Читать книгу Werte wahren - Gesellschaft gestalten - Franz-Peter Tebartz-van Elst - Страница 7
ОглавлениеZweites Kapitel Kriterien Haltungen geben Halt
„Nicht du trägst die Wurzel,
sondern die Wurzel trägt dich. “
Röm 11,18
„Wurzel Jesse“, Freskengemälde im Hohen Dom zu Limburg,
spätromanisch mit Übermalung aus dem 17. Jahrhundert
I.Werte brauchen Wurzeln
Der Limburger Dom ist reich an Bildern. Viele kennen ihn von außen, seine Lage auf dem Felsen, seine Architektur und Geschichte. Ein Blickfang aus der Ferne, ein echter ,Hingucker' von der Autobahn – so wie man äußerlich einen Eindruck vom Glauben der Christen und vom Leben der Kirche hat.Betritt man das Innere des Domes,wird man hineingenommen in eine Bildwelt, die der Botschaft unseres Glaubens Gesichter gibt.Was von außen Stützen und Pfeiler zeigen, bekommt im Inneren eine Bedeutung. Was die Architektur an Statik vermittelt, geben die Bilder an Halt. So kann man die Wand im nördlichen Querschiff des Domes verstehen. Sie zeigt das bekannte Motiv der Wurzel Jesse, den Stammbaum Jesu. Das Gemälde ist so alt wie diese Kirche, über 750 Jahre.Auch wenn es im Laufe der Zeit überarbeitet und aufgefrischt wurde, seinen Ursprung hat es nicht verloren.
Es ist ein Bild des Anfangs! Es erzählt, wie Gott, der Schöpfer der Welt, in ihr selbst Mensch geworden ist. Es erinnert, wo wir herkommen, und es zeigt, was Menschen blüht, die glauben. Man sieht Wurzeln und Wachstum. Ganz unten die Heilige Sippe, der Jesus entstammt, in der Mitte der Baum der Generationen mit den Gesichtern der Vorfahren; Könige, die aus dem Stamm David hervorgegangen sind.Und ganz oben die Blüte: Maria mit dem Kind. In den seitlichen Flügeln stehen Mose und Aaron, die Propheten Jesaja und Ezechiel ganz im Dienst an einer Geschichte, die unsere Gegenwart ist.
1. Gegenwart aus Geschichte
Worte und Weissagung der Bibel geben uns Menschen Wurzeln. Im Horizont der Heiligen Schrift gewinnen wir die Inspiration zu fragen und zu sagen, woher der Mensch ist: aus Gott – und wo er zuhause ist:in Gott.Wo Gott ausdem Blick gerät, werden Menschen entwurzelt. Wo Gott nicht mehr vorkommt, ist der Mensch heimatlos. Diese Einsamkeit ist die größte Wunde unserer Zeit, die dann besonders wehtut, wenn der Mensch an Brüchen des Lebens radikal auf sich selbst verworfen wird. Mancher leidet gerade dann darunter, dass Ursprünglichkeit im Leben verloren gegangen ist.
Die größte Entwurzelung unserer Tage ist die Trennung des Menschen von Gott.Wo die Gabe des Lebens nicht mehr als Geschenk des Schöpfers gesehen wird, ist die Würde und der Wert des Menschen vor seiner Geburt, in der Krankheit und im Alter in Gefahr.Wo die Wirtschaft sich von Werten löst, geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander.Wo sich das Klima der Erde erwärmt, zeigt sich, dass die Herzen der Menschen immer kälter werden, wenn es um eine gemeinsame Verantwortung für die Schöpfung geht. Wo sich die Einstellung zum Leben – auch im Sog eines neuen Atheismus – auf die Formel der Religionskritiker verkürzt, wird der Mensch entwurzelt: Sie sagen: „So viel Wert der Mensch hat, so viel Wert und nicht mehr hat sein Gott. (…)“ Sie behaupten: „Das Bewusstsein Gottes ist das Selbstbewusstsein des Menschen.“ Sie meinen: „Die Erkenntnis Gottes ist die Selbsterkenntnis des Menschen“ (vgl. L. Feuerbach).
Christlicher Glaube spricht eine andere Sprache. So viel Wert Gott in dieser Welt bekommt, so viel Wert hat der Mensch.So weit wie Gott im Blick ist,so tief ist der Mensch verwurzelt. Davon spricht das Evangelium: „Allen, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben“ (Joh 1,12). Wo Gott dazwischenkommt,gewinnt der Mensch Halt.Wer in Gott verwurzelt ist, kann wachsen. Wo Gott nicht mehr vorkommen darf, wo das Kreuz aus den Klassenzimmern und den öffentlichen Räumen verschwinden soll, schrumpft der Mensch.
In seiner Erzählung „Der Ulmenstamm“ schreibt der russische Dichter Alexander Solschenizyn in Erinnerung an seine Zeit im Gefangenenlager: „Wir sägten Holz,griffen dabei nach einem Ulmenbalken und schrien auf. Seit im vorigen Jahr der Stamm gefällt wurde, war er vom Traktor geschleppt und in Teile zersägt worden, man hatte ihn auf Lastwagen geworfen, zu Stapeln gerollt, auf die Erde geworfen – aber der Ulmenstamm hatte sich nicht ergeben!Er hatte einen frischen grünen Trieb hervorgebracht – eine ganze künftige Ulme oder einen dichten rauschenden Zweig. Wir hatten den Stamm bereits auf den Bock gelegt, wie auf einen Richtblock; doch wagten wir nicht, mit der Säge in seinen Hals zu schneiden. Wie hätte man ihn zersägen können? Wie er doch leben will – stärker als wir.“ 1
Christlicher Glaube bringt die Botschaft, dass der Baum unseres Glaubens auch im Winter wächst. Die Geschichte Israels wird zur Gegenwart der Kirche: „Aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht“ (Jes 11,1). Wachstum braucht Richtung, so lehrt es uns die Natur, und das gilt auch für den Menschen. Zum Bistum Limburg gehört der Rheingau, eine mit Weinstöcken gesegnete Landschaft, in der man vieles lernen kann.Vor dem großen Frost des Winters sind die Winzer damit beschäftigt, die Reben auf das Maß eines Baumstumpfs zurückzuschneiden. Nur ein Trieb bleibt, in den alles Wachstum gehen soll. „Weinerziehung“ nennen sie diese Maßnahme der Botanik. Alle Kraft soll in einen Zweig gehen. Das gesamte Wachstum richtet sich auf einen Trieb. Ein Einschnitt, der notwendig ist, damit Neues werden kann.
Eine Einsicht, die uns ein altes Weihnachtslied aus dem 16. Jahrhundert vermittelt: „Es ist ein Ros entsprungen aus einer Wurzel zart,wie uns die Alten sungen,von Jesse kam die Art, und hat ein Blümlein bracht mitten im kalten Winter wohl zu der halben Nacht“ (vgl. Gl 132,1).
Neues wächst, wo Einschnitte nötig sind. Wir bemerken es oft erst im Rückblick. Wo uns in winterlicher Zeit Verzicht abverlangt wird, kommt es zur Konzentration auf das We sentliche. In Kirche und Gesellschaft, im Beruf und in den Beziehungen sagt uns der christliche Glaube: Wo wir Gewohntes und Vertrautes lassen müssen, will Gott, dass wir uns nicht länger in einem Vielerlei verlieren, das uns zerstreut.
