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2. Flucht ohne Ausweg

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War es wirklich nur die Angst, die mich trieb, diesen Weg zu gehen? War es wirklich so einfach, alles auf diese Formel zu reduzieren? Und was sagte das schon aus? Angst ... Angst vor dem Leben, Angst vor der Realität, Angst vor Menschen ... sich nichts mehr zutrauen, das Selbstbewusstsein oder das, was man dafür gehalten hat, schwindet, als ob mir die Lebenskraft ausgesaugt wird.

Ich weiß nicht mehr, wer ich bin – aber habe ich das jemals gewusst oder habe ich immer nur ein Abziehbild, eine Schablone von mir gesehen? Ein Bild, bei dem alle dunklen Flecken wegretuschiert waren, eine Folie zum handlichen Gebrauch für jede/n – vor allem für mich selbst.

Die Welt um mich herum war komplizierter geworden, schwieriger zu durchschauen, komplexer zu begreifen, weil ich mich selbst nicht mehr durchschaute, alles in Frage stellte und dazu neigte, bei jedem geringen Anlass in Melancholie oder Depression und Resignation zu versinken.

Plötzlich waren ein paar Eckpfeiler meines Wissens über mich selbst ins Wanken geraten, und in der Folge davon zweifelte ich an meiner gesamten Lebensweise und meinen Lebensinhalten. Sachen, die mir früher Spaß gemacht, mir einen Sinn gegeben hatten, wurden wertlos und hohl. Und obwohl es Neues im Überfluss zu entdecken gab, schaffte ich es nicht, dies in mein Mosaik einzubauen. Musste ich vielleicht erst das ganze Bild von mir radikal zerstören? Und dann? Würde sich dann wirklich eine neue Struktur herstellen oder nur ein schwarzes Loch, eine gähnende Leere Zurückbleiben?

Und das alles musste ausgerechnet zu einem Zeitpunkt passieren, wo alle anderen neuen Mut schöpften, die langen Anstrengungen endlich einen Lichtstreif am Horizont hervorgebracht hatten. Das Leben schien doch wieder einfacher, sinnvoller, die Belohnung für Mühsal und Aufopferung stand bevor. Die Menschen atmeten auf, mussten endlich nicht mehr tagtäglich um ihr Überleben bangen, eine neue Zukunft stand vor der Tür und versprach zumindest bessere Zeiten als früher. Hoffnungen und Wünsche, die längst begraben schienen, tauchten aus ihren Verließen empor, es wurde gelacht und gefeiert, wirkliches Leben war spürbar, pulsierte überall.

Und gerade in dieser Situation sollte es mir an den Kragen gehen? Eigentlich sollte ich darüber lachen, hinweg mit dem Selbstmitleid und dem Weltschmerz! Lebe und lass es dir gutgehen!

Aber es hatte natürlich keinen Zweck, sich so etwas vorzuspielen, auch wenn niemand es begriff. Und wer sollte es auch verstehen, wenn mir nicht einmal selbst die Ursachen und Beweggründe für meine Gefühle und Verhaltensweisen klar waren? Je mehr ich darüber nachgrübelte, desto undurchdringlicher wurde der Dschungel aus Absichten, Motiven, Emotionen und längst verdrängtem Seelenmüll.

Meine Freunde wollten nichts damit zu tun haben, und die Psycho-Beratung, bei der ich zweimal war, war einfach nur lächerlich.

Dieses Gefühl, als ob sich plötzlich die Realität verschoben hatte, als würde ich gar nicht mehr in dieser Welt leben ... Es machte mich absolut hilflos, lähmte alle meine Energien. Ich konnte stundenlang in Gedanken versunken dasitzen, bis mich Leid und Schmerzen überkamen und ich anfing zu heulen. Meist besserte sich dadurch mein Zustand etwas, ich konnte wenigstens etwas rauslassen und danach einigermaßen beisammen meinen Alltag hinter mich bringen.

Kein Land in Sicht ... Hatte ich es deshalb auf mich genommen, dieses waghalsige Experiment einzugehen von dem zudem nur wenige von seiner Notwendigkeit überzeugt waren? War das nicht wieder eine meiner Selbsttäuschungen und nichts anderes als ein Selbstmordkommando, das mir das Problem der Selbsttötung abnahm?

