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4. Wie Resli vom Regen unter das Dachtrauf kommt

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Resli wurde auf keinen afrikanischen Sklavenmarkt geschleppt. Dort werden ja die schwarzen Heidenkinder an den Meistbietenden verkauft, die Verdinggemeinde aber gab den Knaben an den Mindestfordernden hin. Er kam in ein Haus im Reckholderberg, nahe bei Kurzenwyl. Zwei Brüder bauerten dort insgemein. Verheiratet waren sie nicht, ihre Mutter lebte auch nicht mehr, eine Schwestertochter war das einzige Weibervolk im Haus, sie besorgte den beiden Hagestolzen1 die Haushaltung. Eine Mutter hatte Resli selbstverständlich an dieser Tochter nicht, dazu war sie noch zu jung, sie hätte selbst noch eine nötig gehabt, und dass zwei ältere Junggesellen keine Väter sind, weiß Jedermann. Es erfüllte sich an dem armen Knaben demnach das Wort: „Wenn ihr gleich zehntausend Zuchtmeister hättet, so habt ihr doch keinen Vater.“

Das war ein großer Schade für ihn, denn wie sehr hätte der achtjährige Knabe der väterlichen Erziehung und der mütterlichen Pflege bedurft. Was für eine Herzlosigkeit liegt doch in einer derartigen Verkostgeldung armer Kinder, bei welcher nur zwei Gesichtspunkte maßgebend sind, der Kostenpunkt und die Rücksicht darauf, dass ein solches Kind werchen lernen muss. Ganz richtig ist es ja an und für sich, wenn man die Verdingkinder vor dem Müßiggang bewahren will, weil dieser in der Tat aller Laster Anfang ist, aber ist denn damit einem Kinde schon eine gute Erziehung zugesichert, dass man ihm für schwere Arbeit sorgt? Als ob die Anstrengung aller Tugenden Anfang wäre! Resli wenigstens hat`s erfahren, dass dem nicht so ist. Arbeit hatte er genug unter der Junggesellenmeisterschaft, für die ein Kind nur so viel Wert hatte, als man an ihm Tagelöhne ersparen konnte; um seine Erziehung zur Tugend und Gottesfurcht kümmerte man sich aber in diesem Hause keinen Pfifferling. Nun denken Manche, diesen Mangel empfinde so ein Bub ja nicht; auf einen groben Klotz gehöre ein grober Keil. Aber Resli hatte keinen groben Klotz, sondern ein weiches Herz in seiner Brust. Hatte er das von seiner Mutter geerbt, oder war`s Gottes Gnade, die ihn frühe zog; wohl wurde es ihm die sechs Jahre hindurch, die er in diesem Hause zubrachte, nie in dem Heidentum, in das er hier mitten in der Christenheit, nur zwei Stunden von der nächsten Kirche entfernt, hineingegangen war.

Wir sagen „Heidentum“. Gab es denn Götzen in diesem Haus? Ja, der große Götze Mammon hatte hier alles in seiner Gewalt. Über seinem Altar hatten die beiden Brüder einen Bund gemacht, keiner von ihnen wolle sich verheiraten; lieber einen Sack voll Geld als eine Schar Kinder im Haus, sagten sie. Sie hielten ihr Versprechen treulich, das ist wahr; es kam auch etwas dabei heraus: Sie machten ihren Hof schuldenfrei, zahlten ihren Geschwistern, was ihnen heraus gehörte und machten noch ordentlich für. Aber sie merkten nicht, dass ihr Geldmachen auf Kosten der Seele ging. Die sechs Jahre hindurch, so lange Resli in ihrem Hause war, hat keiner von ihnen ein Gotteshaus besucht, als wo sie vor das Chorgericht mussten.