Der Blick auf die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus zeigt uns den frischen Trieb aus dem Baumstumpf einer wechselhaften Lebens-, Welt-und Glaubensgeschichte. Die Bilder der Bibel zeigen die Wachsamkeit für das Wesentliche. Das Kind in der Krippe bewirkt die Konzentration auf das Kommende. Papst Benedikt XVI. hat sie im Blick, wenn er sagt: „In der Nacht von Bethlehem wird der Erlöser einer von uns, um auf den verfänglichen Wegen der Geschichte unser Begleiter zu sein. Ergreifen wir die Hand, die er uns entgegenstreckt: Es ist eine Hand, die uns nichts nehmen, sondern nur schenken will.“ 2
Wo es so scheinen mag, als Würde in winterlicher Zeit manches zurückgeschnitten und gestutzt, zeigt der junge Trieb, was christlicher Glaube bewirkt. Die Frucht aus dem Baumstumpf Isais kann nur wachsen, wenn es den Blick und die Besinnung auf die Blüte gibt, die unser Stammbaum des Glaubens zeigt. Hier sehen wir, was wir singen: „Das Blümelein so kleine, das duftet uns so süß, mit seinem hellen Scheine vertreibt's die Finsternis, wahr Mensch und wahrer Gott ... “
Maria mit dem Kind zeigt uns, welche vertraute Nähe entsteht,wo der Mensch des Glaubens Gottes Wort an sich heranlässt. Menschen blühen auf, wenn sie in einer Gemeinschaft leben, die trägt. Das wird uns bewusst, wenn wir unser eigenes Leben betrachten. Wir freuen uns über die echten Zeichen von Verbundenheit und wir leiden,wo Nähe verloren gegangen ist. Die Verbindung von Mutter und Kind im Bild der Blüte setzt sich fort in den Bildnissen der Schmerzhaften Mutter, der Pietà als Vesperbild. Menschen des Glaubens sind in der Solidarität des Lebens geborgen, die von der Krippe bis zum Kreuz geht. Die Botschaft der Bibel sagt uns: Wer glaubt, ist nie allein! Wer hofft, wächst über sich hinaus! Wer liebt, bleibt fest verwurzelt! Im Stammbaum Jesu haben wir vor Augen,was uns der christliche Glaube ins Herz pflanzt: „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich!“ (Röm 11,18b). Die Gestaltung unserer Gesellschaft braucht mehr Wissen um diese Weisheit. Sie ist die Wurzel aller Werte, die Menschen in ihrer Persönlichkeit und in ihrer Verantwortung füreinander wachsen lässt.
2.Worte mit Wirkung3
Politik braucht Worte. Das sind wohl ihre wichtigsten Werkzeuge. Die Macht des Wortes bedingt die Möglichkeiten des Machbaren. Sein Wort ,machen zu können', ist eine Voraussetzung dafür, in Staat und Politik etwas bewegen und verändern zu können.Wer viel reden muss,ist leicht in der Gefahr, schnell mit Worten ,dabei zu sein'. Die richtigen Worte zu wählen und zu wägen, ist mehr als Strategie und Diplomatie. Reden und schweigen zu können, ist deshalb eine Gabe, die über die Kunst der Rhetorik hinausgeht. Dieser Zusammenhang erinnert an eine Begebenheit, die über den weisen Philosophen der Antike erzählt wird:
Zu Sokrates kam einer gelaufen und war voll Aufregung. „Höre, Sokrates, das muss ich dir erzählen, wie dein Freund ... “ „Halt ein!“, unterbrach ihn der Weise, „hast du das, was du mir sagen willst, durch die drei Siebe gegeben? Lass sehen, ob das, was du mir zu sagen hast, durch die drei Siebe hindurchgeht. Das erste Sieb ist die Wahrheit. Hast du alles, was du mir erzählen willst, geprüft, ob es wahr ist? „Nein, ich hörte es erzählen und ...""So so! Aber sicher hast du es mit dem zweiten Sieb geprüft, es ist das Sieb der Güte. Ist das, was du mir erzählen willst, wenn es nicht schon als wahr erwiesen –, so doch wenigstens gut?“ Zögernd sagte der andere: „Nein, das nicht, im Gegen- teil ...“ Nachdenklich unterbrach ihn der Weise: „So lass uns auch das dritte Sieb noch anwenden und lass uns fragen, ob es notwendig ist, mir das zu erzählen, was dich so erregt!“ „Notwendig nun gerade nicht ...“, entgegnete der andere. „Also“, lächelte der Weise, „wenn das, was du mir erzählen willst, weder wahr noch gut, noch notwendig ist, so lass es begraben sein und belaste dich und mich nicht damit.“
Diese harsche Abfuhr erschreckt und macht zugleich nachdenklich.Worte können so ambivalent sein und inflationär werden. Gute Worte haben ihren Ort und ihre Zeit. Sie brauchen Zurückhaltung, damit sie Aufmerksamkeit gewinnen. Gute Worte führen den Menschen in die Nähe Gottes. Er ist das Wort, das am Anfang war und – wie das Johannesevangelium sagt – Fleisch geworden ist. In Jesus Christus hat Gottes gutes Wort für uns Menschen Namen und Gesicht bekommen.
„Bene dicere“ – das ist die Selbstentäußerung Gottes in seinem Sohn Jesus Christus. Gutes sagen bedeutet segnen, gesegnet sein und gesegnet werden.
Der Apostel Paulus trägt das Herz auf der Zunge,wenn er in seinem Brief an die Korinther so leidenschaftlich die Kollekte für die Gemeinde in Jerusalem empfiehlt. Er tut dies mit dem Wort ,Opfergabe', das in der Demokratie Athens die freiwilligen oder zwangsweisen Leistungen begüterter Bürger für das Staatswesen bezeichnet. Gemeint ist damit mehr als Besitz, es steht für die Beiträge Einzelner, die dem Ganzen dienen; es sind Worte, die halten und verbinden; es sind Gaben, die aufbauen und unterStützen.
Das ,bonum commune' braucht nach der Überzeugung des Apostels die Investition von Worten und Werken, die eine Kultur des ,Miteinander' und ,Füreinander' begründen. Paulus weiß im Voraus: Wer sich so einbringt,wird selbst beschenkt, „wer reichlich sät, wird reichlich ernten“ (2 Kor 9,6b). „Die Früchte der Gerechtigkeit, die Gott wachsen lässt“ (vgl. 2 Kor 9,10b), sind Worte, die wahr, gut und notwendig sind.
Solche Worte geben – wie ein russisches Sprichwort sagt – Wärme für drei Winter. Der Dialog in der Politik und Gesellschaft, zwischen Personen und Positionen, zwischen Fraktionen und Kommissionen, zwischen Meinungen und Möglichkeiten, braucht Worte, die sich an dem orientieren, was wahr, notwendig und gut für unser Land ist. Die Opfergabe, um die es Paulus zum Aufbau einer tragenden Gemeinschaft geht, ist ein Beitrag, um den die Dichterin Rose Ausländer in ihrer geistlichen Lyrik Gott direkt bittet: „Herr, gib mir das Wort, das mich neu erschafft!“ Die Dichterin meint das Wort, das mich betrifft und mit den anderen verbindet. Sie spricht von dem, was Gott zuerst gibt und was wir brauchen, wenn wir neu anfangen wollen: seinen Segen.
3. Stufen der Statik4
Es war bei einem Besuch in Rom. Während einer Führung durch die Archivräume des Petersdomes hatte ich die Gelegenheit, das handgeschriebene Testament des Gianlorenzo Bernini zu sehen, dieses großen Baumeisters und Bildhauers der Barockzeit. Sein Vermächtnis ist ein Brief an seinen Sohn, in dem er verfügte: Nach seinem Tod solle für ihn kein Grabmal errichtet werden. Vielmehr bat er darum, in einer Treppe beigesetzt zu werden, und bemerkte: „Erst wenn ein Leben zur Stufe für andere geworden ist, hat es sich wohl erfüllt.“ Wer heute nach Rom kommt und die Basilika Santa Maria Maggiore besucht, begegnet dem Grab dieses großen Bildhauers in einer Stufe zum Aufgang in den Chorraum dieser Kirche.
Politik ist die Architektur unserer Gesellschaft. Hier entscheidet sich, welche Fundamente und Stufen gebaut werden, welche Säulen und Gerüste es braucht, damit das gemeinsame Haus Bestand hat. Die Herausforderungen in der Welt der Wirtschaft machen uns bewusst, welchen tieferen Grund unsere Gesetze brauchen, damit Gerechtigkeit und Solidarität erfahrbar werden.
