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Begegnung im Pampero

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„Eh, Huemul, eh!“

Thom Rheden hatte sich dicht an das Ohr seines galoppierenden Pferdes gebeugt, und jetzt zog er am Zügel. Der Rappe verstand seinen Herrn sogleich und fiel in schwächeren Trab. Der Reiter hob den Kopf und bückte mit halb zugekniffenen Augen dem Sturm entgegen, der heulend und mit fast körperlich andringender Wucht über die Pampa fegte.

Hatte er die Richtung verfehlt? Während Rheden durch den Pampero-Orkan vorausspähte, versuchte er, genau zu bestimmen, woher ihm der Sturm entgegenschnaubte.

In dem begrenzten Blickkreis der unmerklich ansteigenden Pampahochfläche konnte er wenig erkennen. Hinter ihm und zu beiden Seiten breitete sich das patagonische Hochland flach wie eine Tafel aus. Er wußte bereits, daß sonderbarerweise gerade in einer Ebene der Blick des Menschen am wenigsten weit reicht Während in einem Bergland noch tageweit entfernte Ziele sichtbar sind, berühren sich hier im Umkreis von kaum fünf, sechs Kilometern schon Himmel und Erde. So war es auch Thom in den letzten Tagen oft vorgekommen, als ritte er ständig auf dem Grund einer flachen, endlos gewölbten Schale.

Das Interesse des einsamen Reiters galt jedoch der westlich vor ihm liegenden Gegend. Nach seiner Schätzung mußte er jeden Augenbück die ersten Vorberge der Cordillera de los Andes, des gewaltigen Rückgrates des südamerikanischen Kontinents, vor sich auftauchen sehen. Er konnte jedoch nichts erkennen als dichten, grauen Dunst – weder Wolke noch Nebel –, der in rasender Geschwindigkeit auf ihn zustob, sich aber jedesmal zwei-, dreihundert Meter vor ihm auflöste und in der müchigweißen Luft des patagonischen Dezemberhimmels verwehte.

In dieser Lage halfen Thom nicht mehr Kompaß noch Karte. Er mußte es seinem Reitpferd Huemul überlassen, die Richtung zur Polizeistation an der argentinisch-chilenischen Grenze zu finden – der einzigen menschlichen Behausung im Umkreis von vielleicht hundert Kilometern.

„Such, Huemul, vorwärts, mein Rappe!“ Er klatschte ihm leicht auf den samtig glänzenden Hals unter der im Pampero wehenden Mähne und legte sich weit nach vom, als Huemul wieder zu galoppieren begann.

Wie war Thom Rheden in diesen verlorenen Winkel am Ende der Welt gekommen? Er hatte drüben in Santiago das Studium eines Straßenbau-Ingenieurs abgeschlossen, hatte hier und dort in seinem Vaterland Chile auf Baustellen im wüstenhaften Norden und im regenreichen Süden gearbeitet – bis ihm durch eine sonderbare Verkettung von Umständen der Auftrag zufiel, die ersten unauffälligen Erkundungen für den Bau einer Straße, vorerst nur eines rohen Güterweges, durch die Anden – tief im patagonischen Süden von Chile – anzustellen. Es war ein Geheimauftrag, von dem außer ihm nur noch etliche hohe Manager der ENAP wußten, der staatlichen chilenischen Ölgesellschaft Empresa National de Petroleo. Tief unten in Feuerland war Öl erbohrt worden, doch es deckte bei weitem noch nicht den schnell wachsenden Bedarf Chiles. Auch drüben in der argentinischen Pampa floß Öl, in Rivadavia am Golfo de San Jorge – warum sollte nicht auch der schmale chilenische Landstreifen am Ostrand der Anden in der Provinz Aysen fündig werden? Dorthin aber fehlte noch jeder Straßenzugang vom Stillen Ozean.

