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SM – INTERNATIONAL

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Als Einkaufsmeile konnte man die Straße nicht gerade bezeichnen, über die Linda mit ihrem Mustang rollte, und überhaupt: Der Wagen passte in keiner Weise zu ihrer eigenen Erscheinung – geschweige denn zu dem Fahrstil, den sie an den Tag legte. Der Wagen gehörte mit zu den Hinterlassenschaften von ihrem Vater. Über fünf Jahre war es nun mittlerweile her, seitdem er aus dem Leben verschieden war. Trauer empfand sie deswegen keine mehr. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie jemals so etwas wie Trauer für ihn empfunden hatte. Denn sie wusste ja, warum: Er wollte offenbar verscheiden, trotz der vielen Warnungen, die aus seinem Umfeld kamen. Von Freunden, Bekannten und Verwandten, die es sicherlich mit ihm keineswegs nur zum Schlechtesten meinten. Die ärztlichen Diagnosen standen klar. Er ignorierte die dunkle Bedrohung. Er konnte nicht lassen vom Alkohol und dem Rauch der Verführung, der Sucht, die die innere Sehnsucht stillte. Nur leider betrieb er damit ebenso Raubbau am eigenen Körper und nicht weniger an seinem Verstand. Der Krebs hatte sich an ihn herangeschlichen, um von seinen Organen Besitz zu ergreifen. Das parasitäre Geschwür, das sein Leben zerstörte. Er zerstörte selbst sein Leben, und Linda konnte es oft genug live miterleben. Am Ende war er kein Mensch mehr, an dem sich das Umfeld noch irgendein positives Beispiel nehmen konnte. Was blieb, war lediglich die Erinnerung an eine fernere Vergangenheit. An viel glücklichere Tage. Linda erinnerte sich noch genau, wie die Augen ihres Vaters einstmals echte Lebensfreude und das Vaterglück spiegelten. Eine Erinnerung, die jedoch inzwischen mehr und mehr verblasste.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite entdeckte Linda ein Geschäft mit der auffälligen Reklame: SM-STUDIO – INTERNATIONAL. Wie originell, dachte sich Linda. War dies etwa die Anlaufstelle, nach der sie heute gesucht hatte? Und nun plagte sie einmal mehr die Neugierde, ihre Nase dort hineinzustecken. Die Lust, ein Verlangen zu stillen.

Linda bog nach links ab und parkte den Mustang direkt auf dem Kundenparkplatz. Sie rückte ihre Sonnenbrille zurecht, denn sie wollte nicht unbedingt gleich erkannt werden. Obwohl sie eigentlich davon ausging, dass sie hier in dieser eher weniger wohlhabenden Gegend vermutlich kaum jemand aus ihrem Bekanntenkreis antreffen werde.

Im Geschäft, es war größer und geräumiger als von außen erwartet, roch es nach Leder und Lederpflegemittel. Und schon von Anfang an war so ziemlich klar: Wer hier die ganz schrille Aufmachung suchte, der war völlig fehl am Platz. In den Regalen, an den Wänden und selbst unter der Decke dominierten die Farben Grau, Braun und Schwarz. Viel Metall war zu sehen. Ringe, Nieten und Ketten; Messer, Schwerter und Äxte. Linda lief an einer mit Leder bezogenen Streckbank vorbei. Dahinter stand eine Art Gynäkologenstuhl. Es sah nicht unbedingt danach aus, dass dieser es wirklich gut mit dem „Patienten“ meinen würde. Wer sich darauf setzen tut, dachte sie so, muss wohl eher ein kleiner Wahnsinniger sein. Ein Arbeitstisch stand gleich daneben. Oben auf lagen diverse Utensilien. Klammern, Zangen und Scheren. Lederriemen zum Schnüren. Eine riesige Spritze lag bereit. Vielleicht möge es ursprünglich sogar eine Pferdespritze gewesen sein. Jedenfalls deutete es für den Betrachter schon mal an, was dem Konsumenten im Extrembereich alles erwarten kann. Im Mittelpunkt der Präsentation stand ein Set mit silbern glänzenden Nadeln unterschiedlicher Größe. Wann und wofür diese Art der Behandlung zum Einsatz kommen kann, darüber konnte jeder Betrachter ganz im Stillen für sich allein spekulieren. Von irgendwelchen Betäubungsmitteln war keine Spur zu sehen. Der körperliche und seelische Schmerz schien auf diesem Stuhl bestimmend zu sein. Oder auch mehr die Lust am Schmerz. Unter der Decke waren Netze gespannt. Fast wirkten sie, als sollte hier ganz gezielt etwas getarnt werden. Das Verbotene vielleicht, der Operationssaal der Besessenen möglicherweise, der so sicherlich nicht für den Durchschnittspatienten infrage kam. Direkt über dem Stuhl der Offenbarungen war die Arbeitsbeleuchtung installiert. Zwei große Lampen und mehrere kleine Strahler, die offensichtlich das Licht entsprechend bündeln konnten, um gewissermaßen das Detail genauer auszuleuchten. Sogar eine flexible Rotlichtlampe – extra höhenverstellbar – war im Bestand mit vorhanden. Ob nun aber gewissermaßen die Wohlfühl- oder eher die Schmerztherapie ihr Hauptaufgabengebiet sein mochte, konnte man rein äußerlich nicht erkennen. Vermutlich aber beides. Der echte Masochist verband ja schließlich Lust- und Wohlgefühl in erster Linie mit Schmerz. Ein Laser-Pointer machte dann insgesamt die Beleuchtungseinheit perfekt.

Linda inspizierte den Stuhl von allen Seiten und sie war sich inzwischen vollkommen sicher, dass, wenn hier einer am werkeln wäre, es dann gewiss nicht der nette Gynäkologe von nebenan sein würde. Hier ging es um Fleischbeschauung, Knebelung und handfeste Fleischbearbeitung. Manche Werkzeuge waren offenbar rein zur Erlösung von körperlichen und seelischen Qualen erdacht. Der Stuhl – das Werkzeug – die Beleuchtung. Und wie sah Linda aus eigener Sicht die Attraktion des Hauses? Sie sah einen Folterstuhl in einem abgeschirmten Folterkabinett. Das hatte etwas Faszinierendes an sich.

Um die Ecke lud eine kleine Ausstellung zu neuen Anregungen ein. Wie auf einer Tafel wurden verschiedene Masken präsentiert. Gummi-Masken, lederne Masken, Masken aus kleinen Kettenringen – feinmaschig und flexibel. Masken, die aus großen Fischschuppen zusammengesetzt waren, einige davon glänzten wie Perlmutt. Auch die klassisch-massiv eiserne Maske lag im Angebot aus. Die durfte sicherlich in keiner ausgewogenen Sammlung fehlen. Das gute Stück musste bestimmt an die sieben bis acht Kilogramm auf die Waage bringen, wie Linda befand, nachdem sie die Maske kurz angehoben hatte. An den Seiten und am Hinterteil der Maske waren Scharniere zum Öffnen und Schließen angebracht. Zwei kleine Spezialschlösser versiegelten das Utensil, das nach Zweckmäßigkeit hauptsächlich zum Gefangennehmen und zum Erniedrigen eingesetzt werden konnte. Eine solche Maske über einen längeren Zeitraum zu tragen, konnte mit Sicherheit nur Leid, Qual und niemals endende Kopfschmerzen bedeuten.