Weil ein tragender Staat auf verlässlichen Fundamenten fußt, braucht es Politiker, die Werte wahren und vertreten. Weil unsere Gesellschaft Wege in die Zukunft sucht, braucht sie Persönlichkeiten mit dem Bewusstsein und der Bereitschaft, zur Stufe für andere zu werden. Diese Belastbarkeit gibt es nicht ohne die Wertschätzung unserer Herkunft und ohne den Mut zur Zukunft. Beides vermittelt sich im Bild der Stufe: Einbindung und Verbindlichkeit, der Blick nach vorn und nach oben.Wo nicht der Glaube an Gott das Fundament für den Blick auf den einzelnen Menschen und das Miteinander in unserer Gesellschaft ist, wird auch der Himmel nicht mehr als das bergende und schützende Dach erfahren. Seelisches Unbehaustsein und leibliche Heimatlosigkeit machen vielen Menschen zu schaffen. Der Satz des Dichters Novalis vermittelt sich nur, wo es die Stufen von Werten und Wahrheiten gibt, die über das Materielle und Funktionale hinausgehen: Er fragt und sagt: „Wohin gehen wir? – Immer nach Hause!“
Wo Politik die Wege zu Werten freilegt,kommen Positionen in den Blick, die für Menschen zu Stufen werden können. Es braucht Orte, an denen unser Glaube an Gott Worte bekommt, die für Menschen zur Orientierung werden. Es braucht die Rede von den Fundamenten und die Anschaulichkeit überzeugender Felsen, damit in den Stürmen des Umbruchs bewusst wird, was bleibt und was auf Sand gebaut ist. Es braucht Sprachschulen des Glaubens im Bereich der Bildung, damit im Leben die Aufmerksamkeit erhalten bleibt, wo wir Füreinander zu Stufen werden können. Es braucht den Religionsunterricht in unseren Schulen, damit es später im Beruf und im Alltag zu der Entdeckung kommen kann, die der Dichter Elias Canetti einmal so ins Wort brachte: „Wie gerne Würde ich mir als Fremder einmal zuhören. Ohne mich zu erkennen und später erst erfahren, dass ich es war.“
Worte brauchen Gesichter. Politik lebt von persönlichen Beiträgen.So entstehen Treppen in die Zukunft, deren Trittfestigkeit immer auf der untersten Stufe ertastet wird.Worte brauchen persönliche Bekenntnisse. Dadurch vermitteln sie sich anderen als tragfähig. Und sie brauchen Räume der Entfaltung, die der Staat Fördert, damit Verbindlichkeit und Verbundenheit in unsere Gesellschaft kommen. Die Sorge für den Menschen braucht die freie Sicht auf Gott. Nur dann haben wir Zukunft im Blick.
In den Briefen des Apostels Paulus haben wir einen Glaubenszeugen vor Augen, der durch seine Verkündigung selbst zu einer Stufe geworden ist, über die das Christentum zu uns gekommen ist. Im ersten Brief an die Korinther begreift er diese Verantwortung: „Der Gnade Gottes entsprechend, die mir geschenkt wurde, habe ich wie ein guter Baumeister den Grund gelegt. (…) Denn einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist: Jesus Christus“ (1 Kor 3,10–11).
Weil Jesus Christus uns ,zuvorgekommen' ist, können wir auf diesen Grund weiterbauen. Er trägt, was Menschen belastet. Er fördert, was Menschen nach oben bringt. Diese Gewissheit unseres Glaubens dient dem Wohl unserer Gesellschaft. Politik in dieser Statik braucht den tragenden Grund, eine Aufmerksamkeit für gelegte Fundamente und die Bereitschaft, darauf selbst zur Stufe zu werden. Auch in diesem Sinn mag dann gelten, was man bisweilen auf Schildern lesen kann: „Watch your step!“
II. Gewissensbildung durch Glaubensvertiefung 5
Immer wieder wird in unseren Tagen die Frage nach dem Gewissen in Gesellschaft und Politik angesprochen. In der Regel geschieht dies anhand konkreter Fälle. Es geht beispielsweise um die weltweite Wirtschafts-und Finanzkrise, die auch als Frage nach den politischen Rahmenbedingungen wahrgenommen wird. Oder es geht um die Frage der Managergehälter, wobei unweigerlich auch die Relation zur Entlohnung der Arbeiter in den Blick kommt. Oder es geht um Entscheidungen einzelner Abgeordneter, die weitreichende Folgen im politischen Geschehen eines Landes und darüber hinaus haben. In den aktuellen öffentlichen Diskussionsbeiträgen zu diesen Themen ist bisweilen auch die Anfrage zu vernehmen, ob Personen, die für sich eine Gewissensentscheidung reklamieren, sich hinter der Gewissensfreiheit sozusagen ,verstecken' können.
Eberhard Schockenhoff, Moraltheologe an der Universität Freiburg, weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass „das deutsche Wort ,Gewissen' im gegenwärtigen Sprachgebrauch der Öffentlichkeit den Rückbezug auf universale ethische Prinzipien und verbindliche Wertüberzeugungen weitgehend abgestreift“ hat.6 Und weiter stellt er fest: „Demokratische Gesellschaften neigen offenbar dazu ... nach der Devise zu verfahren:Was die Mehrheit für richtig hält, kann nicht falsch sein.“ 7 Es ist also grundlegender danach fragen, wie heute ,das Gewissen' verstanden wird. Dabei kann eine erste wichtige Feststellung gemacht werden: Das Gewissen ist keineswegs mit „einer urwüchsigen Naturpotenz vergleichbar“.8 Vielmehr zeichnet es den Menschen aus, eine Instanz zu haben, die wir ,Gewissen' nennen und die sich schon von Anfang des menschlichen Lebens an ausgestaltet, wie jüngere Forschungen bestätigt haben. Thomas von Aquin spricht vom Gewissen als „natürliche Anlage“. Es ist gewissermaßen „der angeborene Speicher, der die obersten Prinzipien des moralischen Urteils enthält“9.
Daran verdeutlicht sich ein weiterer Aspekt: Das Gewissen will geformt sein, will inhaltlich gefüllt werden. Die Religionspädagogik spricht hier von der ,Gewissensbildung'. Dieser Bildungsvorgang bedeutet eine Anbindung des Gewissens an ethische Prinzipien, an Wertüberzeugungen und an moralische Normen.Dabei ist der Mensch „als freier Urheber seiner Handlungen nicht nur ,vor' seinem Gewissen, sondern auch ,Für' sein Gewissen verantwortlich“.10
1. Sehen und sichten
Gewissensfreiheit und Verantwortung gehören immer zusammen. Das Gewissen macht in gewisser Hinsicht unabhängig, hat aber auch einen Aufforderungscharakter, der den Menschen zur übernahme von Verantwortung treibt. Dabei schützt die Freiheit des Gewissens den Staat davor, dass niemand gezwungen werden darf. Die Grenze der Freiheit aber ist die Freiheit des anderen. Deswegen haben gemeinschaftzerstörende Handlungen nichts mit Gewissensfreiheit zu tun.11
Für den Bereich der Verantwortung nimmt der Philosoph Otfried Höffe eine vierfache Konkretisierung anhand folgender Fragen vor: Wer ist zuständig? Für was ist jemand zuständig? Gegenüber wem ist der Betroffene zuständig? Welche Beurteilungskriterien liegen vor?12 Die ersten beiden Fragen klären die Situation. Gerade bei globalen Themen – wie der weltweiten Finanzkrise – wehren sich manche geradezu dagegen, zuständig zu sein. Schon hier setzt eine politische Reflexion an. Bei der dritten und der vierten Frage tritt das Gewissen ins Zentrum der überlegungen: Wer ist mein Gegenüber? Wem bin ich rechenschaftspflichtig?Und was ist der Maßstab der Beurteilung? Die Moralpädagogik spricht hier von der Bildung der sittlichen Urteilskraft und personaler Verantwortung. Darin deutet sich schon an, was mit dem ,individuellen Gewissen' gemeint ist und was nicht. Man darf das ,individuelle Gewissen' nicht missverstehen, indem man die Geltung von Normen je nach Situation eingrenzt und dabei Ausnahmen für sich zulässt. Denn das Gewissen ist nicht primär Dispensorgan, sondern eher eine individuelle Pflichtinstanz. „Es geht imGewissen in erster Linie um die Freilegung eines Horizonts, um die Erkenntnis einer Aufgabe, nicht um die Fixierung einer Grenze oder die Abweisung sittlicher Ansprüche.“ 13 Ohne die Rückbindung an fundamentale Gerechtigkeitsprinzipien, an konkrete Normen oder an Werte „verkommt das Gewissen zu einem Handlanger der eigenen Interessensbehauptung“.14 Es ist also in jeder Entscheidungssituation neu danach zu fragen,welche Orientierungsmaßstäbe zu beachten sind. Im Bereich des Politischen greift die Kirche auf die Katholische Soziallehre zurück und fragt,welche staatlichen Gesetze,Regelungen oder Ordnungen hier gelten bzw. gelten sollen.
