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Auf großer Fahrt

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Freitag, 19. April 2013

Es sind noch zwei Tage bis zum Start des Haspa Hamburg-Marathons 2013, die Uhr zeigt etwa 06:00 Uhr in der Früh an.

Allen im Bus hängt noch die Müdigkeit einer kurzen Nacht im Körper, während mir unser Laufguru Andreas, der hinter mir sitzt, erzählt, dass er heuer mit einer Tradition brechen wird. Er wird dieses Jahr nicht am Warm-Up-Run Samstagfrüh teilnehmen. Die Eröffnung bewegt mich, da ich das nie und nimmer für möglich gehalten hätte. Ein Warm-Up-Run am Samstag ohne Andreas? Das ist undenkbar! Vollzieht sich gerade etwas nie Vorstellbares? Wird dieser testosterongeladene Laufbolzen womöglich ruhiger und alterweise? Spontan beschließe ich, dann auch nicht am Samstagfrüh (viel zu früh!) aufzustehen und freue mich insgeheim über dieses Geschenk! Das ist gar keine schlechte Idee, sinniere ich. Warum denn nicht?

Weiß der Herr, wie spät es heute Abend wird.

Die Frage ist, warum ausgerechnet Andreas auf das Warm-Up-Ritual verzichtet, das eigentlich ein unverzichtbarer Bestandteil der Goldbacher Marathonreise ist: Ist es erstens, weil er vorbauen will, hinsichtlich des Hamburger Nachtlebens heute? Denn bekanntlich kann man in Hamburg ja mehr machen, als nur Flipper spielen gehen. Oder ist es zweitens, weil er schlicht so schwere Beine hat, dass ihm jetzt schon übel wird bei dem Gedanken, morgen schon wieder seinen permanent hochtourigen Laufmotor anzukurbeln? Ich weiß, dass Andreas in den letzten Monaten sehr viele Umfänge trainiert hat und auch abseits seines eigenen Trainingspensums viele Runden und Stunden mit anderen Hobbyathleten verbracht hat, die er betreut. Auch Andreas Frau Petra ist gerädert. Andreas schätzt seine Gattin dieses Jahr stärker ein, als sich selbst.

Ich kombiniere, wenn Andreas morgen früh nicht Warm-Up-rennt, dann wird das auch Petra nicht tun. Vielleicht ist Andreas also auch nur feinfühlig, liebevoll und mitdenkend für seine Frau eingestellt, wenn er sagt, dass er morgen früh nicht aufstehen wird?

Ja, genauso wird es sein. Ich habe ihn durchschaut! Dieser galante Gentleman verschafft seiner Frau durch die Hintertüre eine Auszeit. Genau! Andreas macht das nur seiner Frau zuliebe, das kann er freilich nicht laut sagen, sonst würde die ihrem Gentleman ja den Marsch blasen.

Vor uns im Bus sitzt das vielleicht schnellste Duo dieser Reise. Die jungen Rene und Mathias haben sich seit ihrem Ironman-Finish letztes Jahr in Frankfurt am Main zu echten Schwergewichten in der Ausdauersportabteilung des TV Goldbach gemausert.

In der übernächsten Reihe sitzt Natascha. Die schlanke Frohnatur lacht fast immer und hat eine derart herzliche Art an sich, dass man in ihrer Gegenwart gar nicht anders kann, als sich einfach nur pudelwohl zu fühlen. Natascha ist unterhaltsam, eloquent, witzig und immer für eine Extraportion Spaß zu haben. Und sie ist verdammt schnell. Vermutlich wird Natascha in Hamburg jedem Klabautermann davonlaufen, der versucht, sie zu erschrecken. Die alten Schiffsgeister werden ganz schön schnell außer Atem kommen, wenn sie versuchen sollten, diese Frau einzuholen.