Am Ende der Tafel stand sie dann wie eine Trophäe, die Büste des leidenden Mannes erhöht auf einem runden Marmortisch. Das Gesicht war zu einer seltsam wirkenden Fratze verzogen. Man sah ihm an, dass ein langer Leidensweg dahinterstecken musste. Um die Büste herum lagen sechs schmiedeeiserne Halsbänder. Jedes einzelne davon wurde jeweils am Ende der angedeuteten Pentagramm-Ecken platziert. Die satanischen Verbindungslinien hatte man in Goldbronze auf schwarzen Leinen aufgedruckt. Die Halsbänder waren teils mit Nieten – teils mit spitzen Dornen beschlagen. Kleine silberne Totenköpfe zierten eines davon. Und schräg gegenüber gähnte sogar ein „echter“ Totenschädel. In den finsteren Augenhöhlen glimmte intervallartig das rote Leuchten des Terminators auf. Es ließ das Böse erahnen. Hier musste definitiv der Teufel mit im Bunde sein.

Alles schien so platziert, dass der Blick wie automatisch zu einer pechschwarzen Wand fiel. Hoch, breit und irgendwie auch in die Tiefe wirkte diese, als ob dahinter noch eine andere abgrundtiefe Welt im Verborgenen läge. Mystische Symbole und Ornamente zierten die Wand. Vermutlich gab es hier eine Verbindung zum Okkultismus. Aber in erster Linie präsentierte die Wand dem Kunden ein ganzes Sortiment an großen und kleinen Peitschen der unterschiedlichsten Art. Daneben hingen Schwerter, Messer und Sicheln. Zwei gekreuzte Äxte, offensichtlich mehr Streitäxte, rundeten das Bild entsprechend ab. Für was die wohl gedacht waren, darüber musste niemand großartig spekulieren.

Linda interessierte sich besonders für das umfangreiche Peitschensortiment. Sogleich machte ihre Fantasie einen Sprung und sie stellte sich lebhaft vor, was sie damit so alles anfangen kann, was sie insbesondere den Männern damit antun könnte. Doch halt! Sie blieb stehen. Am besten gefielen ihr die Peitschen, die aus Leder gefertigt waren. Sie stand auf Leder, und das nicht erst seit vorletzter Woche. Glattes geschmeidiges Leder, geriffeltes Leder und geflochtenes Leder. Es waren allesamt recht griffige Stücke. Vor dem inneren Auge sah Linda sich schon selbst die Peitsche schwingen. Sie, die angehende Domina. Sie fasste eine der Peitschen an. Das dreischwänzige Stück lag ziemlich gut in ihrer Hand, und ihr war, als höre sie bereits irgendwo in der Ferne den Peitschenknall krachen: Pizzz – peng, pizzz – peng!

Es gab sogar einige Spezialanfertigungen aus geflochtenem Bast, auch welche aus Dederondraht und sogar eine Peitschte, die hauptsächlich aus flexiblen Kabeln bestand. Sie schien für die ultimative Prozedur geeignet zu sein. Vielleicht kann man ja mit ihr Elektroschocks austeilen, stellte sich Linda vor, die dem zu Bestrafenden dann das Fürchten lehren. Oder aber dieses Ding beschert kleinen Perverslingen so etwas Ähnliches wie einen entarteten Orgasmus. Ob er dabei auch ejakulieren würde?

Unerwartet setzte leise Musik im Hintergrund ein. Linda wunderte sich. Noch hatte sie niemanden gesehen. Der Klang kam von alle Seiten und erinnerte ein wenig an dunkle Gruftimusik. Sie kam von oben und unten, als wenn in der Decke und im Fußboden gleichermaßen Lautsprecher installiert gewesen wären, und irgendwie wirkte der Rhythmus tief durchdringend. Aber Linda fand gefallen daran. Sie ging ein paar Stufen hinauf. Stufen und Boden waren mit rotem Filz ausgekleidet. Sie glaubte, eine kleine Bühne zu betreten. Überall auf dem Boden lagen Ketten umher. Ketten mit Handschellen und ebenso viele mit Fußschellen; Ketten mit Halsbändern und kombinierte Ketten. Sogar von der Decke hingen Ketten herab.

Weiter hinten verbarg sich etwas in Menschengröße hinter dunklen Schleiern. Eine Art sehr feinmaschiger Netze, die rundherum gespannt waren. Und jetzt bemerkte Linda den Schatten, der von links nach rechts über die Bühne huschte. Angst hatte sie deswegen keine. Das Personal musste ja schließlich auch irgendwo abgeblieben sein – der Besitzer oder ein Verkäufer, ein guter Berater zumindest. Linda packte die Neugierde. Entschlossen schob sie die hochgespannten Netze zur Seite und lichtete den dunklen Schleier. Fast hatte sie es sich gedacht. Da hing eine männliche Schaufensterpuppe in der Luft – hochgezogen an glänzenden Ketten, die über zwei Flaschenzüge unter der Decke geführt wurden und am anderen Ende wieder zum Boden herunterhingen. Um die Handgelenke der Puppe und genauso um die Fußgelenke waren Fesselringe gespannt. Zwei weitere Ketten – sie spreizten gleichzeitig die Beine auseinander – waren jeweils rechts und links unten am Boden verankert. Der Gummipuppenmann hing trostlos herab. Er hatte eine Gummihose über, echte Gummischuhe an und sogar extra eine Gummimaske auf. Ob er auch in der Hose einen Gummischwanz hat? fragte sich Linda. Sie tastete danach. Es gab keinen Schwanz. Es gab nur ansatzweise eine geformte Ausbeulung. Nichts Wirkliches. Eben nur eine Puppe.

Und trotzdem: Die Eindrücke und Vorstellungen blieben. Wie auf wundersame Weise regte das große Gesamtbild Lindas ohnehin lebhafte Fantasie noch eine Idee mehr an. Nur eine Sekunde …, im Geiste war sie voll in ihrem Element: Ein Mann in Ketten – hochgezogen unter die Decke. ›Sieh mich an, du gefangener Mann, sieh mich an! Gestehe mir deine Sünden, die du begangen hast. Los, gestehe!‹ Die Peitsche knallte auf ihn hernieder. ›Du sollst büßen, du sollst leiden und du sollst schmoren im Saft deines eigenen Fleisches. Brenne im Feuer der Hölle, das lodernde Feuer, das nach deiner verdorbenen Seele trachtet. Brenne, du abartiges Schwein!‹

Sie hatte da so eine Vision: Hoch erhoben schwang sie die geißelnde Peitsche, die den knisternden Funken auf das lüsterne Fleisch überspringen ließ. Qual und Verdammnis – Elend und Leid, ein gemarterter Körper schwebend durch die höllische Ewigkeit. Nichts war hier echt, nichts spielte sich wirklich ab. Es war nur eine reine Gedankenwelt, die nach ihrer Erfüllung sehnte, und doch ganz bewusst jetzt schon die Gegenwart mit bestimmte.

Im Hintergrund auf einer halbkreisförmigen Leinwand dominierten finstere Gestalten, die durch den Raum zu geistern schienen. Sie hatten riesige Klauen und weit aufgerissene Mäuler, Augen, in denen sich Furcht einflößendes Grauen und der Schrecken spiegelte. Manche Klauen schienen nach dem Manne zu greifen, der so leblos im Mittelpunkt der Bühnenszene hing. Es war wie ein unsichtbarer Bann, der den Betrachter selbst in fesselnde Ketten legte. Hinab in eine abgrundtiefe Welt zog – hin zu Orten, die jenseits von Gut und Böse lagen.

Auch Linda fühlte sich wie magisch gezogen von diesem Bann. Sie hatte nun gefunden, nach was sie schon jahrelang suchte. Das Werkzeug zur Knechtung, das sie benötigen würde, um ihr eigenes Werk der Schauerlichkeit zu vollbringen.