Ich spürte wieder, wie sich mein Magen zusammenkrampfte, und nahm automatisch eine Tablette – garantiert biologisch ohne Nebenwirkungen. Aber die halfen kaum noch, der Schmerz wurde mehr und mehr zu einer gewohnheitsmäßigen Last.

Schon morgen sollte es losgehen, es war immerhin eine langwierige Eingewöhnungsphase notwendig. Ich konnte immer noch zurück, aber wohin? Es gab kein Zurück. Denn zurück bedeutete für mich zurück zu Julie, und dieser Weg war ein für allemal für mich versperrt. Die Beziehung zu Julie bestand längst nicht mehr, nur noch in meinen Wunschträumen, und sie hatte wahrscheinlich niemals so bestanden, wie ich es mir jetzt gern vorstellte. Einbildung ... Manchmal kam es mir so vor, als lebte ich fast vollkommen in einer Welt aus Einbildung, Wunschtraum und Illusion. Ich war mir nicht mehr sicher, was davon in Wirklichkeit existierte.

Und gerade diese Flucht vor der Realität, wie sie es nannten, sollte mich also dazu befähigen, das Experiment durchzuführen, von dem – nach Meinung einiger Experten – so viel abhing, vielleicht sogar das Schicksal ganzer Welten?

Hatte ich nicht schon immer mal den Helden spielen wollen? Wer wollte das nicht? Ein Held wie in meinen Büchern. Aber Helden sterben früh, und ihr Ruhm nützt ihnen nichts mehr. Und auch dieses war mehr die Rolle eines Märtyrers oder noch schlimmer: vielleicht würde nie jemand erfahren, ob ich nun zum Helden oder zum Märtyrer geworden war.

Vielleicht hielt mich nur noch dieser Sarkasmus aufrecht, der mir immer eine gewisse Distanz zu allem verlieh – außer natürlich zu Julie. Da wirkte auch dieses letzte Mittel nicht. Es war mir nicht mehr möglich, das alles zu verdrängen, diese Fähigkeit hatte ich noch nie besessen, aber nun wusste ich auch nicht mehr, wie ich damit umgehen sollte. Realitätsferne und Selbstverlorenheit hatten mich längst eingeholt.

Aber es war nicht nur das, es war vielmehr auch eine tiefsitzende Unfähigkeit, mit den grundlegenden Veränderungen um mich herum fertig zu werden, sie irgendwie zu integrieren. Ich hatte mich schon immer etwas abseits, abgesondert gefühlt und erlebt, was mir zum einen meine eigene Persönlichkeit gab und mich andererseits oft zutiefst erschreckte, da ich fast nie direkte Nähe, Verbundenheit zu anderen Leuten kennenlernte. Ich war mir dessen früher gar nicht so bewusst gewesen, aber die Nähe zu Julie hatte mir gezeigt, was mir fehlte und dass dieser letzte Schritt immer gefehlt hatte.

Ein Schriftsteller, besonders ein SF-Autor wie ich einer geworden war, ist vielleicht sowieso ziemlich einsam in seinen utopischen Welten, und wenn es dann auch noch eine besondere Art von Science Fiction, oder Sci-Fi, wie es später genannt wurde, war ...

Diejenigen, die nur von Wildwest-Abenteuern im Weltraum, technisch-militärischen Superraumschiffen und glotzäugigen Monstern schrieben, hatten immer ihre Fan-Gemeinde – sowohl Leser als auch Autoren. Das gleiche galt für die modischere Fantasy-Welle wo die Welten von Elfen, Hexen, Prinzessinnen, Drachen und ritterlichen Helden bevölkert waren. Wer im Trend lag, brauchte sich um Ruhm nicht zu sorgen. Diese Männergemeinschaften waren immer Abbild ihrer reaktionär-hierarchischen Vorbilder.

Aber was hatte ein politischer SF-Autor in einer postrevolutionären Polit-Szene zu suchen? Da gehörte er nun wirklich nicht hin. Entweder Sci-Fi oder Politik. SF wurde in diesen Kreisen auch gar nicht gelesen, war größtenteils verpönt, wurde nicht zur Kenntnis genommen. Schließlich gab es ja wichtige politische Literatur, also theoretische Abhandlungen, Agitationsschriften, Dokumentarberichte oder Biographien von politischen Persönlichkeiten.

