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1. Einleitung

Die Behindertenhilfe hat sich in den letzten zehn Jahren rasant weiterentwickelt. Die Dezentralisierung der großen Komplexeinrichtungen wurde weiter vorangetrieben, so dass Menschen mit einer geistigen Behinderung in kleine gemeindenahe Wohnorte umziehen konnten. Der Gedanke der Förderung wich dem Gedanken der Selbstbestimmung und des Empowerments. Menschen mit einer geistigen Behinderung werden vom Objekt der pädagogischen Förderung und Assistenz zum Subjekt der Dienstleistung. Sie stehen als Kunde im Mittelpunkt der Assistenzleistungen, weil sie entscheiden, welche Assistenzleistungen sie zum Leben in der Gemeinschaft haben wollen.

In Nordrhein-Westfalen wurde hierfür das Individuelle Hilfeplanverfahren von Seiten der überörtlichen Kostenträger entwickelt und installiert, um den Menschen mit einer Behinderung als Subjekt der Assistenzleistungen in den Mittelpunkt allen Tun und Handelns zu stellen. Der Individuelle Hilfeplan (IHP) ist das Steuerungsinstrument für die notwendigen Assistenzleistungen zur Sicherstellung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. Zugleich basiert hierauf die Entscheidung des Kostenträgers zur Übernahme der Kosten für die Assistenzleistungen. Der IHP ist das zentrale Element zur Planung, Finanzierung und Durchführung der Assistenzleistungen im Bereich der Behindertenhilfe.

Der Gedanke der Selbstbestimmung findet in der Wohnform des Betreuten Wohnens seinen höchsten Ausdruck. Der Mensch mit einer geistigen Behinderung besitzt einen eigenen Mietvertrag, lebt in den eigenen vier Wänden in einem „normalen“ Wohnumfeld und hat seinen Lebensalltag eigenständig zu organisieren. Gemäß der im Individuellen Hilfeplan festgelegten Anzahl an Fachleistungsstunden erhält er in der Woche direkte Assistenzleistungen durch eine pädagogische Fachkraft. Diese Wohnform richtet sich nach wie vor an Menschen mit einem nicht so hohen Hilfebedarf. Dies hat vor allem auch ökonomische Gründe, da ab 10 Fachleistungsstunden in der Woche die stationäre Wohnform die günstigere ist. Sie wird dann vom Kostenträger präferiert. Diese Entwicklung hört sich erst einmal positiv an, dennoch sollte man kritisch auf die Ambulantisierung der Behindertenhilfe schauen. Ohne das Vorhandensein von sozialen Netzwerken, in denen der alleine in seiner Wohnung lebende Mensch mit Behinderung eingebunden ist, steigt die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von psychiatrischen Störungen, Verhaltensauffälligkeiten und Abhängigkeitsproblematiken. Die Selbst-Hilfe-Kräfte der Betroffenen zur Lebensbewältigung werden oft überschätzt (vgl. Theunissen 2003, S. 84).

In den stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe verändert sich das zu betreuende Klientel. In den Wohngruppen leben zunehmend Menschen mit einem erhöhten Hilfebedarf (z.B. schwerer behinderte Menschen oder Rentner mit einem Mehr an Pflege bzw. dementiellen Veränderungen), die viel umfassendere Unterstützung und Assistenz benötigen als früher. Hinzu kommt, dass die Behindertenhilfe heute vielmehr mit herausfordernden Verhaltensweisen konfrontiert wird, so dass sie neben der Herausforderung der demographischen Entwicklung ihrer Kunden auch noch die Herausforderung Verhaltensauffälligkeiten zu bewältigen hat.

In meinen Ausführungen wird es um den Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen gehen. Anhand des EHV-Konzeptes werde ich aus einer systemischen Perspektive mögliche Umgangsmöglichkeiten für herausfordernde Verhaltensweisen beschreiben. Dabei stehen die Elemente Prävention, Haltungen, Beziehungsarbeit, Krisenintervention, Tagesstruktur und spezielle Lösungen zur Veränderungen der herausfordernden Verhaltensweisen im Mittelpunkt meiner Ausführungen.

Eine genaue Beschreibung des Weges, wie man zu Lösungen im Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen kommt, gibt es nach meinem Wissenstand bis dato in der deutschen Fachliteratur noch nicht. Es ist viel geschrieben worden über die verschiedenen Begriffsdefinitionen von Verhaltensauffälligkeiten, über die konkreten Formen der herausfordernden Verhaltensweisen und über die pädagogischen Methoden zu deren „Behandlung“. Bisher hat es die deutschsprachige Fachliteratur aber versäumt, den Weg zu beschreiben, wie man zu Lösungen zur Veränderung von herausfordernden Verhaltensweisen kommt und welche wichtige Rolle die Wirklichkeitsbeschreibungen, Haltungen und Einstellungen der sozialen Bezugspersonen für eine erfolgreiche Veränderungsarbeit spielen.