Auf die europäische bzw. weltweite Wirtschafts-und Finanzkrise bezogen wirft dies die Frage auf, ob überhaupt ein Regelwerk auf internationaler Ebene als Rahmen genügend ausgestaltet ist. Der Erzbischof von München und Freising, Reinhard Kardinal Marx, hat vielfach darauf hingewiesen, dass aus Sicht der Katholischen Soziallehre eine Ordnungspolitik auf Weltebene erforderlich ist, damit mehr Gerechtigkeit, Transparenz und Verantwortlichkeit geschaffen wird.15 Dies ist eine Forderung, die nicht mehr übergangen werden kann, denn zu allen Zeiten gilt: Wer aus der Geschichte nicht lernt, wird sie noch einmal erleben.
Die Frage des Gewissens erschöpft sich jedoch nicht in der Orientierung an Prinzipien,Werten und Normen. Denn das Gewissen treibt uns auch dahin, selbst neue Handlungsmöglichkeiten zu entdecken. Es kann als intuitive Erfahrung und autorative Verpflichtung verstanden werden. Habe ich für meine Entscheidungssituation diese auch unbestechlich bilanziert? Habe ich die möglichen Alternativen mit ihren entsprechenden Folgen konsequent genug überdacht? Suche ich danach, aus der Situation für mich persönlich gut herauszukommen – oder lasse ich mich in die Pflicht nehmen für eine gute Sache, für die ich auch stehen will?16
So können durch eine Gewissensprüfung auch neue Horizonte des Handelns aufkommen, Gestalt gewinnen und erschlossen werden. Es eröffnet sich die Möglichkeit, dass das Gewissen aus Krisensituationen neue Chancen erwachsen lässt. Zugleich aber wird auch deutlich, dass wir immer wieder an uns selbst arbeiten müssen, wenn wir den Herausforderungen gerecht werden wollen.Von dieser Verantwortung kann sich niemand dispensieren.
Das Gewissen macht uns aber auch nicht frei, alle Spielräume, die internationale oder staatliche Gesetze und Regeungen lassen, nur für sich selbst auszuschöpfen, ungeachtet dessen, welche Konsequenzen sie für andere Völker und Menschen haben. Auf der politischen Ebene wird hier bewusst,was Papst Johannes Paul II. In seiner Enzyklika „Sollicitudo rei socialis“ mit den „Strukturen der Sünde“17 angesprochen hat: Politische Ordnungen sollten verhindern, dass von ihnen falsche Anreize ausgehen.
Karl Homann, Philosoph aus München, hat diesen Gedanken mit seiner Theorie der anreizgestützten Institutionenethik untermauert. Hier liegt eine Aufgabe, die sich nicht nur auf die spektakulären politischen Themen bezieht, sondern beispielsweise auch Für den Bereich der Sozialpolitik gilt: Haben wir in diesem Regelungsfeld die richtigen Anreize gesetzt, damit das Prinzip der ,Hilfe zur Selbsthilfe' zum Tragen kommen kann? Damit der Betroffene in Freiheit Eigenverantwortung übernehmen kann? Oder bewirken unsere Gesetze und Verordnungen, dass die Betroffenen eher alimentiert werden?
Auf der persönlichen Ebene kann sich niemand hinter ungenügenden staatlichen Regeln, die zu viele Spielräume lassen, verstecken und sagen: Ich nutze nur die Möglichkeiten für mich, die mir gegeben sind. Vielmehr darf keiner sich frei machen von Orientierungen, die dem Schutz der Menschen dienen.Unsere Kultur lebt eben auch von humanen Werten, die nicht durch Gesetze und Verordnungen gesichert werden können. Das ist kein Gegensatz zur Freiheit, die dem Menschen gegeben ist. Denn menschliche Freiheit zeigt sich auf vielfache Weise als begrenzte Freiheit.18 Deshalb sollten wir auch aufhören, zwischen den so genannten ,Gutmenschen' und anderen, am Eigeninteresse orientierten Menschen zu unterscheiden, weil wir sonst in der Gefahr stehen, die verbindende Klammer in der Gesellschaft zu verlieren.
Das an humanen Werten orientierte Leben in der Gesellschaft ist Auftrag aller Gesellschaftsmitglieder. In diesem Zusammenhang darf nicht übersehen werden, was das im Blick auf den Staat bedeutet. Er könnte seine Aufgaben gar nicht genügend wahrnehmen, wenn er alle Spielräume im menschlichen Handeln immer mehr regeln muss, weil die Menschen diese Räume nur für sich selbst nutzen. Der Staat Würde an den Regelungsnotwendigkeiten ersticken.
Nur eine humane Gesellschaft und Kultur ermöglicht einen freiheitlichen Staat, der den Menschen Freiheitsräume lässt. Dabei sind viele Wertüberzeugungen in den so genannten Grundwerten ausgedrückt, die in unserer Verfassung festgeschrieben sind. Schon die Präambel des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ zeigt, dass allen staatlichen Regeln eine grundlegende Orientierung am Wohl des Menschen vorausgeht. Hier wird deutlich, dass Werte und Wertüberzeugungen gelebt werden wollen,wenn sie zur Orientierung für die Menschen dienen sollen.
2. Hören und handeln
Die deutschen Bischöfe haben vielfach auf diesen Zusammenhang hingewiesen und deutlich gemacht, dass gerade die Kirche in der Bezeugung des christlichen Glaubens hier einen unverzichtbaren Beitrag leistet. Zwar macht der notwendige Verweis auf die verfassungsmäßig gesicherten ,Grundwerte' das gelebte Ethos der Bürger nicht überflüssig. Es ist das Beispiel, das überzeugt und motiviert. Demgegenüber bleiben die ,Grundwerte' zunächst abstrakt. „überall jedoch, wo der Glaube an Gott und die Liebe zum Nächsten verkündigt werden, sittliche Weisung für den Alltag des Lebens geschieht und die Gemeinschaft der Kirche gelebt wird, werden – mindestens indirekt – auch Grundwerte gefördert und gepflegt.“ 19
Schon dem Philosophen Immanuel Kant war als Kritiker der reinen Vernunft klar, dass der Rekurs auf die menschenwürde und das mit ihm verbundene strikte Verbot, Menschen zum Zweck für die Interessen anderer zu machen, nicht aus menschlicher Vernunft allein verstehbar zu machen ist. Die Grenze, die er der Vernunft des Menschen aufgezeigt hat, eröffnet eine neue Perspektive für das Verständnis des Gewissens. Sie ermöglicht zu sagen, dass der Sinn des Gewissensspruchs menschliche Sinnstiftung übersteigt und auf den transzendenten Gott verweist. Damit wird die ,Gewissensforderung' für die ,Glaubenserfahrung' des religiösen Menschen geöffnet. Darin liegt der entscheidende Grund, aus dem die ,Stimme des Gewissens' in einem recht verstandenen Sinn auch die ,Stimme Gottes' im Herzen eines Menschen genannt werden darf.20
Der Beitrag der Kirche besteht darin, dass sie aus dem Glauben und der langen Glaubensgeschichte Orientierung geben will. Damit leistet sie in doppelter Richtung einen Beitrag zur Gewissensbildung. Es geht um den konkreten Dienst am Menschen und füreinander und es geht um politische Ordnungen, die das Wohl des Menschen ermöglichen, Stützen und fürdern sollen. In der Folge hat sich die Gewissensordnung dann aber auch selbst unter diese Orientierung zu stellen.
