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3. Kapitel: Die Frauen (I)

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Hier weiter im Norden des Kontinents Uskamera herrschte ein gemäßigteres Klima vor. Die Sonne stach nicht so scharf vom blauen Himmel herab, wie es in den zentralen Stammesgebieten der Fall war, und manchmal wurde sie sogar von träge vorüberziehenden weißen Wolken verdeckt. Auch der heiße, trockene Wüstenwind, der in den südlichen Regionen seinen Ursprung hatte, war seit einigen Tagen nicht mehr zu spüren. Trotzdem war das Land karg, nur kleine Rinnsale, die im Herbst und Winter zu Bächen anschwellen mochten, kreuzten ihren Weg, und sie mussten aufpassen, sich die Wasservorräte gut einzuteilen.

Yara war froh, dass die Hitze nachgelassen hatte, besonders Fiora hatte sehr darunter zu leiden gehabt, nachdem sie die bewaldeten Gebiete hinter sich gelassen hatten. Die bekannten Wege und Oasen, die den Nomadenstämmen als Orientierung dienten, waren ebenfalls längst hinter ihnen zurückgeblieben. Sie waren auch schon lange nicht mehr auf andere umherziehende Stämme gestoßen.

Yara fragte sich, warum diese Gegend so wenig besiedelt war, mit etwas Mühe würde das Land gut bearbeitet werden können, das Wetter war jedenfalls idealer dafür als in den Zentralregionen. Sie als Chronistin hätte eigentlich am ehesten eine Antwort auf diese Frage wissen müssen, aber derartige Zusammenhänge blieben auch ihr bisher verborgen. Vielleicht konnte sie ihr Wissen erweitern, wenn sie erst mal ihr Ziel erreicht hatten - wenn sie es denn jemals erreichten und es nicht nur ein Hirngespinst ihrer Wünsche darstellte, wie sie manchmal befürchtete.

»Ich will etwas zu trinken!« Die helle Kinderstimme riss sie aus ihren Gedanken .

»Wir halten gleich an und machen Rast, Fiora,« erwiderte sie.

Sie beugte sich nach vorn und strich ihrer Tochter über das blonde Haar.

Das Kind, das vor ihr auf dem Sattel saß, sah sie mit zweifelndem Blick an.

»Das hast du vorhin auch schon gesagt.«

Der Vorwurf war nicht unberechtigt, musste Yara zugeben. Über ihren Gedanken hatte sie Fioras Wunsch vergessen.

»Ich suche nur noch einen Schattenplatz, dann ruhen wir uns aus.«

Sie verlangsamte die Gangart des Pferdes, das sie beide trug, und schaute sich um.

Fiora war der Grund dafür, dass sie nicht so schnell vorankamen, wie sie es sich gewünscht hätten. Aber schließlich hatte sie ihr Kind nicht zurücklassen können. Bei wem auch? Bei ihrer Mutter oder gar bei Jorge? Beides war undenkbar, und auch sonst hatte sich niemand angeboten, zu der sie Vertrauen hatte, diese Zeiten waren vorbei ...

Laura, von der sie eher Ablehnung erwartet hatte, war allerdings sofort einverstanden gewesen, Fiora mitzunehmen. Ihr seit Tagen nur mürrisch verzogenes Gesicht hatte sich bei diesem Gedanken sogar aufgehellt.

Ihrer beider Position im Stamm war inzwischen nicht mehr so verwurzelt, dass sie das Kind gern zurückgelassen hätten. Sobald die beiden Frauen ihr Vorhaben bekannt gegeben hatten, waren ungläubiges Erstaunen, dummes Gere de und keifende Vorwürfe die Folge gewesen. Einige angesehene ältere Frau en waren sogar empört und zornig darüber gewesen, dass sie sich die Freiheit herausnahmen, dem Stamm so einfach den Rücken zu kehren. Niemand tat so etwas. Und es wurde ihnen vorgehalten, dass sie ihre individuellen Wünsche und Bedürfnisse über die Interessen des Stammes stellten.

Der Aufruhr über ihre Entscheidung hatte Yara und Laura überrascht. Sie hatten wohl mit Auseinandersetzungen gerechnet, aber nun schlug ihnen eine nahezu feindselige Stimmung entgegen, fast als wären sie damit eine Bedrohung für den Stamm. Yara hatte sich das zunächst nicht erklären können, das Verhalten der Frauen aber später als Steigerung der unterschwelligen Stimmung angesehen, die sich seit einigen Monaten aufgebaut hatte. Und gerade diese Stimmung war es, die es ihnen so leicht gemacht hatte, ihre Entscheidung zu fällen. Denn wer hatte sie schon ernst genommen?

Yara hatte sogar den Eindruck gewonnen, dass ihnen die Männer größeres Verständnis entgegenbrachten als die Frauen. In solchen Momenten war sie beinahe bereit, ihrer Selbst-Schwester in ihrer Ansicht zuzustimmen, dass den Männern mehr Rechte eingeräumt werden sollten. Andererseits, wie sollte den Männern eine Art Gleichberechtigung zugestanden werden, wenn ihre Intelligenz nur zu mechanischen Arbeiten, zum Jagen und zu Verteidigungsangelegenheiten reichte? In fast allen anderen Bereichen waren sie eher hinderlich als nützlich.

Yara hatte noch nie einen Mann kennengelernt, der imstande gewesen wäre, tiefergehende und intensivere Gespräche zu führen, die über Alltagsangelegenheiten hinausgingen. Männer waren nicht an größeren Zusammenhängen und Einsichten interessiert, sie blieben stets an der Oberfläche und konkurrierten lieber um die unwesentlichsten Dinge. Sie musste allerdings zugeben, dass sie bisher auch kaum den Versuch gemacht hatte, sich mit Männern ausführlicher zu unterhalten. Sie interessierten sie einfach nicht besonders, das galt auch für Jorge, Fioras Vater. Es war ein Rätsel für sie, wie die patriarchalisch organisierten Stämme zurechtkamen. Der Umgang mit ihnen beschränkte sich aber auch auf ein Minimum. In anderen Ländern sollte es Gemeinschaften geben, die eine matriline Struktur besaßen und trotzdem den Männern gleichberechtigte Positionen Gesandten. Das stellte für Yara einen Widerspruch in sich dar. Wie konnte den Arbeiten, bei denen sich Männer besser auskannten, ein ebensolcher Wert zugemessen werden, wie den verantwortungsvollen und entscheidenden Fähigkeiten der Frauen?