Welches war nun der Kreis von Leuten, mit denen ich in dieser Hinsicht etwas zu tun hatte? Es gab ihn nicht.

Jetzt schon gar nicht mehr, in diesen Zeiten.

Ich hatte mir eingebildet, keine Menschen, Freunde zu brauchen, mit denen ich über meine eigene, ganz persönliche Welt reden konnte. Ich werkelte so vor mich hin, und nur wenn ich an die berühmte Grenze stieß, merkte, dass sich meine Gedanken von denen anderer meilenweit entfernten, wurde ich stutzig.

Meine Unfähigkeit, die offizielle Realität zu akzeptieren, in ihr zu leben, korrespondierte mit der Unfähigkeit anderer, sich mit anderen Realitäten auseinanderzusetzen.

Und nun war die offizielle Realität verändert worden, verändert in einem Sinn, wie es vielen, die ich kannte, vorgeschwebt hatte, und alle fanden wenigstens Teile ihrer Wünsche und Hoffnungen erfüllt. Sie wanderten aus, engagierten sich in Projekten, zogen aufs Land, fingen an zu leben, wie sie wollten. Niemand schrieb ihnen mehr vor, wie sie zu leben hatten.

Plötzlich waren alle meine Freundinnen und Freunde aus meinem Blickfeld verschwunden, und ich kriegte zu spüren, dass meine Wünsche und Träume nicht berücksichtigt worden waren in dieser schönen, neuen Welt. Ich steckte mit einem Bein noch in der alten Gesellschaft und mit dem anderen hing ich in der Luft und wusste nicht, wo ich es hinstellen sollte. Eine denkbar unbequeme Haltung.

Natürlich hatten alle ihre Schwierigkeiten und Probleme, schließlich verändern sich Menschen nicht von heute auf morgen, auch nicht durch eine Revolution. Aber es war seitdem schon eine Menge Zeit vergangen, und außerdem war es wirklich erstaunlich mit anzusehen, wie schnell und präzise viele ihre eigenen Gedanken entwickelten und ihre Wünsche tatkräftig und selbstständig versuchten umzusetzen. Natürlich klebten an allen die zähen Schatten der Vergangenheit, der eigenen Sozialisation und angeeigneten Verhaltensweisen, die allen dazu verholfen hatten, sich früher überhaupt durchzuschlagen. Es wagte ja auch niemand zu behaupten, wir hätten die Arbeit oder gar das Patriarchat abgeschafft. Aber alle glaubten fest, auf dem besten Weg dorthin zu sein trotz aller Rückschläge, die es nicht zu knapp gab.

Die meisten schienen sich jedenfalls mehr oder weniger zurechtzufinden auf diesen neuen, unsicheren Pfaden, während ich zunehmend feststellte, dass diese Wege mich genauso wenig zufriedenstellten wie die alten. Und ich war nicht in der Lage, in dieser Situation einen eigenen Weg einzuschlagen, der mich mit anderen verband.

Was war nur mit mir los? Warum konnte ich nicht mal zufrieden sein? Was fehlte mir bloß immer?

Ich wusste einfach nicht mehr weiter, wusste nur, was ich nicht wollte, weder in der Stadt arbeiten, noch auf dem Land die Natur wiederentdecken, weder festgefahrene Strukturen noch oberflächliche Ungebundenheit, weder Konsumterror noch materielle Bescheidenheit. Und dazwischen fand ich nichts.

Mein Schreiben hatte mich eine Zeitlang über Wasser gehalten, hatte mir die Möglichkeit gegeben, Vergangenes aufzuarbeiten und Zukünftiges zu erahnen. Doch irgendwann war mir auch die Freude daran vergangen, meine Phantasie war erloschen, der Funke verglüht.

Und ausgerechnet in dieser Lage hatte ich eine Beziehung mit Julie angefangen, die ich kurz vor Ausbruch der Revolution in Neu-Ing kennengelernt hatte.