In seiner viel beachteten Rede vor dem Deutschen Bundestag am 22. September 2011 und bereits in seiner ersten Enzyklika „Deus caritas est“ hebt Papst Benedikt XVI. ausdrücklich hervor: „Die gerechte Ordnung der Gesellschaft und des Staates ist zentraler Auftrag der Politik. Ein Staat, der nicht durch Gerechtigkeit definiert wäre, wäre nur eine große Räuberbande“21, wie der heilige Augustinus einmal sagte. Dabei will die Katholische Soziallehre ihren Beitrag für die Politik leisten, indem sie immer wieder auf politische Notwendigkeiten hinweist, um die ethische Orientierung an der Würde des Menschen ins Spiel zu bringen.
Denn, so Papst Benedikt XVI. weiter, „die gerechte Gesellschaft kann nicht das Werk der Kirche sein, sondern muss von der Politik geschaffen werden. Aber das Mühen um die Gerechtigkeit durch eine Öffnung von Erkenntnis und Willen für die Erfordernisse des Guten geht sie zutiefst an.“ 22 Wie aber können wir heute noch das Gute erkennen und benennen?Abstrakt lautet die Antwort: All das, was dem Leben der Menschen dient, ist hier gemeint. Konkret stoßen wir auf Themenfelder wie Armut, Arbeitslosigkeit,Abtreibung, Bioethik23, Präimplantationsdiagnostik oder embryonale Stammzellforschung24, Umweltschutz und Bewahrung der Schöpfung, Bildung, Integration, Friedensbewahrung, Kindeswohl und Familienwohl25, als auch Lebensschutz am Anfang wie auch am Ende des Lebens, der der Kirche besonders am Herzen liegt,weil es hier um die Schwächsten geht.
Die neuen Herausforderungen in diesen Bereichen stehen in enger Verbindung mit dem,was die Verfassung mit ,Menschenwürde' benennt. Mit der Wachsamkeit für diese Themen beginnt die persönliche und öffentliche Verantwortung für ,Gewissensbildung'. Wenn es gegenwärtig z.B. In der Finanzkrise darum geht, dass die materiellen Bedingungen vieler Menschen weltweit wesentlich gefährdet sind, wird der ethische Zusammenhang zwischen den eigenen Einstellungen und dem Wohl und Wehe anderer Menschen – besonders der Ärmsten der Armen – bewusst.
Spekulative Märkte haben beispielsweise akute Ernährungsengpässe in der so genannten Dritten Welt erzeugt. Sie sind also nicht einfach erlaubt. Sie müssen sich gegenüber Arbeitsplatzpolitik, Armutsbekämpfung etc. rechtfertigen. Das Streben nach dem schnellen hohen Gewinn hat die Handelnden blind gemacht und sie zur Unvorsichtigkeit verleitet.
3.Wahren und wagen
Nicht ohne Grund erinnert die Kirche ausdrücklich an die ethischen und moralischen Herausforderungen. Es ist der uns überlieferte jüdisch-christliche Glaube, dass Gott den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen hat, und dass Gott zum Menschen steht; dass der Mensch etwas Heiliges in sich trägt, das ihn gleichsam unantastbar macht. Dabei geht es um jeden Menschen, unabhängig von Rasse, Klasse, Geschlecht oder auch Kultur. In diesem Sinn ist auch das Wort des jüdischen Philosophen Abraham Joshua Heschel zu verstehen: „Höchste Bedeutung ist (daher) unvorstellbar ohne den Sinn, der von einem höchsten Sein kommt. Humanität ohne Divinität ist ein Torso.“ 26
So kann verständlich werden, dass Christen das Gewissen als Stimme Gottes verstehen.Ungeachtet der unrühmlichen Anteile aus der eigenen Kirchengeschichte liegt hier der Kern des heutigen politischen Verständnisses der universalen Menschenrechte.
Daher sind wir als Christen besonders herausgefordert, internationale Entwicklungen in ihren Wirkungen über alle Kontinente hinweg zu beachten,Vorkehrungen anzumahnen und selbst engagiert an deren Bewältigung mitzuwirken. Eine verantwortliche Politik kommt nicht umhin, alle hierfür möglichen und notwendigen Instrumente intensiv zu prüfen und politisch umzusetzen. Dabei dürfen wir nicht vor ungewohnten überlegungen und Konzepten zurückschrecken. Dies gilt insbesondere deswegen, weil wir hiermit vor bisher nicht da gewesenen Herausforderungen und neuen Aufgaben stehen.
Eine verantwortliche Politik braucht verantwortungsvolle Politiker. Nur wer sein Gewissen immer wieder neu schärft, erhält durch das Gewissen Impulse, die ihn die Richtung erkennen lassen. Hier setzt die Ethik des Neuen Testamentes an. Sie offenbart sich in dem, der von sich sagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Das Beispiel Jesu ruft den Menschen in seine Verantwortung und Freiheit. „Die wichtigsten neutestamentlichen Zeugnisse, in denen uns die Ethik Jesu entgegentritt, sind im Grunde nichts anderes als Anleitungen zu einem an der Not des Nächsten geschärften Gebrauch des Gewissens.“ 27
Im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (vgl.Lk 10,25–37) hat Jesus die Frage des Gesetzeslehrers: ,Wer ist mein Nächster?' in eine andere Frage umgewandelt: ,Wem kann ich zum Nächsten werden, weil er meiner Hilfe bedarf?' Nicht der Blick in Richtung Grenze, nämlich: ,Wie weit darf ich gehen?' steht im Vordergrund. Jesus kehrt den Blick um und fragt: ,Wie weit bin ich bereit, mich für den Nächsten und damit für das Gute einzubringen?'
Auch hat Jesus – beispielsweise mit den Antithesen in der Bergpredigt – selbst die ethischen Weisungen der Zehn Gebote bekräftigt und vertieft. So heißt es dort: „Zu den Alten ist gesagt worden,du sollst nicht töten.(…) Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein“ (vgl. Mt 5,21–22).
Schon bei den Propheten im Alten Testament steht die Begrifflichkeit des Tötens dafür, einen Menschen in schwerer Weise wirtschaftlich auszubeuten oder ihn sozial und rechtlich zu unterdrücken,d.h., ihn in seinen Lebensmöglichkeiten drastisch zu beschneiden. Den Propheten des Alten Bundes und Jesus selbst geht es um die Verbesserung der Verhältnisse und nicht darum, das Schlimmste zu verhüten. So sind die Antithesen der Bergpredigt verbindliche Orientierungszeichen für die Bildung des christlichen Gewissens, das durch sie geschärft und auf das eigentliche Ziel des christlichen Lebens ausgerichtet wird.
Der selige John Henry Newman, der große Theologe und Pädagoge des 19. Jahrhunderts, hatte wohl Recht, wenn er das Gewissen als „Ursprungsort der Gotteserfahrung“ verstand.28 In diesem Sinn ist die Wachsamkeit von Politik und Gesellschaft für Räume des Glaubens so wichtig, in denen die Kunst des verantwortlichen Lebens vermittelt wird.
III. Bereitschaft zur Barmherzigkeit29
Zu Beginn des Jahres 2007 machte in Münster ein spektakuläres Theaterprojekt auf sich aufmerksam. „Kultur der Barmherzigkeit“ – so lautete der Titel einer Vorstellung, die es sich zu eigen gemacht hatte, die sieben Werke der Barmherzigkeit wieder in Erinnerung zu rufen.Weil viele in unserer Gesellschaft nicht mehr wissen, ,wer' damit gemeint ist,gibt es die Sorge, es könnte verloren gehen, ,was' damit gemeint ist. Hungrige speisen, Durstige tränken, Fremde beherbergen, Nackte bekleiden,Kranke pflegen,Gefangene besuchen und Tote bestatten – das ist die Diakonie, die im Evangelium vom Weltgericht zum Maßstab der Christusverbundenheit wird: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan!“ (Mt 25,40).