Thom Rhedens Reitpferd, das den Namen des Wappentiers von Chile, des stolzen Andenhirsches Huemul, trug, schnaubte witternd, während es mit gestrecktem Hals gegen den Sturm galoppierte. Der Reiter hielt es jetzt zurück, damit es seine Kraft nicht zu rasch verausgabte. Wußte man denn, was Roß und Reiter an diesem Tag noch alles erwartete?

Das Heulen und Brausen des Pampero nahm im sinkenden Nachmittag noch zu. Wenn der Huf Huemuls auf Stellen traf, wo das kurze Pampagras, das im patagonischen Frühling aufsproßte, schon wieder verdorrt war, stob unter den Hufen die rote Erde wie Staub davon. Thom mied solche Stellen, denn sie waren von den Erdkaninchen, den massenhaft auftretenden Nagern, am ärgsten unterwühlt. Wenn das Pferd unvermutet einbrach, konnte es sich ein Bein brechen. Huemul wieherte kurz auf. Er schnaubte laut und trabte mit gespitzten Ohren weiter.

„Eh, Huemul, was hast du?“ fragte Thom überrascht.

Der unablässig heulende Luftstrom riß ihm die Worte von den Lippen. Er zügelte den Rappen und blickte um sich. Die Minuten verrannen; nichts schien sich um ihn zu verändern. Aber seine Sinne waren auf einmal gespannt.

Da hörte er ein im Wind verwehtes an- und abschwellendes Dröhnen, das von einem Motor kommen mußte. Näherte sich niedrig über ihm ein Flugzeug durch den Dunst? Er suchte den Himmel ab – nichts, nur wieder das endlos eintönige Heulen des Pampero, das ihn noch um den Verstand bringen würde!

Da war wieder der fremde Laut! Er kam von der gleichen Stelle vor ihm und schien sich weder zu nähern noch zu entfernen. Sonderbar – gab es noch ein Wesen außer ihm in dieser Einöde? Er drückte seinem Huemul leicht die Sporen ein, daß der fast aus dem Stand in Galopp sprang.

Wenig später erschien es Thom, als verdichte sich die graue Nebelwand vor ihm. Mit den Windwirbeln flog rotbrauner Staub. Als Rheden, die Richtung leicht ändernd, den linken Zügel zog, legte Huemul die Ohren zurück und jagte auf die quellende Staubwolke zu.

Thom hatte sich nicht getäuscht. Die Schatten lösten sich, und das erste, was ihm inmitten der Staubwolke auffiel, war ein Auto mit niedriger Nummer. Dem Rumoren des Motors nach konnte der Wagen nicht mehr der jüngste sein. Die Motorhaube war hochgeklappt, und das Kühlwasser kochte, daß der Dampf zischend aus der Eingußöffnung fuhr.

Huemul, den Thom erst auf einer Estancia in der Meseta de Monte Mayor als gut zugerittenes Reittier gekauft hatte, mußte wohl noch wenigen Autos begegnet sein. Jetzt scheute er vor dem dröhnenden Wagen, bis ihm Thom die Sporen leicht in die Flanken drückte. Da blieb er tänzelnd knapp neben dem Auto stehen.

Der breite, protzige Wagen, der sich in dieser wilden, übermächtigen Natur wie ein ahnungsloser Eindringling ausnahm, reizte Thoms Spottlust. Er legte die Finger grüßend an die Krempe des unter dem Kinn festgeschnallten Ledersombreros.

„Buenos dias, Señor! Wohin geht die Spazierfahrt?“

Ein älterer, etwas beleibter Herr öffnete den Wagenschlag. Seine kleinen Augen funkelten zornig. „Spotten Sie nicht, Señor. Helfen Sie mir lieber!“

„Helfen?“ Thom zuckte die Schultern. „Mein Huemul ist ein Reitpferd. Er läßt sich kaum vor Ihren Wagen spannen, Señor!“

Der Mann fühlte, daß Thom sich über ihn lustig machte, und sagte versöhnlicher: „Caramba, solch ein Sturm – wer hätte das erwartet! Ich blieb in den roten Staubwolken einfach stecken. Was soll ich tun?“

„Wenn Sie nicht umkehren wollen, müssen Sie warten, Señor. Lassen Sie das Wasser abkühlen – in der Nacht flaut auch der Pampero zuweilen ab.“ Rheden mußte schreien, um den Sturm zu übertönen.

