Читать книгу Eine andere Realität oder Die Zerstörung der Welt - Frank Westermann - Страница 8
4. Kapitel: Das Bündnis (I)
ОглавлениеDschempetro fühlte sich hintergangen. Entweder konnte er seinen Informanten nicht mehr vertrauen oder es war etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen. Auf der heutigen Besprechung waren Entscheidungen getroffen worden, die nicht auf der Tagesordnung gestanden hatten. Er hatte natürlich mit einer Routine-Versammlung gerechnet. Hätte er die Ausmaße geahnt, wäre er selbstverständlich dort aufgetreten. Doch das Bündnis war auch ohne ihn beschlussfähig gewesen, und so hatte es keinen Sinn, ein Veto einzulegen.
Er wuchtete seine massige Gestalt aus dem Sessel und murmelte eine Verwünschung. Weiche Teppiche dämpften seine Schritte, als er begann, unruhig in seinem Appartement auf und ab zu gehen. Er konnte sich die Vorgänge beim besten Willen nicht erklären.
Der hochgewachsene, breitschultrige Mann, Herr über den Multi-Media-Konzern MEDAC, mit dem er nahezu die gesamte Kommunikationsindustrie kontrollierte, war einer der mächtigsten und einflussreichsten Persönlichkeiten des Schweren Lagers. Mit seinen 62 Jahren hatte er manche Überraschung erlebt - und aus den meisten war er letzten Endes gestärkt hervorgegangen -, aber selten hatte ihn etwas so aus der Fassung gebracht wie das Ergebnis der vor einigen Stunden beendeten Besprechung des Bündnisses.
Dämmerung war über die Millionenstadt hereingebrochen, deren Lichter und Geräusche selbst hierher in das 45. Stockwerk der Konzernzentrale drangen. Dschempetro zog sich oft in seine Zweitwohnung zurück, das gab ihm das Gefühl, alles besser unter Kontrolle zu haben. Manchmal meinte er sogar das Dröhnen der gewaltigen Maschinen der Druckereien aus den unteren Geschossen bis hier hinauf zu hören. Seinen Landsitz am Stadtrand hatte er seit Monaten kaum noch aufgesucht, es sei denn, dass dort ein Treffen eines Teils des Bündnisses abgehalten wurde.
Ein Zuruf an den Akustik-Servo verdunkelte die Scheiben und aktivierte stattdessen die indirekte Beleuchtung. Keine Blicke aus dem Fenster sollten ihn ablenken, er musste nachdenken.
Er mixte sich einen weiteren Drink an der Bar und ließ sich wieder in den Ledersessel fallen. Er lehnte sich zurück. Seine Augen nahmen die teure Einrichtung und die wertvollen Ölgemälde an den Wänden nicht wahr. Von Zeit zu Zeit nahm er einen Schluck aus dem Glas, seine Konzentration war vollkommen.
Wie hatte es geschehen können, dass die Vorschläge der Magier-Front fast einstimmig abgesegnet worden waren?
Noch vor wenigen Tagen hatte er mit einigen seiner Verbündeten persönlich gesprochen, um eine grobe Linie für das entscheidende Gesamttreffen, das unmittelbar bevorstand, abzustecken. Niemand hatte die Pläne der Magier gut geheißen, denn wenn diese verwirklicht wurden, verschaffte ihnen das ohne Zweifel die führende Rolle im Bündnis. Es bedeutete, dass die Technos zu ihren Helfershelfern degradiert wurden und nur noch eine zweitrangige Position einnehmen würden. Und niemals hätte eine solche Abstimmung auf dem heutigen Treffen erfolgen dürfen.
Wie war es möglich, dass sich so erfahrene Männer und Frauen wie General Peter Ritmaister, Boltagen und Telström oder Vera von Camelsanien hatten übertölpeln lassen? Selbst Krieni aus Milnewor, deren Sturheit und Eigensinn zur Plage werden konnten, hatte mit den Magiern gestimmt.
Und neue Argumente waren in der Debatte nicht aufgetaucht.
Rütig, sein Informant bei General Ritmaister, hatte ihn natürlich sofort in Kenntnis gesetzt. Er und seine anderen Agenten hätten ihn von einem Stimmungsumschwung vorher informiert. Es hätte sich zumindest etwas andeuten müssen. Rütig ging bei Ritmaister ein und aus, der General vertraute ihm seine intimsten Geheimnisse an. Doch sein Mann hatte ihm noch gestern Meldung erstattet, dass nichts Ungewöhnliches zu erwarten war. Am Hof von Vera von Camelsanien wimmelte es von seinen Spionen, auch sie hatten nichts durchgegeben, das von der üblichen Routine abwich.
Es gab natürlich das gewohnte Gezänk und die kleinlichen Streitereien, bei denen jeder versuchte, den anderen zu übervorteilen. Jeder folgte zuallererst seinen ganz persönlichen Zielen, um möglichst viel Machtzuwachs und Gewinn für sich herauszuschlagen. Das bedurfte keiner weiteren Rechtfertigung und betraf Technos wie Magier gleichermaßen - obwohl Geldenkorn bei den Magiern das Heft fest in der Hand hielt, eine anerkannte Autoritätsfigur, wie Dschempetro es sich wünschte, dass er sie für die Techno-Seite darstellen würde. Jeder versuchte sich Vorteile auf Kosten der anderen zu verschaffen, setzte Spione, Geld und Macht ein, um den eigenen Einfluss zu vergrößern und die Schachzüge des Bündnisses in eine ihm genehme Richtung zu lenken. Nicht zuletzt diesen Intrigen und Machtspielen war es zu verdanken, dass sich die Ausarbeitung der endgültigen Strategie nun schon einige Jahre hinzog.
