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2. Die erste Morgenandacht

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Als Resli zum ersten Mal im Hause seines Pflegevaters erwachte, lag auf der Erde ein weißes Leichentuch und die Flocken wirbelten durch die Luft. Der Aetti1 meinte, als man beim Morgenessen saß, es habe nicht umsonst so schuderhaft geluftet in der vergangenen Nacht, als wollte der Luft mit dem Haus ins Tal hinunter, und er habe es ja schon gestern gesagt, es werde bald ändern wollen. Die Gliedersucht sei doch ein guter Wetterprophet und koste noch dazu nicht so viel wie ein Barometer, es sei doch am Ende alles für etwas gut, der liebe Gott habe nichts umsonst gemacht in der Welt, wie es ja auch heiße in der heiligen Schrift, dass denen, die Gott lieben, alles zum Besten dienen müsse.

Mit diesen Worten wischte er den Löffel am Tischtuch ab und steckte ihn neben sich an die Wand, dann nahm er aus der Ecke hinter dem Tisch die alte, mit Blech beschlagene Bibel hervor, die schon sein Großvater hatte einbinden lassen, und fragte Resli, ob er ihm etwa sagen könne, wo der schöne Spruch stehe, den er soeben angeführt. Der Knabe wusste zwar, das der Spruch im Herzen seiner Mutter stand, denn in ihrer Trübsal hatte sie sich mehr als einmal damit getröstet, dass denen, die Gott lieben, alles zum Besten dienen muss; aber dass der Spruch in einem Buche zu finden sei, davon hatte er noch keine Ahnung gehabt. Auch war es ihm wirklich zu verzeihen, wenn er noch nicht so viel Bibelkenntnis besaß, um angeben zu können, ob ein Spruch im ersten Buch Mose oder im Römerbriefe zu finden sei, denn es gibt ja bekanntlich Jünglinge und Männer, die mehr wie drei und fünf Mal älter als der siebenjährige Resli sind, und doch suchen sie den Römerbrief im ersten Buche Mose auf, und wenn sie ihn dort nicht finden, so blättern sie das ganze Gesetz und die Propheten durch in der Hoffnung, es führen endlich alle Wege einmal nach Rom.

Während Resli sich besann, schlug der Pflegevater das achte Kapitel im Römerbriefe auf. Die Bücher der Bibel waren ihm längst keine spanischen Dörfer mehr, und wenn er nur seine Brille nicht verlegt hatte und kein Glas darin fehlte, so fand er sich darin ebenso gut wie in seinem Spycher2 zurecht, wo ja doch auch kein Bauer das Garn mit dem gedörrten Speck verwechseln wird, wenn auch beides an ein und derselben Stange hängt.

Besonders gut war aber der alte Mann im Römerbriefe zu Haus, der für ihn, den schlichten Bauern, ebensowohl wie weiland3 für Doktor Martin Luther, der Wegweiser zu der Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt, geworden war. Der liebe Gott macht nach diesem Briefe zwischen Doktoren und Bauern keinen Unterschied; sie sind allzumal Sünder und werden ohne Verdienst gerecht durch den Glauben an die Erlösung, die durch Christum geschehen ist. Dieses „Trom“4 hatte Reslis Pflegevater erfasst, es war ihm aus dem Herzen gesprochen, wenn der Apostel im fünften Kapitel dieses Briefes bezeugt: „Nun wir denn sind gerecht geworden durch den Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesum Christ.“ Heute Morgen schlug er aber nicht das fünfte Kapitel, sondern das achte auf. Offen gestanden, verstand Resli nicht viel davon, als der Vater mit herzlicher Inbrunst diesen Abschnitt zur Morgenandacht las. Aber es ging ihm wie einem Kind, das zum Sternenhimmel emporblickt; es versteht zwar noch gar nichts von der Beschaffenheit der Gestirne und ihrem wunderbaren Lauf und ahnt doch schon etwas von der Herrlichkeit, die dort oben verborgen ist. So konnte auch Resli aus den freudestrahlenden Augen des Alten lesen, was er aus Römer 8 noch nicht zu lesen im Stande war, dass nämlich hier ein Schatz im Acker liegen müsse. Was dieser Schatz sei, an dem er sich so freute, das verbarg ihm denn auch der Pflegevater nicht. „Höre“, sagte er zu Resli, als er im Lesen zum 18. Verse des Kapitels kam: „Ich halte dafür, dass dieser Zeit Leiden nicht wert sind der Herrlichkeit, die an uns geoffenbaret werden soll.“

Bei diesen Worten nahm der Alte seine Brille ab und schaute Resli an: „Du weißt noch nicht, was Leiden sind; du hast zwar schon Hunger gelitten und wohl auch manchmal Schläge gekriegt; bedenke jedoch, dass dies nur die ersten Tröpflein von einem ganzen Leidenskelch gewesen sind. Damit du nun mit dem Heiland sagen könnest: Soll ich den Kelch nicht trinken, den mir der Vater gegeben hat? ist es nötig, dass du wie Er dich auf die Herrlichkeit freuen könnest, die ganz gewiss nach dem Kreuze kommt. Und da kann ich dir denn als ein alter Mann bezeugen, der`s in Sturm und Wetter erprobt hat: Wer ein Kind Gottes ist, der kann sich in allen Lagen freuen auf die zukünftige Herrlichkeit, wie der Apostel in diesem Kapitel schreibt: Sind wir denn Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi. Ja“, so schloss der Pflegevater seine erste Morgenandacht mit Resli, gerade wie der Apostel auch das achte Kapitel im Römerbriefe schließt: „Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, noch keine andere Kreatur mich scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserm Herrn!

Wie froh bin ich jetzt in meinen alten Tagen, dass ich diese selige Gewissheit in meinem Herzen tragen darf. Ich weiß ja nicht, wie lange ich noch zu leben habe. Der Tod kann ung`sinnet5 kommen, besonders wenn man das 70. Jahr schon überschritten hat. Wie der liebe Gott heute über Nacht das weiße Leichentuch über die Felder gebreitet hat, so ist es auch schon manchmal vorgekommen, dass das Leintuch, womit einer sich am Abend zudeckte, ihm über Nacht in ein Leichentuch verwandelt worden ist.“

1 Vater

2 Vorratskammer

3 einstmals

4 diesen Faden, d. h. diese gewaltige Wahrheit

5 unvermittelt, ohne, dass man daran denkt

Resli, der Güterbub

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