Der kleine Dicke war ausgestiegen und stieß jetzt unmutig seinen Fuß an die prallen Reifen. „Warten – in dieser menschenleeren Gegend? Wissen Sie vielleicht, ob wir hier geradeaus vor uns die Grenzstation der Polizei finden, Señor?“

Thom wiegte den Kopf. „Ich nicht – höchstens mein Pferd!“

Keiner konnte dem anderen helfen. Der wohlgenährte Alte lief rund um seinen Wagen, als wollte er ihn beschwören. Thom Rheden fühlte sich überflüssig, klatschte seinem Rappen auf den Hals, nickte dem Mann einen kurzen Gruß zu und wollte weiterreiten.

„Halt, Señor . . .!“ Die folgenden Worte verschlang der Pampero. Thom spürte, daß der Abend nahe war. Er wollte nicht noch eine Nacht, nur in eine Decke gehüllt, auf dem harten, windgepeitschten Boden der Pampa verbringen, und er wandte sich nicht mehr um. Vielleicht konnte man doch noch vor Einbruch der Dunkelheit das Gebäude an der Grenze erreichen.

Der Rappe mußte um jeden Fußbreit Boden kämpfen. Zuweilen hatte Thom das Gefühl, samt seinem Pferd emporgehoben und fortgetragen zu werden. Der Mann im Auto tat wahrhaftig am klügsten, wenn er jetzt nicht weiterfuhr.

Mitten in Thoms Gedanken hinein heulte hinter ihm der Motor auf, daß Huemul einen Satz nach vorn machte. Er faßte den Zügel kurz und blickte sich um.

Der Mann war wohl des Teufels! Jetzt fuhr er das Auto wieder an, wendete und wollte wahrscheinlich im Zickzackkurs gegen den Pampero ankämpfen. Der Sturm stürzte sich sofort mit voller Wucht gegen die breite Wagenseite.

„Halten, halten, Señor!“ schrie Thom und hob die Arme. Was er vorausgesehen hatte, trat fast sofort ein: Sobald der Wagen in Fahrt gekommen war, hatte der Pampero leichtes Spiel. Heulend fuhr er unter das Chassis, drückte es empor – im nächsten Augenblick kippte das Auto auf die Seite.

Thom riß sein Pferd herum und jagte zurück. Er hatte den umgestürzten Wagen noch nicht erreicht, da zischte unter der Motorhaube schon eine Stichflamme hervor und loderte Sekunden später, von dem ausfließenden Benzin genährt, knatternd im Sturm.

Als Thom vom Pferd sprang und den hochgekanteten Wagenschlag aufriß, war es höchste Zeit. Verbissen zerrte er an dem Mann, der zwischen den Sitzen eingeklemmt war. Sein wehender Poncho fing bereits Feuer, als es ihm endlich gelang, den Dicken zu befreien und mit sich fortzureißen.

Verrußt und angesengt standen sie beide nebeneinander im Sturm und starrten schweigend auf das brennende Auto. Sie konnten nicht einmal versuchen, das Feuer zu löschen. Die Hitze strahlte in dem starken Luftzug weit hinaus, und wo die Pampa spärlichen Graswuchs zeigte, jagten die Feuerzungen huschend weiter. Als der Benzintank explodierte, waren die Männer schon in sicherer Entfernung.

Die untergehende Sonne stand wie eine große Scheibe im roten Dunst des westlichen Himmels. In einer knappen Stunde mußte die Nacht einfallen.

Die Flammen flackerten niedriger, aber sie verlöschten nicht. Der ältere Mann fand endlich die Sprache wieder. „Sie haben mir das Leben gerettet, Señor – Señor . . .“

„Thomas Rheden!“ stellte sich der Jüngere vor.