Ein Mann trat in Erscheinung, als Linda wieder die Treppenstufen zum Verkaufsraum hinunter stieg. Der Mann, groß und kräftig von Statur, musste sicher einer der Verkäufer sein, nachdem zu urteilen, was er geradewegs durch die Räumlichkeit trug. Offensichtlich einen Stapel neu angelieferter Lederklamotten. Kurze Röckchen oder auch Höschen, zumindest sah es danach aus. Des Mannes Mine wirkte nicht sonderlich überrascht, eher routinemäßig gefasst, und doch erhellt freundlich. Irgendwie das Gegenteil zum SM-Sortiment der „Schmerzbereitung“. Er blieb stehen und blickte direkt: »Und, werte Frau, schon fündig geworden?«

»Ich denke, ich habe da etwas entdeckt«, sagte Linda recht zuversichtlich. Ein verschmitztes Lächeln konnte sie sich dennoch nicht verkneifen.

Der Verkäufer grinste und sagte: »Ich lege nur schnell die Sachen ins Regal, dann stehe ich Ihnen voll und ganz zur Verfügung.«

Wie meint er denn das? fragte sich Linda. Quatsch, dachte sie. Sie verwarf. Er ist der Verkäufer, der lediglich den Verkauf zu tätigen hat. Was denke ich nur …? Sie versuchte, den Schalter im Kopf wieder auf Realität umzulegen. Das war gar nicht so einfach, wenn auf Schritt und Tritt das Aufnahmezentrum von Eindrücken überschwemmt wurde, die ganz automatisch den Verstand des Konsumenten durcheinander wirbelten. Und davon abgesehen: All das herumliegende Zeug war gewissermaßen auch sehenswert, weil es mit der intimen Privatsphäre, Heimlichkeiten und dem Besonderen, vielleicht sogar verbotenen Spielen zu tun hatte. Die meisten Menschen kannten das prickelnde Gefühl, besonders wenn es um das Verbotene ging. Dann wollte meist die Neugierde das Geheimnis von ganz alleine lüften – selbst bei bestehender Gefahr.

Gelassen räumte der Verkäufer seine mitgebrachten Sachen ein. Eile und Hektik schienen seine Natur nicht zu bestimmen, weshalb Linda noch einen kleinen Abstecher in die Gummischnullerabteilung machte. Und gleich beim ersten Blick auf die präsentierte Ware bekam sie große Augen. Gewaltige Dinger standen in den schwarzen Wandregalen, einige davon bis zu einem halben Meter lang.

Wer soll sich nur solche Monsterpenisse in den Unterleib stecken? Arme Vagina, dachte sich Linda. Aber sie wusste ja, dass sie hier quasi durch den Vorgarten einer sadistisch geprägten Welt lief. Einer Welt für sich! Sie wollte unbedingt mehr davon sehen.

Die Penisse wurden kleiner, so dass diese den Tatsachen schon etwas näher entsprachen. Was fehlte, waren die grellen Farben. Schwarz und braun dominierte wie so ziemlich überall im Laden. Doch gab es auch welche im Design „Natur“. Ob nun passend oder weniger passend zum Hardcore-Sex-Milieu – natürlich durften die Gummimuschis und Gummiärsche ebenso wenig fehlen. Gleich daneben lagen noch Gummititten und irgendwelche Gummikugeln. Analluststäbe?! Es waren Penisse und Analluststäbe kombiniert. Weiter oben standen männliche und weibliche Gummipuppen in Lebensgröße. Allesamt hatten sie Masken auf. Batman und Batgirl ließen grüßen. Keine von denen hatte einen wirklich netten Gesichtsausdruck. Sie wirkten so kalt ohne jede Spur von Wärme und Mitgefühl, was wohl auch keinesfalls im Vordergrund stand. Schließlich ging es hier nicht um Liebe und Leidenschaft. Es ging um Härte, Zwang und Kontrolle.

Zwei neue Kunden betraten die Schnullerabteilung. Ein Mann und eine Frau. Beide trugen von Kopf bis Fuß reinschwarze Lederklamotten. Der Look: vielleicht ein wenig in die Jahre gekommen. Schirmmützen krönten ihre Häupter. Der Mann – eher klein von Statur. Er sah ein wenig aufgeschwemmt aus. Die Frau – schlank und rank. Groß war ihre Erscheinung, sie wirkte schon mehr dominant. Offensichtlich waren beide ein Pärchen, so wie sie Hand in Hand dahergelaufen kamen. Sie schauten und reckten die Hälse, dann grienten und kicherten sie auf einmal drauf los. Sie deuteten auf etwas, das Linda von hinter dem Raumteiler aus nicht sehen konnte. Aber es musste ganz sicher irre komisch sein. Zumindest für die beiden.

Niemand im Studio sagte: Guten Tag! Man dachte nicht einmal daran, dies zu wünschen. Man verschaffte sich nur einen Überblick. Von einem verklemmten Auftreten jedoch – keine Spur. Weder Spannung noch Harmonie lagen in der Luft. Dafür bestach der dezente Ledergeruch wie eine allgegenwärtige Droge.

Linda griff nach einem „natürlich“ wirkenden Vibrator, der ihr besonders gut gefiel. Ein handfestes, zirka 20 Zentimeter langes Utensil. Das Pärchen in Schwarz stöberte ebenso angeregt in der großen Kramecke der Vibratoren, bis sie nur einige Meter weiter die Analluststäbe entdeckten. Plötzlich waren sie Feuer und Flamme.

Sie stehen auf Arschficken, reimte sich Linda zusammen. Er fickt sie … Nein. Sie fickt ihn.

Hinter Linda tauchte wie dazubestellt der Verkäufer auf. Er brachte noch mehr Vibratoren in durchsichtigen Verpackungen mit. »Ah!«, sagte er erfreut, als er Linda mit dem Freudenspender in der Hand sah. »Wie ich sehe, haben Sie sich bereits entschieden.«

»Das möchte ich meinen.«

»Ich habe hier noch weitere Exemplare. Möchten Sie kurz schauen?«

Linda schaute. »Viel zu glatte Oberfläche«, sagte sie. Eigentlich wollte sie gleich zur Sache kommen. Aber in Anwesenheit von diesem Pärchen? So freizügig war sie nun auch wieder nicht. »Ach, ich hätte da noch ein ganz spezielles Anliegen …« Sie wies zur schwarzen Wand hinüber. »Könnten wir bitte?«

Der Verkäufer verstand natürlich. Er legte seine Mitbringsel beiseite und folgte seiner neuen Kundin. Er hatte es im Gefühl, dass sie etwas Besonderes war. Der Gang, die Haltung, das Interesse für das Detail. Alles bekannte Signale, sie waren ihm bestens vertraut.

Entschlossen schritt Linda voran – geradewegs rüber zur Peitschenpräsentation. Ihr Verkäufer schmunzelte hinter ihr; er hatte bereits Zettel und Stift zur Hand, um zu notieren. Er witterte es förmlich, das große Geschäft des Tages. Die Kasse konnte er jetzt schon ordentlich klingeln hören.

Vor den dreischwänzigen Lederpeitschen blieb Linda stehen und deutete mit dem Vibrator – ihr neuer Zeigestab – auf das Objekt der Begierde. »Diese da, genau die Peitsche da!«, sagte sie barsch, als ob die Rollenverteilung bereits jetzt genau festgelegt wäre. Sie ging ein Stück weiter. »Und auch diese da …«

Der Verkäufer notierte.

»Dann kommen Sie mal mit!«

Oh! Sie ist die neue Herrin im Haus, dachte sich der Verkäufer. Aber er spielte ein bisschen das kleine Spielchen mit.