Sie lenkte das Pferd jetzt auf eine Felsengruppe zu, deren Schatten vorübergehend Schutz vor der Sonne versprach. Sie suchte den Horizont nach Laura ab, konnte aber die schlanke Gestalt ihrer Selbst-Schwester auf dem schwarzen Hengst nicht entdecken. Wie üblich war Laura weit vorausgeritten, um das Gelände vor ihnen auszukundschaften. Trotz der Menge an Gepäck, das ihr Pferd zu tragen hatte, kam sie schneller voran als Yara mit ihrer Tochter.

Im Schatten der Felsen angekommen stieg Yara aus dem Sattel und hob dann Fiora vom Pferd. Sie reckte und streckte ihre Glieder, denn die Anstrengungen eines langen Rittes waren immer noch ungewohnt.

Nach dem ersten Tag hatte sie geglaubt, jeden Knochen ihres Körpers einzeln spüren zu können. Laura hatte sie damit geneckt, dass sie nun endlich ein paar Pfunde ihres überflüssigen Körpergewichts verlieren würde, Versuche in dieser Hinsicht waren immer im Anlauf stecken geblieben. Und Laura hatte Recht behalten: Einige Tage später hatte sie ihren Rock enger machen müssen.

Sie sah, dass Fiora damit beschäftigt war, einem großen gelben Käfer hinterherzulaufen und diesem den Weg zu versperren.

»He, ich dachte, du wolltest trinken!« rief sie der Kleinen hinterher, die sich schon wieder aus dem Schatten entfernte.

Aber Fioras Durst schien angesichts des Käfers an Bedeutung verloren zu haben. Yara lächelte. Sie bewunderte das Talent des Mädchens, in jeder Lage ein Spiel für sich zu finden. dass sie überhaupt nicht auf Yaras Zuruf reagierte, erinnerte sie allerdings auch an die Schwierigkeiten, die sie mit der ungewöhnlichen Selbstständigkeit ihrer Tochter hatte. Des Öfteren schenkte sie ihrer Mutter kaum Beachtung, was Yara verstörte und entweder traurig oder zornig werden ließ. Manchmal empfand sie Fiora wie ein fremdes Wesen und dann erschrak sie über diese Vorstellung. Laura hingegen schien weniger Probleme mit Fioras Verhalten zu haben. Laura hatte überhaupt weniger Probleme - trotz ihrer Launenhaftigkeit.

Yara setzte sich auf den ausgetrockneten Boden und lehnte sich gegen das kühle Gestein. Eine Wohltat für ihren schmerzenden Rücken. Es wurde Zeit, dass sie wieder auf Wasser stießen, die Pferde brauchten dringend etwas zu trinken. Sie hob den ledernen Trinkbehälter an die Lippen und nahm langsam ein paar kühle Schlucke. Nun kam auch Fiora zu ihr, setzte sich auf ihren Schoß und verlangte vehement die Wasserflasche.

Sie hatten noch nicht lange so gesessen und Fiora war gerade eingedöst, als ein lauter Ruf die Stille des Augenblicks brach.

»Yeeooh!« schallte es über das Land, und als Echo darauf krächzten einige Vögel unwirsch, als wären sie aus ihrem Schlaf geweckt worden.

»Ah, Laura,« murmelte Yara. »Musst du immer so laut sein?«

Aber Fiora ließ sich dadurch nicht stören und drehte nur ihren Kopf auf die andere Seite.

Yara konnte ihre Selbst-Schwester nicht auf sich aufmerksam machen, aber Laura hatte wahrscheinlich die Pferdespur entdeckt, denn sie hörte bald darauf Hufschläge näher kommen.

Der Rappe bog um die hervorstehende Felsnase, und Yara blickte in das freudestrahlende Gesicht der Wächterin. Wieder einmal war sie erstaunt über die Wandlungsfähigkeit von Lauras Gemüt. Lange Zeit konnte sie mürrisch, zänkisch und voller aggressiver Angespanntheit anderen auf die Nerven gehen, so dass alle bemüht waren, der Frau möglichst aus dem Weg zu gehen, bis plötzlich diese Laune in ihr Gegenteil umschlug, völlig unerwartet für ihre Umgebung. Inzwischen hatte Yara gelernt, die Anlässe für diese unverhofften Wendungen, die aus Laura einen vor Lebenslust sprühenden Menschen machten, zu erkennen. Es handelte sich dabei meist um Ereignisse, die ihr selbst klein und unbedeutend vorkamen, für die Laura aber ein sehr feines Gespür besaß.

Auch dieses neue Gesicht konnte ebenso schnell verschwinden, wie es gekommen war, und dem stets unzufriedenen Alltagsgesicht Platz machen.

Es war schwierig, mit den häufig wechselnden Stimmungen umzugehen. Doch Yara hatte sich daran gewöhnt, ihr eigenes ruhig-ausgeglichenes Temperament erwies sich als passender Ausgleich, das Lauras verschiedene Gesichter akzeptieren konnte. Beide Seiten gehörten zu Laura, schufen ihre Persönlichkeit erst, und diese Persönlichkeit war es, die Yara so sehr mochte.

Yara legte den Finger auf ihre Lippen, und ihre Selbst-Schwester verstand sofort. Ihre braunen Augen entdeckten das schlafende Kind und sie schluckte die lauten Worte, die sie ohne Zweifel auf der Zunge hatte, hinunter. Yaras Blicke folgten ihrer schlanken Gestalt, die jetzt in der ärmellosen Jacke und der kurzen Jeans-Hose geschmeidig von ihrem Pferd sprang.

»Eine Decke,« flüsterte Yara ihr zu, als sie nahe genug herangekommen war. Laura machte noch einmal kehrt und holte eine der zusammengerollten Decken von ihrem Pferd. Nachdem sie sie im Schatten ausgebreitet hatte, nahm sie Fiora von Yaras Schoß und bettete das Mädchen vorsichtig darauf.

