Читать книгу ANORMAL (PARANOID) - Frank Mehler - Страница 6
BETRACHTUNGEN
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Der Spiegel: Er war groß, nicht prunkvoll, aber er wirkte wie eine Grenze, eine Barriere, hinter der sich eine andere Welt verbarg. Eine Welt, in der weltliche Gesetzmäßigkeiten verschwimmen, das reale Bild verzerrt wird, sich viele Hoffnungen und genauso viele Ängste verbergen. Vielleicht war es ja sogar das Spiegelbild der umgebenden Realität, einer möglichen Erscheinung davon, vielleicht aber auch nur reine Illusion. Der Spiegel selbst teilte sich nicht mit, er verkörperte nur etwas. Er spiegelte das Leben, das dem Betrachter etwas Bewegendes mitzuteilen hatte. Eine Erfahrung, ein gewisses Gefühl. Möglicherweise den Anfang und das Ende vom Sein, Zeit und Vergänglichkeit. Der Spiegel, so neutral wie er war, behielt sein Geheimnis für sich.
Linda stand ganz bewusst vor dem Spiegel. Sie war nackt und betrachtete sich von oben bis unten. Was sie sah, erschien ihr vertraut: Ihr Körper, ihr Antlitz, das sie über alles so sehr liebte und dennoch wiederum hasste. Wenn sie nur selbst so genau wüsste, was sie eigentlich daran hasste. Ihre Frisur? Ihre Augen? Etwa ihr Mund, der ihr manchmal leicht verschoben vorkam? Oder war es neuerdings ihre Nase, die eigentlich schlank und recht makellos zu ihren immer noch mädchenhaft wirkenden Gesichtszügen passte? Der Spiegel konnte ihr darauf keine Antwort geben. Sie konnte sich nicht einmal selbst eine vernünftige Antwort geben. Sie blickte einfach nur tiefer – dorthin, wo sich die pure Fraulichkeit verbarg.
Sie wusste, dass ihre Brüste nicht von ungefähr waren. Dass die meisten Männer, mit denen sie etwas hatte, auf straffe Brüste standen. Brüste wie ihre mit wohlgeformten Knospen, die zum Streicheln, zum Begehren und Gedeihen von Natur aus gewachsen waren. Sie hingen nicht runter wie eine lästige Masse, sie hatten ihre ganz eigene Bestimmung; Brüste, die der Männerwelt sagen wollten: Schaut her, hier drinnen liegt die magische Kraft!
Ihre Scham da unten hatte sie aus Überzeugung dezent nachrasiert – ganz frech und schmal zu einem dunklen Streifen, als sie gerade eben noch in der Badewanne saß. Von der Optik her empfand sie es als gut gelungen. Nicht hundertprozentig optimal, dennoch ansprechend für das, was vielleicht sehr bald schon kommen könnte. Und sie wollte auch gar nicht so genau darüber spekulieren, sie wollte es eine Überraschung sein lassen. Insgeheim aber sehnte sie natürlich. Sie würde es sicher so richtig wollen. Sie, die Frau von durchschnittlicher Größe, von einer gewissen Reife und doch immer noch jugendfrischer Erscheinung, das Abbild von einer Fraulichkeit schlechthin. Wenn sie das war, was sie zu sehen glaubte. Die Einbildung konnte bei ihr schon manchmal ganz schön eingebildet sein. Ihr würde es sicherlich viel leichter fallen, wenn sie im Grunde weniger darüber nachdenken würde. Sie kannte das Sprichwort: ›Dumm fickt gut – Intelligenz denkt nur verfickt gut!‹ Und sie fragte sich immer, ob man nicht beide Schienen irgendwie miteinander verbinden kann.
Eine Jungfrau, das war sie schon längst nicht mehr. Sie hatte früh angefangen, sich für die Männerwelt zu interessieren. Das war wie ein Abenteuer, ein Bedürfnis, möglicherweise auch Zwang wie aus einer Gesetzmäßigkeit heraus. Sie musste ergründen, sich ausprobieren, von den Männer probieren; die Männerwelt erforschen, das Gefühl dafür finden, den Geist der Männer mit ihrer eigenen Geisterwelt verbinden.
Sie spreizte die Beine und senkte ihren Blick noch tiefer ins Detail hinab. Ihre Finger berührten sanft ihre Fraulichkeit. Weich und zart fühlte sich das an, und sie verspürte sogar eine gewisse Erregung. Sie dachte so: Wie würde es jetzt sein, wenn nicht ich, sondern ein gewisser Er, oder auch noch ein zweiter Er, der mir … das besorgt, was ich brauche. Ein Mann, der das Einfache versteht, das Gefühl, das ich meine, verstehen will, was er selbst in einer Erfüllung sucht. Wovon er sich lenken und leiten lässt, um zu erfahren, wie es ist, wenn es die Erfahrung überhaupt gibt. Sie glitt durch die Schamspalte ihrer Fraulichkeit – umgeben der schönen Lippen – noch tiefer zum Eingang der Empfängnis hinab. Und was sie da tat, tat sie gewiss zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse in einer verträumten Welt, die sie kaum selbst verstand. Besaß sie überhaupt einen normal funktionierenden Verstand? Sie räumte ein, inzwischen wohl einen kleinen Sprung in der Schüssel zu haben.
Sie starrte in den Spiegel. Sie erschrak vor sich selbst. Sie merkte, dass sie sich irgendwie verändert hatte. Und dann ließ sie ab von ihrer Scham, die sie fühlen und hoffen ließ, den Weg einer Bestimmung zu gehen. Sie hatte einfach nur immer öfters große Angst vor dem Altern. Sie verdrängte das Gefühl, das ihr der Spiegel vielleicht zu vermitteln vermochte. Sie trat zurück und besann sich darauf, was der Wert ihres eigentlichen Bestrebens war.
Der Spiegel hing geruhsam am altgewohnten Platz – in Lindas kleinem Reich, einem Atelier, das den freien Blick aufs Meer hinaus gewährleistete. Sie war eine Künstlerin, eine, die sich mit fantasievoller Aktszenerie einen Namen gemacht hatte. Aber auch eine, die von der Boulevardpresse wegen vermeintlich anrüchiger Perversion genauso schnell wieder in Misskritik gebracht wurde. Sie steckte es weg, denn sie verkaufte sich gut. Sie hatte Charisma und verkörperte die Ausstrahlungskraft, die den Konsumenten unweigerlich in einen Bann des Erfolgsrausches zog. Und doch fühlte sie ihr Wirken nur zum Teil bestätigt. Nicht wirklich verstanden. Sie hatte Vorstellungen im Kopf, die jenseits von Gut und Böse lagen. Gedanken, die bis hinüber zum Jenseits reichten. Die das Fleisch der Lust in das Fleisch des Verderbens verwandeln; das schlimme Wirrwarr im Geist, das es nicht mehr ganz nachzuvollziehen galt.
Sie bereute nichts in ihrem Leben. Sie versuchte nicht einmal, sich die Vergangenheit schlecht zu reden. Sie lebte und verkörperte etwas, sie war ganz sie selbst. Sie hatte einen Drang. Den inneren Drang, der sie zog. Er zog sie hinaus in das Leben – hin zu Orten, an denen es einfach so passierte. Das Zusammentreffen von Wille, Trieb und Sucht. Sehnsüchte, die befriedigt werden wollten. Hände, die ständig Neues erschaffen mussten. Augen, die hinter die Kulissen schauen mussten. Füße, die liebend gern dem inneren Teufel einen Tritt verpassen würden, wenn sie es nur irgendwie könnten. Sie dachte an die armen darbenden Seelen. Sie suchte das Glück. Doch bisher fand sie es nicht. Sie war nicht dumm, gewissermaßen erfahren. Auf ihre Art und Weise, wie sie das zu wissen glaubte. Wissen als Macht. Wer es hatte, der kontrollierte. Aber reine Kontrolle war nicht ihr Hauptbestreben. Vielmehr war sie bereit dafür, einen anderen Weg zu gehen. Es war der Sturm, der in ihr selbst wütete. Der dunkle Pfad der Geister, der bis hin zur Totenbeschwörung führte – vielleicht ein Hauch von Wiederkehr aus einer anderen Zeit. Es war das Menschliche eingebunden im Kreislauf der Ewigkeit, das sie faszinierte. Fast schon fühlte sie so etwas wie Liebe, wenn sie das geheimnisvolle Buch, das Erbstück ihres Vaters, öffnete und eine Stimme aus der Tiefe vernahm. Sie wusste bis heute nicht einmal, wer diese Stimme überhaupt war.
Linda ließ ab von ihren Betrachtungen vor dem Spiegel. Sie hasste ihn nicht, diesen Spiegel, der Körper und Seele, das Leben, so wie es war, als Spiegelbild wiedergab. Ein Spiegel, der schweigsam wie ein Grab das Geheimnis ihres wahren Wesens im Hintergrund einer Scheinwelt verbarg.
2
Augenblicke des Nachdenkens verstrichen, ehe Linda vor einer künstlerischen Darstellung zurücktrat. Die Darstellung, möge es ein Gemälde oder auch nur Geschmiere sein, Kunst wie man glaubte, zeigte einen zusammengekauerten Gnom, der sich in einer Spirale drehte. Um was für eine Spirale es sich dabei handeln könnte, blieb der Fantasie des Betrachters überlassen. Es wirbelten wolkenartige Gebilde, die den Gnom offenbar in die Tiefe zogen, am äußeren Rand schillerten dagegen die Bahnen in allen Regenbogenfarben. Zum Zentrum hin dominierten mehr die Farbtöne gelb und grau. Das Gesicht des Gnomen war zu einer verschmitzt wirkenden Fratze verzogen. Es sah nicht unbedingt danach aus, als ob dieser in der sich drehenden Spirale vom Schmerz durchfahren wäre. Dennoch wirkte er wie zweigeteilt, zumindest was den Glanz in seinen Augen anbetraf. Es wirkte so, als wenn er sich nicht ganz entscheiden könnte, ob er nun den Dreh in der Spirale als beste oder mehr schlechteste Lebenserfahrung in sich aufnehmen sollte.
