jetlag, mögliche Starallüren oder sonstige Dinge nachzudenken, die den Ballfluss bremsen könnten. Schon kurz nach der Ankunft bittet Löhr zum ersten Training auf ein erfreulich gepflegtes Stück Grün in der Nähe des Hotels. Und gleich zeigt sich, welches besondere Problem die Tage von Busan prägen wird: Der Schweiß rinnt in diesem Klima schon beim Verlassen der Kabine aus allen Poren. Konditionsarbeit ist kaum möglich, stattdessen setzt Löhr auf viel Ballarbeit, um die Abstimmung zu verbessern und die Konzentration hochzufahren, und schnell eingeleitete Erfrischungsphasen nach den kurzen Einheiten.

Ein bisschen laufen, dehnen, Muskeln lockern, dann ran an den Ball, so sieht das Programm von Löhr aus – und es wird sich in diesen Wochen nicht groß verändern. Fußball ist ein einfaches Spiel in jener Zeit, geprägt von klaren Positionen der Spieler, unmissverständlichen Kommandos, Manndeckung und simplen Taktikanweisungen. Niemand von unseren Jungs kann sich vorstellen, dass ihr Sport in nicht allzu ferner Zukunft von wissenschaftlich sozialisiertem Trainerpersonal dominiert werden würde, von Coaches, die mit Maßanzügen und Laptops an der Linie stehen, mit GPS-Chips an den Fußballerkörpern jede Bewegung vermessen, anhand der Pupillengröße des Kickers dessen Handlungsschnelligkeit erkennen und die von Zweit-, Dritt- und Vierttrainern für jeden Muskel und jede Synapse im Kopf der Profis begleitet werden. Polyvalente Spieler? Abknickende Sechser? Falsche Neuner? Eine Doppelsechs, die zur Acht wird? Brutales Gegenpressing mit Laufleistungen von bis zu 13 Kilometern? Abklemmen eines Gegenspielers? Hannes Löhr kennt das alles nicht. Er sagt seinen Schützlingen, wo sie hinlaufen sollen und dass der linke Verteidiger des Gegners einen schwachen rechten Fuß hat, der keine Flanken verhindert. Oder dass die Bälle hinten in Bedrängnis auch mal auf die Tribüne gedroschen werden müssen. Das alles muss reichen, um einem Kontrahenten zu zeigen, dass gegen die deutsche Mannschaft nichts zu ernten ist.

Aber erst einmal heißt es: eintauchen in die neue Kultur, behutsam und wohldosiert. Kaum sind die Bälle im Schrank verstaut, machen sich die Kicker auf zu einem der traditionellen Märkte der Stadt und gehen gemeinsam essen. Was sie vorfinden, offenbart keine Spur von einer kulinarischen Hölle, alle Befürchtungen im Vorfeld waren unnötig. Es gibt Reispfannen allerorten, gefüllt mit frittiertem Huhn und frischem Fisch. Die in die Zukunft strebende Stadt verfügt über Shoppingmalls, Leuchtfassaden ohne Ende, Steakrestaurants nach amerikanischem Vorbild. In Berlin oder Hamburg sieht es an vielen Ecken auch nicht anders aus.

Am nächsten Tag starten die Segler im Hafen von Busan ihre Wettbewerbe. Eine gute Gelegenheit, erstmals Olympialuft zu atmen. Besonders Ralf Sievers zieht es ans Wasser, er stammt aus Lüneburg, hat viele Bootsfreunde im Bekanntenkreis. Sievers nimmt einige Jungs mit, auch Frank Mill. Die Stimmung ist gut, man fühlt sich wohl. Die Akklimatisierung hat begonnen.