Yara stand auf, streckte sich und klopfte den Sand von ihrem langen Rock. Die beiden Frauen gingen zusammen ein paar Schritte weiter.

»Du wirst es kaum glauben,« sprudelte Laura hervor. »Nur ein kleines Stückchen weiter habe ich einen idealen Rastplatz für uns gefunden: eine Anzahl verkrüppelter Bäume, die aber ausreichend Schatten spenden und sogar ein kleines Gewässer, an dem die Pferde trinken können.«

Yara atmete auf. »Das ist endlich mal eine gute Nachricht.« Sie legte ihrer Selbst-Schwester einen Arm um die Schulter und strich ihr durch das dunkle krause Haar. »Es ist aber trotzdem besser, wenn ich Fiora hier zunächst weiterschlafen lasse. Anschließend können wir ja zu dieser Stelle reiten und eventuell die Nacht über dort bleiben.«

»Du meinst also, wir reiten heute nicht mehr weiter?«

Laura sah sie skeptisch von der Seite an.

»Ja. Ich möchte es nicht so gern. Ich fühle mich ziemlich müde und ausgepumpt .«

»Das sehe ich. Vielleicht ist es auch ganz gut, einmal eine längere Pause einzuschieben. Da wir kein genaues Ziel haben, ist es eigentlich unnötig, immer den ganzen Tag im Sattel zu sitzen.«

Yara nickte. Genau hier lag die entscheidende Schwachstelle ihrer Unternehmung: Sie kannten nicht einmal den Zielpunkt ihrer Reise. Es existierten zwar vage Gerüchte über die Position des Orakels, aber außer der Himmelsrichtung Norden gab dieses Gerede wenig her. Andererseits trieb sie die Unheil verkündende Ausstrahlung vorwärts. Sie hatte sich eher verstärkt als abgeschwächt.

Lauras Krauskopf legte sich auf ihre Schulter.

»Mach dir nicht immer so viele Gedanken, Schwester. In diesem Fall helfen sie uns bestimmt nicht weiter. Wir wussten schließlich von Anfang an, auf was wir uns einlassen.«

Natürlich hatte sie auch damit recht, aber es war Yara unmöglich, ihre Gedanken einfach abzuschalten. Immer wieder kreisten sie um das gleiche Problem. Was war die Ursache für diese unbehagliche Ausstrahlung, die sie beide empfingen? Und wieso waren sie die einzigen im Stamm, die davon etwas gespürt hatten?

Die beiden Frauen setzten sich einige Meter von Fiora entfernt ebenfalls in den Schatten.

»Du bist eine unverbesserliche Grüblerin,« warf Laura ihrer Selbst-Schwester nicht zum ersten Mal vor. »Aber deine Gedanken drehen sich im Kreise. Es ist wirklich reiner Zufall, ob wir das Orakel finden oder nicht.« »Gerade davon bin ich nicht überzeugt,« antwortete Yara. »Ich komme immer wieder darauf zurück, dass ich vielleicht etwas übersehen habe. In den alten überlieferten Schriften verbirgt sich vieles hinter der Oberfläche, das nicht leicht zu deuten ist. Außerdem ist einiges in einer Sprache verfasst, die ich nicht entziffern konnte. Ich vermute, es handelt sich dabei um eine Art künstlicher Geheimschrift, deren Schlüssel ich nicht kenne. Und da sich seit Jahrzehnten niemand um diese Schriften kümmert, weil ihre angeblichen Lehren Bestandteile unseres Zusammenlebens geworden sind, ist dieser Schlüssel wohl für immer verloren gegangen. Nur eines geht ganz sicher daraus hervor: früher haben Angehörige unseres Stammes wie auch anderer Stämme regelmäßig Ausflüge zum Orakel unternommen, um es um Rat zu bitten. Ich frage mich, warum dann die Position nicht genauer angegeben ist, da sie doch kein Geheimnis war. Es ist auch kein Grund angegeben, weshalb das Orakel seit ungefähr einem Jahrhundert dann plötzlich nicht mehr befragt wurde.«

»Vielleicht war eine Positionsangabe unwichtig, weil alle wussten, wo das Orakel zu finden war.«

»Nein, nein. Andere Orte sind auch genau beschrieben, obwohl der ganze Stamm sie kennt.«

»Hast du denn nicht die Alten gefragt? Sie müssten sich doch noch daran erinnern .«

»Eben nicht. Das ist ja so merkwürdig daran. Einige von ihnen waren noch selbst dort gewesen und konnten weder eine Ortsbeschreibung geben, noch wussten sie, was das Orakel darstellt und was sie dort erlebt haben. Sie waren mir gegenüber recht kurz angebunden, als wollten sie keine unliebsamen Erinnerungen hervorholen. Ich vermute sogar, dass dort Dinge geschehen sind, die sie erschreckt haben, und aus diesem Grund die Reisen zum Orakel eingestellt wurden.«

»Möglicherweise wollten sie es auch ganz einfach dir persönlich nicht sagen, der alten Schnüfflerin.«

Yara sah sie traurig an. Ja, sie wusste wohl, dass sie hinter vorgehaltener Hand so bezeichnet wurde. Seit einigen Monaten schien niemand im Stamm mehr die Aufgaben einer Chronistin für wichtig zu halten. Schlimmer noch, es war eine Atmosphäre von Abneigung und Ablehnung ihr gegenüber entstanden, die sie sich logisch nicht erklären konnte. Laura hatte etwas Ähnliches zu spüren bekommen. Hing diese Entwicklung mit ihrer Selbst-Duplizierung zusammen? Doch seit der Zeremonie waren fast sieben Jahre vergangen, und niemand hatte damals großes Aufheben darum gemacht. Außerdem hatte es zwei weitere Selbst-Duplizierungen während dieser Zeit gegeben. Nein, die Gerüchte und geflüsterten Abfälligkeiten hatten erst vor kurzem eingesetzt. Selbst-Duplizierungen waren nicht erwünscht, weil sie angeblich Unruhe in die feste Stammesordnung brachten, doch sie wurden als Teil ihres Lebens geduldet, denn schließlich zeichnete sich ihr Stamm durch diese einzigartige Fähigkeit vor allen anderen aus.