Das ist krass! Das ist gut! Das hat Kontrast und Gegensätzlichkeit! Hier prallen Ehrfurcht und Faszination unmittelbar aufeinander, befand Linda und trat vor der Darstellung des unbekannten Malers noch ein Stück weiter zurück. Wow! Dieses Bild zieht rein, beschreibt eine irrationale Wirklichkeit.
Sie fragte sich nur, warum sie eigentlich nicht selbst auf solch eine Famose Idee kam, um ein Zeichen in der Szene zu setzen. Offensichtlich drehte sich ja die Spirale des Lebens in einem bestimmten Takt. Vielleicht bei manchen Menschen etwas schneller, andere wiederum glaubten eher, in einer gewissen Beharrlichkeit zu leben. Doch beruhte dies natürlich mehr auf der reinen Einbildung, denn der Zeitstrahl kannte auf Erden im Großen und Ganzen nur eine Geschwindigkeit, und auch Linda konnte sich dem nicht erwehren. Nur wohin drehte sich dann ihre eigene Spirale im Leben? Zum Licht der Weisheit etwa? Zur künstlerischen Vollkommenheit? Dies wäre sicher ein Traum. Einer, der sie jedoch stark inspirierte.
Linda befand sich in einer städtischen Kunstausstellung, zu der öffentlich geladen wurde. Man holte sich Anregungen, bestaunte und tauschte viele Erfahrungen aus. Das Neue und auch das sonst Übliche, das den Künstler bewegte, und was Kunst überhaupt ausmachte. Vertreten waren namhafte Größen und weniger bekannte Maler, Bildhauer und Abstraktkünstler, die im Begriff waren, sich einen Namen zu machen. Linda selbst war mit einem Aquarell vertreten. Dieses zeigte eine nackte Dame, die bei Sonnenuntergang ins Meer läuft. Das Besondere: Die orangenfarbig leuchtende Sonnenscheibe nur knapp über dem Horizont spiegelte und glitzerte auf der Wasseroberfläche direkt bis zu den Füßen der nackten Dame. Eigentlich nichts Besonderes. Doch ab einer bestimmten Entfernung und aus einem gewissen Blickwinkel wirkte das Bild auf den Betrachter, als ob die nackte Dame weniger mit dem Wasser, sondern mehr mit dem Schein der untergehenden Sonne eins werden würde. Eine Art Venus im Sonnenglanz – im Sog der Elemente: Feuer, Wasser, Himmel und Erde. In der Mitte der Mensch.
Wer es so interpretierte, interpretierte in erster Linie ein Szenario, wie Linda ihr Werk mit eigenen Augen sah. Dennoch enthielten sich viele Betrachter einfach nur der Stimme darüber. Die meisten Besucher kamen, um die Vielfalt zu sehen. Sie schauten sich neugierig um, und manch einer schaute auch etwas genauer. Nicht wenige jedoch schauten lieber zu den anderen Bildern im Raum. Es war nicht Lindas Malerei, die ergreifende Faszination und Fesselung unter den Menschen auslöste. Diese war kein Vergleich zum grinsenden Gnom in der Spirale, um den sich gleich eine ganze Menschtraube rankte, um ihn zu begaffen, das Irre daran zu bewundern. Nicht wenige diskutierten darüber, einige schienen sogar ergriffen und fotografierten, als wäre auf dem Bild so etwas wie der neue Messias zu sehen. Ein Messias in Gnomengestalt – ein in Öl gemalter Verkünder. Nur was verkündete er eigentlich?
Immer noch stand Linda wie angewurzelt weiter hinten im Raum und starrte auf die bewegte Menschenmasse. Die Bilder waren ihr inzwischen weniger wichtig geworden, die großen und kleinen, diese viel und wiederum nichts sagenden. Es waren die Menschen selbst, die sie jetzt bewegen taten und überlegen ließen. Darunter befanden sich einige junge Männer. Ihr war, als wenn einer von denen ihr bereits vor gut einer Stunde draußen im Foyer über den Weg gelaufen wäre. Möglicherweise hatten sie beide dort einen kurzen Blick gewechselt. Vielleicht hatte er sich sogar nach ihr umgedreht oder sie ihm im Vorbeigehen zugeblinzelt. Aber vielleicht tat es auch keiner von beiden. Ach ja, ist sicher alles nur blanker Zufall, dachte sie. So zufällig wie zwei bunte Schmetterlinge, die der Zufall im Leben durch denselben Raum flattern ließ.
Den Mann, den sie meinte, fand sie attraktiv. Er hatte das passende Alter, die gewisse Ausstrahlung – Charisma sicherlich. Was könnte er wohl für ein Mensch sein? so lautete die große Preisfrage des Tages, die sie auf die Probe stellen wollte. Ist er ein Künstler oder bloß ein Kunstliebhaber? Etwa ein Kunstverkäufer, vielleicht einer, der sucht? Oder aber nur einfach ein reisender Mensch, den das kulturelle Interesse gelockt hat? Sicher schien: Er war ein Mann. Ein verdammt gut aussehender Mann! Doch selbst dies war für den Moment der Besinnung einergleichen.
Linda versuchte erst gar nicht, Näheres über den Mann in Erfahrung zu bringen. Ihre Gedanken zerstreuten sich und sie öffnete ihre verschränkten Arme. Sie löste sich von der Wand, die sie stützte, an der sie der Tage schon des Öfteren lehnte, wenn sie tiefsinniger über etwas nachgedacht hatte. Sie stand jetzt frei und beschloss, zu gehen. Einen letzten Blick widmete sie noch dem Manne, der sie inspiriert hatte. Aber er merkte es nicht.
3
Später, nicht unweit der Kunstausstellung im Café Galerie, steuerte Linda geradewegs auf ein altbekanntes Frauenzimmer zu. Da war natürlich zum einen der Klatsch, der sie anzog wie ein Magnet. Einmal mehr war es jedoch der Abstand zum eigentlichen Geschehen, das sie heute gewissermaßen als unbedeutende Randfigur in Erscheinung treten ließ. Und natürlich der frische Kaffee zog sie an, den sie jetzt unbedingt brauchte. Sie wollte damit nur ihre innere Stimmung ein wenig aus der Versenkung holen. So hoffte sie zumindest und trat näher an den runden Kaffeetisch heran. Sie musterte ihre Bekannte, die so genannte Freundin und ebenso Malerin, die aber in Wirklichkeit nur einmal mehr eine versteckte Konkurrentin in der Kunstszene war. Nicht umsonst hieß es hintenherum: ›Die äußere Maske hui – die innere dagegen pfui!‹ Das Frauenzimmer musste mit einiger Vorsicht genossen werden. Und trotzdem war sie manchmal wiederum ganz gut zu gebrauchen: Bella bedeutete so etwas wie die erste Adresse im Klatsch- und Tratschgeschäft der bewegenden Künste.
»Na, Linda, wie stehen so die Aktien heute?«, fragte Lindas Bekannte und blickte auf. Die eigentliche Begrüßung aber war ein zweideutiges Schmunzeln. Das war so eine Eigenart von ihr. »Ich finde, du siehst ein bisschen blass um die Nase herum aus …«
»Ach, Bella, wenn ich nur genau wüsste, was es ist, das gerade meine Lust und Tageslaune nach unten drückt.«
»Mädchen, Mädchen, du brauchst unbedingt einen kräftigen Kaffee und natürlich gute Unterhaltung. Vielleicht ein Stück leckere Apfeltorte gefällig? Na komm schon, setze dich einfach mit zu mir …«
Das Angebot nahm Linda doch gerne entgegen. »Danke!«, sagte sie.
Das Insider-Café wirkte bis auf drei weitere Gäste und einen steinalten Mann, der gewissermaßen mit zum Inventar zählte, wie leergefegt. Kein Wunder, denn das kulturelle Interesse spielte sich derzeit noch woanders ab – drüben in der Galerie. Zudem war die Kaffeestunde noch nicht wirklich herangerückt. Oder eben die Ausstellung hatte etwas zu bieten, das den Besucher heute besonders lange bei der Stange hielt. Linda dachte an den Gnom, der die Fantasie anregte und den Betrachter in einen unwiderstehlichen Bann zog. Aber andersherum glaubte sie, dass die „Ruhe“ in dieser Cafeteria genauso magisch anziehen konnte. Der beste Beweis dafür war der steinalte Mann. Zwar gab er oberflächlich eine zerknitterte Figur ab, aber er wirkte so zeitlos und friedlich. Der Hut saß ihm tief im Gesicht und die Hände hatte er vor der Brust gefaltet. Er wirkte ein wenig wie versteinert. Es sah aus, als ob er gerade ein kleines Nickerchen machen würde.
»Der pennt schon eine ganze Weile«, bestätigte Bella, weil sie bemerkte, dass Linda ständig nach dem Alten schielte. »Also, wenn du mich fragst, eigentlich könnte der sogar ein prächtiges Kunstwerk abgeben. Das könnte man dann am besten gleich hier im Café ausstellen. Ich bin sicher, hier drinnen würde es so ziemlich die größte Aufmerksamkeit erfahren. Wie sieht es denn aus, möchtest du ihn nicht zufälligerweise einmal malen?«
»Gott bewahre …, den?« Wie kommt sie nur darauf?
»Aber er gibt doch ein wunderbares Motiv ab, und schön stillhalten kann er auch, wie du selbst siehst.«
»Mag sein …« Linda drehte sich nach der Bedienung um, die sie aus dem Augenwinkel kommen sah. Sie hob die Hand und streckte den Zeigefinger nach oben. Das Zeichen.
»Sie wünschen bitte?«, fragte ein noch ziemlich junger Mann. Er lächelte.
Linda lächelte zurück. »Ja, was dürfte es wohl heute sein? Kaffee Galeria Spezial?«, fragte sie mehr Bella als den jungen Mann.