Dem unkonventionellen Theaterprojekt in Münster ging es darum, in den Nöten der Menschen die Tugend der Barmherzigkeit wieder zur Geltung zu bringen. Deshalb waren Obdachlose, Flüchtlinge und Strafgefangene als Akteure mit einbezogen. Begegnung als Berührung mit der Welt der anderen. Barmherzigkeit als Bewegung des Herzens: „Nur wer fühlt, was er sieht, gibt, was er hat!“ Den Zuschauern wurde bewusst: Der ,Mut zum Dienen' vermittelt sich durch ,persönliche Präsenz'. ,Dien-mut' ist Diakonie aus der Herzens verwandtschaft mit dem Gott, der von sich sagt: „Ich bin unter euch wie der, der bedient“ (Lk 22,27).
Diese Offenbarung Jesu im Lukasevangelium ist die Wegbeschreibung zu den Krankenhäusern und Altenpflegeheimen, zu Kindertagesstätten und Behinderteneinrichtungen, zu Hospiz und Sozialstationen und letztlich zu allen Einrichtungen, die von Kirche im Geist des Evangeliums getragen werden. Es sind diese Orte, wie sie nicht selten im Engagement von Christen aus den Herausforderungen der sozialen Frage und Bewegung des 19. Jahrhunderts eine Verbindung von Humanität und Spiritualität hervorgebracht haben, die uns begreifen lässt, was eine verlässliche Sozialität in unserer Gesellschaft trägt.
Wo Kirche soziale Einrichtungen in großer Vielfalt trägt, geht es um den exemplarischen Hinweis auf den, der das Leben trägt. „Deus caritas est“ – so beginnt die erste Enzyklika Papst Benedikt XVI. Sein Verweis auf dieses Wort des ersten Johannesbriefes ist die Bündelung der Botschaft, die Christen bewegt, sich der sozialen Frage ihrer Zeit in einem Horizont zu stellen, der sich am Anfang dieses päpstlichen Schreibens wie eine Kurzformel unseres Glaubens liest: „Gott ist die Liebe. In diesen Worten (aus dem ersten Johannesbrief)ist die Mitte des christlichen Glaubens, das christliche Gottesbild und auch das daraus folgende Bild des Menschen und seines Weges in einzigartiger Klarheit ausgesprochen.“ 30 Daraus leitet der Papst an anderer Stelle einen Auftrag ab, der der Caritas Gesicht gibt: „Alles Handeln der Kirche ist Ausdruck einer Liebe, die das ganzheitliche Wohl des Menschen anstrebt: seine Evangelisierung durch das Wort und die Sakramente (…). So ist die Liebe der Dienst, den die Kirche entfaltet, um unentwegt den materiellen Leiden und Nöten der Menschen zu begegnen.“ 31
Christliche Barmherzigkeit ist mehr als geleistete Taten. Es ist vor allem die gelebte Begründung, dass die Liebe Gottes den Menschen in seinen Grenzen trägt. So sehr Caritas heute professionelle Organisation sein muss und Gesundheitspflege sich auf einem profitorientierten Markt behaupten muss – das Entscheidende des kirchlichen Engagements in diesem Bereich besteht in der Einstellung, dass das Erbarmen umsonst ist oder, wie Vinzenz von Paul es sagt: „Herzlichkeit ist die kleine Münze der Liebe.“ Menschen, die in unserer Gesellschaft für das Unbezahlbare einstehen, sind die Platzhalter Gottes.
Das ,Zeugnis des Lebens' braucht das deutende ,Zeugnis des Wortes', denn die Motivation zur Liebe hat einen Namen: Jesus Christus. Die Menschwerdung Gottes gibt der Barmherzigkeit ein Gesicht, das in unserer abendländischchristlichen Gesellschaft zum Maßstab geworden ist. Gleichzeitig stellt sich unter zunehmend säkularisierten Lebensbedingungen die Frage, ob das ursprünglich Christliche noch als das unterscheidende Christliche wahrgenommen wird. Vieles von der Ethik des Evangeliums ist so selbstverständlich in das Menschenbild unserer Verfassung und Rechtsprechung, unserer Sorge um das Soziale und Kulturelle eingegangen, dass der frühere bayerische Kultusminister Hans Maier vor zwanzig Jahren die kritische Frage stellen konnte, wie weit die Wahrnehmung des originär Christlichen in unserer Zeit zum Opfer des eigenen Erfolges geworden ist. Heute zeigt sich, dass die inzwischen rasant stattgefundene Selbstsäkularisierung aller Lebensbereiche die neue Nachfrage und Notwendigkeit provoziert, ins Wort zu bringen, worin das spezifisch Christliche besteht. Die zahlreichen Bemühungen um die Formulierung von Leitbildern, gerade in kirchlich getragenen Einrichtungen des Gesundheits- und Bildungsbereiches, belegen, dass eine Zertifizierung von angebotenen Leistungen nicht ohne die Verifizierung der tragenden Botschaft auskommt. Auszusprechen, was Christen zur Barmherzigkeit bewegt, und anzusprechen, wofür Christen in einer pluralen Gesellschaft einstehen wollen, provoziert auf neue Weise das Profil des Missionarischen.
Der Rückblick in das gewachsene institutionelle Engagement der Kirche im sozialen Bereich zeigt die bleibende Notwendigkeit, sich den fortschreitenden verändernden sozialen Herausforderungen in einer Bereitschaft zu stellen, die das originär Christliche in den Zeichen der Zeit wahrnimmt und anspricht. Wo Christen tun, was ,dran' ist, vermitteln sie die Relevanz des Evangeliums in der jeweiligen Zeit. Dieser innere und inhaltliche Zusammenhang ist das Proprium einer missionarischen Pastoral, wie es das Zweite Vatikanische Konzil in der Konstitution „Gaudium et spes“ als Leitbild für das Handeln der Kirche in der Welt von heute herausstellt: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände.“32
Diese Selbstverpflichtung markiert eine kirchliche Caritas. Der Erfurter Bischof Joachim Wanke illustriert diesen wesenhaften inhaltlichen Zusammenhang ,Wo Caritas draufsteht, muss Kirche drin sein, und wo Kirche draufsteht, muss Caritas drin sein'. Dieser Ansatz ist der Horizont, in dem der heilige Vinzenz von Paul Barmherzigkeit als das Schlüsselwort christlicher Verkündigung identifiziert. Wenn er im Blick auf den menschgewordenen Gott sagen kann: „Liebe sei Tat!“, sind die Worte des Evangeliums zugleich in ihm. Eine Kultur der Barmherzigkeit in einer Gesellschaft des Marktes ist ausdauernd über den kategorischen Imperativ zu Sozialleistungen nur schwer zu erreichen. Wo karitatives Engagement aber explizit als kirchliches Zeugnis gelebt und verstanden wird, macht es neugierig, wie das Evangelium Taten und Worte in einen Einklang bringen kann, der die Investition und Motivation zur gelebten Liebe als Attraktion vermittelt. Der Blick in die reiche Geschichte kirchlicher Caritas lässt drei Ausrichtungen erkennen, die zu einer Kultur der Barmherzigkeit in unserer Gesellschaft beitragen.
1. Bekehrung zur Kindschaft
In seinem viel beachteten Buch über Jesus von Nazareth erschließt Papst Benedikt XVI. die sprachliche Herkunft des Wortes ,Barmherzigkeit' aus dem Hebräischen. Dort ist es gleichlautend und gleichbedeutend mit der Vokabel ,Mutterleib' und ,Mutterschoß'. Leben zu tragen und Leben zu geben besteht demnach in seiner Ursprünglichkeit darin, ein Herz für andere zu haben. So, wie der Herzschlag des Kindes im Mutterleib an den Herzrhythmus der Mutter gebunden ist, synchronisiert die gelebte Barmherzigkeit den Menschen mit Gott. Weil der Mensch nach Gottes Bild geschaffen ist, begründet diese Gotteskindschaft jedes Menschen eine Verwandtschaft, die das eigene Herz für die Not des anderen öffnet. Eine Kultur der Barmherzigkeit beginnt mit der Bekehrung zur Kindschaft.Wo der Mensch sich und sein Leben Gott verdankt, prägt ihn eine andere Lebenseinstellung als dort, wo die Meinung Menschen bestimmt, das Leben an sich reißen zu müssen. Gotteskindschaft ist ein Selbstverständnis, das die anderen als Schwestern und Brüder verstehen lässt.Wo die Erinnerung an die Herkunft verblasst, verliert der Mensch die Fähigkeit, mit dem Herzen Gottes zu sehen und zu fühlen. Eine Barmherzigkeit aus dem Mutterschoß des Glaubens ist die Gewähr für eine Kultur des Erbarmens im Miteinander der Gesellschaft und im Füreinander der Generationen.