Frank ist überglücklich, zum zweiten Mal in seinem Leben bei den Olympischen Spielen zu sein. Schon in Los Angeles war er mit von der Partie und hat jede Sekunde genossen. Damals pilgerten selbst bei Spielen mit zweit- oder drittklassigen Nationen bis zu 100.000 Menschen in die Arenen – ein unvergessliches Erlebnis. Man kam im olympischen Dorf mit Sportlern aller Couleur in Kontakt, was mitunter auch zu prekären Momenten führte. So stand Frank beispielsweise daneben, als Dieter Schatzschneider, deutscher Topstürmer mit der Statur eines Bären, einem in der Mensa vorbeilaufenden Boxer, der gerade eine Medaille abgeräumt hatte, eine abfällige Bemerkung über dessen leicht derangierte Nase zurief (»Der ist wohl vor eine Bahnschwelle gelaufen«), worauf der muskulöse Athlet auf den Fußballer zusteuerte, um die Verbalattacke mit einem satten Hieb auf dessen Riechkolben zu kontern. Nur Franks mutigem Einschreiten hatte es Schatzschneider zu verdanken, dass seine Nase von größeren medizinischen Korrektureingriffen nach den Olympischen Spielen verschont blieb.

Mill hat also jede Menge Erfahrungen mit dem Flair, das die Spiele so speziell macht. Er geht vorneweg, will die Atmosphäre erneut aufsaugen. Er gibt die Richtung vor, wenn Teamkollege Wolfram Wuttke hinter ihm steht und ihm die Frage ins Ohr ruft: »Chef, was machen wir heute?«

Chef. Die Bezeichnung passt. Frank ist zur natürlichen Autorität gereift in der Bundesliga. Er hat einige hundert Ligaspiele auf dem Buckel, hat in Essen aufstrebende Stürmer weggebissen, in Mönchengladbach und nun in Dortmund.

In der öffentlichen Wahrnehmung gilt Frank Mill als einer von Deutschlands absoluten Topangreifern. Als einer, der nie aufgibt und den Fans immer das Gefühl vermittelt, dass sie ihr Geld für die Eintrittskarten nicht umsonst ausgegeben haben. Als einer, der nicht viele Worte macht, aber wenn, dann deftige. Er selbst ist sich der Vorzüge bewusst, welche die Anhänger an ihm schätzen, deshalb kann er auch nicht verstehen, warum ihm das fußballerische Führungspersonal bisweilen nicht die gewünschte Wertschätzung zuteilwerden lässt. Bei der EM setzte Teamchef Franz Beckenbauer im Sturm in der Regel auf Rudi Völler, obwohl Frank in seiner Selbstwahrnehmung in diesen Monaten des Sommers 1988 nicht schlechter in Form ist als »Tante Käthe«. »Rudi und vorher auch Klaus Allofs und Karl-Heinz Rummenigge, die mir in der Phase vor Völler und Klinsmann in der Nationalmannschaft vorgezogen wurden, hatten bei den Bundestrainern meist deutlich bessere Karten als ich«, sagt Frank im Rückblick. Vielleicht lag das daran, dass bei seinen Nominierungen auch immer die Furcht mitschwang, der offenherzige Mill könne als Stinkstiefel die Stimmung in der Mannschaft ruinieren?

In jedem Fall hat all dies seine Motivation gestärkt, es in Seoul nun allen so richtig zu zeigen. Und in jedem Fall prädestinieren ihn seine Glaubwürdigkeit, seine Erfahrung und seine Torjägerqualitäten dazu, das Team in Südkorea zu führen. Vor dem Auftaktspiel der Deutschen nimmt Coach Löhr Mill beiseite und fragt ihn, ob er die Truppe als Kapitän durchs Turnier geleiten will. Frank will. Er kennt auch diese Position schon, hat sich mit den Jahren vor allem bei Borussia Dortmund zum Wortführer entwickelt. Dort fungierte er bis vor kurzem als Spielführer und behauptete die Binde auch gegen zahlreiche Widerstände aus dem Spielerkollegenkreis und der Klubführung. Aber dazu später mehr.

Frank ist kein besonders extrovertierter Kapitän, eher ein Freund der sparsamen und wirkungsvollen Gesten. Vor Spielen versammelt er seine Mannschaft kurz um sich, brüllt: »Wir hauen die jetzt weg, Männer!«, danach geht es raus aufs Feld. Kein Abklatschen, keine Kreisbildung, kein gemeinsames Einschwören Schulter an Schulter. Auch das unterscheidet das damalige Profigeschäft vom heutigen, wo das sogenannte Teambuilding mit Kletter- oder Raftingtouren vor einer Saison und auch während der Spielzeit zu den unabdingbaren Prämissen für erfolgreiches Punktesammeln zählt.

