Читать книгу Seewölfe - Piraten der Weltmeere 654 - Frank Moorfield - Страница 6
1.
ОглавлениеDie Sonne, die langsam hinter den Wipfeln der Bäume hervortauchte, vertrieb die letzten Schatten der Nacht. Die Luft war kühl und feucht, so daß man die Erde und das üppige Gras des Dschungels, der weite Teile der Insel Madagaskar überwucherte, regelrecht riechen konnte.
Oturi fand rasch, was er gesucht hatte.
Zwischen zwei mächtigen Baobab-Bäumen, deren flaschenförmige Stämme wie Türme einer Festung in den Himmel ragten, klaffte eine Lücke, die ungefähr zwanzig Schritte breit war. Genau dort wollte Oturi das Netz aufspannen, das er aus einem Versteck geholt hatte. Er wußte, daß er sich beeilen mußte. Das heilige Feuer, das dem Urwald als Opfer dargebracht wurde, weil er alles gab, was man zum Leben brauchte, würde bald verlöschen. Das wiederum bedeutete den Beginn der großen Treibjagd.
Während Oturi eine Seite des Netzes an einem der Baumstämme befestigte, verzog sich sein Gesicht, das besonders durch seine breitflächige Nase und die etwas wulstigen Lippen auffiel, zu einem erwartungsvollen Grinsen.
Doch der dunkelhäutige Jäger konnte sein Werk nicht vollenden.
„Bei allen guten Geistern – was tust du da, Oturi?“ Die Stimme Amabosus klang scharf und durchdringend.
Oturi zuckte zusammen, als habe ihn ein Pfeil getroffen. Er hatte nicht bemerkt, daß Amabosu ihm gefolgt war. Gewiß, der Dschungel gab vielfältige Geräusche von sich – vom Gurren der Wildtauben bis hin zum Geschrei der Vasa-Papageien. Doch hatte er nicht schon als Kind gelernt, die Laute der Tiere von den Geräuschen des Menschen zu unterscheiden? Wie immer das auch passieren konnte – zum Nachdenken blieb keine Zeit.
Oturi ließ das Netz aus der Hand gleiten und griff blitzschnell nach seinem Speer.
„Seit wann schleichst du hinter mir her, Amabosu?“ Seine dunklen Augen glänzten böse.
Der etwas kleinwüchsige Amabosu, der um einige Jahre älter war als Oturi, ging nicht auf die Frage ein.
„Gib es zu Oturi!“ rief er mit einer Stimme, die vor Zorn und Abscheu bebte. „Du wolltest dein Netz, ungeachtet der Rangordnung, heimlich vor den Netzen der anderen befestigen, damit gleich das erste Beutetier dir gehört. Bist du dir darüber klar, daß du damit ein strenges Gesetz unseres Volkes übertreten hast?“
O ja, Oturi kannte dieses Gesetz, deshalb hob er mit haßverzerrtem Gesicht den Speer.
„Stirb, du hinterhältige Schlange!“
Er holte weit aus und schleuderte die Waffe Amabosu mit aller Kraft entgegen.
Sein Wunsch, den lästigen Zeugen loszuwerden, ging jedoch nicht in Erfüllung, denn Amabosu, der wohl nichts Gutes erwartet hatte, reagierte schnell. Noch bevor ihn die todbringende Waffe erreichte, warf er sich flach auf den Boden. Der Speer flog lautlos über ihn weg und bohrte sich mit einem dumpfen Geräusch in die Erde.
Einen Atemzug lang stand Oturi wie erstarrt, doch dann stieß er einen heiseren Schrei aus und riß sein Messer hervor. Noch bevor es Amabosu gelang, wieder aufzuspringen, jagte der muskelbepackte Oturi auf ihn zu – das Messer zum tödlichen Stoß erhoben.