Nicht selten ist es die Biografie großer Menschen, die zu verstehen hilft, wann, wie und wo sie ihre innere Bewegung zur Barmherzigkeit gefunden haben. Wer heute das rekonstruierte einfache Elternhaus des heiligen Vinzenz von Paul besucht, begreift etwas von seiner Herkunft, die zum Vermächtnis wird.1581 wird er in Pouy, einem kleinen Dorf in der Gascogne, im Südwesten Frankreichs, als drittes von sechs Kindern geboren. Das karge und zugleich behütete Leben dieser Bauernfamilie prägt diesen Jungen, der früh in der bescheidenen Landwirtschaft mit anpacken muss. Zugleich fällt seine Begabung auf und sein Onkel kann den Vater bewegen, den jungen Vinzenz in ein nahe gelegenes Kolleg nach Dax zu schicken, um eine höhere Schulausbildung zu bekommen. Die Erfolge des Jungen lassen auf ihn aufmerksam werden und die wohlwollende Fürderung durch andere ermöglicht ihm einen Aufstieg und eine Umgebung, in der er sich bald gefällt. Im Rückblick auf diese Zeit seines Lebens gesteht er später einmal: „Ich kann mich erinnern, wie man mir einmal in dem Kolleg, in dem ich studierte, sagen ließ, dass mein Vater, der ein armer Bauer war, nach mir fragte. Ich weigerte mich, mit ihm zu sprechen, wodurch ich eine große Sünde beging.“ Vinzenz von Paul schämte sich, diesen „schlecht gekleideten und ein wenig hinkenden Vater“ vor den anderen zu empfangen.
Diese Begebenheit aus dem Leben des uns bekannten großen Heiligen zeigt zugleich sein späteres Erschrecken über das Vergessen der eigenen Kindschaft.Wo auch im übertragenen Sinn das Bewusstsein der Herkunft durch die Bemächtigung eigener Einkunft verstellt wird, gibt es eine Verschiebung der Wertigkeiten und die Versuchung zur Selbstbezogenheit. Wo die Erinnerung an unsere Gotteskindschaft verblasst, macht sich der Mensch zum Maß der Dinge.Wo die Verbindung zum Ursprung des Herzens durch manche Umstände des Lebens verloren geht, erkalten und erstarren die Gefühle. Bekehrung zur Kindschaft ist Herzensbildung. Gemeint ist eine Haltung, die um die eigene Bedürftigkeit der Barmherzigkeit weiß und aus der erfahrenen Zuwendung anderen Hinwendung zu schenken vermag. In diesem Sinn ist – wie Thomas von Aquin einmal sagt – „die Not die Mutter aller Taten“. Barmherzigkeit als Bewusstsein von Gotteskindschaft und Glaubensverwandtschaft ist ein Einfühlungsvermögen in die Bedürftigkeit des anderen, wie es die Goldene Regel der Bergpredigt zum Ausdruck bringt: „Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen“ (Mt 7,12).
Barmherzigkeit als eine mütterliche Begabung, die eine Bekehrung zur Kindschaft ermöglicht, gehört zum Selbstverständnis des Dienstes in den vielen Einrichtungen, die Kirche gerade in der Caritas trägt. Hier ist es immer die Begegnung und Berührung mit den Hilfsbedürftigen, die Kirche selbst evangelisiert. In diesem Sinn bleibt ein Wort des heiligen Vinzenz von Paul an die Ordenschwestern in einer von ihm begründeten Einrichtung eine Weisung an die Caritas im Blick auf alle Bediensteten: Er sagt: „Meine Schwestern, bemüht euch darum, den Kranken in großer Herzlichkeit zu dienen.Teilt mit ihnen ihre Leiden und hört euch ihre Klagen an, wie eine Mutter es tut. Denn die Armen betrachten euch als ihre Mutter, die Für ihre Nahrung sorgt. (…) Ihr seid dazu berufen, die Liebe Gottes ihnen gegenüber sichtbar werden zu lassen, (…) denn die Armen sind eure und auch meine Herren. (…) Ihnen steht es zu, die Himmelspforte zu öffnen, wie es im Evangelium heißt“ (Vinzenz von Paul, X.331).
Bekehrung zur Kindschaft ist das existenzielle Eingeständnis, ohne den anderen und seine Zuwendung nicht leben zu können und zu wollen. In diesem Sinne sind es die Armen, die uns lehren, was uns selbst vielleicht abhandengekommen ist und was es neu zu suchen gilt. Dieses Kriterium einer Kultur der Barmherzigkeit hebt die gefährliche Trennung zwischen dem Geber und dem Bittsteller, zwischen oben und unten, zwischen Institution und Charisma auf. Es geht um eine Haltung, wie sie im Leitbild einer kirchlichen Trägergesellschaft für karitative Einrichtungen beispielhaft formuliert ist: „Hochachtung bewegt den Willen zur Liebe. Sie erweckt jene Ehrerbietung und Zuneigung, die man dem Mitmenschen schuldet, und gibt sich kund in allem, was man spricht und tut.“ 33 Im Leben des heiligen Vinzenz von Paul gibt es diese Dynamik, die ihn selbst nach Jahren des vermeintlichen Aufstiegs – im scheinbaren Abstieg zu den Armen – den Einstieg in eine Kultur der Barmherzigkeit finden lässt. Durch eigene leidvolle Erfahrungen, durch Passion, findet er zur Compassion – eine Haltung, die inzwischen in der Religionspädagogik als neues Lernziel definiert wird. 1617 gründet er den ersten Caritas-Verein,1625 die Gemeinschaft der Lazaristen zur religiösen Unterweisung des Volkes und 1633 – gemeinsam mit Louise de Marillac – die Barmherzigen Schwestern. Die Identifikation mit dem armen Lazarus bewirkt in ihm eine Blickveränderung und Lebenswende, die einem zweiten Kriterium kirchlicher Caritas Gestalt gibt.
2. Befähigung zur Leidenschaft
Vor einigen Jahren startete die Wochenzeitung „DIE ZEIT“ eine Artikelserie über die Bedeutung der großen Religionen: „Was soll ich glauben?“ – so der Titel. Am Anfang stand ein Interview mit dem Philosophen Peter Sloterdijk und Walter Kardinal Kasper. Den Tenor dieses Streitgespräches spiegelt der Titel des ersten Beitrags: „Religion ist nie cool!“ Unter dieser Überschrift geht es gleich weiter: „Glaube schien in Europa erledigt. Jetzt ist er wieder da. Warum nur?“ Ein merkwürdiger Widerspruch und ein pastoraler Spagat: Auf der einen Seite sagen Jugendliche, dass es ,uncool' sei, mit Glaube und Kirche etwas im Sinn zu haben. Auf der anderen Seite suchen immer mehr Menschen – manchmal mit kaltem Blick –, was das Herz erwärmen kann. Sloterdijk geht soweit zu sagen, dass Menschen glühend werden, wo sie an den Glutkern des Glaubens kommen, und warnt zugleich vor der Weißglut des Fanatismus. Kardinal Kasper stimmt ihm zu; stellt der Sorge aber den Segen voran, dass Glaube glühend macht in der Liebe, im Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit. Er hat zuerst vor Augen: „Bis heute werden Menschen glühend im Einsatz für andere und verglühen sogar darin.“ Religion ist nie cool, weil ein kaltes Herz nicht glauben kann.