Und all das sollte nun während eines belanglosen Treffens zugunsten der Magier entschieden worden sein?
Dschempetro konnte es immer noch nicht recht glauben. Seine Hände zitterten vor Wut. Er musste sich etwas einfallen lassen, um diese verheerende Entscheidung rückgängig zu machen. Er musste einen Weg finden, er war nicht der Mann, der kampflos aufgab. Zunächst war es wichtig, die Motive seiner Verbündeten zu erfahren, die sie zu dem verhängnisvollen Schritt bewogen hatten. Welche Argumente hatten sie von einem Tag zum anderen umfallen lassen. Oder hatte es sich gar nicht um Argumente gehandelt?
Er musste sich eingestehen, dass die Versuche, die unter Führung der Magier gestartet worden waren, um einiges erfolgversprechender verliefen, als die stümperhaften, überfallartigen Taktiken, die die Techno-Mitglieder des Bündnisses anfangs in die Wege geleitet hatten. Damals waren ihre Pläne fast gescheitert. Sie hatten kurz vor einer Entlarvung gestanden, und die inneren Streitigkeiten hatten das Bündnis aufs Äußerste belastet. Gerade noch rechtzeitig waren die Versuche abgebrochen, die Pläne geändert worden. Die Belastungsprobe hatte in eine Zeit der Stagnation gemündet, in der mehr als einmal das Auseinanderbrechen des Bündnisses gedroht hatte. Die Aussicht auf die ungeheure Macht, die ihnen bei einem Gelingen zufließen würde, hatte sie immer wieder zusammengetrieben.
Doch die Voraussetzungen hatten sich inzwischen wieder geändert. Die Technos hatten ihre Stellung wieder gefestigt, und die Zeit war reif für ein gut abgestimmtes finanziell-ökonomisches sowie militärisches Vorgehen. Die ganze Lage konnte sich mit einem Schlag zu ihren Gunsten verändern. Und damit wäre auch das Gleichgewicht zwischen Magiern und Technos im Bündnis wiederhergestellt. Die vorsichtigen Manipulationen der Magier hatten sich als äußerst anfällig für Störungen erwiesen und waren sicherlich ungeeignet für ein breiter angelegtes Vorgehen.
Er dachte mit Unbehagen daran, mit welchen Kräften sie spielten, um ihre Ziele durchzusetzen. Oft fühlte er sich nur als Marionette der Magier. Keiner der Technos verstand wirklich, was sie da in Gang setzten und welche Auswirkungen es hatte. Und er bezweifelte, dass den Magiern selbst die vollen Konsequenzen ihrer Handlungen bewusst waren. Trotzdem wollte Geldenkorn alles noch intensivieren und ausdehnen. Dschempetro musste zugeben, dass ihn der Gedanke daran schaudern ließ. Außerdem war er leicht zu durchschauen: Geldenkorn wollte die Vorrangstellung der Magier ausbauen und den Einfluss der Technos zurückdrängen, damit ein Erfolg ausschließlich den Magiern zugeschrieben werden konnte. Am Ende würden die Magier alle Fäden in der Hand halten, und die Technos waren auf ihre Gnade angewiesen. Geld, ökonomische Macht und Technologie hätten kaum einen Stellenwert in einer Gesellschaft, die nach magischen Prinzipien funktionierte.
Dschempetro stürzte den Rest des Alkohols in einem Zug hinunter. Es beunruhigte ihn, dass die Absichten der Magier eine so unkalkulierbare Größe darstellten. Er war es gewohnt, ein Netz von Spitzeln zu dirigieren, doch bei den Magiern ließ sich niemand einschleusen. Andererseits war er sich nicht sicher, ob sie nicht schon Spione bei ihm untergebracht hatten. Das war zwar unwahrscheinlich, weil den Magiern die Lebensbedingungen in den Techno-Gebieten nicht zusagten, aber zuzutrauen war es ihnen. Außerdem machten ihn Freunde und Feinde nervös, die nicht zu kaufen waren, und den Magiern hatte er nichts anzubieten, was diese interessiert hätte.
Plötzlich war er davon überzeugt, dass sie mit gezinkten Karten spielten. Es war einfach nicht zu übersehen, dass sich alles genau nach ihren Vorstellungen entwickelt hatte. Er wusste nicht, wie sie es angestellt hatten, die heutige Abstimmung zu manipulieren, aber genau das war geschehen. Wahrscheinlich würde es ihnen nicht nachzuweisen sein, sie waren sehr subtil in diesen Dingen.
Er musste eine Gegenoffensive starten, das Votum musste korrigiert werden. Wenn er sich mit seinen Verbündeten einig werden konnten, stellten sie einen Block im Bündnis dar, der nicht übergangen werden konnte. Die übrigen Techno-Herrscher, die kleinen, die immer um ihre Position fürchteten, würden sich ihnen anschließen, wenn es ihnen gelang, die Magier-Fraktion zu überrumpeln.
Noch heute Abend würde er sich mit Rütig in Woltan in Verbindung setzen, und über General Ritmaister den Gegenschlag einleiten. Er hatte nicht mehr viel Zeit, um bei der alles entscheidenden Sitzung die Trümpfe wieder in die Hand zu bekommen.
Seine Stimmung besserte sich. Er war Spezialist dafür, das Ruder in ausweglos scheinenden Situationen noch herumzureißen.