Das Folterkabinett ließen sie links liegen. Linda hatte in diesem Punkt ihre ganz eigenen Vorstellungen. Sie stieg zur Bühne hinauf und schob die feinmaschigen Netze auseinander. Der trostlos ausschauende Puppenmann hing noch immer in seinen Ketten. Hatte sie auch nicht anders erwartet. Mit der Penisattrappe in der Hand winkte sie den Verkäufer näher zu sich herüber.

Oh, sie ist sicher eine von der ganz dominanten Sorte! reimte er sich zusammen. Sie ist hart, sie ist entschlossen, sie will es sicher wissen. Er konnte die Dominanz in ihren Augen leuchten sehen.

»Haben Sie das auch auf Lager?«, fragte Linda entschlossen.

»Was, den Gummipuppenmann?«

»Nein, den brauche ich nicht. Ich meine das ganze Kettenzeugs hier …«

»Ah so!«, sagte der Verkäufer verstehend. Er schaute kurz nach einer Kennnummer auf einem Fußfesselband. »Alles auf Lager«, bestätigte er.

»Auch die Flaschenzüge unter der Decke?«

»Auch die …«

»Also, ich nehme alles, was man zum Fesseln, Knebeln, Ketten und Hochziehen einer Person benötigt. Ich meine, einer Gummipuppe natürlich«, verbesserte Linda. Sie grinste.

Das klang doch wie Musik in den Ohren des Verkäufers. Er notierte. »Und Sie haben bereits eine Puppe?« Auch er grinste.

»Aber sicher doch, der beste und treueste Spielgefährte, den man sich nur vorstellen kann«, behauptete Linda, ohne mit der Wimper zu zucken.

O Gott! Ein lebloser Spielgefährte, der sich nicht wehren kann. Moment mal! Der beste und treueste Spielgefährte des Menschen ist immer noch der Hund. Sie quält vielleicht ihren Hund. Sie legt ihn in Ketten. Ob sie es ihm auch besorgt? Er ihr womöglich? Er versuchte, neutral zu denken. Sicher bindet sie mir nur einen Bären auf … »Die Ketten für die Flaschenzüge dann vier, fünf oder sechs Meter lang?«

»Fünf klingt ganz gut. Das dürfte ausreichend sein.« Linda sah zur Decke hinauf. »Die Verankerung der Flaschenzüge ist aber nicht weiter problematisch, oder?«

»Kommt ganz auf die Stabilität ihrer Decke drauf an. Aus was besteht sie denn?«

»Ich nehme mal an, dass es Stahlbeton sein müsste.«

Der Verkäufer winkte ab. »Passt bestens«, meinte er. »12er Bohrer, 12er Dübel und die Schrauben bekommen Sie sogar gleich von uns mitgeliefert. Benötigen Sie eventuell Hilfe?«

»Wozu?«

»Na, beim Installieren.«

»Ähm …« Linda fühlte sich irgendwo ertappt. Es muss sicher am Unterbewusstsein liegen, dachte sie. »Ich denke mal, dass ich das ganz gut alleine schaffe. Ist doch ein Kinderspiel, so ein paar Löcher bohren, Dübel einführen, schrauben und aufhängen …«, posaunte sie daher. »Trauen sie denn uns Frauen so etwas nicht zu?« Das war es doch sicher, was er mir sagen wollte.

»Okay, okay …«, sagte der Verkäufer. »Sie sind natürlich die perfekte Heimwerkerin.« Hätte er sich ja gleich denken können. Er notierte: Bohrer, Dübel, Schrauben. Sie will nur keinen in ihre Bude reinlassen, sprach die Erfahrung in seinem Verstand. Keiner soll es sehen, keiner soll merken, was geschieht hinter ihren verschlossenen Türen. Sie und er, das ES schreiend in der Folterkammer. »Benötigen Sie noch Gleitfett für die Ketten?«

»Gute Idee. Da flutscht die Sache doch gleich viel besser, jedenfalls beim Hochziehen, meine ich.« Linda stieß den Gummipuppenmann an, sodass dieser hin- und herschaukelte. Sie zwinkerte dem Verkäufer zu. Wie der das jetzt deuten sollte, blieb ganz ihm überlassen. »Kommen Sie nur, ich hätte da noch einen anderen Wunsch …« Linda schritt wieder voran.

Derweil hatte sich das Pärchen in Schwarz mit allerlei Lustspielzeug eingedeckt. Sie waren gerade beim Gynäkologenstuhl angelangt. Der kleine Fettwanst versuchte, Probe zu sitzen. Wie ein nasser Sack fiel er in den Stuhl hinein, und nur mehr schlecht als recht bekam er seine Beine hoch auf die Stützen. Seine Assistentin half ihm dabei, wenn man sie als das bezeichnen konnte. Vermutlich war er noch niemals im Leben beim Frauenarzt gewesen und sie vermutlich noch nie beim Arzt für Männer. Aber aller Anfang ist eben schwer, und wie steht es doch so schön geschrieben: Erst die Übung macht den Meister!

Das Pärchen ließ nun sogar ein begrüßendes Nicken erkennen, als Linda gerade mit dem Verkäufer im Schlepptau vorbeimarschierte.

»Wir probieren bloß«, sagte der liegende Mann, der den „Patienten“ spielte.

Der Verkäufer grinste und sagte: »Tun Sie sich nur keinen Zwang an, probieren geht schließlich über studieren. Er ist sogar höhenverstellbar. Ich komme dann noch gleich zu Ihnen.«

Die Frau hingegen inspizierte schon mal das Nadelbesteck. Sie zeigte es ihrem Partner. Dem lief dabei ein kalter Schauer über den Rücken.

Nicht viel später stand Linda in der Klamottenabteilung und wühlte zwischen Röcken und Hosen umher. Auch hier dominierte das Leder und gewissermaßen der extra dehnbare Stretch für die besonders betonte Figur.

Mit geschultem Blick musterte der Verkäufer Linda von der Seite. »Sie haben Konfektionsgröße 38?«

»Stimmt genau! Sie haben ein gutes Auge.« Das muss er ja …

»Reine Übungssache«, erklärte der Verkäufer. Er ging rüber zum großen Wandregal, welches er erst kürzlich neu bestückt hatte.

Linda nahm einen Rock nach dem anderen von der Stange, doch kam ihre anfängliche Entschlussfreudigkeit nun ins Stocken. Das Material war im Grunde nicht schlecht. Aber es war auch nicht hundertprozentig das, was ihr gerade so vorschwebte. Sie suchte nach dem perfekten Röckchen. Wobei allein schon die Vorstellung von „perfekt“ zum dehnbaren Gummiband mutierte. Selbst Lindas Geschmack unterlag dem ständigen Wandel.

Der Verkäufer erkannte das kleine Problem. Er kehrte mit drei Designer Röckchen zurück, von denen er glaubte, dass sie nach ihrem Geschmack wären. Die passenden Netzstrumpfhosen brachte er ebenso gleich mit.

»Sie haben es anscheinend im Blut«, sagte Linda erstaunt und wunderte sich doch sehr. »Das genau ist es …« Der zweite Lederrock, den der Verkäufer ihr zeigte, hatte es ihr angetan. »Wie machen Sie das nur?«

»Das macht die Erfahrung«, sagte der Verkäufer. »Und das wäre die passende Netzstrumpfhose dazu. Wollen Sie vielleicht anprobieren?«

»Oh ja!«, sagte Linda begeistert. »Wo kann ich …?« Sie schaute sich um.

»Gleich dort drüben.«

»Aha!«

»Gut. Ich bin dann mal solange …«, entschuldigte der Verkäufer.