Wo Religion und Glaube heute wieder vorkommen, stellt sich für Menschen neu die Frage, wie man den Blick über das Eigene hinaus gewinnen kann. Immer öfter macht die Ahnung von sich reden: ,Es muss doch mehr geben als all das, was wir haben und besitzen, was wir behaupten und was uns besetzt!' Dieser Seufzer rührt an den Glutkern unseres Lebens. Wo das Interesse am eigenen Fortkommen den Lebenssinn bestimmt, erlöschen irgendwann die Kräfte. Es gibt die Rede vom ,Burn-out-Syndrom', wo Menschen das rechte Maß verloren haben. Nicht wenige, die einen solchen Kollaps überwunden haben, sprechen später davon, wie das Interesse am anderen und für andere sie geheilt und neue Maßstäbe in ihr Leben gebracht hat. Wo in einem Herzen die innere Glut erstickt, verliert die Seele den Sinn des Lebens. Viel ist heute die Rede von den ,burning persons'. Sie werden in Wirtschaft und Werbung gesucht, wo Neues und Visionäres initiiert werden soll. Schon in der Spur der Emmausjünger sind ,die brennenden Herzen' (vgl. Lk 24,32) die Voraussetzung dafür, dass die Botschaft von der Auferstehung Jesu auf den Weg zu den Menschen kommt. Wo das Innerste entzündet wird,kommt der Mensch zu seiner größten Entfaltung. Vom Glutkern des Glaubens bekommt das Leben seine Energie. Das Wort von der ,Selbstverwirklichung', das ohnehin seinen Zenit überschritten hat, ist dann ,Einsatz für andere'.
Diese Befähigung zur Leidenschaft begreift der heilige Vinzenz von Paul in einem Bildvergleich: „Wenn Gottes Liebe ein Feuer ist, dann ist der Eifer seine Flamme; wenn die Liebe eine Sonne ist, dann ist der Eifer ihr Strahl. Der Eifer ist das Reinste in Gottes Liebe.“ Eine ,Praxis aus Passion' hat ihr Wesen darin, dass sie sich verzehrt. Leidenschaft ist Entschiedenheit, bei der man sich immer auch den Mund, die Finger und das Herz verbrennen kann. Wer sich passioniert einbringt, wird immer auch die Grenzen der eigenen Möglichkeiten und den Schmerz der Verwundung durch das Unverständnis anderer erfahren. Aber an der Leidenschaft, die den ganzen Einsatz wagt, entscheidet sich die Glaubwürdigkeit der Botschaft.
Schaut man in die Geschichte der gelebten Caritas, sieht man glühende Ausdauer und gewachsene Orte am heiligen Feuer. Was hier unmittelbar gelebt und bezeugt wird, muss aber auch die institutionalisierten Einrichtungen der Caritas in der Kirche prägen. Dann vermitteln sie sich als Stätten dieser Leidenschaft in doppelter Hinsicht: Sie zeigen den ganzen Einsatz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und damit die Bereitschaft und den Mut, zugleich den Leidenden Würde und Worte, Hilfe und Heimat zu geben. Eine missionarische Kirche braucht solche exemplarischen Stätten am heiligen Feuer, damit suchende Menschen heute entdecken können, was die heilige Therese von Lisieux einmal so ins Wort bringt: „Ich sah, dass die Kirche ein Herz hat und dass dieses Herz von Liebe brennt.Ich sah ein,dass die eine Liebe die Glieder der Kirche zur Tätigkeit antreibt, und wenn die Liebe erlischt, keine Apostel mehr das Evangelium verkünden und keine Martyrer mehr ihr Blut vergießen werden. Ich schaute und erkannte, dass die Liebe alle Berufungen in sich schließt.“
Die Befähigung zur Leidenschaft wird zum Motor einer Kultur der Barmherzigkeit, wo sie zusammengeht mit einem dritten Kriterium:
3. Bewegung zur Anwaltschaft
Aus dem Nachlass der seligen Mutter Teresa haben persönliche Aufzeichnungen Aufsehen erregt. Die Leidenschaft dieser bescheidenen Frau für Gott als Quelle ihrer Anwaltschaft für die Ärmsten der Armen war auch ein Ringen, ein Mitleiden an der Verlassenheit und Einsamkeit Jesu in seiner Hingabe für die Menschen am Kreuz. Vieles im Leben und in der Berufung Mutter Teresas zeigt Ähnlichkeiten zum heiligen Vinzenz von Paul.
Wie er ist sie zunächst darauf vorbereitet, mit erworbener Bildung anderen zum Aufstieg zu verhelfen. Als Lehrerin für Geografie ist sie an der Schule höherer Töchter eingesetzt. Wie Vinzenz von Paul glaubte sie, ihre wahre Berufung erst später gefunden zu haben, als sie sich der Kranken und Sterbenden in den Slums von Kalkutta annahm. Mit Gott teilt sie eine Leidenschaft für den Menschen, die sie selbst verwundet. Die nicht vernichteten Briefe, die jüngst aus ihrem Nachlass gefunden wurden, spiegeln die Erfahrung des Beters in Psalm 39: „Heiß wurde mir das Herz in der Brust, bei meinem Grübeln entbrannte ein Feuer,da musste ich reden“ (Ps 39,4).
Bei ihrem unvergesslichen Besuch auf dem Katholikentag in Freiburg 1978 redete Mutter Teresa und warf eine Frage in die Menge, die für uns eine bleibende Gewissenserforschung ist: „Kennt Ihr sie, die Armen eurer Stadt?“ Vielen klangen damals solche Worte in einer Wohlstands- und Wachstumsgesellschaft fremd. Heute sprechen wir von der versteckten Armut in unserer Gesellschaft und die Begleiterscheinungen von Hartz IV sind nicht selten eine viel tiefere seelische Haltlosigkeit, die immer mehr Menschen an den Rand ihrer Möglichkeiten und Kräfte bringt. Da, wo der Traum vom schönen Leben mit seinen Idealen das wirkliche Leben nicht gelten lässt, gibt es die Versuchung, Alter und Krankheit zu tabuisieren oder zu evakuieren, wo sie ,unansehlich' scheinen. Weil auch hier gilt: ,Aus den Augen, aus dem Sinn', braucht es Orte und Initiativen, die den ganzen Menschen in den Blick nehmen und in die Mitte stellen. Die Einladung Jesu an den Mann mit der verdorrten Hand im Markusevangelium ist eine Anwaltschaft, die auf allen Seiten Bewusstseinsänderung bewirkt: „Steh auf und stell dich in die Mitte“ (Mk 3,3b). So möchte Gott den Menschen aufgestellt wissen. Dieser Blick ist die Perspektive der Barmherzigkeit.
Die Armen zu kennen bedeutet, sich in ihr Leben einfühlen zu können. Unsere Gesellschaft hat hier Berührungsängste! Sie erscheint eher ,apathisch', und wenn die Armut und das Leid Beachtung finden, geschieht dies oft mehr durch einen medialen Voyeurismus. ,Sympathie'ist im wört lichen Sinn ein Mitfühlen und Mitleiden, das zur Anwaltschaft für alle bewegt, die in unserer Gesellschaft keine Lobby haben. Hier ist der Platz der Kirche.
Eine Kultur der Barmherzigkeit ist in diesem Sinne unbedingte Anwaltschaft für das Leben, gerade, wo es bedroht, schwach und arm ist; wo es marginalisiert und manipuliert wird. Das Niveau einer rechtsstaatlich-demokratischen Gesellschaft vermittelt sich durch die in ihr praktizierte Anwaltschaft Für das ethische und soziale Gewissen.Wo immer Veränderungen in Wissenschaft und Wirtschaft neue Herausforderungen und Fragestellungen mit sich bringen, bleibt die Bewegung zur Anwaltschaft für das menschliche Leben die Priorität für Christen. Caritas in der Kirche ist die gelebte Initiative, in allem oft bedrohlichen Wandel das Bleibende zur Geltung zu bringen – ganz so, wie der heilige Vinzenz von Paul zu einer Kreativität in der Komplexität mancher Sachzwänge und zu einer Loyalität in Flexibilität ermutigt, wenn er sagt: „L'amour est inventif jusqu'a l'infini“ – „Liebe ist bis ins Unendliche erfinderisch.“