Der ältere und schwächere Amabosu hätte kaum eine Chance gehabt, diese heftige Attacke zu überstehen, wenn nicht plötzlich eine schrille Stimme, die beiden gleichermaßen bekannt war, Einhalt geboten hätte.
Die Stimme gehörte Basisi, dem Oberhaupt der Wildbeutergruppe. Er war mit vier anderen Jägern zwischen den Bäumen aufgetaucht. Alle trugen ihre Speere bei sich.
Oturi wurde schlagartig klar, daß sein Verschwinden wohl doch nicht so unbemerkt geblieben war, wie er geglaubt hatte. Vielleicht war Amabosu sogar hinter ihm hergeschickt worden. Basisi war zuzutrauen, daß er ihn beobachten ließ – bei all den Streitigkeiten, die es seit einiger Zeit in der Gruppe gab.
Oturi hatte seine Schritte abrupt gestoppt und ließ die Hand mit dem Messer sinken. Amabosu aber, der ein Stück zurückgewichen war, deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf ihn.
„Er wollte mich töten!“ schrie er. „Ihr alle habt es mit eigenen Augen gesehen!“
Basisi, ein mittelgroßer, stämmiger Mann mit auffallend hoher Stirn, sorgte mit einer unwirschen Geste für Ruhe.
„Wir haben es gesehen, Amabosu. Und nun sag uns, warum er dich töten wollte.“
„Weil ich ihn dabei überrascht habe, wie er die uralten und heiligen Jagdgesetze unseres Volkes brechen wollte …“
„Er ist ein Lügner!“ unterbrach ihn Oturi mit lauter Stimme. „In Wirklichkeit ist er wie eine beutehungrige Schlange hinter mir hergeschlichen und hat mich beleidigt. Er ist einer von denen, die ständig Übles über mich reden und damit Unruhe in unser Lager und in unsere Familien tragen. Er hat mich so gereizt, daß ich nicht mehr wußte, was ich tat. Ihn solltest du zur Rede stellen, Basisi.“
Das Oberhaupt der Wildbeutergruppe trat einige Schritte vor. Das Gesicht des stämmigen Mannes wirkte ernst.
„Ein Jäger aus dem Volk der Sakalava muß stets wissen, was er tut, es sei denn, sein Geist ist verwirrt, weil er sich den Unwillen der Götter zugezogen hat. Auch dein Geist scheint verwirrt zu sein, Oturi, denn er ist ein Geist der Unruhe und der Zwietracht. Außerdem vermag ich deiner Rede nicht zu folgen. Warum hast du dich heimlich vom heiligen Feuer entfernt? Was suchtest du – noch vor Beginn der Treibjagd – hier im Jagdgebiet?“
Jetzt konnte der schmächtige Amabosu die Worte nicht mehr zurückhalten. Während der verlegen dreinblickende Oturi noch über eine passende Antwort nachdachte, deutete er erregt in die Richtung, aus der der Angriff Oturis erfolgt war.
„Dreh dich um, Basisi!“ rief er. „Und du wirst sofort eine Antwort erhalten. Das Netz Oturis, das bereits an einem der beiden Baobab-Bäume befestigt ist, wird dir bestätigen, daß ich die Wahrheit gesagt habe. Oturi hat das Gesetz der Rangordnung übertrieben, indem er heimlich ein weiteres Netz vor die Netze der anderen spannen wollte, um schon das erste Beutetier für sich vereinnahmen zu können. Deshalb hat er sich vom heiligen Feuer weggeschlichen, und deshalb wollte er mich töten.“
Basisi und seine vier Begleiter fuhren herum, um sich mit eigenen Augen von der Richtigkeit der Anklage Amabosus zu überzeugen. Ihre Blicke verfinsterten sich.
„Das ist in der Tat ein schwerwiegendes Vergehen“, sagte Basisi, „ein Betrug an unserem ganzen Stamm. Du wirst dich vor den Alten Männern verantworten müssen, Oturi. Und ich fürchte, daß sie ein hartes Urteil über dich und deine Sippe fällen werden.“
Die Befürchtung Basisis sollte sich bald bestätigen.