„ . . . Sñor Rheden!“ Nun mußte er auch seinen Namen nennen: „Esteban Nunez, Comandore der Grenzpolizei!“

Thom blickte ihn überrascht an. „Das trifft sich gut. Ich wollte Ihre Polizeistation aufsuchen und mir ein permiso ausstellen lassen!“

„Einen Erlaubnisschein – wozu?“ fragte der Polizeioberst verwundert.

„An jeder beliebigen Stelle die argentinisch-chilenische Grenze überschreiten zu dürfen, Señor Comandore!“ Thom lächelte über die sonderbare Situation, in der sie sich gegenüberstanden.

Oberst Nunez überlegte einen Augenblick. „Sie sind gar kein Argentinier?“ fragte er.

„Chilene, Señor Oberst! Ich soll die chilenischen Flußtäler besuchen, die durch die Anden bis zur Ostseite Patagoniens herüberreichen.“

Der Oberst schien sein brennendes Auto völlig vergessen zu haben. Der Beamte war in ihm wieder erwacht.

„Darf ich auch den Anlaß dieser sonderbaren Reise erfahren, Señor?“ fragte er zurückhaltend.

Thom Rheden hatte die Antwort auf diese Frage schon längst eingeübt: „Die chilenischen Kolonisten in den Flußtälern sind fast völlig von ihrem Vaterland abgeschnitten; sie brauchen eine Straße, um ihre Waren an den Stillen Ozean transportieren zu können.“

Auch diese Auskunft stimmte. Für Chile waren die fruchtbaren oberen Täler des Rio Cisnes, des Rio Claro und des Palena fast wertlos, solange nur die unsicheren, reißenden Wasserläufe sie mit dem Ozean verbanden. Daß die Straße aber, wenn sie einmal gebaut war, einer weit größeren Aufgabe dienen sollte, das mußte noch vor jedem Uneingeweihten verborgen bleiben.

Señor Nunez stellte diese Antwort noch nicht völlig zufrieden. „Zweihundert Kilometer südlich führt doch eine Straße von Puerto Aysen bis in die Pampa herauf!“

Thom war auch darauf vorbereitet. „Wer baut aber die Verbindung auf argentinischem Gebiet bis dort hinab? Alle Ihre Verkehrswege laufen über die Pampa nach Osten, zum Atlantik hin.“

Das stimmte. Señor Nunez fragte nicht weiter, obwohl ihn Señor Rhedens Begründung noch immer nicht völlig überzeugt hatte. Wenn sich nicht Argentinien und Chile einst unter der gewaltigen Christusstatue auf der Paßhöhe der Anden ewigen Frieden geschworen hätten, wäre er versucht gewesen, diesen jungen Chilenen der Spionage zu verdächtigen. Aber der Comandore verschwieg seine Zweifel. „Natürlich werde ich sofort ein permiso für Sie ausstellen – wo ich Ihnen doch mein Leben verdanke, Señor Rheden!“

Thom winkte ab. „Davon soll nicht mehr die Rede sein, Comandore. Aber wie erreichen wir beide die Polizeistation vor der Nacht?“

Das Abenteuer hatte Thom viel Zeit gekostet. Er betrachtete prüfend den Oberst, der sich einen Knöchel verletzt zu haben schien. „Ich überlasse Ihnen meinen Rappen und warte hier bis zum Morgen, Señor!“

Der Oberst hob abwehrend die Hand. „Ihr Pferd ist mir völlig fremd. Soll ich auch noch aus dem Sattel stürzen? Sie reiten so lange gegen Westen, bis Sie an das Ufer des Lago de la Plata kommen – in der ersten Bucht rechts liegt die Grenzstation.“

„Gut. Sobald ich Ihre Grenzwächter finde, kehren wir zu Ihnen zurück und holen Sie, Comandore!“

Als Thom seinen Rappen wieder ausgreifen ließ, brandete ihm der Sturm wie ein wogendes Meer der Lüfte entgegen. Der braune Dunst senkte sich dichter um ihn herab. Kein Laut außer dem dumpfen Dröhnen der Hufe und dem klagenden Pampero. Die Pampa dehnte sich ins Unendliche. Thom hatte auf einmal das Gefühl, als wäre er der letzte Mensch der Welt und ritte todeseinsam über die donnernde Erde.