Löhr ist in Südkorea Franks Äquivalent auf der Trainerbank: ruhig, herzlich, analytisch, auch er ein Anhänger reduzierter und dosierter Rhetorik. Der Coach hatte als Spieler mit dem 1. FC Köln große Zeiten, wurde Meister und Pokalsieger. Eine lebende Legende der Geißböcke. Nun transportiert er seinen rheinischen Mix aus Leidenschaft und Lebenslust nach Asien. Auf dem Rasen gibt es knallharte Ansagen. Haben die Jungs Freizeit, wirft er die lange Leine aus. Dann darf die Truppe abends ohne Kontrollanrufe vom Übungsleiterteam ein oder zwei Bierchen trinken, gerne auch mal etwas länger.

Wer die Anweisungen des Kölschen Coaches verstehen will, braucht keinen IQ im Nobelpreisträgerbereich. Taktikbesprechungen in der Olympia-Qualifikation hatten so ausgesehen, dass Löhr seine Jungs nach den Spielen immer in einen separaten Raum führte, um dort mit Kreidestrichen an einer Tafel bestimmte Situationen nachzuzeichnen oder simple Passstafetten für die nächste Begegnung zu entwerfen. Klare Botschaften. So macht er es auch in Südkorea.

Das erste Spiel, zwei Tage nach der Anreise. Deutschland gegen China, 17. September 1988, im Glutofen von Busan, 27 Grad, 59 Prozent Luftfeuchtigkeit. Franz Beckenbauer, der Teamchef der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, ist extra angereist. Als er vor dem Spiel zur Kabine eilt, scharen sich die einheimischen Fans um ihn. Die südkoreanischen Ordner werfen sich beim Kopfnicken vor ihm fast auf den Boden. Deutschlands Fußballikone wird empfangen wie ein Kaiser, vielleicht haben die Gastgeber den Spitznamen zu wörtlich genommen. Gut für die Fußballer, deren Aufmerksamkeit sich nun ganz auf den Gegner richten kann.

Kurz nachdem Fernsehkommentator Günter-Peter Ploog angekündigt hat, dass diese deutsche Mannschaft mit einer Offensivkraft antritt, die noch nie eine deutsche Olympiamannschaft ausgezeichnet hat, knickt die chinesische Abwehr auch schon ein wie ein Pflänzchen im Wind der Wüste Gobi. Michael Schulz, der völlig überraschend spielt und die Sonnencreme im Koffer lassen konnte, schickt auf der linken Seite Armin Görtz, der auf Klinsmann flankt, der mit dem Kopf auf Wuttke zurücklegt, dessen Schuss abgeblockt wird und vor den Füßen von Mill landet. Frank zielt aus der Drehung mit links genau auf den Torwart. Vergeben. 18. Minute.

In der 32. Minute aber klappt es. Roland Grahammer spielt einen Zuckerpass in den Lauf von Wuttke, der lässt einen Gegenspieler stehen und setzt den Ball mit dem Außenrist in die linke untere Ecke. 1:0. Deutschlands Olympiafußballer sind angekommen in Busan. Der gute Start verbreitert die Brust, die Köpfe sind oben, der Motor surrt im Turniermodus. Es läuft.

Der Rest ist Formsache. In der 61. Minute legt Häßler einen Pass in den Lauf von Frank Mill, der direkt abzieht und von der Strafraumgrenze in den rechten Torwinkel trifft. Dieses Tor wird später zum »Tor des Monats« gewählt, es ist eine von insgesamt zwei Auszeichnungen dieser Art für Frank. »Es war das schönere Tor der beiden auserwählten«, sagt er. Schon allein deshalb, weil er sich außerhalb des Strafraums nur äußerst selten als Gefahr für gegnerische Torleute entpuppte. In der 89. Minute legt Frank nach Querpass von Klinsmann frei vorm Tor noch das 3:0 nach. Auftakt gelungen.

Zwei Tage später gewinnt Deutschland auch gegen Tunesien, 4:1. Frank ist wieder unter den Torschützen, in der 55. Minute zum zwischenzeitlichen 3:1. Dass die Deutschen zum Abschluss der Vorrunde 1:2 gegen die Schweden verlieren, macht nicht mehr viel aus. Zwischenrunde, Weiterfahrt und Umzug mit dem Bus ins knapp 200 Kilometer entfernte Gwangju. Zum Viertelfinale. Nun geht das Unternehmen Medaillenjagd erst so richtig los.