Nach meiner beruflichen Erfahrung liegt der wesentliche Schlüssel für eine erfolgreiche Veränderungsarbeit mit herausfordernden Verhaltensweisen in dem Finden einer nützlichen Wirklichkeitsbeschreibung des Problems sowie in der Haltung bzw. Einstellung der Systemmitglieder zum Problem. Man könnte es plakativ so formulieren: erst kommen die Wirklichkeitsbeschreibungen bzw. die Haltungen und dann die Methoden, wie ich die herausfordernden Verhaltensweisen verändere. Auch habe ich kaum ein Konzept finden können, was die wesentlichsten Elemente beschreibt, die bei komplexen herausfordernden Verhaltensweisen nützlich für Veränderungsprozesse sind. Dies alles will diese Arbeit leisten und nachholen. Sie richtet sich dabei an die pädagogischen Mitarbeiter von Wohngruppen, Leitungskräfte, an Mitarbeiter von heilpädagogischen und psychologischen Fachdiensten und sowie an Frühförderstellen mit einem Beratungsauftrag. Beschrieben wird das EHV-Konzept für den stationären Wohnbereich, es ist aber auch für die Familienberatung übertragbar, auch wenn dort einige Spezifikationen in der Konzeption vorgenommen werden müssen.

Wenn man die Literatur zum Thema herausfordernde Verhaltensweisen studiert, so findet man Theorien zur Entstehung von herausfordernden Verhaltensweisen und eine überschauliche Anzahl an Behandlungskonzepten. Was man in der Regel nicht findet, ist die Beschreibung des Weges zum Ziel. Wie kommt ein pädagogisches Team, welches durch bestimmte Verhaltensweisen herausgefordert wird, zu einem Entwicklungskonzept, um herausfordernden Verhaltensweisen zu verändern? Wie kann die Familie durch gezielte Interventionen, gebündelt in einem Gesamtkonzept, mit den herausfordernden Verhaltensweisen umgehen und diese verändern? Man könnte einfach antworten: indem die Vorschläge der Behandlungskonzepte einfach eins zu eins in die Realität umgesetzt werden. Aber so einfach ist die Realität in der Regel nicht. Eine Eins-zu-Eins-Umsetzung scheitert in der Praxis in der Regel an zwei Faktoren:

1. Die soziale Realität, in der herausfordernde Verhaltensweisen auftreten, ist dermaßen komplex, dass die vorgeschlagenen Behandlungskonzepte immer den Besonderheiten der Situation und vor allem den Besonderheiten der beteiligten Personen angepasst werden müssen, wenn sie wirksam sein sollen.

2. Eltern und pädagogische Mitarbeiter in sozialen Einrichtungen und Diensten sind durch die herausfordernden Verhaltensweisen dermaßen belastet, dass diese zu einer eingeschränkten Wahrnehmung und oftmals zu festgefahrenen Verhaltensmuster geführt haben. Diese festgefahrenen Verhaltensmuster lassen sich nicht durch das einfache Aufzeigen einer Lösung beseitigen. Die festgefahrenen Verhaltensmuster besitzen eine solche Kraft und Anziehung, dass alle Interaktionspartner es schwer haben, andere Verhaltensweisen zu zeigen. Alle Beteiligte im System haben sich so in eine Sackgasse manövriert, dass sie diese Muster nicht mehr verlassen können, weil sie nicht wissen, wo der Weg zum Ziel (die Veränderung der herausfordernden Verhaltensweisen) ist. Man muss sie unterstützen, einen Weg zu finden, der sie ihren Zielen wieder näherbringt. Um das zu erreichen, muss man an den Wirklichkeitskonstruktionen und Haltungen der beteiligten Systemmitglieder ansetzen. Erst wenn diese sich verändern, vergrößert sich ihr Tunnelblick und andere Wege werden wieder sichtbar. Erst jetzt kann der Weg zum Ziel, die Veränderung der herausfordernden Verhaltensweisen, begangen werden.

Alle, die im Bereich der Beratung arbeiten wissen aus eigener Berufserfahrung, dass einer direkt vorgeschlagenen Lösung oft vom System mit Widerstand begegnet wird und es nicht zu einer Umsetzung kommt. Wichtiger ist es oft, gemeinsam mit dem System einen Weg zu gehen, indem dieses selbst entscheiden kann, welche Abzweigungen es gehen will, um das Ziel „Verhaltensveränderung der Herausforderung“ zu erreichen. Der Weg ist das Ziel, doch in der Literatur findet man kaum Beschreibungen, allenfalls Hinweise, wie man den Prozess des Weges gestaltet kann, um das Ziel, die herausfordernde Verhaltensweisen zu verändern, erreichen kann. Diese Lücke in der Literatur möchte dieses Buch schließen. Detailliert wird beschrieben, wie man den Prozess eines Weges mit Eltern oder einem pädagogischen Team gehen kann. Am Ende des Weges steht dann ein individuelles EHV-Konzept, was den Menschen mit herausfordernden Verhaltensweisen zu einer Entwicklung anregt, aber auch die ihn begleitenden und unterstützenden Menschen.

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