Weit vorne und weit hinten im Bus haben sich die diesjährigen Debütanten verteilt. Thorsten, Lebensgefährte unserer Sandra, wird seinen ersten ganzen Marathon laufen. Ebenso Benjamin, ein Arbeitskollege unseres Buskomikers Sascha. Benni, wie ich ihn nennen darf, wird zwei Tage später im Bus sagen, dass er überwältigt ist vom TV Goldbach. Zu diesem Zeitpunkt ahnt er noch nicht, wie sehr auch ihn die Euphorie und die Dynamik dieser Truppe mit dem gemeinsamen Ziel Haspa Marathon Hamburg packen wird. Benjamin wird am Sonntagabend sogar so weit gehen, dass er sich als neues Vereinsmitglied meldet!

Weiter hinten im Bus sitzt Ute, hinter deren Start wohl eines der größten Fragezeichen steht. Bis vor kurzem war Ute an beiden Knöcheln so schwer verletzt, dass sie gar nicht laufen konnte. Die Frau unseres „zähen Beißers“ Stefan will es ihrem Mann gleich tun und auch die Zähne zusammenbeißen, sie will unbedingt starten und ihr Coach Andreas traut ihr das Finish auch zu. Utes Lauf an diesem Wochenende hat das Zeug zu einem echten Drama. Hoffentlich gibt es ein Happyend! Wir wünschen es ihr alle von ganzem Herzen.

Utes Mann Stefan hingegen begnügt sich dieses Jahr mit einem kürzeren Teilstück, er wird unter anderem mit mir zusammen eine Staffel bilden. Ich freue mich jetzt schon darauf, zusammen mit Stefan einen ordentlichen Staffelwechsel zu zelebrieren, ich habe sowas noch nie zuvor gemacht und ich muss gestehen, ich bin aufgeregt!

Vierte Debütantin im Bunde ist Regula. Die quirlige Frau läuft schon seit einigen Jahren, auch sie wird schon seit längerem von Andreas auf das Vorhaben Marathon eingeschmiedet. Sie ist aufgeregt und unsagbar gespannt darauf, wie es sich anfühlen wird, das erste Mal über die 33 oder 34 Kilometer zu laufen. Sie hat letzte Nacht kaum ein Auge zugetan und hat gestern Abend ihre Tasche zweimal ein- und wieder ausgepackt. Bei Regula mache ich mir keinerlei Sorgen, sie wirkt bärenstark und scheint glänzend vorbereitet, sie reist ohne jede Beschwerde an. Sie sagt zwar, dass sie schwere Beine habe und deshalb verunsichert sei, aber ich bin sicher, sie wird souverän ins Ziel kommen, spannend ist maximal, ob sie gleich beim Debut die Vierstundenmarke knacken wird, das wäre ein Ding!

Nummer fünf ist Peggy. Die Goldbacher Athletik- und Gymtrainerin ist guter Dinge. Ohne Zweifel ist Peggy von allen Ersttätern die Fitteste. Sie wird souverän und stabil ins Ziel kommen.

Das Sextett der Marathonanfänger wird komplettiert von Moni. Die beim TV Goldbach schon seit Jahren auch als Funktionärin aktive Sportlerin sitzt im kleinen Bus, der uns vorauseilt. Moni ist in anderen Sparten, die der TV Goldbach bedient, aktiv und bringt durch die beim Trampolinturnen antrainierte Physis sicher auch eine Grundlage mit in ihr Debütrennen, um die sie andere beneiden. Auch bei Moni ist klar, dass sie das Finish schaffen wird. Zumindest ist das meine persönliche Einschätzung.

Patrick, den ich nicht kenne, er sitzt auch nicht im Bus, ist der siebte Debütant des TV Goldbach.

Insgesamt starten heuer siebenundzwanzig Goldbacher Sportler über die Volldistanz in Hamburg. Zwölf Sportler teilen sich drei Staffeln á vier Teilnehmer.