»Ich habe den Verdacht,« fuhr Yara in ihren Überlegungen fort, »dass die unheilverkündende Ausstrahlung, die uns zum Verlassen des Stammes bewog, mit unserer Ausgrenzung aus dem Stamm zusammenhängt.«

»Wie kommst du auf diese Idee?«

»Nun einmal fällt beides zeitlich ziemlich genau zusammen, und dann habe ich den Eindruck, dass der Stamm in den letzten Monaten noch ... lethargischer geworden ist, einen Antrieb zu einer Weiterentwicklung vermisse ich schon seit vielen Jahren.«

»Damit könntest du recht haben,« stimmte Laura ihr zu. »Ich habe noch die dauernde Litanei in den Ohren, dass wir doch stolz sein können auf das, was der Stamm darstellt und wie weit wir es gebracht haben. Jetzt sei die Zeit des Ausruhens von vergangenen Strapazen gekommen, jetzt könnten wir die Früchte ernten, die wir uns durch lange Entbehrungen verdient hätten ... und was der Sprüche mehr waren.«

»Gegen ein Ausruhen ist ja nichts einzuwenden, aber wenn es sich dabei um ein zur Ruhe setzen, um ein Stehenbleiben handelt, befinden wir uns in einer Sackgasse. Gebräuche und Gewohnheiten verselbstständigen sich, haben zwar keinen Sinn mehr, bilden aber insgesamt einen festgefügten Alltag, der eine trügerische Sicherheit bietet. Und jegliche Neugier und Kreativität wird dann zu einer Gefahr für diese Sicherheit.«

»Stimmt genau. So wie unser Verhalten den Männern gegenüber, das nur durch Traditionen und überkommenen Regeln gerechtfertigt wird.«

Yara musste lachen. »Nun bist du doch wieder auf dein Lieblingsthema gekommen, nur um meinen Redefluss zu stoppen.«

»Nicht nur, es ist ...«

In diesem Moment begann Fiora nach ihrer Mutter zu rufen. Yara ging zu ihr hinüber.

»Lange hast du ja nicht geschlafen. Willst du dich nicht wieder hinlegen?« Das Kind schüttelte energisch den blonden Lockenkopf. »Ich bin nicht mehr müde.«

»Na schön. Meinst du, dass du weiterreiten kannst? Laura hat ganz in der Nähe einen gemütlichen Rastplatz gefunden. Sogar eine Wasserstelle gibt es dort.«

Fiora antwortete nicht gleich. Sie hatte ihre blauen Augen auf einen Punkt hinter Yara gerichtet, den sie geistesabwesend fixierte. Nach einer Weile stand sie auf und sagte:

»Ich möchte weiterreiten.«

Yara sah sie leicht amüsiert an und nahm sie in die Arme. Sie war solche Momente von ihrer Tochter gewohnt, diese entrückten Sekunden schienen eine besondere Wichtigkeit für sie zu haben. Neugierig hatte Yara sie einmal gefragt, was dabei in ihr vorging, aber das Kind hatte sie nur erstaunt angesehen und nicht verstanden, was sie meinte. Yara verzichtete auf weitere Nachforschungen und rechnete das Phänomen den anderen ungelösten Rätsel der Kindheit hinzu.

Wie immer nach solchen Augenblicken wirkte Fiora auch diesmal sehr klar und bestimmt. Als gäbe es keine Nachwirkungen des Schlafes, machte sie sich von Yara los und ging zielstrebig auf eines der Pferde zu.

»Kann ich mal wieder auf dem Schwarzen reiten?«

»Sicher, Fiora, erwiderte Laura. »Aber lieber erst morgen, sonst müssen wir für den kurzen Weg bis zu dem Rastplatz noch alles umpacken.«

Fiora nickte, näherte sich dem braunen Pferd und streichelte dessen gesenkten Kopf. Laura packte Decke und Wasserflasche zusammen, dann hob sie Fiora vor Yara auf das Pferd.

»Auf geht's, das letzte Stück für heute.«

»Müssen wir noch viele Tage reiten?« fragte Fiora, als sie wieder unterwegs waren.

Ich weiß es nicht,« antwortete ihre Mutter. »Wir wissen nicht, wo der Ort ist, zu dem wir wollen.«

»Warum ist er dann so weit weg?«

Laura, die jetzt neben den beiden ritt, sah sie überrascht an.

»Du hast recht, es könnte auch ganz nahe sein.« Sie schüttelte den Kopf. »Du hast manchmal merkwürdige Einfälle.«

Doch Fiora schien schon vergessen zu haben, um was es ging. Ihre Gedanken wanderten schon ganz woandershin, und den Rest des Weges erzählte sie von Erlebnissen mit anderen Kindern des Stammes, wobei Yara schmerzlich bewusst wurde, wie sehr ihrer Tochter diese Kinder fehlten. Die Trennung von dem Stamm, wenn es auch nur eine vorübergehende war, hinterließ bei Fiora vielleicht drastischere Auswirkungen als für sie. Doch das Kind hatte schon wieder das Thema gewechselt und sprach nun von ganzen Bergen von Spielsachen, eine Phantasie, die es in den letzten Tagen des Öfteren ausgeschmückt hatte. Yara hielt es für eine Kompensation des Verlustes ihrer Freundinnen und Freunde, wunderte sich allerdings über die Detailgenauigkeit von Fioras Schilderung. Fiora musste einiges aus irgendwelchen Erzählungen aufgeschnappt haben, denn manche der von ihr beschriebenen Spielsachen gab es in ihrem Stamm gar nicht.

Laura hatte nicht übertrieben. Der Ritt dauerte in der Tat nicht lange, und schon am frühen Nachmittag erreichten sie die von ihr entdeckte Stelle.

»Seht ihr, wie eine Oase!« rief Laura schon aus, als in der Ferne die ersten Bäume zu erkennen waren.