Die geplante Treibjagd wurde auf den nächsten Tag verschoben, weil der für eine erfolgreiche Jagd erforderliche Gemeinschaftsgeist unter den Jägern durch die Vorgänge um Oturi gestört worden war. Statt dessen trat Basisi mit der gesamten Gruppe den Rückmarsch zum Dorf an. Es lag im Interesse aller, daß die Angelegenheit unverzüglich bereinigt wurde.
Der Marsch durch den dichten Dschungel verlief ohne besondere Vorkommnisse. Die Männer verhielten sich schweigsam, und Oturi starrte finster vor sich hin.
Stunde um Stunde verging. Die Sonne hatte bereits ihren höchsten Stand erreicht, als die Jäger ihr Dorf erreichten.
Die korbartigen, aus geflochtenen Ruten, Zweigen und Blättern errichteten Hütten standen auf einer Lichtung, deren Ränder einen dichten Bestand von Ravinal-Bäumen aufwiesen. Über zahlreichen Feuerstellen kräuselte sich der Rauch. Lautes Kindergeschrei und geschäftig hin und her huschende dunkelhäutige Frauen erfüllten die Siedlung mit Leben.
Die Dorfbewohner blickten den Jägern verwundert entgegen. Niemand hatte so früh mit ihrer Rückkehr gerechnet. Von einer Jagdbeute war auch nichts zu sehen. Dafür aber sprach sich in Windeseile herum, was geschehen war, und Oturi erfuhr sehr rasch, wie die Dorfgemeinschaft über seine Handlungsweise dachte.
Basisi ließ ihn vor den Rat der Alten Männer führen, nachdem er dort in kurzen Worten berichtet hatte, was vorgefallen war.
Zunächst herrschte eisiges Schweigen. Oturi ging auf den Platz zu, auf dem er sonst zu sitzen pflegte, wenn wichtige Angelegenheiten besprochen wurden. Aber dort hatte sich bereits einer der jungen Männer niedergelassen. Normalerweise wäre ihm sein Platz, der Rangordnung gemäß, sofort überlassen worden. Diesmal aber bedachte ihn der junge Mann lediglich mit herausfordernden Blicken.
„Verschwinde, Kuesa!“ herrschte ihn Oturi an und vollführte eine unmißverständliche Geste.
Der junge Mann grinste frech. „Du solltest froh sein, wenn man deinen Füßen noch erlaubt, die Erde unseres Dorfes zu betreten.“
Oturi wollte aufbrausen, doch dann besann er sich darauf, daß dies seine derzeitige Lage nur noch verschlechtern würde. Gleichzeitig wurde ihm zum erstenmal richtig bewußt, daß er sich selbst in eine bedrohliche Lage gebracht hatte. Ein junger Mann verweigerte ihm, ohne von den Alten Männern gerügt zu werden, den Platz. Das ließ nichts Gutes erwarten.
Er sollte sich nicht getäuscht haben.
Das bisherige Schweigen der Alten Männer, die im Kreis um eine Feuerstelle saßen, wich sehr schnell einer lebhaften und erregten Debatte.
„In letzter Zeit hat es sehr viel Ärger und Streit wegen dir gegeben, Oturi“, klagte ihn Monibu, ein Mitglied des Ältestenrates an. „Nun aber hast du ein sehr wichtiges Gesetz unseres Volkes übertreten und dich damit außerhalb unserer Gemeinschaft gestellt. Aber was noch schlimmer ist: Beinahe hättest du aus blinder Wut Amabosu umgebracht. Der Zorn der Götter wird unser Dorf treffen, wenn solche Vergehen ohne Strafe bleiben …“
Oturi unterbrach den alten Mann.