Die Sonne War bereits versunken, als in der Ferne ein dunklerer Streifen aus dem Dunst tauchte. War es nur ein Graben, ein schmaler Erdriß, wie er in Patagonien in der Nähe der vulkanischen Kordilleren öfter anzutreffen ist? Auch Huemul witterte etwas Neues und spitzte die Ohren. Thom stieg ein beißender Geruch in die Nase – wie von Pferdemist oder dem Dung der Mulis.

In scharfem Galopp näherte sich der Reiter dem unbekannten Schatten. Jetzt konnte er es deutlich sehen: es war ein hoher Drahtzaun, die argentinisch-chilenische Grenze zwischen den ungeheuren Weideflächen!

Neben dem Zaun fand Thom viele Hufspuren unbeschlagener Pferde. Sie liefen nach links und rechts in den schaumig dichten Nebel hinein. Ratlos schaute er um sich. Nach welcher Seite sollte er sich wenden? Er entfernte sich einige Schritte vom Zaun und hielt den Rappen an.

„Sch, Huemul, vorwärts!“ befahl er und gab dem Rappen die Zügel frei.

Das Pferd witterte einen Augenblick schnaubend, dann wandte es sich an dem Grenzzaun entlang nach Süden.

Thom hatte sich richtig leiten lassen. Bald senkte sich der Boden merklich. Aus der Ferne drang verwehtes Rauschen herauf. Tiefer unten riß der Nebel wie ein Vorhang auseinander, und Thom erblickte unter sich die endlos verdämmernde Fläche eines großen Sees. Der Sturm wühlte das blaugrüne Gewässer auf, und ein breiter weißer Schaumstreifen säumte den steinigen Strand. Dahinter erkannte Thom jetzt Berge – er war wie ein Blinder bis hart an die Kordillere herangeritten.

Als er das Seeufer erreichte, entdeckte er im Westen in einer windgeschützten Mulde etliche graue, verwitterte Steingemäuer – die Polizeistation.

Der genaue Grenzverlauf war hier schwer zu bestimmen. Seit Jahrzehnten bereisten immer wieder Grenzkommissionen diese Gebiete und korrigierten die Markierungen, was in den meisten Fällen mit großer Liebenswürdigkeit geschah – ob auch zur beiderseitigen Zufriedenheit, darüber schwieg man sich aus. So kam es, daß manche Grenzbewohner nicht genau wußten, welchem der beiden Staaten sie eigentlich angehörten.

Der Sturm hatte in der Senke merklich nachgelassen. Dämmerung hing schwarz über dem rauschenden, bleifarbenen See. In kurzem Trab erreichte Thom die grauen Gebäude. Sie waren aus unbehauenen Steinplatten aufgeführt und sahen wenig einladend aus. Vor dem armseligen Bau lag alles leer und verlassen. Dahinter öffnete sich dem Gebirge zu ein schmales Tal, das dicht mit Wald bewachsen war.

Thom ritt bis zum Tor des von einer niedrigen Mauer eingefaßten Hofes und schlug gegen die lose angelehnte, halbverfallene Tür.

Dahinter hörte er Pferdeschnauben. Schritte näherten sich. Ein Sergeant in Uniform öffnete und schaute den späten Besucher erstaunt an.

„Buenos tardes, Señor Sergeant! Haben Sie Platz für einen müden Reisenden?“

„Treten Sie ein, Señor!“ sagte der Soldat kurz und wenig freundlich. „Ich muß Sie dem Leutnant melden.“

Da trat dieser auch schon über die Schwelle des Grenzhauses und nickte nachlässig zu Thoms Gruß. „Woher kommen Sie, Señor?“ fragte er sofort.

Thom Rheden streckte die Hand gegen Osten aus und beschrieb einen weiten Bogen. „Von dort drüben – über die Pampa herein.“

„Also von Rivadavia – kann ich den Ausweis sehen? Sie befinden sich im Grenzsperrgebiet!“ klärte ihn der Postenleiter auf.