Die Mannschaft hat sich gefunden, und das liegt vor allem daran, dass die unterschiedlichen Charaktere ihre stattlichen Egos für die Zeit von Korea in den Dienst des gemeinsamen Ziels stellen. Dabei gäbe es Konfliktpotenzial genug. Goalgetter Klinsmann, der im Nahkampf mit den Abwehrspielern manchmal umherpflügt wie ein ungebändigtes Fohlen auf der Koppel, ist beispielsweise kein leichter Charakter. Der »blonde Engel« weiß genau, was er will: Karriere machen, das Beste aus seinen eher bescheidenen technischen Fähigkeiten herausholen. Die Olympischen Spiele bieten ihm eine ideale Bühne, sich der Weltöffentlichkeit zu präsentieren.

Klinsmann sticht heraus, schon allein durch seinen Habitus. Er trägt das sich selbst aufgeklebte Etikett »alternativ«, isst morgens sein Müsli, erzählt mit Vorliebe von seinem VW Käfer, den er trotz seines längst ansprechenden Profigehalts weiter fährt. Er liest viel, gibt sich als Kosmopolit, versucht, sich auch bildungstechnisch zu positionieren, offenbart die ersten Ecken und Kanten, die ihn zwei Jahre später bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Italien in eine Menge von Meinungsverschiedenheiten mit Lothar Matthäus hineintragen – die beiden Platzhirsche des deutschen Fußballs werden sich in ihren parallel verlaufenden Weltkarrieren immer wieder beharken. Klinsmann legt in Südkorea den Grundstein für das Image, das sich bei den meisten Fans bald verfestigen wird: Da rauscht ein cleverer Kicker von der Schwäbischen Alb heran, knallhart in Vertragsverhandlungen, informiert übers Zeitgeschehen, mündig, konfrontativ.

Eine Art Gegenpart zum schlauen Süddeutschen spielt auch in der Olympia-Auswahl: Wolfram Wuttke, der »Wuddi«, das vielleicht größte Enfant terrible, das je für Deutschland auflief. Wuddi ist vom lieben Gott mit Talent im Überfluss gesegnet worden, wandelt allerdings auch stets am Rande des Wahnsinns und hechtet oftmals mit beherztem Sprung über diese Grenze hinaus. 1988 hat Wuddi bereits ein paar Jahre den deutschen Profifußball belebt – und Geschichten über ihn gibt es so viele wie in Südkorea Fischrestaurants. Gerne erzählt man sich, wie er sich einst als Spieler im Dress von Schalke 04 den VW Scirocco von Kultbetreuer Charly Neumann schnappte und laut johlend mit der Kiste um den Trainingsplatz heizte, während die Kollegen Medizinbälle in die Luft stemmten. Seinem Jugendnationaltrainer Dietrich Weise goss Wuddi einst einen Eimer mit Dreckwasser übers Bett.

Der asketische Klinsmann ist für diese Olympia-Auswahl ebenso kategorisch nötig wie der Laissez-faire-Wuddi. Und beide hören zu, sobald Kapitän Mill etwas sagt. Viel wichtiger aber noch: Spieler wie Klinsi, Schulz, Gerhard Kleppinger und Sievers geben in Südkorea in jedem Training Gas, um sich Hannes Löhr aufzudrängen und möglichst in jedem Spiel das mannschaftliche Optimum abrufen zu können. Andere lassen auch mal locker, rauchen ihr Zigarettchen, holen sich die Pausen, die Fußballspiele in jener Zeit gestatten, weil sich eben noch nicht alles um Laufleistungen, Laktatwerte und perfekt austarierte Muskelpartien dreht. Wuddi und Frank etwa lassen sich ihre Fluppen und Bierchen nicht madig machen. Gelegentlich ist Wuttke auch drei Stunden nicht auffindbar, keiner weiß, wo er sich gerade aufhält. Solange er aber wie in der Vorrunde fast jeden Angriff ankurbelt und mit seinen blitzschnellen Antritten blankes Chaos und Entsetzen bei den Gegnern auslöst, lässt Löhr ihn gern gewähren.