»Ich trinke halt schwarz, nur mit Zucker, so wie immer …« Bella zuckte mit den Schultern, als ob ihr urplötzlich die Empfehlungen ausgegangen wären.
Linda sah in das Gesicht des jungen Mannes. Seine Gesichtszüge wirkten sehr weich, fast noch wie bei einem Bub. Kaum ein Ansatz von einem Bart war zu sehen. Nur ein Flaum wie bei einem, der gerade im Begriff war, die ersten Schritte ins Erwachsenenleben hinauszusetzen. Er empfahl ihr nichts, er zwinkerte auch nicht, und sein Lächeln verging. Die Unsicherheit schlich sich an ihn heran.
»Ich nehme dann eine Latte«, lautete Lindas Bestellung, »und noch mal bitte Kaffee Schwarz für meine gute Bekannte hier …«
»Und mir bringen Sie bitte zwei Stückchen von der hausgemachten Apfeltorte«, fügte Bella hinzu. Sie tippte Linda an: »Habe ich dir überhaupt schon gesagt, wie lecker die heute ist?«
»Ja, eben gerade als ich kam. Aber ich glaube, das erwähntest du bereits Vorgestern schon.«
»Ach so!«
Der junge Mann notierte die Bestellung. »Haben die Damen noch einen anderen Wunsch?«
»Nein.«
»Ähm, nein«, sagte ebenso Bella.
Wirklich nicht? fragte der junge Mann nochmals auf einer anderen Wellenlänge. Du bist eigentlich recht hübsch.
Erstaunt sah Linda den „Jüngling“ an. Sie dachte an die Latte. Das hatte so etwas von einem Hochgenuss, und sie fragte sich nur, was vielleicht wäre, wenn ihr bisheriges Leben ganz anders verlaufen wäre …? Junger Mann, weicher Bubi du, du mit dem Milchbart im Gesicht, ich sende dir eine Botschaft, verstehst du das etwa noch nicht? Ich stehe auf echte Latte, hörst du mich? Ganz bewusst senkte sie ihren Blick entsprechend tiefer, und noch tiefer zum Detail hin. Sie dachte an Kaffee, an Harmonie und Lust, und irgendwie auch an Sex – an hemmungslosen Sex.
Der junge Mann lächelte wieder. Er nickte unmerklich. Sollte wohl so etwa wie: ›Wünsche angenehmen Nachmittag‹ bedeuten. Er machte eine Kehrtwendung und marschierte in Richtung Küche.
Nachdenklich schaute Linda der Bedienung hinterher. Bella beobachtete genau, wie die Äußerlichkeiten des jungen Mannes Linda inspirierten. Sie fand, dass sich Linda neuerdings sehr eigenartig verhielt.
»Gefällt er dir, der Kleine?«
»Er hat einen knackigen Hintern. Leider ist er noch ein Milchgesicht.«
»Die Betonung liegt auf noch, meine Gutste! Auch aus Milchgesichtern werden mit der Zeit richtige Männer. Schau dir einfach nur den da drüben an.«
Die Frauen schielten erneut zum alten Mann hinüber.
»Ich vermute mal, der hat längst seine besten Jahre hinter sich.« Linda hielt sich die Hand vor den Mund und flüsterte: »Bei dem wächst bestimmt nicht mehr allzu viel in der Hose.« Sie feixte. Ihre Gesprächspartnerin feixte mit. Man verstand sich – zumindest auf dieser Wellenlänge.
»Und, malst du ihn nun? Ich wüsste da auch schon das passende Motiv: Der schlafende Mann mit Hut! Er siehst so schön friedlich beim Duseln aus …«
»O nein, ich hätte da gewiss viel lebhaftere Vorstellungen.«
»Ach ja! Die wären zum Beispiel?«
»Na ja, vielleicht … der onanierende Mann?”
»Klingt originell.« Bella dachte mehr, jetzt schnappt sie bald vollkommen über. »Oh!«, fiel ihr plötzlich wieder ein. »Da wir gerade davon reden, ich muss dir unbedingt was erzählen. Mir ist da neulich so eine Sache passiert, die …« Sie schaute sich um, um sicher zu gehen, dass auch ja keine dritte Person mit zuhörte. »Ich sage dir, das haut dich glatt vom Hocker.«
»Wenn du meinst …« Linda spitzte die Ohren. Aber sie wusste ebenso gut, wie oft ihre Bekannte rein zum Flunkern aufgelegt war. Nicht selten waren es pure Fantasiegeschichten, Mädchenträume und erotische Schäume, das alles nur erdacht, um sich damit möglichst passend in Szene zu setzen. Irgendwie wurde sie das komische Gefühl nicht los, dass Bella ihr seit einiger Zeit eigentlich etwas anderes vermitteln wollte. Etwas zum Thema Kunst. Sex und Kunst. Oder galt Sex neuerdings genauso als Kunst?
Bella lehnte gemütlich zurück und setzte sich tatsächlich die Mine einer klassischen Geschichtenerzählerin auf. »Also, es geht natürlich um einen Mann, mit dem ich neulich einen One-Night-Stand hatte«, begann sie mit der Story des Tages. »Ich würde sagen, er war ziemlich groß und hatte eine kräftige Statur, dunkle Haare und markante Gesichtszüge, und er hat sogar blaue Augen gehabt. Sein Po sah durchtrainiert aus. Das war ein Bild von einem Mann, sage ich dir!«
»Ist es nur ein Bild oder existiert der auch in natura?«, wollte Linda noch einmal präziser wissen.
»Natürlich gibt es den auch in echt, meine Gute.« Sie rutschte wieder nach vorn und fragte ein wenig misstrauisch: »Sehe ich etwa wie Rosalea die Märchentante aus?«
»Manchmal könnte man das meinen.«
»Wieso?«
»Nur so.« Linda grinste über den Tisch. »Und wo habt ihr beiden euch dann zufällig kennengelernt? Ich meine, falls ihr das habt.«
Bella kniff die Augen zusammen, denn sie wollte hier normalerweise den Gesprächsverlauf anführen. »Willst du nun hören, oder willst du gleich von Anfang an alles in Frage stellen?«
»Bella, Bella, aber sicher doch will ich Neuigkeiten hören. Also, wo begann das nette kleine Liebesabenteuer?«
Bella lehnte sich wieder zurück und holte tief Luft. Jetzt musste sie sich etwas einfallen lassen. »Es war so: Ich besuchte vor gut vier Wochen den Club PISA. Du weißt doch, der kunterbunte Partyladen mitten in Montoba.«
»Schon gehört davon. Soll eine feuchtfröhliche Szenedisco sein.«
»Allerdings. Ich selbst war nur auf eine Empfehlung hin dort. Ich saß allein an einer der Bars und verschaffte mir einen Überblick. Wenn ich recht entsinne, war es so um Mitternacht herum. Der Laden war brechend voll. Die Stimmung mächtig angeheizt. Ein kunterbuntes Publikum, sage ich dir. Stinknormalos, aufgetakelte Tussis, Snobs, Freaks, sogar ein paar Cowboys stiefelten umher. Die stimmten einen Countrysong an, so habe ich diese Musik noch nie gehört. Jedenfalls, na ja, die meisten Männer, denke ich, waren natürlich auf der Suche nach Frischfleisch, wie man so sagt. Das Übliche. Das liegt dem Manne im Blut, dem richtigen Mann, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Oh ja! Fühltest du dich etwa wie Frischfleisch?« Linda begann sich, zu interessieren.
»So würde ich das nicht ganz sehen. Dazu bin ich sicher schon viel zu alt. Ich fühlte mich eher selbst als Jägerin, weil ich tiefsinniger schaute. Ich lag quasi auf der Lauer. Du kennst mich ja schließlich, das gewisse Gespür spielt da mit, das Gefühl. Drei Typen habe ich einfach abblitzen lassen. Zu aufdringlich, zu betrunken und zu abtörnend. Aber etwas später, es war gerade eine Runde Kuschelmusik angesagt, da sah ich ihn, den Mann, der mir auf Anhieb gefiel. Er merkte schnell, dass auch ich nach ihm schaute. Er stand nur ein Stück abseits von der Bar, und er kam näher. Schüchtern wirkte er nicht. Ganz im Gegenteil, da kam mir eine Ausstrahlung entgegen, die etwas Faszinierendes hatte. Ich sagte dir ja bereits, dass es ein Mann wie aus dem Bilderbuch war. Doch der Glanz in seinen Augen, das Karma, das er mitbrachte, das hättest du sehen sollen. Ich blieb nicht einfach so sitzen, ich konnte nicht anders, ich musste unbedingt aufstehen und ihm entgegentreten. Er sagte: ›Hallo, junge Frau!‹ Ich fühlte mich ein wenig geehrt. Er fragte: ›Gefällt Ihnen die Show?‹ Und ich sagte natürlich: ›Ja.‹ Was sollte ich auch sonst sagen, wenn schon der Traumtyp der Nacht höchstpersönlich vor mir stand, verstehst du?«
Linda verdrehte die Augen. Sie hatte sehr wohl verstanden.
»Ich sagte ihm, dass ich zum ersten Mal im Club PISA wäre. Dass ich überrascht sei, ein so vielfältiges Publikum anzutreffen, und dass der Prosecco hier einfach nur lecker schmeckt. Er schnalzte mit der Zunge und fragte: ›Nehmen wir noch zwei von diesen Proseccos?‹ Ich nickte und schmunzelte und ließ meinen ganzen Charme spielen. Ich denke, er verstand, worum es ging. Worum es im Allgemeinen ging. Dass ich auf der Suche war, so wie er auf der Suche war. Eigentlich suchen wir doch alle das ganze Leben lang nach irgendwas, oder?«
»O ja, wer sucht, der findet! So oder so ähnlich ...« Was suche ich überhaupt? Linda sah die Bedienung kommen. »Du, der Frischling …«, bemerkte sie und machte eine Kopfbewegung.