„Das alles ist Lüge!“ schrie er. „Man hat übles Geschwätz an euch herangetragen, Monibu. Weibergeschwätz! Wirklich schlimm ist, daß ich als Jäger wie ein Tier behandelt werde. Man verweigert mir sogar meinen Platz. Und junge Männer dürfen mich ungestraft beleidigen. Ist es das, was den Göttern wohlgefällt?“
Die Alten Männer zeigten sich von seinen leidenschaftlichen Worten unbeeindruckt.
„Du scheinst zu vergessen, daß es Zeugen gibt, Oturi“, fuhr Monibu fort. „Basisi und seine Begleiter haben deutlich gesehen, wie du Amabosu töten wolltest. Außerdem können sie bestätigen, daß bereits ein Teil deines Netzes an einem Baobab-Baum befestigt war. Wenn hier einer die Unwahrheit spricht, dann bist du es!“
„So ist es!“ rief Amabosu mit schriller Stimme dazwischen. „Auch ich kann das, was geschehen ist, bei allen Göttern bezeugen. Zum Glück konnte ich seinem Speer noch rechtzeitig ausweichen, sonst würde meine Familie jetzt ohne Oberhaupt und Ernährer dastehen. Oturi ist ein heimtückischer Mörder, daran gibt es keinen Zweifel.“
Die Debatte wurde immer hitziger und wogte noch eine Weile hin und her. Doch so sehr Oturi auch versuchte, sich mit fadenscheinigen Ausreden zu entlasten oder durch heftige Gefühlsausbrüche Mitleid zu erregen – den Urteilsspruch der Alten Männer konnte das nicht beeinflussen.
Als Monibu die Stimme erhob, um die Entscheidung zu verkünden, wurde es totenstill im Dorf.
„Der Rat der Alten Männer hat beschlossen, daß Oturi mit seinen Frauen und Kindern unser Dorf verlassen muß. Keine Wildbeutergruppe darf ihn oder ein Glied seiner Familie aufnehmen oder in irgendeiner Weise unterstützen. Das Recht, ein Jäger zu sein, wird ihm aberkannt. Möge er mit seiner Sippe in die Fremde ziehen und dort nach seinen eigenen Gesetzen leben.“
Die Frauen Oturis begannen laut zu klagen. Er selber war für einen Augenblick wie betäubt, denn er wußte nur zu gut, wie folgenschwer ein solches Urteil sein konnte. Dennoch halfen alle seine lautstarken Proteste nichts. Er wurde von jetzt an behandelt wie ein Aussätziger.
Es blieb ihm in der Tat nichts anderes übrig, als seine Habe zusammenzupacken und mit seiner Familie das Dorf der Wildbeuter zu verlassen. Den Schutz und die Geborgenheit der Gemeinschaft hatte er ein für allemal verloren, es blieb ihm nur noch der Weg in die Fremde.
Nach einem langen, viele Tage umfassenden und entbehrungsreichen Marsch in Richtung Sonnenuntergang, sah Oturi von weitem das Meer. Einen halben Tagesmarsch danach stieß er auf ein Fischerdorf der Vezo, die ebenso zum großen Volk der Sakalava gehörten wie die Wildbeuter, die Hirten und die ackerbautreibenden Masikoro.
Oturi hatte Glück, die Fischer nahmen ihn und seine Angehörigen auf. Doch die Umstellung vom Wildbeuter zum Fischer war hart. Die Vezo halfen ihm, aber Oturi dankte ihnen die Hilfsbereitschaft nicht. Er blieb stur, verschlossen und bösartig, und seine heranwachsenden Söhne traten in seine Fußstapfen.
Die Zeit verging. Tage und Nächte, Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge wiederholten sich im ewigen Wechsel. Die Erinnerung Oturis an sein Heimatdorf und die vielen erfolgreichen Jagdzüge verblaßten mehr und mehr. Bevor er sich versah, waren fünf lange und ereignisreiche Jahre ins Land gegangen.