Manchmal sind es regelrechte Kindereien, mit denen Wuttke, Mill und so manch anderer die Stimmung in der Mannschaft im oberen Bereich halten. Fast jeden Abend treffen sich einige Spieler zum Zocken – und oft ist das Zimmer von Wuddi und Frankie der Veranstaltungsraum. Auch Fritz Walter, der Torjäger vom VfB Stuttgart, liebt diese Pokerrunden. Bevor es losgeht, pflegt er ein Ritual: schlabbrige Jogginghose anziehen, es sich im Sessel bequem machen, Pokerface aufsetzen.

Dass Wuttke und Mill sich eines Abends die brennendste Massagesalbe aus dem Physioraum unter den Nagel gerissen haben, hat der Walter Fritz nicht mitbekommen. Das Zeug klebt nun, hineingestrichen vom Spaßmacherduo, in der Schlabberhose, in die Walter voller Vorfreude auf gute Karten steigt. Als er merkt, dass es im Schritt Feuer fängt, ist es schon zu spät. Fritz Walter hechtet aus der Hose, springt unter die Dusche und bringt den Schmerz mit warmem Wasser erst so richtig auf Touren. Seine wilden Beschimpfungen jucken Wuddi und Frank nicht wirklich. Am nächsten Morgen sorgt die kleine Kartenspielkatastrophe für beste Unterhaltung auf dem Trainingsplatz. Es kann weitergehen auf dem gemeinsamen Weg.

Viertelfinale. Gegen Sambia. In Gwangju. Es wird ein lockeres 4:0, mit einem Elfmetertor von Wolfgang Funkel und drei Treffern von Jürgen Klinsmann, der mächtig aufdreht und etwa vor dem Torschuss zum 3:0 seinen Gegenspieler mit dem linken Fuß tunnelt. Fürs öffentlich-rechtliche Fernsehen kommentiert entspannt Marcel Reif. Neben ihm sitzt, genauso unaufgeregt, der nach der zweiten gelben Karte gesperrte Frank Mill.

In Deutschland bricht nach dem Einzug ins Halbfinale eine regelrechte Euphorie aus. Erstmals fiebert das Land mit einer deutschen Fußballmannschaft bei den Olympischen Spielen mit, zum ersten Mal auch glauben die Fans, dass sich das eigene Team bei einem solchen Turnier bis ins Finale spielen kann. Die Zeitungen sind voll mit Geschichten über Löhrs Team.

Überhaupt grassiert endlich wieder sportliche Begeisterung vor den Bildschirmen, nach einer achtjährigen Glaubwürdigkeitskrise, ausgelöst durch politische Verwerfungen. 1980 hatten die US-Amerikaner (und auch die Deutschen) die Olympischen Sommerspiele in Moskau boykottiert, weil die Russen in Afghanistan einmarschiert waren. Vier Jahre später revanchierten sich die Russen bei den Spielen von Los Angeles mit ihrem Boykott. In Seoul mischen nun alle großen Nationen wieder mit und erheben das Event damit auch medial zu einem der gewohnt weltumspannenden Ereignisse, garniert mit packenden Augenblicken, die in Zeitlupen-Dauerschleifen über die TV-Schirme laufen, und der gefühligen Titelballade »One Moment in Time« von Superstar Whitney Houston.

So sendet das deutsche Fernsehen quasi rund um die Uhr. Die Quoten eilen von Rekord zu Rekord. Läuft, springt, boxt oder rudert ein deutscher Athlet, versammeln sich die Familien mit Chips und flatternden Nerven vor den Mattscheiben. Die Spiele saugen die Bürgersteige leer. Dopingskandale? Bestechliche IOC-Mitglieder? Unwürdiges Geschacher um TV-Rechte? Völlig überteuerte Fernsehpreise? Arrogante Sponsoren, die jeden Winkel in den Stadien und dem olympischen Dorf mit Werbung für ihre Produkte zukleistern? Kaum ein Thema. In Seoul gilt das Welttreffen der Athleten zunächst noch als fair-moralisches Kräftemessen nach dem Vorbild der antiken Vorfahren. Das wird sich erst ändern, als die Weltöffentlichkeit erfährt, dass der kanadische Sprinter Ben Johnson mit Steroiden vollgepumpt im 100-Meter-Finale als Erster den Zielstrich erreicht hatte. Mit dem Skandal rund um den betrügerischen Muskelprotz schlittert nach all den politischen Scharmützeln auch der Sport in eine Krise.