»Ah, toll! Ich dachte schon …« Auch Bella sparte sich den Rest. Er war nah.
Ein wenig nervös, dennoch mit strahlendem Gesicht servierte der junge Mann Kaffee und Kuchen. Er wünschte einen „Guten Appetit“. Doch was er wirklich perfekt konnte, war seine Kehrtwendung aus dem Stand. Er ging, und da er hinten keine Augen hatte, fiel der Blick der Frauen automatisch wieder auf die Schwungmasse des jungen Mannes.
»Ob der neulich erst beim Militär gewesen war?«, flüsterte Linda fragend.
»Kann schon sein. Die sind doch alle jung, die Soldaten.« Bella zwinkerte. »Mmmm, frische leckere Apfeltorte, und wie gut der Kaffe heute wieder mal duftet.« Sie kippte Zucker in den Kaffee, sie rührte, zog den Löffel aus der Tasse und bemühte sich nicht, den letzten Tropfen vom Löffel abzustreifen. Stattdessen nahm sie gleich den Kuchen in Angriff, nachdem der letzte Kaffeetropfen auf der weißen Tischdecke gelandet war. Groß wirkte auch das Stück Kuchen, das sie abspachtelte, gezielt zum Mund führte, um es dann gierig hinunterzuschlingen. »Toll!«,sagte sie begeistert. »Ganz toll!« Sie schmatzte. »Den musst du unbedingt probieren, na los, probier doch schon!«
Linda probierte. Sie konnte sich jedoch beherrschen. Es gab bestimmt bessere Torten, welche mit Sahne, die auf der Zunge dahinschmolzen wie zarter Liebesschaum. Sie brauchte ja auch nicht unbedingt so auf ihre Figur zu achten, zumindest noch nicht. Ihr war klar, dass Bella vom stadtberüchtigten Aufreißerschuppen redete. Dort, wo man das schnelle und prickelnde Liebesabenteuer sucht. Dazu fiel ihr plötzlich ein: »Hatte dein Märchenprinz wenigstens einen Namen?«
Fast hätte sich Bella am letzten Bissen verschluckt. Sie hustete. Sie hielt sich die Hand vor den Mund und schob den Teller beiseite. »Renaldo«, sagte sie, »mit Renaldo hatte er sich vorgestellt, als wir mit eisgekühltem Prosecco anstießen.«
»Ein sehr romantischer Name«, fand Linda.
»Finde ich auch. Der passte irgendwie zu seinem italienischen Tatsch.« Sie warf ihre langen blonden Haare zurück, legte den Kopf zur Seite und stützte anschließend ihre Wange in der rechten Handfläche. Dabei sah sie aus, als ob der Schwarm der Nacht noch immer nachwirken würde. »Es blieb natürlich nicht bei einem Prosecco. Er bestellte, und ich bestellte. Er erzählte mir, dass er mit Konfekt und Kaffee handeln würde, französische und italienische Markenware, versteht sich von selbst. Fünfzehn Jahre sei er mittlerweile im Geschäft. Dazu kam er angeblich durch seinen Onkel, der aber inzwischen verstorben sei. Er reise gerne, um neue Produkte zu entdecken, Erfahrungen zu sammeln, und um neue Verbindungen zu knüpfen. Er zog ein silbernes Etui aus seiner Brusttasche, das eine Kostprobe von vier Spezialpralines enthielt. Er ließ mich eine probieren.«
»Ah, lass mich raten: die Praline der Verführung?« Verschmitzt schmunzelte Linda über den Tisch.
»So in etwa. Sie schmeckte erst schokoladig, dann cremig, und dann ging der Geschmack in ein leichtes Prickeln über. Ich glaube, da war etwas Minze mit drinnen.« Bella leckte sich über die Lippen. Der Geschmack musste bei ihr etwas Bleibendes hinterlassen haben. »Wie gesagt, als wir dann so beim fünften, sechsten Drink angekommen waren, forderte er mich zum Tanzen auf. Ich konnte natürlich nicht Nein sagen bei solch einem umwerfenden Mann, der mir auch noch Pralinen anbietet.«
»Du warst beschwipst, nicht wahr?«
»Und ob ich das war, meine Beste, sogar die Musik passte. Das machte die Sache gleich viel einfacher für uns, du kennst bestimmt dieses Lied … ›Stimmen im Wind …, Stimmen, die dich rufen, wenn der Abend verrinnt …, sei nicht traurig Susan, es fängt alles erst an …‹”, trällerte sie leise und schwang dazu den linken Zeigefinger gleichmäßig im Takt. »Er konnte wunderbar führen, er hatte keine schwitzigen Hände und seine Linke an meiner Taille fühlte sich sehr einfühlsam an. Sein Hemd war leicht geöffnet und ich konnte seine Brustbehaarung sehen. Eine echt männliche Brust, straff und kräftig, die einem Halt und Geborgenheit versprach. Der Typ war wie zum Anschmiegen geschaffen, und er roch so verdammt gut. Nicht aufdringlich, mehr dezent, aber unwahrscheinlich anziehend.«
»Vielleicht waren es ja die Pheromone, die euch zusammengeführt haben«, glaubte Linda, zu wissen.
»Schon möglich. Aber ich bin der Meinung, dass es einfach mehr oder weniger Zufall war. Gut, ein gewollter Zufall sicherlich«, verbesserte Bella schnell.
»Schau mal, Bella, das, was du da erzählst, klingt für mich wie ein netter Sommernachtstraum. Nur, wann ging es bei euch beiden dann so richtig zur Sache?« Linda wollte nicht unbedingt drängeln, doch die Kurzfassung wäre ihr im Moment lieber gewesen.
»Na schön«, sagte Bella und versuchte nun, abzukürzen. »Wir tanzten und tranken natürlich, schwafelten über dies und jenes, und später tanzten wir noch ein paar Runden weiter. Irgendwann, so gegen fünf Uhr morgens, fragte er mich: ›Wollen wir von meinem Apartment aus den Blick auf die Kaskadenfälle des Sankt-Barrabas-Stroms genießen?‹ Genau genommen wartete ich nur auf ein Angebot seinerseits. Er sagte mir: ›Die Wasserfälle üben in der Morgensonne eine besondere Faszination auf den Betrachter aus.‹ Glaub mir, Linda, mir war selbstverständlich klar, dass der Hase in eine ganz andere Richtung laufen sollte. Und genau das wollte ich ja. Ich möchte behaupten, ich war ziemlich gut drauf. Oh ja, so richtig heiß! Auch in seinen Augen spiegelte sich der Glanz eines Don Juan wieder. Verstehst du?«
»Aber natürlich …«
»Wir verließen den Club. Wir stiegen in sein Auto. Es war eine Corvette. Er meinte, er könnte noch fahren. Ich vertraute ihm. Er machte für mich auch nicht gerade den Eindruck, dass er nicht mehr fahren könnte. Er fuhr sogar recht sinnig.«
»Gefährlich, gefährlich …«, meinte dagegen Linda.
»An diesem Morgen war mir das aber egal. Und du siehst ja, dass ich noch lebe, ohne auch nur den kleinsten Kratzer abbekommen zu haben.« Sie präsentierte ihr Gesicht genauer, zeigte die Arme und zog ein Hosenbein hoch bis übers Knie. Es bedeutete eigentlich nichts. Nur soviel wie zu ihrer eigenen Versicherung. Sie grinste. »Später saßen wir dann auf dem Balkon seines Apartments. Der Blick auf die Wasserfälle war tatsächlich grandios. Seine Hausbar gab Martini, Sambuca, Ballys und einiges an Whisky her. Whisky war nicht mein Ding. Wir einigten uns auf Sambuca, und ehrlich gesagt, ich habe von da an schon alles ein bisschen vernebelt gesehen. Etwas später gab er mir dann zu verstehen, dass er sauber wäre. Er wäre kein Weiberheld. Er hätte sogar manchmal ein Problem, mit Frauen ins Bett zu steigen, und er würde gar nicht so direkt auf den Austausch von Körperflüssigkeiten stehen. Ich sagte ihm: ›Ein bisschen Kuscheln kann manchmal mehr sein als der reine Verkehr.‹ Er stimmte mir zu. Und vielleicht wollte er damit ja auch nur zur Sache kommen. Wir berührten uns, wir knutschten und wir kuschelten. Als ich beim Fummeln an seinem Hosenbund angelangt war, konnte ich ihn fühlen, den Harten. Ich fragte ihn: ›Aber potent bist du trotzdem?‹ Und er fragte andersherum: ›Was hast du denn geglaubt?‹ Ich sage dir, von Unsicherheit war da eigentlich keine Spur. Ich glaube schon, dass er genau wusste, was er wollte.«
»Sich entleeren natürlich, Bella, sich entleeren!«, behauptete Linda. Und jetzt fand sie die Geschichte erst wirklich interessant.
»O Baby, ich sage dir …«, Bella fasste nach Lindas Arm, »du kannst dir gar nicht vorstellen, wie feucht ich da bereits zwischen den Beinen war.«
»Och, das ist doch normal.«
»Ja freilich, und dann sagte er auf einmal: ›Ich stehe auf Petting.‹ Ich sagte ihm: ›Das kann genauso eine wunderschöne Sache sein.‹ Er bot mir an, dass wir es uns gegenseitig besorgen. Ich sagte es ihm nicht, ich strahlte ihm mein O.K. förmlich entgegen. Ich wollte es regelrecht, ich wollte unbedingt seinen Schwanz sehen und streichelte ihm über die Hose. Wir pellten uns gegenseitig aus den Klamotten. Er zog mir langsam die Hose aus und dann den Slip. Auch ich zog ihm die Hose aus. Er war recht gut bestückt da unten, und sein Schwanz stand von Anfang an wie eine Eins. Wir saßen uns gegenüber in den Verandasesseln und beäugten uns eine Weile. Ich musste immer auf seine dicken Eier starren. Außerdem war er glatt rasiert, und ich bin es ebenso.«
»Schau an …«, nahm Linda durch Bellas Offenheit zur Kenntnis. Warum sie ihr das nur alles erzählte? Hatte das etwa einen tieferen Sinn?