Yara schmunzelte angesichts dieser Übertreibung. Denn als sie näherkamen, entpuppte sich die »Oase« als eine Ansammlung niedriger Bäumchen mit einer Art Tümpel in der Mitte. Trotzdem grenzte es fast an ein Wunder, in dieser öden Gegend auf solch einen Ort zu treffen.

Zumindest Fiora war ebenso begeistert wie Laura. Nachdem Yara untersucht hatte, ob die Wasserstelle irgendwelche Gefahren barg, zog sich das Kind aus und stürzte sich lachend vor Freude in das kühle Nass.

»Geh nicht zu weit hinein, dort wird es tiefer,« warnte ihre Mutter sie. »Ich kann ja schwimmen!« rief Fiora zurück. »Guck mal, hier sind Fische!«

»Na, die ist erst einmal beschäftigt,« meinte Laura augenzwinkernd. »Du hast wirklich ein schönes Kind.«

Yara wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Es kam selten vor, dass Laura Komplimente vergab und noch seltener gerade an sie. Es machte sie etwas verlegen.

Die beiden Frauen sattelten die Pferde ab und führten sie zur Tränke.

Auch die Wasserflaschen wurden nachgefüllt. Dann begannen sie damit, ein gemütliches Lager aus Decken und Schlafsäcken zu bereiten.

»Jetzt können wir uns einmal richtig ausruhen,« atmete Yara auf. »Genau das habe ich nach den anstrengenden Tagen nötig. Und für Fiora ist es auch gut.«

Laura brummte nur dazu und drehte sich auf die andere Seite. Sie hatte sich gleich auf ihrer Decke ausgestreckt und war schon halb eingeschlafen.

Wie friedlich die Wächterin jetzt aussieht, ging es Yara durch den Kopf. Und wie verschieden wir doch voneinander sind - innerlich wie äußerlich. Es ist kaum zu glauben, dass wir einmal aus der gleichen Person hervorgegangen sind.

In Augenblicken wie diesem versuchte sie, die Motive nachzuvollziehen, die ihre Ursprungs-Person Larya dazu getrieben hatten, ihre Selbst-Duplizierung vorzunehmen. Natürlich waren ihr die Gründe bekannt, schließlich besaß sie - ebenso wie Laura - alle Erinnerungen Laryas. Doch der Gedanke von zwei Seelen in einem Körper war nur ein hohler Begriff für sie. Was ihr fehlte, war der gefühlsmäßige Bezug. Der Drang, der Larya beherrscht und sie zu diesem Experiment getrieben hatte, war ihr nicht nachvollziehbar. Vielleicht erging es Laura in dieser Hinsicht besser, denn sie schien die extrem emotionale Seite ihrer Ursprungs-Person übernommen zu haben.

Yara hingegen wusste, dass sie eher in logischen, vernünftigen Bahnen dachte und handelte. Deshalb fiel es ihr auch so schwer, ihr früheres Leben als Larya zu reflektieren. Sie war als ganze Person »geboren« worden, ihre davor liegende Vergangenheit bestand nur in Erinnerungen. Und wie konnte sie es anstellen, sich an Gefühle zu erinnern?

Jede Selbst-Duplizierung hatte zwei Personen im gleichen Alter wie die Ursprungsperson zum Resultat. Sie teilte also eine Vergangenheit mit Laura, die sie beide nicht als eigenständige Personen durchlebt hatten. Und trotz der gleichen Vergangenheit hatte der Selbst-Duplizierungs-Prozess, die »Geburt« , zwei ganz unterschiedliche Personen hervorgebracht, zwei Facetten der Persönlichkeit Laryas. Inwieweit war sie also wirklich eine ganze Person und nicht nur ein Teil einer früheren? Und obwohl sie darüber froh war, dass zwei Frauen aus dem Ritual geboren wurden, fragte sie sich, ob auch dieser Umstand nur Zufall war. Welche Ursachen führten zu welchen Ergebnissen?

Angesichts solcher Paradoxien und unerklärlicher Vorgänge begann Yaras analytischer Verstand sich im Kreise zu drehen. Sie wusste, dass das mysteriöse Ritual der Selbst-Duplizierung erklärbar war, nur dass diese Erklärung für ihre rationalen Gedankengänge nicht fassbar war.

Der Anstoß zu ihrer selbst gewählten Aufgabe als Chronistin stammte im Übrigen gerade von diesem geheimnisvollen Brauch. Sie hatte herausfinden wollen, welchen Sinn dieser Ritus einmal für den Stamm gehabt hatte. In der Gegenwart war er zu einem selten benutzten rituellen Experiment verkommen. Dazu hatte sie sich sowohl in die schriftliche als auch die mündliche Überlieferung der Stammesgeschichte vertieft, aber die Quellen waren so alt, dass sie bisher nichts und niemanden gefunden hatte, der ihr in dieser Hinsicht weiterhelfen konnte. Alles, was sie zutage gefördert hatte, war ein Sammelsurium an widersprüchlichen mystisch-verklärten Geschichten. Es war unmöglich festzustellen, welche realen Tatbestände sich darin verbargen.

Im Verlauf dieser Arbeit hatte sie gemerkt, wie sehr es sie faszinierte, historischen Zusammenhängen auf die Spur zu kommen, fast Vergessenes auszugraben, Theorien über bestimmte Abschnitte der Stammesgeschichte aufzustellen und alles niederzuschreiben, um es für andere ebenfalls zugänglich zu machen. dass bisher kein fortlaufendes Geschichtswerk existierte, machte ihre Aufgabe nur umso interessanter.

Bald musste sie feststellen, dass es nicht genügte, die Geschichte des eienen Stammes zu erforschen. Überall ergaben sich Verbindungen zu anderen Völkern, Stämmen oder einzelnen Personen, die auf die eine oder andere Weise Einfluss auf die Entwicklung des Stammes genommen hatten. Die Geschichte des Stammes erweiterte sich so langsam zu einer Geschichte des Landes und des Kontinents, ja sie streckte sogar ihre Fühler aus in weltgeschichtliche Zusammenhänge.