Unsere Fußballer dürfen sich indes erst einmal von der Begeisterung tragen lassen. Von der Euphorie in Deutschland bekommen sie immer dann etwas mit, wenn sie vom Hoteltelefon aus mit ihren Liebsten daheim sprechen. Die Endorphinwelle hat Mill & Co. mittlerweile nach Seoul gespült, ins olympische Dorf. Je sieben Spieler teilen sich eine Wohnung, Parterre. Mittendrin. Endlich. Das Halbfinale steht an. Gegen Brasilien. Gegen das Fußballland schlechthin. Der Name des Gegners sorgt für knisternde Gedanken an Samba, Strände und sagenhaften Fußball.

Der Fernsehmoderator ist genauso elektrisiert wie die Spieler und die Zuschauer zu Hause. Günter-Peter Ploog kommentiert das Spiel und ist gleich in den ersten Minuten auf Betriebstemperatur, weil die Deutschen die Brasilianer in deren Strafraum zurückdrängen. »Wie aufgezogen, wie ein Uhrwerk schnurrt er da an der rechten Seite entlang«, palavert Ploog und meint Holger Fach, der zusammen mit Wolfram Wuttke die eine Offensivflanke beackert. Links wirbelt Frank Mill.

Er kommt immer wieder in gefährliche Kopfballpositionen, weil Häßler, Fach und der schnelle Wuttke gute Flanken vors Tor schlagen. Auch einen Torschuss von der Fünfmeterlinie kann Frank fast erfolgreich abschließen. Von links wirft »die Lauterer Schleuder« (Ploog über Michael Schulz) Einwürfe bis in den Torraum. Trotz aller Belagerung des brasilianischen Strafraums steht es zur Pause 0:0.

In der 50. Minute geht Deutschland in Führung: Wuttke zirkelt einen Freistoß von der rechten Seite gewohnt lässig in den Strafraum, die Abseitsfalle funktioniert nicht, Holger Fach nickt ein. 1:0. Torjubel in Seoul. Träumen vor den TV-Geräten.

Die nächsten 40 Minuten kennt das Spiel vor allem eine Grundkonstellation: Deutschland verbarrikadiert sich. Brasilien rennt an. Wütend. Fintenreich. Mit viel Starpower. Spieler wie Torwart Claudio Taffarel oder die Stürmer Bebeto und Romário, die schon bald zu Weltstars aufsteigen werden, zeigen ihre Kunst.

Bis zur 79. Minute hält das deutsche Bollwerk. Dann trifft Romário per Kopf zum verdienten Ausgleich. Fast im Gegenzug bekommen die Deutschen nach einem Foul an Klinsmann einen Elfmeter zugesprochen. Wolfgang Funkel, eigentlich zu jeder Tages- und Nachtzeit ein Elfmeterschütze mit stoischer Kaltblütigkeit, schießt zu schwach – Taffaral hält. Es bleibt beim 1:1. Auch in der Verlängerung. Elfmeterschießen. Dort treffen dann Olaf Janßen, Jürgen Klinsmann und Wolfram Wuttke nicht. Das ist entscheidend. Brasilien steht im Endspiel.

Nach dem Spiel kehren die Deutschen ins olympische Dorf zurück – innerlich leer und bitter enttäuscht. Es dauert ein paar Stunden, bis sie sich der Tatsache bewusst sind, Historisches erreicht zu haben. Noch nie ist eine deutsche Auswahl bei den Olympischen Spielen so weit gekommen, und man ist ja nicht raus aus dem Turnier, spielt immer noch um eine Medaille. Ein paar gefüllte Gläser und Gespräche helfen, um sich diese Gesamtausbeute wieder vor Augen zu führen. Spät in der Nacht gibt Kapitän Mill mit heiserer Stimme die Parole aus: Wir hauen jetzt im Spiel um Platz drei noch einmal alles raus. »Ich will mit einer Medaille heimkehren!«

Dass die Jungs im Herzen der olympischen Bewegung residieren, hilft bei der Traumabewältigung. Das olympische Dorf ist ein Quell der kuriosen Erlebnisse. Steffi Graf fährt Tag für Tag mit dem Fahrrad über die Asphaltwege. Man sieht bulgarische Gewichtheber, zwei Meter groß, die mit ungarischen Ringern, 1,60 Meter klein, zur Essensausgabe pilgern. Ein echter Blickfang ist auch die riesige litauische Basketballspielerin, die ihren Aktionsradius auf anderthalb Quadratmeter unter dem gegnerischen Korb beschränkt, egal ob im Training oder Spiel.