Bella lächelte ganz schelmisch. »Ich spreizte die Beine und offenbarte ihm meine Muschi. ›Du hast eine schöne Muschi!‹, sagte er zu mir. Wir berührten uns gegenseitig an unseren intimsten Stellen. Seiner fühlte sich straff, heiß und hart an. Wie es sich für ihn anfühlte, kann ich dir nicht genau sagen. Er steckte seinen Finger in meine Spalte hinein, dann zwei. Mir wurde richtig heiß dabei. Ich stöhnte, und er hauchte mir ins Ohr, dass ich richtig geil sei. Natürlich war ich geil! Und plötzlich rutsche er nach unten und küsste mir die Muschi, ich sage dir, ich war ganz perplex! Er leckte und schleckte durch meine Spalte, über meinen Kitzler, während ich dabei am ganzen Körper zu zucken begann. Es war wie ein bebendes Gefühl, das mich erfahren ließ, zu was so eine flinke Männerzunge alles fähig sein kann.«
»Und er, hat er auch dabei …?«, wollte Linda unbedingt wissen. Seltsamerweise wurde sie auf einmal selbst ein wenig feucht zwischen den Beinen. Zumindest spürte sie eine gewisse Erregung. Aber sie sagte es nicht. Sie schaute sich nur kurz um, weil zwei neue Gäste das Café betraten. Es waren keine Bekannten aus ihren Kreisen. Es waren nur irgendwelche Leute, die jedoch nicht sonderlich wichtig waren.
»Na ja«, fuhr Bella fort, »nachdem ich dann gekommen bin, musste er selbstverständlich auch kommen.«
»Eigentlich ist es aber eher umgedreht, dass der Mann zuerst kommt«, sprach Linda aus ihrer eigenen Erfahrung.
»Das kommt eben ganz darauf an. Er wusste halt genau, wo er bei mir die richtigen Knöpfe zu drücken hatte.« Die einfachste Erklärung einer Glücksjägerin. »Also, ich schnappte mir wieder seinen Schwanz und er lehnte sich zurück. Er war inzwischen noch härter geworden. Seine Eichel leuchtete mir fordernd entgegen. Ich wichste leicht seinen Schwanz auf und nieder, und er ließ sich einfach gehen. Aber das kennst du ja sicher selbst beim Liebe machen …«
»Na, ob so eine schnelle Nummer etwas mit Liebe zu tun hat?«, bezweifelte Linda zu fragen.
»Egal. Dann war es eben pure Leidenschaft …«
»Leidenschaft? Tssss …« Linda hob die Brauen. »Ich lausche also den Geschichten einer leidenschaftlichen Wichserin!«
»Ich wollte halt sehen, wie es kommt.«
»Und wie kam es?«
»Na, geschossen. Wie denn sonst?«
»Aha!«
»Ja, wie gesagt, ich machte ihm also ordentlich Feuer unter dem Hintern. Er japste dabei wie ein kleines Hündchen, das seiner Herrin vollkommen ausgeliefert sein wollte.« Dazu grinste Bella auf ihre Weise. Irgendwie war sie jetzt voll in ihrem Element. »Nebenbei knetete ich auch seine Eier. Große dicke Eier, sage ich dir, hingen da an seinem Pimmel. Er atmete immer schneller und verdrehte auf einmal die Augen, für mich war es das untrügliche Zeichen, dass er nun gleich abspritzen würde. Ich musste ihm nur noch den Endsport liefern, und die Adern auf seiner Vorhaut traten noch deutlicher hervor. Plötzlich bäumte er sich auf und schoss die erste Ladung heraus. Der Schuss landete direkt, und das hättest du sehen müssen, an seinem Kinn. Dann kam der zweite Schub geschossen, der es bis auf seine Brust schaffte. Noch ein dritter kam hinterher und der Rest vom Sperma quoll schließlich einfach so heraus.«
Linda verdrehte nun ebenfalls die Augen.
»Er zuckte am ganzen Körper und sein Po ging mehrmals hoch und runter, er machte dann so komisch: ›Uff, uff …‹ Ich glaube, er hatte so eine Art Multiorgasmus.«
»Soso, glaubst du also. Multiorgasmus! Wie das klingt …« Am liebsten hätte Linda jetzt auch einen gehabt.
»Na ja, vielleicht ein bisschen übertrieben, aber ich fand es auf jeden Fall ganz toll. Ich hatte ihn da völlig in meiner Hand. Es war wie ein Gefühl von Macht, oder eben von Bestimmung …« Bella schaute nach oben. Vermutlich sah sie dort so etwas wie den siebenten Orgasmushimmel – den ihren.
Dem gegenüber, so primitiv die Geschichte auch rüber kam, war es aber genau diese Macht und Bestimmung, die Linda interessierte, die sie gleichermaßen ausüben und genießen wollte. Wie verführerisch! dachte sie.
»Weißt du, Linda, ich finde, dass eigentlich jede Frau sich das Sperma des Mannes einmal genauer ansehen sollte. Ich fragte ihn einfach: ›Millionen kleiner Lebensspender, ist es nicht schade um solch eine Verschwendung?‹ Er nickte und grinste dennoch. Er wirkte auf einmal wie befreit, als ob er gerade selber das Kind im bloßgestellten Manne mimen würde.« Bella zwinkerte und strahlte über den Tisch. Auch sie wirkte jetzt recht zufrieden. Eine Art Befriedigung im Déjà-vu-Erlebenis?
Darüber musste Linda einfach nur drauf loslachen, und beinahe standen bei ihr sogar die Tränen in den Augen, so ulkig fand sie nunmehr die schräge Sexgeschichte ihrer Künstlerkollegin. »O Gott, du und eine echte Wichserin? Ich fasse es nicht!« Doch schnell hatte sich Linda wieder ein und fragte: »Aber das Sperma an seinem Kinn, was machte er damit?«
»Er wischte es mit dem Handrücken ab. Ach so!« Etwas Wichtiges hatte sie noch vergessen: »Er leckte sogar daran. Ich fragte ihn, ob es denn schmeckt. Und er sagte mir: ›Ein bisschen salzig.‹«
»Ach, echt? Wolltest du etwa selbst davon kosten? Na, sag es mir schon, hast du nun gekostet oder hast du nicht?«
»Nein, meine Beste. Wichse lecken geht mir dann doch eine Schwelle zu weit. Ich kannte diesen Typen ja kaum. Er verlangte es auch nicht. Er wischte sich das Zeug einfach mit seinem T-Shirt ab.«
»Ach ja?!«
»Ja, einfach so.«
Linda stellte sich das Bild einer jauchzenden, beglückten Spermaschlürferin vor, eine Frau von oben bis unten vollgespritzt mit dem Saft des Mannes. Vielleicht sollte sie gerade so etwas demnächst einmal malen: Bella Belinda, die Königin von der Samenbank! Und jetzt griente sie über den Tisch, als sie auf die vielen beschriebenen Notizblätter sah, die sich neuerdings in Bellas Aktenmappe stapelten. Sie griente süffisanter, weil Bella plötzlich ebenso verdächtig grienen musste, als ob sie ganz klar wüsste, worum es hier eigentlich von der Grundsache her ging. Linda trank genüsslich ihre Latte aus, den lauwarmen Rest davon, der noch geblieben war. Das halbe Stückchen Torte ließ sie heute absichtlich mal links liegen. Sie dachte an einige Besorgungen, an Dinge, die sie eigentlich dringend zu erledigen hätte. Trotzdem fragte sie nur so zum Spaß: »Und was ist nun aus deinem nächtlichen Schwarm geworden?«
»Ähm, na ja …«, sagte Bella nachdenklich. Anscheinend war sie mit ihrer gedanklichen Grobfassung des kleinen Abenteuers noch nicht ganz soweit. »Wir waren natürlich tierisch müde. Wir schliefen zusammen in der Stube. Am späten Nachmittag musste ich dann aber wieder los, weil ich noch einen wichtigen Termin hatte. Unsere Telefonnummern hatten wir selbstverständlich bereits vorher ausgetauscht. Er schlief halt tief und fest wie ein Murmeltier, als ich gegangen bin.«
»Ja, so was passiert halt, wenn man so richtig ausgesaugt wird«, meinte Linda, zu wissen. Sie dachte an eine eingetrocknete Mumie – ausgesaugt von einer Gottesanbeterin in Menschengestalt. Wie die wohl in echt aussehen könnte?
»Ich hatte Renaldo dann 14 Tage später einmal angerufen. Er sagte mir, er sei sehr erfreut, und dass er mich auch gerade anrufen wollte …«
»Ich würde eher sagen, er war sehr erstaunt, dass du überhaupt angerufen hast. Das irritiert nämlich Männer, die eigentlich nicht damit rechnen.«
»Keine Ahnung. Er sagte jedenfalls, dass wir uns unbedingt wieder treffen sollten. Leider wäre er vorerst in Südamerika unterwegs, um ein paar Geschäfte zu erledigen.«
»Geschäfte?! Hört, hört …«
»Ja, sagte er. Wenn er aber erst wieder hier im Lande ist, dann würde er sich alle Zeit der Welt für unser beider Glück nehmen.«
»Na sicher«, pustete Linda über den Tisch. »Und diesen Schmarren hast du ihm tatsächlich geglaubt? Wo ist er denn bis heute abgeblieben dein liebestoller Renaldo Renaldino?«
»Gute Frage«, sagte Bella und hob ratlos die Schultern. Zumindest tat sie so, als ob der Wind nicht ganz direkt von der Märchenwiese herüberwehen würde. »Ich rief nach über einer Woche wieder bei ihm an. Was dann aber kam, war nur: ›Kein Anschluss unter dieser Nummer.‹«
»Hattest du nicht erzählt, er hätte ein Apartment in Montoba gehabt?«
»Oh ja! Ich war spaßeshalber mal dort. Es waren keine Gardinen mehr dran. Alles sah ziemlich leer geräumt aus. Kein Namensschild und auch keine hinterlassene Nachricht klebte an der Tür.«
»Mich wundert es nicht. Wie weit bist du eigentlich inzwischen mit deinem neuen Liebesroman?«, fing Linda auf einmal ganz anders herum an.