Ein weiteres Spannungsmoment im Bus stellt der diesjährige Ironman-Aspirant Christian dar. Christian laboriert immer mal wieder an seiner Hüfte und seinen Knien, mal mehr und mal weniger hört man, nichtsdestotrotz fühlt er sich fit für Hamburg. Der Goldbacher Übungsleiter hat mir im persönlichen Gespräch mitgeteilt, dass er müde ist von den vielen Trainingsumfängen. Ursprünglich wollte er mit Stefan und meiner Wenigkeit in der Staffel laufen, hat sich dann aber doch umentschieden und will nun einen vollen Marathon laufen. „Für den Kopf“, sagt er, brauche er das jetzt. Coach Andreas habe ihm auch dazu geraten, quasi als Mentaltraining. Ob er sich damit einen Gefallen tut? Wenn Christians orthopädische Probleme nach dem Hamburg-Marathon zu- statt abnehmen, wird es eng für dessen weitere Ironman-Vorbereitung! Am 07. Juli diesen Jahres winkt Frankfurt am Main mit der Europameisterschaft in der Langdistanz, das sind gerade mal noch drei Monate. Christian will sich mit dem Zieleinlauf auf dem Frankfurter Römer einen über zehn Jahre alten Traum erfüllen. In Hamburg läuft er nach Basel, Freiburg und Bregenz seinen vierten Marathon.

Mit seinem leuchtendgelben Langarm-Shirt strahlt Christian auf jeden Fall Vitalität und Tatkraft aus, er sagt von sich selbst, dass er „das schon heimlaufen wird, nur darum geht es, die Zeit ist egal.“

Werden unsere beiden Starter Ute und Christian ihr Ziel, das Marathonfinish übermorgen, schaffen?

Ihr Lieben, nicht nur ich, der ganze Bus fiebert mit euch mit!

Neben einigen weiteren neuen Gesichtern im Bus, die wir im Laufe der Reise noch kennenlernen werden, sind es vor allem meine Frau Tina rechts neben mir und deren gegenüber sitzendes Duo Reinhard und Silke, die gerade meine Aufmerksamkeit beanspruchen. Reinhard hat eine Preziose aus seiner Tasche gepackt, die gerade von den ihn umgebenden Weibchen bewundert und fröhlich gackernd gewürdigt wird. Reinhard freut sich über seine Rolle als Hahn im Korb, er „genießt“ es, im wahrsten Sinne des Wortes, denn es ist eine Schnupftabakmaschine, die Reinhard mal im Altmühltal gekauft hat und die er nun auf der Hamburgfahrt angeberisch herumreicht. Eine einfache Holzfedermechanik haut dem versierten Schnupftabakkonsumenten zwei Brisen gleichzeitig in die Nasenlöcher, und das mit ungefähr 200 km/h! Meine Frau ist begeistert und ich schockiert. Jetzt geht das wieder los. Umgehend werden zwei Sorten Schnupftabak ausgepackt, offenbar wollen sich die Mädels sofort was von dem gemahlenen Vogelkot ins Hirn schießen. Löwenbrise und Gletscherbrise werden verglichen. Die Gletscherbrise ist mit Menthol und Columbiaöl angereichert. Wenn Reinhard die Maschine mitnimmt auf die Reeperbahn, wird er reich. Wenn er den dort umherprotzenden Zuhältern zeigt, dass das Ding genauso gut mit weißem Pulver funktioniert, kann er damit sicher in Serie gehen.

Nudelparty bei der Feuerwehr Hamburg Ottensen

Wir fahren nach Hamburg, während der Hamburger Fischmarkt in Aschaffenburg auf Tour ist. Ich habe mir die aktuelle Ausgabe des Main-Echo, unserer Tageszeitung, mitgenommen und lese darinnen, dass Aale Dieter & Co seit gestern wieder mit „Kutterständen und unter bunten Sonnenschirmen“ auf dem Aschaffenburger Marktplatz zu Gast sind. Der Begriff des „hanseatischen“ wird genannt und dass dazu dann auch „alte Seemannslieder zu hören“ seien und die „traditionellen Marktschreier“ wieder ihre Waren feilbieten würden. Ich selbst gehe schon seit gefühlten hundert Jahren nicht mehr auf den Hamburger Fischmarkt, wenn er mit seiner Mobile-Version in Aschaffenburg ist. Mir ist die Sache mittlerweile zu austauschbar, zu kommerziell und zu sehr pseudoschickimicki geworden. Die überwiegenden Fressbuden einerseits schmecken für meine Begriffe alle gleich (vermutlich kaufen sie fehlende Ware vom Frittieröl bis zum Backfisch usw. alle bei ein- und demselben Zulieferer ein) und das Publikum andererseits ist mir zu wenig authentisch. Aber vielleicht bin auch ich derjenige, der zu verstockt ist, weil er Angst hat, seine Landeierschale könnte brechen, wenn er da wieder mal hinginge. Ich bin gespannt, wie das Thema Fisch und Fischweck und Backfisch in Hamburg gepflegt wird.