Manchmal schwindelte ihr angesichts der Fülle des Materials, der unlösbar erscheinenden Aufgabe, eine stimmige historische Abhandlung anzufertigen. An vielen Stellen klafften große Lücken, und wo die einen gestopft wurden, tauchten andere auf. Es war für eine Person einfach nicht möglich, diesem Anspruch gerecht zu werden. Ihre Reichweite war begrenzt und damit auch die Menge und die Art des Materials, das sie zu sehen bekam, und auch die Personen, mit denen sie sich unterhalten konnte.

So hieß es, dass in den Küstenstädten, besonders in Milnewor, Hunderte von Büchern gesammelt waren, die sich ausschließlich mit der Vergangenheit des Planeten Erde beschäftigten. Und so war es seit dieser Zeit ihr sehnlichster Wunsch, einmal in ihrem Leben eine dieser »Bibliotheken« besuchen zu können. Aber die Küstenstädte waren tabu. Es hieß, frau würde dort wahnsinnig, ein Betreten dieser Lebensgemeinschaften wäre für Stammes-Angehörige nicht zu ertragen.

Berichte aus anderen Kontinenten stellten dies in Frage, doch dort hatte anscheinend auch kein so radikaler Bruch zwischen Stadt- und Landbevölkerung stattgefunden wie hier. Aber einmal einen anderen Kontinent zu erreichen, war ein noch unwahrscheinlicheres Ereignis als das Aufsuchen einer Bücherei.

Trotzdem träumte Yara oft von diesen Möglichkeiten, und ihre Wünsche konnten nicht gänzlich unerfüllbar sein. Schließlich war sie ein Mensch, und Menschen war es möglich, in Städten zu leben oder Schiffe und Flugmaschinen zu benutzen. Sie musste nur einen Weg finden und den Mut, sich von überholten Gewohnheiten und Gebräuchen des Stammes zu lösen.

Doch im Moment sah die Wirklichkeit anders aus. Mit dem Hereinbrechen der düsteren Visionen war der Weg zu ihren Träumen vorerst abgeschnitten.

Ihre Geschichtsforschung und die Sehnsucht nach einem freieren Leben hatten diesem Ritt ins Unbekannte weichen müssen.

Fioras Rufe schreckten sie aus ihrer Versunkenheit. Laura brummte unwirsch und drehte sich auf die andere Seite. Minutenlang hatte Yara ihre Tochter völlig vergessen, die nun umso heftiger ihre Aufmerksamkeit forderte.

Fiora gehörte nicht zu den Kindern, die dauernd beobachtet oder unter Aufsicht gestellt werden mussten. Yara war von Anfang an darauf bedacht gewesen, ihre Tochter möglichst selbstständig aufwachsen zu lassen, ohne ihr die Liebe und Geborgenheit, die sie ihr geben konnte, zu verweigern. Die momentane Situation erforderte natürlich, dass sie sich intensiver um sie kümmerte. Schließlich war außer Laura sonst niemand in der Nähe, an die sich das Mädchen wenden konnte. Yara hätte sich zwar am liebsten neben Laura zum Schlafen ausgestreckt, aber solange Fiora so munter war, konnte sie diesem Impuls nicht nachgeben. Fioras ungezügelte Energie war ihr manchmal direkt unheimlich. Das Mädchen strahlte dann eine Stärke aus, die andere Menschen regelrecht in ihren Bann zog. Die Unwegsamkeit des Geländes erforderte hier aber zumindest die Aufsicht einer Person.

Yara ermahnte das Kind, mit ihrem Geschrei Laura nicht zu wecken und ging dann hinunter zum Rand des Tümpels. Dort trocknete sie Fiora ab, die, noch während sie sich anzog, begann von ihrer Phantasiewelt zu plappern, die jetzt aus Sand, Wasser und Steinen bestand und in der sich die merkwürdigsten Lebewesen tummelten. Yara ergänzte diese Phantasiegeschichten hier und da, und bald waren beide im Märchenland versunken.

Irgendwann hörte Yara ein Plätschern in der Nähe. Laura war aufgestanden und wusch sich ausgiebig.

»Das könnte uns auch nicht schaden, was meinst du, Fiora?«

Doch die war schon zu anderen Spielen übergegangen, das Wasser hatte seinen anfänglichen Reiz verloren. Sie tat, als hörte sie die Worte ihrer Mutter nicht. Nachdem Yara sie mehrmals angesprochen hatte und keine Reaktion erhielt, spürte sie den Ärger in ihr emporsteigen, den sie aus ähnlichen Situationen kannte. Wenn Fiora nicht hören wollte, gab es kaum eine Möglichkeit, das zu ändern. Es half auch nichts, wütend zu werden, Fiora kapselte sich in solchen Fällen regelrecht ab. So schön auch ihre gemeinsamen Momente waren, so konnte Fiora sie andererseits mit dieser Nichtbeachtung zur Verzweiflung bringen.

Mit einem Fluch auf den Lippen sprang sie Laura hinterher, die inzwischen in der Mitte des Tümpels herumplanschte. Sie bewunderte die Figur ihrer Selbst-Schwester, auf deren Schlankheit und kraftvolle Bewegungen sie immer etwas neidisch war, und fing an, ihre langen blonden Haare zu waschen.

Später, als es zu dämmern begann, saßen sie alle drei um ein kleines Feuer und aßen von dem, was Yara gekocht hatte. Eigentlich ein Tag, mit dem sie zufrieden sein konnten, aber Yara spürte, dass dieses Wohlbefinden nur an der Oberfläche schwamm. Dem Ziel ihrer Suche waren sie keinen Schritt näher gekommen.

Schließlich, als selbst Fioras Energie zur Neige gegangen und sie von einer Minute zur anderen eingeschlafen war, waren die beiden Frauen unter sich, und Yara erkannte Lauras zweites Gesicht, die herabhängenden Mundwinkel, die Hände, die fahrig über den Boden wanderten und die grimmig ins Feuer starrenden Augen.

Sie bereitete sich auf eine Auseinandersetzung vor, der auch sie nicht aus dem Weg gehen wollte, denn in der Unzufriedenheit mit dem Ablauf ihrer Reise stand Laura nicht allein.