»Schon klar …«

Linda nahm die Sachen und begab sich zur Umkleidekabine.

Das Pärchen in Schwarz war nach wie vor im Gynäkologenbereich beschäftigt. Offensichtlich standen die beiden auf kleine Doktorspiele, glaubte der Verkäufer, zu erkennen. Bei so einigen Konsumenten wunderte ihn eigentlich nichts mehr – die Lederfetischisten steckten eben voll drin in der Materie.

Zur Abwechslung saß nun die Dame der Schöpfung auf dem Behandlungsstuhl. Weit hatte sie ihre Beine auseinandergespreizt. Wenn sie jetzt keine Lederhose angehabt hätte, wäre der Einblick gewiss bis zum Vorhof der Grotte frei gewesen.

Der kleine Fettsack versuchte indes, die Höhe des Stuhls zu verändern. Er schaute wie ein Schwein ins Uhrwerk, fummelte und probierte. Doch wirklich bewegen tat er nichts.

»Sie müssen zuerst die Arretierung lösen, damit sie das Fußpedal betätigen können«, sagte der Verkäufer, als er näher kam.

»Äh, und wo?«, fragte der Kunde.

»Unter dem Pedal. Warten Sie, ich …« Der Verkäufer beugte sich hinab und löste binnen fünf Sekunden das kleine Problem. »So, jetzt können Sie weitermachen.« Er trat zurück und machte sich ein Gesamtbild. Eigentlich passen die beiden doch optisch gar nicht zusammen, dachte er so. Verschmitzt lächelte ihn die Dame vom Behandlungsstuhl an. Aber die brauchen das ganz gewiss, sagte er sich.

Langsam pumpte der Fettsack seine Gefährtin in die Höhe. Noch ein paar Zentimeter und noch ein paar Zentimeter mussten es sein. Als er bei knapp 1,50 Meter angekommen war – ihr Gesäß befand sich jetzt ungefähr in seiner Augenhöhe –, hörte er auf. Er schaute und die Lady thronte von oben herab.

»Wie ist es?«, fragte er.

»Gut. Tolle Aussicht! Vielleicht fehlt noch die gewisse Schwingungsmusik.«

»Oh ja, schwingen!« Bestimmt würde sie dann …

Es schien tatsächlich so, als wenn bei der schwingenden Lady sich der Schwingungsgedanke zur Erregung aufschaukeln würde. Die Gedanken wurden heißer und feuchter.

Sie sieht wie die Schwarze Königin von Medusalem aus, sagte sich derweilen der Verkäufer. Ihr Macker dagegen nur wie ein kleiner Hofnarr. »Soll ich Ihnen vielleicht ein Instrumental auflegen?«, fragte er, um es der Lady so angenehm wie möglich zu gestalten.

»Nein, nein«, sagte sie. »Wir wollen ja nicht gleich übertreiben.«

Das tun Sie aber bereits, dachte dafür der Verkäufer. Sie sind die Ersten, die das Ding jemals hochgefahren haben. Das erstaunte ihn schon. Aber er behielt es für sich. Es ging hier ja nur um Getue. Oder die willkommene Abwechslung eben – ein echter Spaß!

Der Kleine in Leder, der „Masseur“ sozusagen, stand nun genau vor der Grätsche seiner „Herrin“. Zur probehalber hob er ihre Pobacken ein wenig an und sie streckte ihm wie automatisch ihr Becken entgegen. Wenn er jetzt unmittelbar lecken wollte, könnte seine Zunge so von der optimalen Leckposition aus agieren. Und fast sah es auch danach aus, als ob er genau das vorzuhaben schien, zumal das Frauchen bereits lauerte: Er knetete ihre Backen.

Der Verkäufer trat weiter zurück, weil die Frau plötzlich so entspannt auf dem hochgefahrenen Stuhl wirkte. »Lassen Sie sich ruhig Zeit damit«, sagte er. »Der Probelauf ist schließlich besonders wichtig. Wenn Sie den Stuhl später wieder runterfahren möchten, dann drücken Sie einfach auf den Knopf neben dem Fußpedal.«

»Alles klar«, sagte der kleine Fettsack.

»Machen wir«, versprach ebenso die Lady von oben. »Das ist wirklich gut … Los, knete mich noch ein bisschen!«

»Ich mach ja schon …«

O Gott! Die werden mir doch nicht etwa gleich hier …? fragte sich ernstlich der Verkäufer. Aber er hatte gewiss mehr zu tun, als nur den Gaffer zu mimen. Er schritt lieber wieder zur Verkaufstheke zurück.

In der Umkleide derweilen: Linda stand gewiss nicht zum ersten Mal vor einem großen Spiegel und betrachtete sich von oben bis unten. Dennoch skeptischen Blickes überprüfte sie Sitz, eigene Haltung und Linie im neuen Outfit. Sie drehte sich einmal um ihre eigene Achse und befand: Rock und Netzstrumpfhose sitzen perfekt. Eine dazu passende Lederweste existierte bereits in ihrem heimischen Kleiderschrank. Aber sie war der Meinung, dass die weiße Bluse, die sie gerade trug, ebenso hervorragend zur Garderobe untenherum passte. Und noch besser: Je länger sie sich so im Spiegel sah, desto mehr war sie davon überzeugt, dass genau diese Kombination eine gewisse Harmonie auf Männer verstrahlen müsste. Doch in Wirklichkeit entdeckte sie gerade die perfekte Tarnung für sich – eine echt teuflische Verpackung!

Die Umkleide war geräumiger, als Linda zuerst gedacht hatte. Hier wurde einiges an Bewegungsfreiheit geboten. In der Ecke neben dem Spiegel stand ein Stuhl, eine kleine Fußbank davor, und der Kleiderständer, das Besondere, präsentierte sich als riesiger erregierter Penis. Auf einer Ablage an der Wand lag eine schwarze Lederpeitsche. Es war keine von denen, die Linda zuvor ausgesucht hatte. Diese hier wirkte anders, irgendwie dezenter. Es musste eine vergessene Garderobenpeitsche sein, oder eine Art Animierstück. Eigentlich kein Wunder: Sie griff nach der Peitsche und setzte sich in Szene.

So ist es gut, so muss es sein …, noch eine Drehung und noch eine …

Sie holte aus und ließ den Lederschwanz der Peitsche gegen die Penisattrappe klatschen. Ein zweites Mal, ein drittes Mal …

›Und jetzt gestehe, du kleiner Lustmolch, los, gestehe!‹, giftete Linda in gallischer Bandbreite durch die Kabine. ›Nimm das und das, und das …‹ Sie hatte das Bild vor Augen, den armseligen Kettenmann.

Nach gut ein Dutzend Hieben ließ Linda wieder vom Prügelknaben ab. Sie konnte nicht unbedingt behaupten, dass sie jetzt angenehm befriedigt sei. Sie wollte nur nicht gleich drauf losschreien. Sie lugte kurz zum Verkaufsraum hinaus. Gott sei Dank! Niemand war zu sehen. Trotzdem hörte sie weiter hinten jemanden albern kichern. Sicher das SM-Pärchen, dachte sie. Auf einmal kam ihr da so eine Idee: Was soll’s, sagte sie sich. So kann der Verkäufer wenigstens gleich seine persönliche Meinung dazu sagen.

So entschlossen lief Linda durch die Räumlichkeiten, und es war diesmal nicht das SM-Pärchen, das alberne Bemerkungen verlauten ließ. Neue Kundschaft war eingetroffen – drei junge Männer und zwei Frauen. Man trug natürlich Leder. Und irgendwie schien es in diesem Laden wie ein Muss zu sein: der Besuch der Schnullerabteilung.