„Das merke ich bereits!“ Thom nickte nachsichtig und wühlte langsam in seinen Taschen. Es verdroß ihn, daß man ihn nicht höflicher behandelte. Er zog die Hände leer aus den Taschen. „Was ich noch sagen wollte: Comandore Nunez läßt sich Ihnen empfehlen!“

Dieser Name weckte die schläfrigen Grenzwächter. Der Leutnant vergaß sogar die Frage nach dem Ausweis. „Wo trafen Sie Oberst Nunez?“ wollte er wissen.

„Gar nicht weit von hier. Er erwartet, daß Sie ihm mit einem gesattelten, zahmen Pferd entgegenreiten!“

Augenblicklich kam Leben in das müde Volk. „Was ist geschehen? Begleiten Sie uns!“ forderte der Leutnant Thom auf.

Rheden zweifelte jetzt daran, ob er von diesem Leutnant überhaupt einen Erlaubnisschein, ein permiso, für den Grenzübergang „an jeder beliebigen Stelle“ bekommen hätte. Nun würde ihm der abgebrannte Oberst doch noch von Nutzen sein.

Huemul, der sich hungrig über das spärliche Grün hergemacht hatte, ließ seinen Herrn nur ungern wieder in den Sattel steigen. Aber die Grenzsoldaten waren bereits mit einem Handpferd vorausgeritten, und Rheden mußte sie mit einem scharfen Trab den See entlang einholen.

Oben über der Pampa lagen die Schatten der Nacht. Der Nebel des Dezembertages hatte sich aufgelöst; eine bleiche Mondsichel hing mit den Spitzen nach oben am schwarzen Himmel. Auch der Pampero schlief ein. Im Osten glühte hinter dem Horizont ein Feuerschein. Brannte das Auto des Comandore noch immer – oder hatte er die Pampa angezündet, um ihnen die Richtung zu weisen?

Schweigend ritten sie hintereinander.

„Hallo, Señor Comandore, da sind wir!“ Thom hielt als erster sein Pferd an. „Hoffentlich ist Ihnen die Zeit nicht zu lang geworden?“

„Ich glaubte schon, Sie hätten sich auch verirrt!“ sagte Oberst Nunez erleichtert. „Sehen Sie sich das Blechgerippe dort an – es wird mich einen ausführlichen Bericht kosten, um die Herren in Buenos Aires zu überzeugen, daß ich keine Schuld an dem Unfall trage. Sie bestätigen das wohl?“ fragte er noch vorsichtig.

„Ich leiste Blankounterschrift, wenn der Bericht vor meinem Weiterritt noch nicht geschrieben sein sollte!“ Thom lachte. „Sie haben mir doch auch das permiso zugesagt!“

Es ging schon auf Mitternacht zu, als die kleine Eskorte die Polizeistation erreichte. Kein Wort fiel mehr darüber, ob es zulässig sei, einen Ausländer zu beherbergen. Nach dem unvermeidlichen Hammelbraten lud der Oberst seinen Gast noch zu einem Glas Vino negro im „Staatszimmer“ ein.

Während er eigenhändig das permiso schrieb, fragte er: „Sie kennen Patagonien auf der chilenischen Seite noch nicht?“

Thom schüttelte den Kopf. „Ich besitze aber ausgezeichnete Karten.“

„Karten? Was helfen Karten in einem Land, wo alle paar Jahrzehnte sogar die Flüsse ihre Namen wechseln – von den unterschiedlichen Bezeichnungen namenloser Berggipfel gar nicht zu reden?“

Rheden blickte ihn ungläubig an. „Ich werde mich nicht nach den indianischen Bezeichnungen richten. Die Ureinwohner, Tehuelche-Indianer und Alakaluf, sind ausgestorben.“

