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Das Geckische Gnippschen

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Vorblende

Montag, 22. April 2013, ca. 09:00 Uhr

Ein Hahnenschrei weckt mich, ich schlage die Augen auf und liege in unserem Schlafzimmer, nicht im Zimmer Nr. 325 des Ibis in Hamburg, sondern zuhause in Waldaschaff. Ist das Marathonwochenende 2013 des TV Goldbach tatsächlich schon wieder um?

Ist das, was in meiner Erinnerung klebt, an diesem Montagmorgen, wirklich alles geschehen, oder habe ich nur geträumt?

Nein.

Es ist zweifellos Montag.

Also muss alles tatsächlich passiert sein.

Was für ein Wochenende. Was für eine Stadt.

Der Hahn, der neuerdings in der Nachbarschaft lebt, kräht schon wieder, was ich zum Anlass nehme, noch einmal die Augen zu schließen.

Ich habe heute frei und angesichts der Tatsache, dass wir erst mitten in der Nacht heimgekommen sind, bin ich einmal mehr froh darüber, dass ich mir erneut den Montag dazu genommen habe. Lästig ist im Augenblick maximal, dass ich, um nachher schön frühstücken zu können, aufstehen muss, um die Kaffeemaschine anzumachen. Aber das hat noch ein wenig Zeit, genügend Zeit, um noch einmal über das sogenannte „Geckische Gnippschen“ nachzudenken, dessen Eigenarten uns gestern im Bus nach Hause Sportfreund Sascha genial erläutert hat. Nebst einer Ausführung über den „kalten Bauch“ und dessen Vorteile, wenn man ihn denn habe. Sascha hat einen sehr ausgeprägten und großen „kalten Bauch“, mit vielen „Hautsträngen“, entsprechender „Fettschicht“ und „gar nicht so übler Oberflächenspannung“, die letztlich „eher vorteilhaft ist“, wie ihm sein Arzt erklärt hat.

Nicht zu fassen, da kommt man irgendwann nach acht Stunden Fahrt in Aschaffenburg wieder an und es geschieht tatsächlich, dass keiner aussteigen will, weil da einer am, wie er es selbst nennt, besten Platz im Bus steht (direkt neben dem Klo mit Griffweite zu den darüber abgestellten Getränken, „einer Stehtecke, von der noch nicht einmal der Busfahrer weiß, dass er sie hat in seinem Bus!“) und Monologe hält, die einem Tränen in die Augen treiben, wie sonst nur nach zwei Kilo Zwiebeln schneiden.

Saschas Ausführungen zum „Geckischen Gnippschen“ wurden dabei zu einem Referat der besonderen Art, nach gestern Abend bin ich gar der Meinung, dass das „Geckische Gnippschen“ ein durchaus respektables Thema für eine Doktorarbeit wäre. Denn dieses Thema ist garantiert abschreibungssicher. Das „Geckische Gnippchen“ und alle Vorgänge, die damit zusammenhängen, sind garstig kompliziert zu erläutern. Ein wirklich gutes Thema also zum promovieren, so einen Doktortitel hat man dann auch ein Leben lang, den nimmt einem niemand mehr ab.

Es handelt sich bei dem „Geckischen Gnippschen“ laut Sascha um diesen berühmten Punkt am Ellbogen, an dem ein bestimmter Nerv sich so konzentriert, dass es einem bei entsprechend hartem Druck darauf augenblicklich, einem Stromstoß gleich, einen sirenenähnlicher Schmerz durch den Arm jagt. Manche Zeitgenossen sprechen bei dem Phänomen auch vom sogenannten Musikerknochen, recherchiere ich später, und dass dieser kurze, aber starke Schmerz tatsächlich durch die Reizung des Ellennervs ausgelöst wird, der in der Fachsprache Nervus ulnaris heißt. Der Nerv mit dem komischen Namen ist wichtig für die Bewegung und das Gefühl von Unterarm und Hand. Bei einer Überreizung (zum Beispiel durch einen Stoß an der Autotür) werden der Tastsinn und das Schmerzempfinden des Menschen gleichzeitig irritiert.

Richtig interessant werden diese Vorgänge aber erst durch Saschas erweiterte Gnippschen-Theorie! Denn dieser hat uns nun gestern im Bus erklärt, dass ihm das Anstoßen an diesen Nerv in bestimmten Autotypen besonders häufig passiert. Und das wiederum nervt den Saarländer gewaltig. Im Originalton, auf der Rückfahrt von unserer sagenhaften Marathonreise 2013, im Bus nach Waldaschaff, nach ich weiß nicht wie vielen Hopfen-Malz-Kaltschalen, klang das dann so:

Was en Scheiß, fährst de hundertfuffzich Kilometer und kriegst die ganz Zeit so en Nerveschock, nur weil der Ellenbogen falsch liegt. Da biste geckisch, wenn de hier da druffdrückst. Des is es „Geckische Gnippsche“. Des kennt doch jeder, wenn er sich einmal ganz blöd gestosse hat. Des sind Sache, die kann mer nich erklären. Die muss man erlebt haben. Wer das nicht erlebt hat, der hat noch gar nit gelebt! Hahaha. Wenn de im 5er BMW liegst, da gehste ab, zack, gegen des „Geckische Gnippsche“ gestosse. Hahaha. Beim Golf Combi gibt’s des nit. Hahaha. Man muss nit alles mache, wo man irgendwie irgendwann einmal meint, dass es toll wäre, BMW fahre oder so. Es gibt Körperteile, die wo man schützen muss! Und des „Geckische Gnippsche“ gehört garantiert zu den Körperteilen, was man schützen muss! Ein verdammt unangenehmes Gefühl ist das, wenn man da draufkommt! Das ist ungefähr so, wie wenn dir taub wird beim Fahrradfahren. Das is auch nix. Aber ich hab ja schon gesehen, es gibt welche beim TV Goldbach, die fahren quasi Anti-Taubheitssattel. Da kann Dir gar nix passieren angeblich. Die sind anatomisch so geformt, dass Dir gar nix taub werden kann, auch als Kerl… (Hier hat Sascha eine kurze Kunstpause gemacht.) Sagt man!… (Hier hat Sascha eine zweite Kunstpause gemacht, länger als die erste, die wir zum Lachen genutzt haben.) Ich habe den, der den Sattel hat, noch nicht gefragt, aber ich hab mich gefragt, ob das so stimmt, wie es in der Werbung steht. Aber ich denk, ein bisschen Taubheit schadet auch nix… Hahaha! Ach ja, der Wein ist super!“ (Sascha hat hier eine dritte und endgültige Pause gemacht, der Bus hat getobt.)

Sascha hatte dann (als sich alle wieder beruhigt hatten) noch darüber geplaudert, wie es ist, mit ihm Schuhe zu kaufen und wie es war, als ihm in Südfrankreichurlaub der vom Schwiegervater geliehene VW-Bus unter dem Hintern weggeklaut wurde.

Weswegen waren wir in Hamburg? Um einen Marathon zu laufen? Wir haben es zwischendurch tatsächlich manchmal vergessen.

Sascha ist eine Kanone der besonderen Art. Es war bis zuletzt nicht sicher, ob er in Hamburg überhaupt laufen würde. Da es kurz vor knapp einige Umstellungen bei unseren drei gemeldeten Staffeln gab, wurde kurzfristig noch ein Staffelstartplatz für Sascha frei. So waren wir gestern sogar zusammen im Startblock, um einem bis dahin filmreifen Hamburger Wochenenderlebnis die Krone aufzusetzen.

Für Hamburg als Gesamtpaket gehen mir die Superlative aus. Ich weiß nicht recht, wie ich das am vergangenen Wochenende in Hamburg Erlebte würdig beschreiben soll. Vielleicht sollte ich deshalb tatsächlich mit dem Start beginnen.

Ich liege also immer noch an diesem schönen Montagmorgen in meinem Bett in Waldaschaff und halte immer noch die Augen geschlossen, während ich mich zurückbeame, und plötzlich ist es wieder 08:50 Uhr Ortszeit Hamburg, am Sonntag, den 21. April 2013. Ich höre keinen Waldaschaffer Hahn mehr schreien, stattdessen ohrenbetäubend laute Rockmusik aus mehreren Meter hohen Boxentürmen, surrende Kameraburgen, pausenlos redende Reporter und Tribünenteilgeklapper. Sascha und ich betreten den Startblock D neben der Messe in Hamburg. Um uns, unter uns, über uns, neben uns , einem riesengroßen Schwarm Heringe gleich, laufen sich Dutzende Läufer gegen den Uhrzeigersinn warm. Wir tauchen ein in den schwindelnden Trudel und werden eins mit der Umgebung. Auch wir bewegen uns mit und freuen uns über den unmittelbar bevorstehenden Start. Über zwanzigtausend Läuferinnen und Läufer fiebern mit uns dem Start entgegen. Die Sonne scheint, was für ein herrlicher Tag! Hundertausende Menschen warten auf uns an der Piste, die wir gleich erobern werden.

Für eine Minute nur friert sich das Bild dieser Heerschar von Sonntagssportlern fest, alle stehen still, als den Opfern von Boston gedacht wird.

Run for Boston.

Dann geht es los.

Sascha läuft gut an, Andreas und Petra wollen zusammen bleiben und unter die 3:30 laufen, ich halte mich rechts, weil ich einige Flyer austeilen will, tosendes Gejubel umfängt mich und hört nicht auf. Der Hamburg-Marathon ist wie eine volle Waschmaschine im Schleudergang losgetobt. Überall geht es rund. Dieser Waschgang wird ab jetzt gut vier Stunden dauern. Bei manchen noch länger. Fast siebenhunderttausend Menschen feuern uns an. Das sind gut zehnmal mehr, als in ein großes Fußballstadion passen.

The Art of Marathon

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