Linda steuerte geradewegs die Verkaufstheke an. In der rechten Hand hielt sie die Peitsche, und die Hose, mit der sie gekommen war, lag nun über ihrem linken Unterarm. Sie fühlte sich ziemlich mutig, zumindest kam es ihr so vor, was wohl insbesondere an der Peitsche liegen musste. Das hatte so etwa von einem wachsenden Selbstbewusstsein und ein wenig Machtgefühl. Genau dieses war auch so beabsichtigt.

Der Verkäufer blickte auf und hatte sichtlich das große Fragezeichen im Gesicht stehen. Er schnürte an Lindas Paket, an der Warenzusammenstellung, die seine Kundin ausgesucht hatte. Jetzt aber war er wirklich baff. Er hatte ja bereits so einiges im Studio gesehen, doch musste er nun zugeben, dass das neue Gesicht, Rock und Bluse, in der sie steckte, unwahrscheinlich gut rüber kamen. Es wirkte nicht zu krass, es hatte für sich was Individuelles – etwas, das ihre Erscheinung reizvoll und gleichsam geheimnisvoll machte. Die schwarze Netzstrumpfhose – sie saß perfekt auf ihren schönen Beinen – rundete das Gesamtbild optimal ab. Für einen Moment blieb dem Verkäufer doch glatt die Spucke weg, und er dachte: Mann, eigentlich ist die Frau eine echte Wucht!

Zum Spaß an der Freude ließ Linda obendrein kurz die Peitsche knallen und drehte sich zweimal im Kreise. »Und, was sagen Sie?«, fragte sie den Verkäufer.

»Einfach umwerfend!« Es zog ihn förmlich über die Verkaufstheke, und dann bekam er erst so richtige Stielaugen. »Perfekt, werte Dame, perfekt!«

»Finden Sie, dass ich gleich so bleiben kann?« Sie warf nochmals einen kritischen Blick an sich selbst herab.

»Aber sicher doch. Glauben Sie mir, so könnten Sie sogar ins Büro gehen.

Sie hob die Peitsche an und linker Hand die Hose, und es kam wie einer Frage gleich: Etwa so? Dabei grinste sie schelmisch.

»Na ja, vielleicht besser ohne die Peitsche«, gab der Verkäufer zu.

Linda legte das Arbeitsgerät auf die Theke, trat ein Stück zurück und machte eine extra schöne Figur.

»Klasse, echt Klasse!«, schwärmte der Verkäufer. »So wirkt es gut. Ich muss ehrlich sagen, Sie gefallen mir.« Und so ehrlich wie heute hatte er es gewiss schon lange nicht mehr gemeint. Denn im Geschäft ging es normalerweise nur um das reine Verkaufen. Doch diese Frau wirkte selbst auf ihn verführerisch.

»Wenn Ihnen es gefällt, dann gefällt es mir auch. Ich bleibe gleich so.«

Ihre Blicke kreuzten einander und für einen Moment glaubte ein jeder, das lodernde Feuer in den Augen des anderen zu sehen.

»Ich habe dann Ihre Auswahl soweit zusammengestellt. Fehlen nur noch die dazugehörigen Flaschenzüge. Warten Sie kurz …« Er griff zum Telefon und drückte auf Leitung 3: »Jorge!«, rief er hinein.

»Ja«, krächzte es aus dem Hörer.

»Hast du sie endlich gefunden? Die Kundin wartet bereits …«

»Ja. Aber sie liegen im obersten Regal, ganz hinten. Ich muss erst die Leiter aus Lagerraum 2 holen.«

»Dann tue das, und ziehe mal ausnahmsweise ein bisschen den Finger!« Das Telefon landete in einer Ecke der Verkaufstheke. Hmmm … Er knurrte innerlich, aber er gab sich auch Mühe, gleichzeitig zu lächeln, als er wieder auf den Direktkanal schaltete. »Ich muss schon entschuldigen«, sagte der Verkäufer sogleich wieder in einer viel netteren Tonlage, »aber mein Mitarbeiter ist heute nicht gerade einer von der schnellen Sorte.«

Nur der Mitarbeiter? fragte sich Linda. Ich sehe hier niemanden durch den Laden hetzen. Dein Job ist bestimmt wie ein Hobby. Aber du bist gewiss kein Unterwürfiger … Doch sie sagte nicht, was sie dachte. Auch sie wollte höflich sein, und deshalb beschloss sie, dem Verkäufer entgegen zu kommen: »Wissen Sie was? Ich bezahle den Einkauf jetzt sofort und Sie lassen dann von Ihrem Mitarbeiter, sagen wir mal bis 14 Uhr, alles in meinen Wagen packen. Der Mustang steht gleich draußen um die Ecke auf ihrem Kundenparkplatz. Die Schlüssel sind hier.« Sie schob sie über die Ladentheke.

»Wie Sie wünschen. Bei uns ist der Kunde König«, behauptete der Verkäufer. Stolz begann er, die einzelnen Positionen in die Kasse einzugeben.

»Ach«, wollte sich Linda noch einmal vergewissern, »und alle Einkäufe bleiben bei Ihnen auch soweit diskret?«

»Alles topsecret«, versicherte der Verkäufer.

»Gut.« Gut zu wissen …

Sie war nicht die Erste, die das fragte. Aber sie musste das fragen, sie als Künstlerin.

Tipp, tipp, tipp – und Enter. »So, das hätten wir. Dann wären das insgesamt … neunhundertachtundzwanzig Dollar und dreißig Cent. Die Ketten und Schellen sind selbstverständlich aus rostfreiem Edelstahl«, gab der Verkäufer im Nachhinein noch zu verstehen. Schließlich ging es hier um höchste Qualität und nicht um billigen Ramsch. Und vor allen Dingen sollte die neue Kundin eines: Sie sollte wiederkommen – möglichst bald sogar.

»Akzeptieren Sie auch Kreditkarten?«

»Oh, gewiss doch, werte Dame.«

»Gut. Nur leider werde ich dann einen elektronischen Fingerabdruck bei Ihnen hinterlassen«, sagte Linda in Erinnerung an das vermeintliche „Topsecret“.

Dazu sagte der Verkäufer einfach mal nichts. Doch er nickte merklich. Die indirekte Bestätigung.

Nun lag es an Linda, wie der Bezahlungsvorgang vonstattengehen sollte. Ganz gewiss aber wollte sie von Anfang an anonym in der Szene bleiben. Wusste sie nur allzu gut, worauf die Klatschpresse nur wartete. Sie zog ein Bündel Hunderter aus ihrer Handtasche und legte zehn Scheine davon auf den Tisch. »Machen Sie die Summe rund, und packen Sie mir diese Peitsche hier bitte noch mit dazu.«

Der Verkäufer nahm sie beim Wort. Er lächelte mehr als zufrieden, tippte dazu und legte die Scheine in seine Kasse. Nochmals versicherte er: »Bis zum Mittag haben wir für Sie alles erledigt. Sie können sich voll und ganz darauf verlassen.«

»Schön. Dann verlasse ich mich auf Sie.«

»Immer zu Diensten, werte Dame …« Diese Frau war ihm sogar einen kleinen Bückling wert.

Linda ging und der Verkäufer schaute ihr wie gefesselt hinterher. Doch beide hatten sie eines außer Acht gelassen: etwas sehr Wichtiges.