Es wird viel gefeiert in diesem Ambiente – und unsere Fußballer feiern fröhlich mit. Meist trifft man sich dafür unten vor den Bungalows, jeder bringt was mit. Tupperpartys für Modellathleten. Eines Abends fliegt ein Wassereimer aus einem oberen Stockwerk, gefolgt von dem lautstarken Ruf: »Ruhe, ich muss trauern!« Absender des gefüllten Behälters ist Zehnkämpfer Jürgen Hingsen. Der Gigant war im 100-Meter-Lauf dreimal zu früh gestartet und deshalb disqualifiziert worden. Einer der bittersten Momente der deutschen Olympia-Historie. Frank Mill und seine Mitstreiter bekommen aus der Nähe mit, wie Sportgeschichte geschrieben wird.

Nicht bei allen Athleten sind die Kicker beliebt. Sie gelten so manchem, der sich mühsam hochkämpfen musste, als verzogen und verhätschelt, als überbezahlt und hochnäsig, als Goldesel in einem völlig überbewerteten Business. Ein deutscher Handballtorwart zum Beispiel lässt kaum eine Gelegenheit aus, den Fußballern gegenüber seine Missachtung auszudrücken. Irgendwann wird es dem Kapitän der deutschen Fußballer zu bunt. Er greift den Keeper der Werfer an. »Du verdienst doch in deinem Sport selber gut genug, eure Vereine zahlen doch längst auch gute Summen«, raunzt Frank, als die beiden wieder mal in der Mensa aneinandergeraten sind. Ähnliche Auseinandersetzungen müssen sich die Fußballer mit rhythmischen Sportgymnasiastikerinnen oder Boxern liefern. Der Gegensatz zwischen Amateuren und Profis mündet in einen Konflikt, der 1988 noch offen ausgetragen wird. Jahre später, als meist junge Profifußballer fest zum Erscheinungsbild der Olympischen Spiele gehören, verflüchtigt sich dieses Thema dann.

Letztlich aber sind das alles akzeptable Begleiterscheinungen – die Kicker sind wieder frei von negativen Gedanken. Das Bronze-Spiel steht an. Gegen Italien. Eine von diesen »Schweinemannschaften«, wie Mill sagt. Taktisch immer auf der Höhe. Konditionsstark. Durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Wenn man gegen die einmal zurückliegt, kann man auch genauso gut versuchen, Fort Knox mit einem Schraubenzieher einzunehmen. Die Chancen, den Abwehrbeton aufzuweichen, tendieren gegen null.

»Ihr müsst sie gleich früh attackieren«, brüllt Coach Löhr in der Vorbereitung aufs Spiel in der Kabine. »Pressing« würde man heute dazu sagen. Balleroberung weit in der gegnerischen Hälfte soll ein frühes Führungstor einbringen. Ein sehr gutes Rezept, wie sich herausstellt.

Bereits nach wenigen Minuten erobert Wuttke vor dem eigenen Sechzehnmeterraum den Ball, spielt einen langen Flachpass auf Mill, der auf der rechten Seite seinem Gegenspieler Massimo Brambati davonläuft. Frank zieht, den Hintern rausgestreckt, in die Mitte, legt den Ball auf für Klinsmann, und dieser erzielt flach und trocken das 1:0. Es dauert nicht lange, da fällt das zweite Tor. Ecke Wuttke, Kopfballverlängerung Schulz, am zweiten Pfosten köpft Gerhard Kleppinger die Kugel über die Linie. 2:0. Gegen Italien. Eine Weihnachtsbescherung könnte nicht schöner sein.