Aber warum mussten sie denn vor das Chorgericht? Das kam so: Die Haushälterin der beiden Junggesellen hatte das Unglück, wie man zu sagen pflegt, zweimal Mutter zu werden während jener Zeit. Damals fiel aber, nach gutem altem Brauch, die Untersuchung solch delikater Fälle noch dem kirchlichen Sittengericht zu, das aus dem Pfarrer und den Kirchenältesten bestand. So wurden denn vom Chorgericht die beiden Brüder vorgeladen, sie sollten angeben, wer der Vater dieser Kinder sei. Genau anzugeben vermochten sie das aus guten Gründen nicht, aber sie hatten wohl aus ebenso guten Gründen nichts dagegen zu sagen, als das Chorgericht ihnen die Sorge für die Kinder überband, obgleich man dieselben auf den Namen der Mutter ins Taufregister schrieb.

So hatte denn der Bund, den die beiden Brüder am Altare Mammons miteinander geschlossen, einen Riss gekriegt, sintemal2 es noch mehr Götzen gibt in der Welt, von denen der eine dem andern gar zu gerne einen Streich spielt, wenn er kann, denn sie kämpfen allesamt um die Herrschaft über das Menschenherz. Welcher Götze in diesem Fall über den Mammon Meister geworden ist, brauchen wir nicht erst zu sagen, unsere Leser wissen`s schon.

Die beiden Brüder sahen ein, dass Mammons Herrschaft bedenklich ins Wanken geraten sei, so sannen sie denn auf neue Mittel zu deren Befestigung. Es war Winter geworden, wo der Bauer, wenn er nichts zu holzen hat, manche Stunde auf dem Ofen sitzt. Dies war auch die Zeit, wo sogar Resli in die Schule ging; im Sommer gab es nichts daraus. Allein, nun kam den Brüdern in den Sinn, es gäbe doch auch noch eine nützlichere Winterbeschäftigung, als auf dem Ofen zu sitzen oder in die Schule zu gehen, bei der zudem ein hübsches Stück Geld zu verdienen sei, wenn viele Hände daran gehen. Die ärmeren Leute spannen nämlich damals den sogenannten Gremplerflachs und um etwas Ordentliches dabei zu verdienen, saß an vielen Orten vom frühen Morgen bis zum späten Abend Jung und Alt, Mann und Weib, zum Spinnrad hin.

Bisher hatte nur Lisi, die Haushälterin, das Spinnen besorgt; ihre Arbeit reichte für die kleine Haushaltung hin. Nun aber war der Flachs gut geraten im verwichenen3 Sommer, sie hatten viel, und die Brüder rechneten aus, wie viel mehr sie lösen könnten aus dem Garn, als aus dem ungesponnenen Flachs. Flugs machten sie für sich und Resli drei alte Spinnräder zurecht, und nun schnurrte es in der Bauernstube den ganzen Tag, während draußen der Sturm die weiße Baumwolle zu einer schneeweißen Decke verwob. Resli wurde in der noch ungewohnten Kunst von Lisi unterrichtet, er zeigte Geschick dazu und hatte auch Freude daran. Bald erhielt er aber die Aufgabe, alle drei Wochen ein ganzes Pfund zu spinnen. Konnte er neben seinen übrigen Hausgeschäften zwischen der Schule damit nicht fertig werden, so blieb ihm eben keine andere Wahl, als das Lernen an den Nagel zu hängen und hinter dem Spinnrad zu studieren, was natürlich nach der Ansicht seiner Meistersleute viel vernünftiger war. Dass er unter solchen Umständen kaum notdürftig schreiben und rechnen lernte, versteht sich von selbst; es fehlte ihm ohnehin am Schreibmaterial, dazu gab ihm niemand Geld, und die Schule verabfolgte4 in damaliger Zeit noch keine Lehrmittel, von wegen sie arbeitete noch nicht unter so hohem Steuerdruck wie heutzutage, was Wunder, dass auch ihre Leistungen damals noch nicht so hoch gestiegen sind wie in einer glücklicheren Zeit, die sich zu der „guten alten Zeit“ ausnimmt wie die fetten Kühe zu den sieben magern Pharaos. Resli suchte sich freilich den Schulbesuch so viel wie möglich dadurch zu sichern, dass er Morgens sehr früh ans Spinnen ging und Abends bis 9 und 10 Uhr bei der Arbeit blieb, was für den kleinen Knaben gewiss keine geringe Leistung war. Überwältigte ihn bei der Nachtarbeit der Schlaf, was sich allemal am Stillstehen seines Spinnrades zu erkennen gab, so zupfte man ihn nicht gar sanft am Haar, dass ihm der Spengler aus den Augen wich.