»Halt, warten Sie bitte!«, rief plötzlich der Verkäufer. »Ihr Kassenbeleg!«

»Wie, was?«, fragte Linda. Sie sah ihn mit dem Beleg winken. »Oh, stimmt ja!«

Diesmal aber begleitete der Verkäufer Linda bis zur Tür. Er gab noch einige Empfehlungen in dieser und jener Sache. Man suchte natürlich immer nach zahlungskräftigen Kunden. Dann gab man sich gegenseitig die Ehre.

2

Alles hatte seinen tieferen Sinn: Von der Decke hingen die Ketten herab. Unten am Boden – jeweils zwei Meter auseinander – waren zwei weitere Ketten verankert. Der Boden war sauber gefliest. Die Wände waren ebenso halbhoch gefliest. Ein Abfluss befand sich in der Mitte des Raums. Zu anderen Zeiten wurden die Räumlichkeiten im Keller als Waschhaus genutzt. Die hintere Wand: Man hatte sie neuerdings verspiegelt. Der Raum wirkte deshalb jetzt doppelt so groß – gewissermaßen in die Tiefe. Lautsprecher waren unter der Decke installiert, dazu kam die passende Rot- und Weißlichtbeleuchtung, die aus allen vier Ecken direkt ins Zentrum strahlte. Noch spielte sich nichts Sonderbares im Mittelpunkt des Raumes ab. Nur die Ketten sprachen stillschweigend eine ganz eigene Sprache. Es waren Ketten aus feinstem Edelstahl – sauber und glänzend. Vermutlich könnte man an ihnen sogar eine tonnenschwere Last hochziehen. Doch so hoch und schwer wollte man gar nicht hinaus. An der Seite stand eine Heimwerkerleiter. Diese reichte bis unter die Decke. Bohrmaschine, Werkzeugkasten, Dübel und Schrauben lagen am Boden daneben. Auf der gegenüberliegenden Seite verschönerte ein nagelneues Wandregal den Raum. Ein Stück weiter stand ein weißer Schrank. Der hätte eigentlich besser ins häusliche Bad gepasst. Doch es hatte seine Gründe. Es existierte ein Durchgang zu einem Nebengelass. Sessel und Tisch standen in der Ecke. Auf dem Tisch lagen Zigaretten, ein angebissenes Sandwich und ein ungeordneter Stapel an Zettelwirtschaft.

Linda saß im Schneidersitz auf den nackten Fliesen und betrachtete ihr Werk. Gar nicht so einfach …, dachte sie, das mit den Flaschenzügen. Aber wie heißt es doch gleich: Wer es schön haben will, der muss Opfer bringen und manchmal eben richtig leiden.

Die reine Arbeit fand Linda noch nicht einmal sonderlich schlimm. Viel beunruhigender empfand sie die Sehnsucht, die sie im Keller zur Tat schreiten ließ. Manchmal hörte sie Stimmen des Nachts, die sie zu Gedankenspielen inspirierten, um somit das Werden seinen Lauf nehmen zu lassen. Dass sie irgendwo krankhafte Vorstellungen hatte, räumte sie inzwischen mit ein. Selbst dass es mit ihrer Vergangenheit zu tun haben könnte, den seelischen Erfahrungen und damit verbundenen Höhen und Tiefen. Jedoch eine Verbindung zu ihrem verstorbenen Vater, der sie eigentlich liebevoll großgezogen hat, mochte sie zu bezweifeln. Irgendwas musste dennoch die dunklen Dämonen heraufbeschwören. Es könnte an ihrem Einzelgängerleben liegen, an ihren sexuellen Neigungen, die vage Erinnerung an ihre Mutter vielleicht? Aber auch das mit ihrer Mutter schob sie schnell wieder beiseite. Von ihrem Vater wusste sie nur, dass sie mit einem anderen Kerl durchgebrannt wäre, nie wieder etwas von sich hören ließ, aus welchen Gründen auch immer. Linda hatte niemals nachgeforscht, wohin ihre Mutter die ganzen Jahre entschwunden war. Und das nicht etwa von ungefähr: Sie hatte sogar nicht einmal ein Verlangen danach gehabt. Nicht einmal bis zum heutigen Tage.

Vielleicht beruhten ihre abstrakten Vorstellungen ja nur rein auf ihrer künstlerischen Ader, und wenn, dann hatte sie diese gewiss nur bedingt mit den Genen mitbekommen. Ab und an grübelte sie darüber, meistens aber verdrängte sie es. Sie wollte nicht ständig an diese böse Geisterwelt denken. Sie sagte sich: Es gibt Dinge im Leben, die musst du tun. Und wenn du sie tust, dann bestimmen sie dein weiteres Tun und Handeln.

Eine andere Wahrheit sagte ihr: Wenn deine Gedanken keine Erfahrungen machen, können diese sich auch nicht um den Erfahrungsschatz drehen. Wenn sich deine Gedanken aber nicht drehen, kannst du leider nichts bewegen. Und wenn du nichts bewegst, dann lebst du auch nicht! Auf die richtige neuronale Gedankenverknüpfung kam es drauf an.

Die ganze Nacht hindurch hatte Linda gewerkelt. Sie bohrte, dübelte und schraubte: Das alles zur Installation der Arbeitsgeräte, die sie aus der Großstadt mitgebracht hatte. Den Mann aus dem SM-Studio fand sie im Nachhinein sogar recht sympathisch. Gewiss nicht geeignet als potenzieller Spielpartner für das Spiel mit der Macht hinter verschlossenen Türen. Aber in der Welt dort draußen durchaus geeignet als guter Zuträger der ganz skurrilen Sorte. So wie vereinbart, hatte er sie ausgestattet, diskret die Ware verpackt und sogar für sie auf dem Beifahrersitz des Mustangs eine Nachricht hinterlassen. Diese beinhaltete: Ich berate auch beim Kontakt zu gewissen Kreisen – Verbindungsaufbau – Vor- und Nachteile im Kreis einer Sekte. Ich habe mir das Recht herausgenommen, Ihnen einen Katalog mit beizulegen. Werfen Sie einen Blick hinein, es könnte durchaus eine Bereicherung für Sie sein.

Der Erstverkäufer hatte sich längst verabschiedet, als Linda vorgestern Nachmittag vom ausgedehnten Einkaufsbummel wieder in das SM-Studio zurückkehrte. Ein anderer hatte den Dienst, den Verkauf und die Beratung übernommen. Ein Mann mit kräftiger Stimme, der geradlinig sprach und ihr sehr schnell die Schlüssel für den Mustang aushändigte. Dennoch reichte auch dieser Mann ihr einen Katalog versehen mit einer Visitenkarte. Zwei Telefonnummern standen darauf. Eine geschäftliche und eine private. Linda hatte sie nicht weggeschmissen. Man konnte schließlich nie wissen. Allerdings verspürte sie derzeit kein dringliches Bedürfnis, erneuten Kontakt aufzunehmen. Sie wollte halt ganz für sich alleine sein. Sie mit ihren Gedanken und künstlerischen Vorstellungen – es waren die Vorstellungen von einer Welt, in der nur rein das Verlangen des Fleisches zählt.