Frank wühlt sich im Glücksrausch der Hormone durch die Schwüle von Seoul. In unzähligen Zweikämpfen arbeitet er an der Bewältigung seines ganz persönlichen Fußballtraumas. Mill spielt gegen kleine, schnelle und spaßbefreite Abwehr- und Mittelfeldmänner wie Brambati, Mauro Tassotti, Stefano Carobbi oder Luigi De Agostini, gegen Defensivkünstler, die ihm normalerweise unablässig auf die Nerven gehen. Wie eine Klette kleben solche Ekelverteidiger an seinem Trikot, sie zerren und ziehen, tauchen im Augenwinkel sofort wieder auf, sobald man denkt, sie abgeschüttelt zu haben.

In der Bundesliga kapituliert Frank beim Anblick solcher Verteidiger manchmal schon vor dem Anpfiff. Bei Waldhof Mannheim beispielsweise ackert und grätscht ein ähnlich hartnäckiger Kollege namens Dimitrios Tsionanis, von dem Kultcoach Max Merkel mal sagte: »Der köpft auch eine Kiste Cola aus dem Strafraum!« Wenn der BVB gegen Mannheim ranmuss, weist Frank das Trainerteam an: »Lasst mich raus, gegen den komme ich nicht klar.« Lieber spielt er gegen hochgewachsene Verteidiger, gegen die Brüder Karl-Heinz und Bernd Förster oder gegen Guido Buchwald, denen er schon mal gemeinsam mit dem Ball durch die Beine laufen kann.

In Seoul aber klappt alles an diesem Tag gegen Italien, auch gegen die geballt aufgebotenen Beißer. Und Frank teilt den Italienern seine Genugtuung auch gern in Spielpausen mit. In einer Szene sieht man ihn im körperlichen und verbalen Infight mit gleich vier Blauen. Der Schiedsrichter muss sich ins Getümmel werfen. Im Weggehen haucht Frank dem entnervten Quartett noch ein paar Wörter zu, die besser auf keine Vokabelliste für Grundschulkinder gelangen sollten.

Halbzeit zwei. Deutschland macht den Deckel drauf. 21 Minuten vor dem Ende – Torwart Uwe Kamps hatte vorher zweimal mächtig Dusel – schließen Häßler, Klinsmann, Kleppinger und Torschütze Christian Schreier eine tolle Kombination zum 3:0 ab. Danach bricht unglaublicher Jubel aus, auf dem Feld und zu Hause. Bronze für Deutschland. Ein sensationeller Erfolg für den deutschen Fußball. Erspielt in einem Land, in dem die Kicker ihre noch bei der Abreise mitstartenden Bedenken schnell über Bord geworfen und sich richtig heimisch gefühlt haben.

Nach dem Spiel fällt der Druck ab – und die Dollarscheine sitzen locker. Erst geht es zum Plündern eines Büffets in ein Hotel, danach weiter in die Stadt, unterteilt in mehrere Gruppen. Der Alkohol fließt, die Orientierung schwindet. Frank und Wuddi landen im Taxi und in der Folge in eher düsteren Ecken der Stadt. Versehentlich schauen sie auch in einem Bordell vorbei, machen allerdings schnell wieder kehrt, als sie merken, wo sie gelandet sind. Am Ende wuchtet Frankie seinen volltrunkenen Zimmerkollegen ins Bett. Es ist seine letzte, spätnächtliche Amtshandlung als persönlicher »Chef« von Wuddi und als Boss dieser Mannschaft.

Nach der Rückkehr bekommt Frank, wie alle anderen auch, das Silberne Lorbeerblatt von Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Er trägt sich ins Goldene Buch der Stadt Frankfurt ein. Und registriert in dieser würdevollen Feierstunde zum ersten Mal, dass er Außergewöhnliches erreicht hat. Noch nie hat Frank einen Titel gewonnen. Aber er hat eine Mannschaft zu einem großen internationalen Triumph geführt. Als Anführer. Als Kapitän.

Wie konnte es so weit kommen? Wie konnte Frank Mill zu einem Führungsspieler reifen, zu einem Mann, den selbst künftige Weltstars als ihren Leader ansehen und akzeptieren?

Es ist Zeit, auf die Anfänge dieses besonderen Fußballers zu schauen.

Also zurück in seine Heimat.

Auf nach Essen.

Frank Mill

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