»Es kann nicht so weitergehen,« stieß ihre Selbst-Schwester endlich hervor. Der Schein des Feuers ließ ihr Gesicht glühen. »Wir tappen herum wie in einem Labyrinth, von dem wir noch nicht einmal wissen, ob es einen Ausgang oder einen Endpunkt hat. Es hat absolut keinen Sinn, wie bisher auf Glück vertrauend nur der Himmelsrichtung nach weiterzureiten. Selbst wenn ich vorausreite und die Gegend absuche, ähnelt das der Suche nach einem Sandkorn in der Wüste. Das Orakel kann überall sein, und es wäre ein ungeheurer Zufall, würde ich es entdecken. Ebenso gut ist es möglich, dass wir es übersehen haben und es bereits hinter uns liegt. Du musst dich einfach erinnern, Yara, ob du nicht doch von irgendwelchen Hinweisen gelesen oder gehört hast. Zumindest die Art oder Form des Orakels müsste doch irgendwo erwähnt sein!«

Ihre Stimme brach tief aus ihrem Inneren hervor und brachte Verzweiflung und Resignation zum Ausdruck. Yara konnte ihr keinen Trost geben.

»Es existieren keinerlei Hinweise, und ich bin sicher, dass ich nichts übersehen habe. Wir waren uns von vornherein darin einig, dass die Suche ziemlich aussichtslos ist und trotzdem haben wir uns dafür entschieden, weil uns nichts besseres einfiel.«

»Dann haben wir eben einen Fehler gemacht. Geben wir es zu und kehren wir um. Wenn wir weitermachen wie bisher, kommen wir keinen Schritt voran und tun in Wirklichkeit nichts dazu, um das Unheil anzuwenden. Wir machen uns nur etwas vor, indem wir glauben, wir unternähmen etwas. Da dieses Unternehmen aber von vornherein sinnlos war, diente es nur dazu, unsere Hilflosigkeit zu überdecken.«

»Das stimmt so nicht,« protestierte Yara. »Wir kannten die geringen Chancen und hatten trotzdem Vertrauen, etwas zu erreichen. Ich gebe zu, diese Hoffnung ist bei mir ebenfalls zurückgegangen. Doch welche Alternative bleibt uns? Meinst du wirklich, wir können einfach umkehren? Zurück zum Stamm, der froh war, uns loszuwerden, von dessen Leben wir uns so weit entfernt haben?«

»Ach, ich weiß nicht. Du findest für alles schöne Worte, und die helfen uns bestimmt nicht weiter. Spürst du nicht auch, dass das bedrückende Gefühl, der unheilverkündende Einfluss noch stärker geworden ist, noch bedrohlicher?«

Yara rückte etwas näher an ihre Selbst-Schwester heran.

»Ja, natürlich. Aber warum spüren es andere nicht? Es fühlt sich an wie etwas unsagbar Fremdes, etwas, das nicht in diese Welt gehört - oder nicht in diese Zeit. Manchmal überfallen mich Visionen von grauen Gesichtern und runzligen Händen, die sich aus der Vergangenheit in unsere Gegenwart strecken, als wollten Töte ihre Gräber verlassen und längst vergangene Zeiten heraufbeschwören.«

Laura zuckte zusammen, ihr Gesicht hatte einen starren Ausdruck angenommen.

»Dann begegnen sie dir also auch, diese Alpträume. Schreckensbilder, alt und brüchig, denen von irgendwoher neues Leben eingehaucht wird. Was ist das, das uns aus der Vergangenheit einzuholen versucht und Schrecken verbreitet, die unsere Welt längst überwunden hat?«

»Hat sie das?« flüsterte Yara. »Hat sie das wirklich? Ist die Erde so gut und friedlich, weil wir alles Böse aus ihr verbannt haben? Oder war es vielleicht ein Fehler, das Böse zu vertreiben, weil es zum Guten gehört wie der Schatten zum Licht? Nein, ich glaube, wir haben es nur vergessen, beiseite gelegt, und genau darauf hat es gewartet, denn das gab ihm Zeit, seine Kräfte zu sammeln und wachsen zu lassen. Und es wächst sowohl außerhalb von uns als auch in uns selbst. Wenn wir es erkennen könnten, könnten wir es bekämpfen, es sei denn, es ist dann schon zu spät. Doch an der Erkenntnis hindert uns der Mangel an Erfahrung, der Schlaf des Vergessens hat uns eingelullt.

Schließlich war die Erde nicht immer so, wie sie sich uns heute darstellt mit ihren unzähligen Lebensgemeinschaften, die miteinander Ideen austauschen und nebeneinander existieren können. Aber das ist nur ein Trugbild. Aus dem Nebeneinander ist ein Für-sich-selbst geworden, wie schnell kann ein Gegeneinander daraus erwachsen. Wir haben uns um niemand anders mehr gekümmert, und jetzt kümmert sich etwas um uns. Wir waren zu selbstzufrieden, jahrelang, vielleicht jahrzehntelang, haben nur das Wohl des Stammes im Auge gehabt, nichts anderes hat uns interessiert. Und was ist aus dem Stamm geworden?«

»Aber es ist undenkbar, dass sich die Zeiten wiedeholen. Die Vergangenheit ist vorüber, sie kann nicht wieder entstehen.«

»Warum nicht? Geschichte ist kein feststehender Ablauf von Ereignissen von primitiver Barbarei zum friedlichen Paradies, wie viele das zu glauben scheinen. Viele meinen sogar, das Patriarchat gehöre der Vergangenheit an, obwohl es genügend Gegenbeispiele in der heutigen Zeit gibt.