Linda saß da und es wäre viel einfacher für sie, wenn sie wüsste, worin Anfang und Ende begründet lagen. Einen Anfang, den es nicht gab. Und ein Ende, dessen Ausgang ungewiss war. Möglicherweise bedeutete ja das Ende gleichzeitig einen neuen Anfang, eine Art Wiederkehr, einen Kreislauf, der vom menschlichen Geist nicht wirklich erfasst werden konnte. Sie musste sich eingestehen, dass selbst im Keller ihres Hauses das Meer der Weite bestimmte, ihr aber die nötige Weitsicht fehlte. Sie saß vor der Spiegelwand und schwelgte in einer beängstigenden Ungewissheit, und je länger sie in ihr eigenes Spiegelbild schaute, desto größer wurden auch ihre Zweifel dem gegenüber, was die neueste Anschaffung oder gerade ihre künstlerische Kreativität anbetraf. Doch dann hatte sie es: Es waren einfach zu viele Gedanken, die sie bewegten. Sie hatte die ganze Nacht lang durchgemacht, dazu kamen die vielen Aspirins und Muntermacher-Drinks, um sich dann noch mehr Gedanken zu machen, zu schaffen, was allein mit einer Hau-Ruck-Aktion einfach nicht zu schaffen war. Sie musste hier raus aus diesem Raum, der allmählich begann, sie einzuengen. Sie schaute zum Licht und sah gleichsam die Schatten, ihren eigenen Schatten, die Wände und die riesige Spiegelfront, vor der sie saß. Sie sah den friedlichen Schein und eine Decke, die sie beinahe erdrückte. Linda war nahe dran, in ihrem eigenen Keller Platzangst zu bekommen.

Entschlossen stand sie auf. Alles um sie herum blieb liegen. Ihr Wille schloss jetzt die Baustelle des Seelenfraßes, und sie verließ die beengenden Räumlichkeiten. Sie stieg die Treppe hinauf und löschte das Licht vom oberen Schaltkasten aus.

Draußen auf der Veranda – die Sonne stand bereits hoch über dem Meer – holte Linda nur einmal mehr wieder das Leben und die Ernüchterung ein. In der Ferne steuerten zwei Schiffe gen Horizont und hoch über ihr zogen sich sechs, sieben Kondensstreifen in der Quere. Diese stammten von den Triebwerken der Flugzeuge her, die sie erst kürzlich auf ihren Routen hinterlassen haben. Etliche Möwen flogen über den nahen Strand. Sie kreischten wild durcheinander. Sie kreischten eigentlich immer, wenn sie um das Futter stritten.

Auch Möwen sind Räuber, ging es Linda durch den Kopf. Sie sind aufdringlich, frech und gefräßig, und sie zerhacken und zerfleischen so ziemlich alles, was ihnen gerade vor den Schnabel kommt. Das Raubtier im Vogel – die Vögel, die eigentlich von den Dinosauriern abstammten.

Linda stellte sich vor, wie es doch wäre, wenn sie selbst als Raubsaurier das Licht der Welt erblickt hätte: Pure Instinkte auf dem Schlachtfeld des Lebens. Jagen, töten und fressen, und das alles ohne dabei irgendein ein schlechtes Gewissen zu haben. Rein die Natur des Überlegenen zählte. Ranschaffen und verleitet lassen. »Nimm, was du kriegen kannst, und packe zu! Warte nicht erst bis morgen, sondern lebe im Jetzt!”

Es war das große Fressen in der Natur, das bestimmte. Das Leben, das seinen Weg über die Selektion suchte. Niemand änderte das, und selbst Linda fand diesen treibenden Urinstinkt absolut okay.

Strände können sehr einsam sein, wenn der Betrachter das Gefühl und das Objektive rein auf die Menschen bezieht. Weniger trostlos erscheint der Lebensraum, wenn das Bewusstsein sich für die Lebensvielfalt im Ganzen öffnet. Wenn es in der Lage ist, zu erkennen und zu verstehen, und danach zu urteilen vermag.

Strand und Meer, Himmel und Horizont, Feuer und Wasser – das Elementare, das in ständiger Bewegung begriffen sein will. Meer verschlingt Land, und überall sind die Spuren zu sehen, wo anderen Ortes das Land wiederum aus den Tiefen des Meeres empor steigt. Darüber spannt sich das weite Himmelszelt – ein turbulent wirbelnder Ozean der Moleküle und Molekülverbindungen. Es ist das Blau, das so besticht, das jeden Betrachter eines Tages in Ehrfurcht verharren lässt – die Gedanken, die einen bewegen, und die Erkenntnis, den eigenen Weg bis zu Ende zu gehen. Und dann blickst du hinaus in die Weite hin zu funkelnden Sternenwolken, und du begreifst, dass der schwarze Hintergrund bis hinüber zur Unendlichkeit reicht. Der Mensch von seiner Neugierde getrieben, die Weitsicht zu erlangen.

Es war die pure Vorstellungskraft, die die Menschen mitbekommen haben, sich vorstellen zu können, was hinter einer rein objektiven Erscheinung sich möglicherweise noch so alles verbergen kann. Der eine sah diese Scheinbarkeit bewusst, der andere mehr unbewusst, doch sahen beide gleichermaßen durch das innere Auge, das ihr Leben intuitiv zu beeinflussen vermochte.

Auch Linda registrierte und erfasste das Wesentliche, das sie umgab. Ahnte aber die Kraft, die das Sein bestimmte, von der auch sie nicht mehr als nur ein verschwindend winziger Teil war. Jedoch ein Teil, der sich zumindest ein paar Gedanken darüber machte, was den Verstand überhaupt mit dem Umgebenden verband.

Die Frau auf Lindas künstlerischer Darstellung – stehend im Meer und verschmolzen mit den Elementen – hatte es so in natura nie gegeben. Niemand stand hier unten am Strand jemals für Lindas Werke Modell. Weder die braven Evas der Gegenwart, noch irgendwelche Adam-Verschnitte, die sich als die göttliche Schöpfung sahen. Geschweige denn, dass sie ihr eigenes Spiegelbild in den Wellen platziert hätte. Das Bild entstand aus einem rein imaginären Bild. Vielleicht floss ja ein gewisser Anteil von ihr mit hinein, von vielen Frauen, von allem, das am Strand und in der Umgebung existierte. Es waren Erinnerungsbilder, und es steckte noch viel mehr dahinter: Sie glaubte inzwischen, dass es die Erfahrungen in einer Welt sind, die bewegen, so wie einst gesehen und erlebt. Was damit zum Ausdruck kommen sollte: Bitte abspeichern und unbedingt weitergeben! Oder eben: Es war nicht mehr als eine kleine Anregung, so etwas wie ein Stück Kultur, wie sie das als Malerin sah. Und dennoch ein Kapitel, das von nun an der Vergangenheit angehören sollte.

Linda fasste neue Ziele ins Auge – natürlich im künstlerischen Sinne gesehen. Sie dachte an Abstraktion, an leben und leben lassen, wie das Leben selbst seinen Tribut forderte. Ziele, die in erster Linie die Männerwelt anbetrafen, inspirierend, aber womöglich auch des Fleisches Lust verzerrend. Dies musste Linda unbestritten im zweideutigen Sinne sehen. Denn sie spürte den Räuber, der parasitär in ihrem Inneren fraß. Das böse Monster, das aus ihrem Körper und Geist herausspringen wollte, um Besitz vom fremden Fleisch zu ergreifen; zu stillen, was gestillt werden musste.

Schlimmer noch: Hunger, Gier und Blutrünstigkeit stiegen in Linda auf, und sie spürte es regelrecht, dass dieses durchdringende Urgefühl wohl nimmermehr vergehen würde. Geboren, um zu leben und das Umgebende in Anspruch zu nehmen. Nach diesem Motto inspizierte sie aus der Weitsichtperspektive ihr Territorium. Sie fühlte sich dabei wie eine Jägerin mit geschärften Sinnen, Instinkt und Verstand. Plötzlich war sich Linda vollkommen sicher – ihr innerstes Wesen mutiert im Laufe der Zeit.

Der Strand, das Meer, der Blick in die Weite – die Jagd. Endlich! dachte sie. Lindas Jagd hatte soeben begonnen.

ANORMAL (PARANOID)

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