Nunez widersprach. „Manchmal taucht aus den unendlichen Regen wäldern im Westen noch eine Sippe Tehuelche auf. Aber das allein ist es nicht!“ Er holte eine Grenzkarte aus dem Wandschrank und breitete sie aus. „Was Sie in Chile Rio Cisnes nennen, heißt bei uns Rio Frias, Ihr Rio Claro ist auf unseren Karten Rio Ticos. Sie werden ohne Begleiter in den Regenwäldern zwischen den Flüssen bald verlorengehen!“

Thom Rheden wurde immer kleinlauter. Warum wußte man oben in Santiago darüber so wenig? „Ich werde mir in einem der ersten chilenischen Ranchos jenseits der Grenze einen Peon, einen eingeborenen Träger, mieten.“

„Sie werden zehn zu eins auf einen Wanderarbeiter von der Insel Chiloe treffen. Für Geld tut er alles – doch Patagonien ist ihm ebenso fremd wie Ihnen, Señor Rheden!“

Oberst Nunez begann in Thoms Achtung zu steigen – obwohl er nur ein Argentinier war. Seine Aufgabe erschien Rheden plötzlich gar nicht mehr so klar und überschaubar.

„Was würden Sie mir raten, Señor Comandore?“ fragte er betroffen.

Nunez sah nachdenklich auf sein junges Gegenüber. „Vielleicht stoßen Sie auf das Mylodon – es soll sich jetzt irgendwo oben am Palena oder am Rio Ticos aufhalten.“

Thom glaubte, nicht richtig gehört zu haben. „Das Mylodon, Señor Nunez, das ausgestorbene Riesenfaultier, das einst in Patagonien gelebt haben soll?“

Oberst Nunez lächelte nachsichtig. „Dieses Mylodon lebt noch! Wir Patagonier meinen damit jenen Jäger oder Trapper, der allein in Höhlen oder unter Windschirmen haust. Er kennt Patagonien vom Feuerland bis hinauf zum Rio Negro wie kein zweiter. Er soll einst aus Europa herübergekommen sein, aus Alemania, wenn die Gerüchte stimmen.“

Thom schüttelte sich, als gruselte ihn. „Ein Höhlenmensch also, der zur Natur zurückkehrte und auf allen vieren geht?“

Nunez‘ Blick wurde ernst. „Der Mann beschützt die letzten Sippen der Tehuelche, er heilt die armseligsten Ranchers, wenn sie krank auf ihren verfaulenden Fellen liegen – viele sagen sogar, daß er zu gleicher Zeit an zwei Orten gesehen wurde!“

Die weiße Flamme der Karbidlampe zischte leise. Thom blickte auf die rauh getünchte Wand des „Staatszimmers“ – in was für eine Welt war er geraten? Patagonien, das Land aus Sturm, Regen und Eis – was würde ihm, der nur ausgezogen war, die erste, andeutungsweise Trasse einer Güterstraße zu entwerfen, hier noch alles begegnen? Der wildeste, abweisendste Teil des Landes lag noch vor ihm – jetzt begann ihn diese Landschaft über seine nüchterne Aufgabe hinaus merkwürdig anzuziehen.

„Natürlich will ich den seltsamen Mann suchen – vielleicht nützt er meiner Aufgabe.“

Nunez schien von dieser Antwort enttäuscht. „Sie haben noch nicht vom Calafatestrauch gegessen, Señor Rheden!“

„Was bedeutet das, Comandore?“ fragte Thom verwundert.

„Wer vom Calafatestrauch ißt, kehrt nie mehr aus Patagonien zurück.“

Oberst Nunez erhob sich und führte seinen Gast aus dem Zimmer. Auf dem Gang stand ein Grenzsoldat, der wohl die ganze Zeit über stumm gewartet hatte. Jetzt führte er Thom in eine schmale Kammer: ein mit Lederstreifen bespanntes Bett mit einem Bündel weicher Schaffelle darauf, ein Stuhl, ein Wandbrett – aus!

Thom Rheden lauschte – doch mit dem Pampero war auch die Brandung des Sees eingeschlafen . . .

Wer vom Calafatestrauch isst

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