Diese Leute kennen nur Gerüchte über die schreckliche Vergangenheit dieses Planeten, die ihnen wie Märchen vorkommen, und sind der Meinung, dass zumindest die Stammes-Verbände hier das Paradies schon erreicht haben. Sie können sich nicht vorstellen, dass der jetzige Zustand nicht von Ewigkeitsdauer ist. Geschichte verläuft nicht linear oder ist gar statisch. Niemand bezweifelt, dass der Stamm es in den letzten Jahrzehnten geschafft hat, Hunger, Not, Mangel und Entbehrungen so gut wie zu beseitigen. Doch wer macht sich die Mühe zu überlegen, wie das zustande gekommen ist? Die Gegenwart ist kein naturgegebener Zustand. Der Stamm steht nicht isoliert in der Welt, und die augenblickliche, für manche zufriedenstellende Situation kann nur im Zusammenhang mit den Zuständen auf der Erde allgemein verstanden werden. Und dieser Zustand ist labil. Er kann sich jederzeit ändern - irgendwo. Und diese Änderung kann Einfluss auf den Stamm haben. Eine Veränderung wird den Stamm unvorbereitet treffen, wenn er sich - genauso wie die anderen Stämme - von der übrigen Welt abkapselt und so tut, als ginge sie ihn nichts an.

Es gibt eine Menge Gefahren, für die wir anfällig sind - vielleicht sogar jetzt mehr als noch vor einigen Jahren. Es hat zu allen Zeiten verschiedene Lebensformen der Menschen gegeben, und die meisten beruhten darauf, dass einige wenige Menschen die Macht besaßen, alle anderen zu unterdrücken. Für uns heute ein unvorstellbarer Gedanke, da wir die Welt als gerecht, friedlich und harmonisch erleben. Aber es ist wahr. Und es erhebt sich die Frage, ob die Erde heute, wo die wenigsten über den Horizont ihrer Lebensgemeinschaft hinausblicken, sich wirklich in so einem harmonischen Zustand befindet. Herrschen dort draußen auf den anderen Kontinenten, in den entlegenen Gebieten dieses Landes, in den Städten und Dörfern der übrigen Lebensgemeinschaften vielleicht doch Kriege, Unterdrückung, Ausbeutung, Leid und Elend? Und begibt sich unser Stamm nicht auch wieder auf einen solchen Weg? Haben wir Ausgrenzung und Abwertung nicht am eigenen Leib erfahren? Auf der Erde haben sich immer Perioden, die gekennzeichnet waren von Gewalt und Grausamkeit abgewechselt mit Zeiten relativen Friedens. Es gab Matriarchate und Patriarchate, große Umwälzungen, Revolutionen und weltweite Katastrophen, und wir verschließen die Augen davor und glauben, sie könnten sich nicht wiederholen. Dabei überwiegen die Zeiten des Elends bei weitem die kurzen Atempausen harmonischer Dekaden.«

»Du hättest Volksrednerin werden sollen,« unterbrach Laura ihren Redefluss. »Du sollst mir keine Vorlesungen halten über Geschichte, wie du sie verstehst. Deine Wortgewandtheit übertrifft zudem deine Kenntnisse. Ich kann dir nicht widersprechen, da ich mich auf diesem Gebiet nicht auskenne, aber mein eigener Titel als Wächterin erinnert mich ständig an unsere wenig glorreiche Vergangenheit. Und auch wenn du es nicht hören willst so wie der Stamm mit den Männern umgeht, das ist auch eine Art von Unterdrückung und Freiheitsberaubung. Ich weiß, dass die überall gepredigte Harmonie auch dazu dient, Mängel und Fehler zu verschleiern. Aber all das nützt uns doch im Moment nichts, diese Einsichten helfen uns nicht weiter.«

»Das bestreite ich,« widersprach Yara vehement. »Wenn wir wüssten, weshalb unser Stamm so lebt, wie er jetzt lebt, warum dieser Kontinent so entvölkert ist, warum wir die Technik verbannt haben und was es mit den beiden Katastrophen, der atomaren und der Dimensions-Katastrophe, auf sich hat, dann könnten wir vielleicht der wahren Natur unserer Ahnungen und Visionen auf die Spur kommen und den Lauf der Dinge aufhalten!«

»Wir beide? Yara, du machst dich lächerlich. Du hast dich in dein Spezialgebiet verrannt, deine Chronistin-Manie geht mir auf die Nerven! Und ich sage dir hiermit, wenn wir morgen nicht einen Weg finden, der uns eventuell doch noch zu einem Erfolg verhelfen könnte, dann kehre ich um.«

Yara hatte eine scharfe Antwort auf den Lippen, aber Laura hatte sich abgewandt, und sie schluckte die Worte hinunter. Die Wächterin würde in diesem Zustand vernünftigen Argumenten nicht zugänglich sein. Und vielleicht hatte sie sich wirklich in ihr Lieblingsthema verrannt und war über das Ziel hinausgeschossen. Belehrungen dieser Art waren das Letzte, was Laura in ihrer Stimmung vertragen konnte. Ihr typischer Ausbruch kam deshalb nicht ganz unerwartet.

Yaras Zorn verlor rasch an Intensität. Manchmal schien die Kommunikation zwischen ihr und ihrer Selbst-Schwester so erschwert, dass sie vollkommen aneinander vorbeiredeten. Es musste doch zu schaffen sein, auch gerade in einer schwierigen Lage zu einer Verständigung zu kommen. Nun gut, sie waren es nicht gewohnt, tage- und wochenlang aufeinander angewiesen zu sein, da keine andere Gesprächspartnerin in der Nähe war. Deshalb prallten ihre unterschiedlichen Charaktere so hart aufeinander. Aber sollte das ihre Suche zum Scheitern bringen?

Sie wälzte sich noch lange von einer Seite auf die andere, ohne schlafen zu können. Nach den Geräuschen neben ihr zu urteilen, erging es Laura nicht besser. Doch keine wagte eine Geste der Versöhnung.

Vielleicht ist es auch gut, wenn wir uns erst mal in Ruhe lassen, dachte sie, während sie, als der Morgen schon graute, in einen unruhigen Schlaf fiel. Fiora weckte sie beide nicht viel später. Noch müde und zerschlagen sahen sie sich in die Augen.

»Gib uns noch eine Woche,« bat Yara leise. »Wenn wir bis dahin nichts finden, kehren wir zusammen um.«

Laura begegnete ihrem Blick ruhig, die Härte war ein wenig aus ihrem Gesicht gewichen.

»Einverstanden,« sagte sie. »Eine Woche.«

Es sollte ihnen keine Woche Zeit bleiben.

Eine andere Realität oder Die Zerstörung der Welt

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