Ich bildete mir ein, endlich einen Menschen gefunden zu haben, der sich voll und ganz auf mich einließ, so wie ich mich auf Julie einließ. Ich durchstieß alle meine Barrieren, wischte alles zur Vorsicht mahnende Geflüster in meinem Hinterkopf beiseite, ließ mich ganz tief fallen – und lief prompt in die Falle. Ich lernte Gefühle kennen, von denen ich nie für möglich gehalten hätte, dass sie in mir schlummerten – der Aufschlag auf den Granitboden der offiziellen Realität war umso härter.

Und ich versank. Mein angeschlagenes Selbst hatte sich vollständig in Julie verloren, sich aufgelöst, der letzte Rest Selbstbewusstsein war erloschen. Ich hatte alle meine Sehnsüchte in sie hineinprojiziert, krallte mich an ihr fest, wollte alles von ihr und von niemand anders, nichts galt mir mehr etwas, alles andere wurde zusehends unwichtiger. Und das mir, wo ich doch feste Zweierbeziehungen immer abgelehnt hatte! Das war eben der Unterschied zwischen Theorie und Praxis.

Ich versuchte anfangs, die Unterschiede wegzuwischen, die Zeichen zu übersehen, die mir eindeutig verrieten, dass Julie nicht in diese Art Liebe verfallen war. Natürlich nützte das Wegsehen und -hören nichts, die Realität holte mich schnell genug ein. Ich sah, was auf mich zukam, aber dieses Wissen nützte mir nichts, es änderte nichts, ich konnte nicht mehr zurück, weil mir nichts mehr etwas bedeutete. Rückkehr hieß Tod. Und so schob ich sie auf, die Rückkehr. Es kam zu verzweifelten Kämpfen und dauernden, angespannten Situationen. Wir versuchten beide mit aller Kraft, die Lage in den Griff zu bekommen, eine Ebene zu finden, die sowohl meine als auch ihre Gefühle berücksichtigte, und alles immer in der Ungewissheit, ob das alles überhaupt noch einen Sinn hatte und wie es am nächsten Tag weitergehen würde.

Irgendwann fiel uns nichts mehr ein, und Julie löste es auf ihre Weise: sie beschloss aufs Land zu ziehen. Eine Entscheidung, die ich gut nachvollziehen konnte, denn ich wusste, dass das Landleben schon immer ein – früher unerfüllbarer – Wunsch für sie gewesen war. Sie wäre verrückt gewesen, hätte sie diese Chance nicht wahrgenommen, jetzt, wo sich Menschen fanden, die ebensolche Bedürfnisse äußerten, und die Möglichkeit bestand, dort auch leben zu können ohne entfremdete Arbeit und den Stress des Geldverdienen-Müssens. Auf den Südlichen Inseln gab es genug freies Land, auf dem es sich zu leben lohnte.

Es war unausgesprochen klar, dass damit unsere Beziehung zu Ende war. Wir wussten ja auch beide nicht mehr, wie es weitergehen sollte.

Und ich Idiot, warum blieb ich hier in dieser Riesenstadt, die so viele zerstörerische Erinnerungen barg? Aber ich konnte meiner Vergangenheit nicht davonlaufen, hatte kein Gespür für Natur, kein heimliches Bedürfnis nach einer Landidylle. Brauchte ich die Kaputtheit von Neu-Ing, die Kneipen, das Tri-Di und anderen Lebensersatz so sehr?

Es entstand eine Zukunft, in der ich mich ebenso wenig zuhause fühlte wie in der Vergangenheit, und in der Gegenwart konnte ich schon gar nicht leben.

Der Schock der Trennung von Julie, dieser Sturz in die absolute Leere hatte mir den Rest gegeben. Tagelang lief ich mit umnebelten Gehirn durch die Straßen, immer den Tränen nahe, mal volltrunken, mal apathisch irgendwo rumsitzend. Ich war leer, ausgebrannt, die Trauer, das Selbstmitleid hatten mich überwältigt, und es gab nichts und niemanden, auf den ich mich stützen konnte. Wie auch, wo ich mich selbst so vollständig verloren hatte?

Und an diesem Punkt wurde mir das Angebot gemacht.

Wie Splitter aus fernen Träumen

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