»Was denn für ein Roman?«
»Na den, den du gerade schreiben tust.« Linda deutete auf die Aktenmappe mit den vielen beschriebenen Blättern. »Man hört schließlich so einiges, und eben auch, dass du gerade mal wieder an etwas schreiben tust.«
»Ach das, das sind nur kleine Notizen«, sagte Bella und winkte beflissen ab.
Bellas Mappe lag auf dem Tisch. Beide starrten sie auf die schwarze Mappe, die plötzlich so geheimnisvoll wirkte. Linda war sich jetzt sicher: »Steht sie da drinnen, die nette kleine Bumsgeschichte, die du mir gerade aufgetischt hast?«
»Steht sie nicht …«
»Na dann, zeig mal her!« Und schon griff Linda ganz eigenmächtig nach der Mappe.
So etwas konnte Bella am allerwenigsten tolerieren. Sie hielt fest, was ihr gehörte und fauchte dazu: »Nein, ich zeige es dir eben nicht!«
Nun zerrten sie von beiden Seiten an der Mappe, und im ersten Moment wollte auch keiner so wirklich nachgeben, doch dann: Den Frauen fiel wieder ein, dass sie nicht ganz alleine im Café saßen.
Linda ließ los und rutschte ein wenig zurück. Bella hingegen nahm ihre heilige Mappe vor die Brust und sah Linda nunmehr ziemlich erbost an, aber die grinste schon wieder. Beide Frauenzimmer riskierten einen vorsichtigen Blick ins nähere Umfeld. Doch schien sich niemand wirklich für ihr „Gezänkel“ zu interessieren.
»Ich wette, sie steht da drinnen. Du hast dir alles nur ausgedacht!«
»Wenn du meinst. Deine Frau im Meer entsprang ja auch nur rein deiner Fantasie. Und ehrlich gesagt: ein wahrer Publikumsmagnet ist dein neues Bild nun nicht gerade.«
»Aber wohl deine Indian-summer-Inspiration, oder was?«, konterte Linda dagegen. Wenigstens war nun endlich die Katze aus dem Sack gelassen. Es gab nie einen Renaldo. Es existierten lediglich feuchtfröhliche Geschichten und dazu haufenweise Gerüchte. Im Grunde saßen sie beide mehr oder weniger in ihrer eigenen brodelnden Gerüchteküche.
»Ich habe bereits neun Abzüge verkauft«, trumpfte Bella dick auf. »Und du?« Jetzt glaubte sie, Linda da zu haben, wo sie Linda ohnehin gerne haben wollte.
Eine Antwort ließ auf sich warten. Stattdessen stand Linda auf und legte großzügig einen Zehner auf den Tisch. »Hier!«, sagte sie. »Das ist für den jungen Mann.«
»Stimmt es, was sie erzählen, dass dich in letzter Zeit der Erfolg verlassen hätte?« Bella sah Linda herausfordernd an.
»Pass auf, meine Gutste! Du bist hier diejenige, die das in den Kulturkreisen erzählt und verbreitet. Du tust das alles nur, um dich selber in Szene zu setzen, du mit deinen erfundenen Geschichten. Außerdem macht der Gnom dort draußen das Rennen, falls dir das in der Galerie zufällig schon einmal aufgefallen ist. Und vielleicht ist der Künstler ja ein Mann, ein Gnom im Mann. Du solltest ihn ausfindig machen und ihm dann von deinen feuchten Mädchenträumen erzählen. Eben haargenau so, wie du es in deinen niedergeschriebenen Orgasmus-Visionen getan hast.« Sie drehte sich um und ging zum alten Mann. Der schlief noch immer an seinem Platz. Nur, dass inzwischen sein Hut zu Boden gefallen war. Linda hob den Hut auf und hängte ihn an die Garderobe zur Jacke. Der alte Mann merkte es nicht. Er sah nach wie vor ziemlich zerknittert aus, und doch wirkte er wiederum so friedlich.
»Ich kann dir den Club PISA nur wärmstens empfehlen«, rief Bella zum Abschied ihrer Mitstreiterin hinterher. »Dort geht so richtig die Post ab, und falls du zufällig mal in Stimmung bist …«
»Pscht!«, machte Linda und legte den Zeigefinger auf den Mund. Sie zeigte auf den schlafenden Mann.
Der Blick der beiden Frauen kreuzte sich ein letztes Mal, und was eine jede im Gesicht der anderen zu sehen glaubte, sagte ihnen, dass dieses Konkurrenzverhalten unter ihnen wohl niemals enden werde. Diese Verbohrtheit, diese Blindheit und Besessenheit, und immer wieder diese nackten Tatsachen vor dem Streitobjekt Mann. Und warum nur das alles? Aber sie fragten sich genauso: Warum eigentlich nicht?
VERSCHWINDE! hätte Bella am liebsten gleich los geschrien.
VERBLASSE! konnte Linda gerade noch so herunterschlucken.
So ein Miststück!
So eine blöde Kuh!
Jedoch blieb es nur bei diesem bösen Gedankenspiel. Man wandte sich besser voneinander ab. Schließlich wollte man sich im hauseigenen Stammcafé nicht um jeden Preis die Blöße geben.
Linda verschwand, und Bella verblasste allein zurückgelassen an ihrem Tisch.
4
Am achtzehnten Juni – es war so gegen 11 Uhr am Vormittag – kam der Verkehr auf dem Highway 3 in Richtung Montoba plötzlich vollkommen zum Erliegen. Hunderte Menschen saßen in ihren Autos und warteten darauf, dass es endlich wieder weiter geht. Aber es tat sich nichts, es ging weder vor noch zurück. Nach und nach standen immer mehr Menschen neben ihren Autos und fragten sich, was heute nur los sei. Manche Menschen diskutierten, manche trommelten ungeduldig auf die blechernen Dächer ihrer Autos, manche fluchten und manch einer sagte zum unfreiwilligen STOP-OVER einfach mal gar nichts mehr. Das Gros der Autofahrer starrte den Highway hinab, um nur irgendwie in Erfahrung zu bringen, was passiert sein könnte. Weiter unten, dort, wo die große Hängebrücke über den Sankt-Barrabas-Strom führt, stiegen dunkle Rauchsäulen auf. Man glaubte, Feuer zu erkennen. Doch aus über drei Kilometer Entfernung verschwamm das Bild mehr oder weniger stark in der flimmernden Luft, die über der endlosen Blechschlange stand. Eigentlich hätten die stehenden Fahrer ihre Motoren zwischenzeitlich längst abschalten können. Einige taten dies auch. Viele taten es aus Gewohnheit eben nicht. Das war wie so eine Hoffnung, dass sie möglichst bald wieder in Bewegung kommen. Schon allein der Klang des Motors beruhigte in gewisser Weise, dass zwischen Alltagszwang, Vernunft und Unvernunft quasi noch ein Stück Entscheidungsfreiheit lag. Außerdem war es inzwischen recht heiß geworden, kaum ein kühlendes Lüftchen wehte. Wer wollte da schon auf die Annehmlichkeiten einer gut funktionierenden Klimaanlage verzichten? In der Moderne wohl die allerwenigsten unter ihnen. Man sah es den Autofahrern an, den großen, dicken und kleinen; den mobilen Frauen, den vielen Menschen mit inzwischen eingeschlafenen Beinen – dem rastlosen Menschen, der nicht anders erwehren konnte, als im Strom der Masse mit zu schwimmen, wie es die Masse für ihn bestimmte. Aber was wirklich zählte, war das Gefühl, die große Freiheit hinter dem Lenkrad des eigenen Wagens zu haben. Zumindest den Rest von einer Freiheit, die noch geblieben war, weil es die echte Freiheit schon längst nicht mehr gab. Man sah es ja, wie alles stand. Wie abhängig sie voneinander waren, gerade hier im endlosen Mensch-Blech-Maschinenverband. Und nur ganz am Rande fragte man sich, wo es wohl geblieben sei, das vorausschauende Bewusstsein für den dringend notwendigen Umwelt- und Klimaschutz. Weit weg waren die klimatischen Katastrophen aus den Köpfen der Menschen entflogen. Es regierte wie immer der Drang, als Allererstes zum Fahrziel zu kommen. Ein Bedürfnis, das suggerierte, dass alles in Ordnung sei in einer Welt der „frei“ entfalteten Mobilitäten. Es ging um verdrängen, um nicht sehen wollen, was eigentlich längst nicht mehr zu übersehen war. Sie hatten eine kritische Phase erreicht, in die sie allesamt gemeinsam hineingefahren waren. Die Ampeln standen längst auf Rot. Der Zwang zum Fahren verdrängte aber die roten Ampeln. Er gängelte und drängelte durch den geblendeten Menschenverstand: Ich will fahren!
Wer an diesem Vormittag aufmerksam den Highway nach Montoba betrachtete, wer dort im Stau hörte und fühlte, der begriff schnell, dass seine Individualität nicht mehr als einen feuchten Furz im Strudel der Masse wert war. Die meisten Fahrer verstanden das Fahren inzwischen als Selbstverständlichkeit. Doch wenn dann zufällig einmal alles im Stillstand verharrte, verstanden sie gleich die ganze Welt nicht mehr.