Kurz nach dem ersten Rastplatz-Stopp geht unser Mastermind Andreas ans Busmikro und begrüßt die Gäste. Der mehrfache Marathonmann will im Anschluss wissen, wer am Samstagabend nicht zur obligatorischen Nudelparty mitkommt. Nur Schmidts melden sich, sie sind Samstagabend mit Freunden unterwegs, die in Hamburg leben, sie klinken sich deshalb schweren Herzens aus. Der Rest des Busses ist dabei. Sodann lässt Andreas die Nudelkatze ganz aus dem Sack und überrascht den Bus damit, dass die Nudelparty heuer eine besondere sein wird. Wir sind bei der Feuerwehr von Hamburg Ottensen eingeladen! Die kochen nur für uns! Und genau aus dem Grund will Andreas genau wissen, wer mitkommt: „Nicht dass die für hundert Leute Nudeln kaufen und dann kommen nur vierzig, dann haben die zwanzig Portionen zu viel“, sagt Andreas furztrocken und schon hat der Mann im Handstreich wieder alle Lacher auf seiner Seite. Aber er hat Recht. Bei der Nudelparty wird gefressen, was das Zeug hält. Alle bollern sich ihre Kohlehydratspeicher einen Tag vor dem Rennen nochmal knallvoll. Und weil es anscheinend keine Hotelküche in Europa gibt, die kapiert, dass Marathonstarter „extrem“ viele Nudeln vor dem Start essen, hat jetzt unser Norbert die Sache in die Hand genommen. Norbert verspricht: „Dieses Jahr werden die Nudeln definitiv reichen!“

Norbert ist Kreisbrandmeister des Landkreises Aschaffenburg und so einen Mann nimmt man natürlich ernst! Unsere flitzende Amazone Anja, Norberts Frau, ist auch Feuerwehrerin, sie erzählt mir, dass die Wehren der ganzen Republik zusammen halten und sich immer helfen, wenn man nur einmal ruft.

Die folgenden Stunden vergehen wie im Flug. Irgendwann werden die ersten Schlappeseppelchen (das Aschaffenburger Bier mit den schönen Bügelverschlussflaschen) herumgereicht, aus mir unerfindlichen Gründen stehen bei mir zwei herum, die ich, ständig Notizen machend, natürlich nicht festhalten kann und schon läuft mir die kostbare Löschware (ein Gruß an die Feuerwehr von Hamburg Ottensen, Prost!) über Hose, Heft und Hemd. Heike, die gerade neben mir sitzt (auch aus mir unerfindlichen Gründen) rettet mich mit allen Tempotaschentüchern, die sie im Umkreis von einem Meter fünfzig auftreiben kann, was ich sehr zu schätzen weiß.

Alex und dessen Frau Karin, die schräg hinter mir sitzen, zeigen derweilen stolz herum, was sie in ihrer Freizeit für Liköre zusammenbrauen. Sie haben Kostproben mitgebracht. Der Hugo-Likör hängt gestockt in seiner Flasche fest, was Alex nicht hindert zu fragen: „Willst Du mal Einen schmettern?“ Keiner sagt ja, vielleicht fühlen sich einige beim Anblick der schönen Flaschensammlung an Morgenurin erinnert, sinniere ich fies und denke mir, ich darf jetzt fies sein, schließlich ist meine schöne, krachgrüne Hose nass geworden! So ein Mist!

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