Gewöhnlich sorgten aber die Männer, die an den langen Winterabenden zum Abendsitze kamen, schon dafür, dass Resli nicht schläfrig ward. Die ganze Nachbarschaft hatte hier freien Zutritt, wo kein Vater und keine Mutter auf Zucht und Ordnung hielt. Und leider fanden sich aus diesem Grunde nicht gerade die Besten ein. Hätten sie nur allerlei Kurzweil getrieben und mit Hand- und Mundharmonika musiziert, oder hätten sie gar Geschichten vorgelesen wie W.O. von Horn sie in der „Spinnstube“ erzählt, so hätte Resli wenigstens noch etwas dabei gelernt; nun aber überboten diese wilden Männer sich im Erzählen ihrer Schandtaten, die sie als „Nachtbuben“ beim Kiltlaufen5 verübt.

Sie begnügten sich nicht etwa mit der Erinnerung an ihre lustigen Bubenstreiche, sie erzählten nicht bloß wie sie einem Bauern Nachts den Heuwagen auf den Dachgiebel gestellt oder einem andern den Pflug in den Baum hinauf gehängt, nein, die schlüpfrigsten Geschichten mussten her, und hatte man keine solchen mehr auf Lager, so wurde eine gemacht, dass der Schmutz davon dem Erzähler über die Maulecken herunter troff. Und das alles wurde natürlich nicht nur vor den Ohren der jungen Haushälterin, sondern auch vor Resli ausgekramt. Dieser hatte anfangs an solchem Schmutz nicht sonderlich Geschmack, er fühlte so etwas dabei, er wusste selbst nicht was.

Er kam sich wie verlassen von Gott und Menschen vor, als ob er unter eine Räuberbande geraten sei. Das war er auch; denn diese elenden Menschen raubten ihm mit ihrem wüsten Geschwätz die Unschuld weg, die er noch mitgebracht, und traten mit ihren groben Füssen jedes Schamgefühl in den Kot. Der Lichtfunke, der noch in des Knaben Herz wie ein glimmendes Docht geleuchtet hatte, fing allmählich an zu erbleichen, und das junge Herz geriet durch die gewissenlosen Nachtbuben in die Nacht der Sünde hinein. Wehe darum den Menschen, die einen dieser Kleinen ärgern, wie es diese Männer taten mit ihren ungewaschenen Mäulern, wahrlich, es wäre ihnen besser, ein Mühlstein würde ihnen an den Hals gehängt und sie würden ersäuft im Meer, da es am tiefsten ist!

Wer will nach alledem bestreiten, dass es noch heidnische Familien gibt mitten in der Christenheit? Hier konnte man wirklich sagen: „Wo keine Bibel ist im Haus, da sieht`s gar öd` und traurig aus!“ Doch war eine da, sie stund in der Ecke hinter dem Tisch. Aber wie wurde sie bebraucht! Eines Sonntags, als Resli nach Hause kam, saß einer der Brüder hinter dem Tisch und hatte sie offen vor sich liegen. Jetzt kommt`s gut, dachte Resli, und die Erinnerung an seinen verstorbenen Pflegevater, der immer einige Stunden des Sonntags hinter der Bibel zugebracht, erwachte in ihm. Aber er hatte sich zu früh gefreut. Wie er näher zusieht, bemerkt er, dass der vermeintliche Bibelleser nicht die Wahrheit, sondern die Wanzen in der Bibel sucht. Mit der einen Hand wendete er die Blätter um, in der andern hatte er einen Stift, zog diesen am innern Ende jedes Blattes durch und machte auf diese Weise Jagd auf die genannten Haustiere, von deren Anwesenheit im Hause Resli auch zu erzählen wusste. Es war den Tierlein wirklich nicht zu verargen, dass sie im Kampf ums Dasein in die Bibel krochen, dort hatte sie wenigstens Jahre lang niemand gestört.

1 sehr stolze Menschen

2 weil

3 vergangenen

4 geben

5 nächtlicher Besuch bei Mädchen

Resli, der Güterbub

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