All das, der Stau, die Ratlosigkeit und Rastlosigkeit der Menschen, berührten Linda an diesem Vormittag recht wenig. Sie stand mittendrin in der riesigen Blechschlange der sonst so bewegten Masse. Keine Termine, die drängten, hatte sie sich aufgeladen. Sie hatte weder Recherchen noch wichtige Einkäufe zu erledigen. Wollte sich mit niemanden treffen und auch niemand aus ihrem Bekanntenkreis besuchen. Sie wollte einfach nur fahren, die Freiheit genießen und so etwas wie Langeweile vertreiben. Ein wirkliches Ziel gab es dabei nicht. Nur die Großstadt hatte sie halbwegs ins Auge gefasst. Diese könnte ihr am ehesten die Abwechslung bringen, nach der sie schon des Längeren sehnte. Vielleicht, um ein Verlangen zu stillen, das Besondere zu finden. In der Beziehung unterschied sich Linda kaum sonderlich viel von der Masse.
Auch wenn es Linda sonst anders vorkam, doch jetzt hatte sie plötzlich richtig viel Zeit für sich. Sie konnte entspannen, genießen und alles wunderbar wirken lassen; ihr stand Zeit zum Bummeln und Schoppen zur Verfügung – Zeit der Dinge freien Lauf zu lassen. Sie stand draußen neben ihrem Wagen und reckte den Kopf entspannt himmelwärts. Sie dachte an Himmel und Hölle, an all das Übel dazwischen, das ihr und ihresgleichen zwanghaft die entscheidende Richtungsweisung vorgeben wollte. Es war kein göttlicher Wink, es war nur so ein Gefühl, das belebte und beschwingte, sich zu holen, nach was Körper und Geist verlangte. Linda stand einfach nur da und der Wind säuselte leise durch ihr lockiges Haar. Sie schloss die Augen und sie vergaß, aber sie spürte, dass um sie herum etwas Teuflisches mit anwesend war.
Ein Mann rief von der linken Fahrspur herüber: »Da unten muss ein Kesselwagen explodiert sein. Irgendeine brennbare Flüssigkeit. Das stinkt doch zum Himmel!«
»Bestimmt wieder so ein Verrückter, der die Straße mit seiner privaten Rennstrecke verwechselt hat«, rief ein anderer zurück.
»Die sollte man am besten alle aus dem Verkehr ziehen!«, rief ein weiterer Mann, der sich empörte.
Einer der Männer kramte ein Fernglas hervor, er schaute noch einmal genauer. »Es schlagen immer noch Flammen aus der schwarzen Rauchwand«, gab er bekannt. Die Flammen waren auch so mit bloßem Auge zu sehen.
»Das muss aber ganz schön geknallt haben«, bemerkte neben Linda ein junger Bursche.
»Soll halt vorkommen«, sagte Linda wenig berührt zum jungen Burschen.
»Sind Sie auch unterwegs in die Stadt?«
Linda schaute den Burschen genauer an. Der grinste auf einmal. Er wirkte auf sie wie ein hässlicher Breitmaulfrosch, und dann wie einer … Ist er ein Charmeur oder eher ein Voyeur? überlegte Linda. »Sind Sie denn nun nicht mehr unterwegs in die Stadt?«, fragte sie umgekehrt.
»Keine Ahnung. Wir stehen ja.«
»Allerdings.«
Sie starrten nach oben – ein Polizeihubschrauber flog über ihren Köpfen hinweg. Auf einer Landstraße neben dem Highway waren anrückende Einsatzkräfte zu sehen. Blaulicht blinkte warnend im Takt. Zwei Motorradfahrer fuhren ganz rechts außen auf dem Standstreifen vorbei. Ein Notarztwagen folgte. Man glotzte förmlich, diskutierte und schimpfte.
›Hoffentlich geht es bald wieder weiter.‹ … ›Verdammt! Ich komme zu spät.‹ … ›Warum ausgerechnet heute, warum nur heute?‹ … ›Da ist bestimmt Murphys Gesetz mit am Werk.‹ … ›Diese Idioten, diese scheiß Idioten!‹ … ›Monstertruck!‹ … ›Brennendes Inferno!‹ … ›Heilige Mutter Maria …‹ Und das alles wegen einer kleinen Explosion? Kesselwagen, Tanklastwagen, Gefahrenguttransporter: Nur was brannte nun tatsächlich dort unten?
»Verfluchte Scheiße!«, schrie wieder ein Mann. Wütend trat er gegen den linken Hinterreifen seines Autos. »Sie liegt im Sterben, und ich …«
»Wer stirbt?«, fragte eine korpulente Dame zwei Autos vor dem wütenden Mann.
»Meine Mutter, gottverdammt!«
»Unten an der Brücke sterben sie vielleicht auch«, rief ein Glatzkopf nicht unweit daneben.
»Ja, wir müssen alle einmal sterben …«
»Ach, halt doch das Maul!«, schrie der wütende Mann.
»Halt du doch das Maul!«
»Wie jetzt?«
»Was ist?«
»Dicke Lippe, oder was?«
»Arschloch!«
»Blöder Fotzkopf!«
Eine drohende Faust schnellte empor, und noch eine drohende Faust suchte nach ihrem Recht. Man schmollte beiderseits, und jetzt auch noch das, wenn der ganze Tag ohnehin so beschissen begann. Aber man besann sich lieber. Die Streithähne setzten sich wieder in ihre Autos und schauten nach vorne.
»Das Leben kann manchmal ganz schön verrückt spielen«, meinte der junge Bursche gleich neben Lindas Wagen. »Manchmal klappt alles wie geschmiert, dann laufen die Dinge plötzlich wieder völlig aus dem Ruder. Der Aufregung steht oftmals die Gelassenheit gegenüber. Manche streiten, manche schweigen lieber, manch einer genießt die Show auf der Lebensbühne, und manch einer sehnt sogar insgeheim nach dem jüngsten Gericht. Wie sehen Sie das so, junge Frau?«
Linda fühlte sich nicht geehrt, angesprochen zu werden. Stattdessen dachte sie: Pass bloß auf, mein junger Bursche! Vielleicht bin ich ja hier das jüngste Gericht, vor dem du dich schwer hüten musst! Doch sie sagte: »Was ich sehe, ist eine schwarze Rauchwolke, die in den Himmel steigt.«
»Sicher«, sagte der junge Bursche. »Aber was sehen Sie noch?«
»Das, was ich jeden Tag sehe. Menschen, Autos und die Straße. Ein ganzes Land voller fahrgeiler Autofanatiker.«
»Wenn Sie es so sehen, und was noch?«
»Ich sehe meine Uhr«, sie tippte auf ihre Uhr, »die mir sagt, dass wir jetzt viel Zeit zum Nachdenken haben.«
»Oh ja, Sie haben es fast!« Er versuchte, den Strahlemann zu mimen.
»Ich sehe fremde Menschen um mich herum und welche, die sich per Zufall gerade kennenlernen. Ich sehe Männer und Frauen, und ich sehe Sie.«
Sein hässliches Grinsen kehrte zurück. Er entblößte schiefe Zähne mit einer markanten Zahnlücke. Wahrscheinlich hatte er mal eine auf die Fresse gekriegt.
Aus netter Geste grinste Linda nun zurück und sagte dennoch zu ihm: »Ich empfinde Sie als einen nervenden Mann.«
»Oh!«, sagte der Bursche. »Wie soll ich das jetzt verstehen?«
»Na, ganz einfach. Eben so, wie Sie es sehen wollen. Aber ich glaube, die hübsche Frau dort drüben wollte gerade von Ihnen etwas wissen.«
Der junge Bursche, er wunderte sich sehr, drehte den Kopf in die gewiesene Richtung. Neugierig drehte er sich ganz. Er reckte und streckte seinen Körper, er positionierte sich. Doch anstatt einer hübschen Frau konnte er lediglich eine alte Schabracke erkennen. Er riss die Augen auf und erfasste schnell die Details: Doppelkinn, Hängetitten, Reiterhosen – vermutlich Cellulitis. Die Waage dürfte mindestens bei 220 Pfund anschlagen. Die will mich wohl blank verarschen? dachte er. Scheiß auf Miss Piggi! Enttäuscht drehte er sich wieder um.
Linda saß bereits in ihrem Auto und hatte die Schotten dicht gemacht. Es war ihr einerlei, was dieser Bursche jetzt auch denken mochte. Sie kannte die Masche, solch plumpe Anmachen der Aufreißertypen, die keine Gelegenheit ausließen, um ihren Trieben nur freien Lauf zu lassen. Und mal andersherum gesehen: Linda Anderson betrachtete sich selbst als eine berechnende Jägerin. Nicht als das Freiwild für jagende Burschen, die gerade für sich die neue Aufreißersaison eröffnet hatten. Sie allein bestimmte, wo, wie und wann es passieren könnte. Sie, eine selbständige Frau, die mit beiden Beinen fest im Leben stand. Sie war unabhängig und frei. Man achtete sie – sie und all das, was sie eigenständig als Künstlerin erschaffen hatte. Sie wünschte diesen Respekt. Sie erwartete das auch in ihren Kreisen. Sie war nicht bereit, restlos alles mit den Herren der Schöpfung zu teilen. Sie hatte ganz finstere Gedanken dabei.
Der Bursche war völlig baff. Er hatte soeben einen Korb bekommen. Er knirschte mit den Zähnen. Das hatte er so nicht erwartet – diese kalte Schulter an so einem warmen Tag, wo die Menschen gerade im Begriff waren, etwas enger zusammenzurücken. In welcher Welt sie lebte, darüber konnte er nur rätseln. Sie musste vom Kleingeist beherrscht und besessen sein, malte er sich zusammen, wo er doch extra für sie gerade seinen eigenen Geist öffnen wollte. Er hatte sich Mühe gegeben, doch offenbar lag er völlig daneben. Sein Charme schien an ihr vorbei geflogen zu sein, und trotzdem fragte er sich, was wohl hinter dieser Fassade stecken könnte. Eine Coole? Eine Schrulle vielleicht? Eine, die in Wirklichkeit vom anderen Ufer war? Ach, hätte ich mir doch gleich denken können, redete sich der Macho im Burschen ein. Kleine Lesbe, kleines Aas du!
Er schielte noch einmal zu ihr hinüber und grinste dann wieder. Sie sah es aber nicht, oder wollte es gar nicht mehr sehen. Auch er verschwand schnell wieder hinter dem Lenkrad seines Autos. Es war die eigentliche Wirklichkeit, in der sie lebten.
Drei volle Stunden verstrichen. Drei Stunden, die den meisten Wartenden wie eine halbe Ewigkeit vorkamen. Die Rauchsäulen waren inzwischen verschwunden. Der lokale Radiosender meldete zwischenzeitlich Genaueres. Es handelte sich um einen Tanklastzug, der gegen einen Brückenpfeiler gerast war. Er soll Kerosin geladen haben. Was damit Explosives passierte, das sah man ja bereits aus kilometerweiter Entfernung. Technisches Hilfswerk und der Wasserrettungsdienst waren im Einsatz. Teile vom Brückengeländer sollen zerstört worden sein. Vier Autos, wie man berichtete, landeten in den Fluten des Sankt-Barrabas-Stroms. Fünf Menschen ertranken dabei – fünf weitere dagegen konnten gerettet werden. Im Brückenbereich, direkt am Brandherd, soll außerdem eine Massenkarambolage stattgefunden haben. Dort verbrannten drei Menschen in ihren Autos. Über die Anzahl der Verletzten konnten bislang keine genaueren Angaben gemacht werden. Man nahm alles zur Kenntnis, man fühlte sogar in gewisser Weise mit. Aber am meisten hoffte man nach wie vor, dass sich der unfreiwillige STOP dann möglichst schnell wieder auflösen würde.
Weitere Zeit verstrich. Sogar Stimmungen und Erwartungen änderten sich: Linda saß wie abgeschirmt in ihrem Wagen. Ein Buch hatte sie zur Hand. Der Menschenfresser! Und sie konnte es kaum glauben, dass dieses Buch sie so ungemein fesseln würde. Sie hatte in ihrem Leben gewiss schon allerlei Gruselgeschichten gelesen wie zum Beispiel ›Die Männer vom Schlachthof‹ oder noch derber: ›Das Schlachten auf dem Schlachtfeld‹ oder ›Das kalte Grab‹. Doch das Buch, das sie jetzt in den Händen hielt, schoss dem Fass wahrlich den Boden raus. Es ging um fressen und gefressen werden. Es beschrieb die Verführung und eine abartige Lust bis hin zu Exzessen und die Gier nach dem Fleisch. Die Befangenheit und die Einsamkeit, das Gefühl, nicht offen darüber sprechen zu dürfen. Abtrünnige, die davon besessen waren, eine Schwelle zu überschreiten, die alle Moral- und Ethikvorstellungen der Gemeinschaft sprengte. Es handelte sich um keine wirklich schönen Taten, die in diesen abgrundtiefen Zeilen beschrieben standen. Das Buch eröffnete dem Leser eine kalte und gefühllose Welt, die sich jenseits vom Trugbild einer scheinbar warmherzigen Realität erstreckte. Es war das blanke Grauen, das sich in der Dunkelheit verbarg. Der Irrsinn aus einer verschwommenen Welt der Geister. Blut, Fleisch und seelischer Müll verzerrten sich zu einer Abstraktion, zu erfahren, wie es ist, wenn Urtriebe und das Verlangen übermächtig von einem Besitz ergreifen. Es ging weniger um das Stillen des Hungers in Verbindung mit dem Töten, nur um eine Weile länger existieren zu können. Vielmehr ging es darum, die Gier des Räubers zu stillen, die Blutrünstigkeit, die sich an irgendeiner Stelle in jedem Menschen versteckte. Das Monster, das herausspringen wollte – aus den Zeilen, aus dem Verstand – ohne Schuldgefühle, Reue und Angst.
Der normal denkende Durchschnittsbürger hätte das Buch vermutlich als anrüchige Schund- und Schmutzschwarte empfunden, es sicherlich weggeschmissen oder gleich besser verbrannt. Anders jedoch Linda. Tief steckte sie drinnen in der Materie und sie hatte das Gefühl, dass es zwischen dem Buch und ihr eine gewisse Verbindung geben könnte. Womöglich ein unsichtbares Band. Sie fühlte sich keineswegs abgestoßen, sie fühlte sich sogar mehr inspiriert davon: Hielt sie hier etwa den Leitfaden ihres Lebens in der Hand? Sie, diejenige, die sich normalerweise von nichts und niemanden lenken, leiten und verführen lassen wollte? Noch hatte sie das Kommando über ihre Sinne und Taten. Das glaubte sie zumindest. Und doch konnte sie den dunklen Pfad zur anderen Seite schon förmlich vor ihren eigenen Augen sehen. Es war der Pfad des Schicksals, der das Leben bestimmte.
Sie hatte eigentlich längst eine Bestimmung, und die war das Malen und kreieren von Kunstwerken. Sie hatte vielleicht noch eine andere Bestimmung. Aber sie war überzeugt, dass ihr Schicksal ganz in ihren eigenen Händen lag. Das musste so eine Gratwanderung auf des Messers Schneide sein.
Linda hatte Zeit – ganz im Gegensatz zu ihren rastlosen Artgenossen, deren einziges Bestreben im Moment das reine Weiterkommen war. Sie hatte zwar nicht die Zeitlosigkeit gepachtet, aber sie konnte wenigstens mal darüber nachdenken. Das grenzte bald an so etwas wie der Versuch einer Zeitverzerrung im Selbstbetrug, denn als endlich wieder Bewegung in die endlose Blechschlange kam, fand sie das natürlich genauso in Ordnung. Das Buch legte sie zwar beiseite, aber die Gedanken daran ließen sie jetzt nicht mehr so einfach los. Plötzlich galt es Dinge zu erledigen, von denen sie bis vor kurzem noch gar nicht wusste, dass ihr diese einmal als wichtig erscheinen würden. Sie hatte da ganz spontan etwas ins Auge gefasst.
Im ständigen STOP END GO schob sich die Blechkolonne den Highway hinab. Linda blieb weiterhin mit ihrem Wagen ganz rechts in der Spur. Man konnte jetzt deutlich die Stahlbetonbrücke über den Strom sehen. Weiter vorne regelten Einsatzkräfte den Verkehr. Unten im Wasser befanden sich vier Schiffe, die ihre Position hielten. Darunter auch die Wasserschutzpolizei. Ob sie gerade die abgestürzten Autos bargen oder immer noch nach Opfern suchten, war nur schwerlich zu erkennen. Am Anfang der Brücke waren dann die zwei äußeren Fahrspuren gesperrt. Das vermeintliche Nadelöhr. Linda musste nach links rüberwechseln. Der Verkehr stockte. Wieder kam es zum Stillstand. Es roch verbrannt. Der Dunst über der Brücke hatte sich noch nicht ganz verzogen.
Nach gut zehn Minuten wurde Linda von den Einsatzkräften aufgefordert, weiterzufahren. Im Schneckentempo ging es dann über die Brücke. Der Brennpunkt rückte näher. Quer über die gesperrten Fahrbahnen verliefen deutliche Bremsspuren. Großflächig bedeckte verstreutes Ölbindemittel die Oberfläche. Leitplanken waren deformiert, rechts wie links. Mehrere Autowracks standen an der Seite. Menschen saßen keine mehr drinnen. Plötzlich fehlten Leitplanken und Brückengeländer ganz. Stahlstreben und -Blech waren nach außen gebogen. Hier musste sie sein, die Stelle, wo es zum Absturz kam. Die Bergungsschiffe waren jetzt deutlich zu sehen. Rettungsmannschaften suchten im Wasser.
Linda sagte sich – beinahe selbst schon gefühlskalt geworden: Wer sucht, der findet. Die Suche hat gerade eben erst angefangen … Vom ausgebrannten Tanklastzug war nichts weiter zu sehen. Sie tippte darauf, dass man ihn bereits abtransportiert hatte. Dennoch wirkten Teile der Brückenkonstruktion und der Fahrbahn ziemlich verbrannt.
Kurz hinter dem Brennpunkt standen ein Notarztwagen und ein Krankentransporter. Ein Mensch lag auf einer Liege. Zwei weitere Personen wurden im Sitzen ambulant versorgt. Von vorn, drüben im abgesperrten Bereich, kam der Abschleppdienst angerollt. Ein weiterer Einsatzwagen folgte. Linda sah alles rein objektiv. Sie war nicht der Typ, dem nach ausmalen und spekulieren sann. Mitfühlende Emotionen? Blanke Fehlanzeige. Sie fühlte sich von anderen Dingen ergriffen. Was sie gesehen hatte, was jetzt hinter ihr lag, war nicht wirklich mehr wichtig. Es gab keine Angst, kein Erschaudern und auch keine Ehrfurcht vor den Elementen. Wichtig war nur eines: Dass sie so langsam erkannte, wohin sie im Leben eigentlich wollte.
Hinter der Brücke kam die nächste Abfahrt in Sicht. Sie führte zu einem Gewerbepark. Aber auch diese Abfahrt hatte die Verkehrspolizei für den Durchgangsverkehr gesperrt. Man konnte sich denken, dass über die Anschlussstelle der Abtransport der Autowracks erfolgte. Gleich dahinter war der Verkehr dann auf allen drei Fahrspuren wieder freigegeben.
Linda gab Gas. Andere Fahrer, die folgten, waren nun nicht mehr zu bremsen. Es musste der Zeitverlust und die Wut im Bauch sein, die die Unverbesserlichen das Gaspedal durchtreten ließ. Offenbar hatte man schon wieder verdrängt und fast vergessen, was eben erst auf der Brücke geschehen war. Aber auch das lag wohl irgendwie in der Natur des Menschen, und wie im Sog einer übermächtigen Sucht nach Benzin und Geschwindigkeit rauschte die Rastlosigkeit an Lindas Mustang vorbei.
Linda für sich atmete tief durch. Um eine Erleichterung oder gar Befreiung wegen der stundenlangen Behinderung ging es ihr dabei nicht. Für sie war es mehr das befreiende Durchatmen und das Loslassen von einem zurückgelassenen Lebensabschnitt.