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Die Stunde der Prüfung
ОглавлениеUm fünf Uhr weckte mich Janke.
In der Stube erblickte ich im kargen Schein der niedrig geschraubten Kerosinlampe eine Gestalt in Schneehemd und weiß gestrichenem Stahlhelm. Augenbrauen und Schnurrbart des Mannes waren vereist, und sein Gesicht hatte die Farbe einer reifen Tomate. Ich stand auf, und er meldete:
»Feldwebel Strobel mit 16 Schlitten und 43 Mann zur Stelle.«
Es war der Führer der angekündigten Versorgungskolonne.
»16 Schlitten?«, sagte ich verwundert, »Oberstleutnant Soltern sprach von 24.«
»Stimmt, Herr Leutnant«, entgegnete der Feldwebel, »es waren auch 24. Acht Schlitten sind mit Ladung und Pferden beim Russen. Sieben Mann sind gefallen. Ich habe sie bis auf zwei mitgebracht. Auch fünf Verwundete.«
»Was reden Sie da, Feldwebel«, fiel ich ihm ins Wort. »Sind Sie denn unterwegs angegriffen worden?«
»Jawohl, Herr Leutnant«, gab der Feldwebel zu, »auf einmal krachten Handgranaten, dann war der Iwan auch schon über uns. Sie müssen uns regelrecht aufgelauert haben. Wir schossen uns frei und schlugen sie zurück. Ich schätze, sie hatten größere Verluste als wir. Aber es war zu dunkel, und es schneite zu heftig, als dass wir Genaues hätten ausmachen können. Außer meinem Pionierzug hatte ich nur Trossleute. Sie haben sich gut geschlagen.«
Ich ging in die Kammer, um den Kommandeur zu rufen. Im Nu war Oberst Metzelbrod wach.
»Was gibt’s, Emser?«, fragte er, indem er sich aufrichtete.
»Auf der Straße nach Slawiansk steht der Russe«, sagte ich. »Soeben meldete es mir der Feldwebel, der die Munitions- und Verpflegungskolonne geführt hat. Acht Schlitten sind verloren, sieben Mann sind gefallen, fünf verwundet.«
Der Kommandeur zog die Stiefel über, knöpfte die Feldbluse zu, strich sich übers Haar und ging vor mir her in den Gefechtsstand.
Der Feldwebel nahm Haltung an. Von seinen Augenbrauen und den Enden seines Schnurrbarts tropfte das tauende Eis. Er wiederholte, was er mir bereits berichtet hatte, und machte an Hand der Karte nähere Angaben über den Ort des Überfalls.
»Emser«, bemerkte Oberst Metzelbrod, »dort ist doch das kleine Nest, wo die Baupioniere liegen. Verbinden Sie mich mit dem Kompanieführer!«
Ich rief die Vermittlung an und gab den Decknamen der Baupioniere. Sie hatten die Aufgabe, die Nachschubstraße für Fahrzeuge und Schlitten passierbar zu halten.
»Dringend!«, betonte ich, und der Mann in der Fernsprechvermittlung versprach, sein Bestes zu tun. Es dauerte eine Weile, dann hieß es:
»Spitzhacke meldet sich nicht.«
»Gehen Sie zur Stabskompanie«, befahl der Oberst. »Oberleutnant von Eisen soll erkunden, was mit den Baupionieren los ist!«
Ich ging ins Nebenhaus, weckte Eisen und setzte ihm auseinander, um was es sich handelte.
Er stand auf, nahm Stahlhelm, Mantel und Maschinenpistole und schickte sich an, die Leute zu alarmieren, die er mitnehmen wollte.
»Hals- und Beinbruch, Herr von Eisen!«, sagte ich und kehrte durchs Schneetreiben zum Gefechtsstand zurück.
Der Feldwebel war nicht mehr anwesend.
»Er kümmert sich um seine Männer«, sagte der Oberst.
Dann ließ er sich mit dem Divisionsstab verbinden und machte dem ersten Ordonnanzoffizier, O1 genannt, Mitteilung von der neuen Lage.
»Wie es jetzt steht«, setzte er hinzu, »muss ich in Kürze mit einem Angriff auf Pawlowskaja rechnen. Aber ich kann den Angriff nicht abwehren. Ich habe keine Leute. Mit Trossleuten, Sanitätern und meiner Stabskompanie kann ich keinen Krieg führen. Ich bitte um Verstärkung und schlage vor, mit Sturmgeschützen – ihr habt doch welche – gewaltsam aufklären zu lassen, damit festgestellt wird, was in unserem Rücken durchgesickert ist. Ein Spähtrupp ist unterwegs.«
Die Antwort des O1 schien nicht sehr befriedigend zu klingen, denn mit einem zornigen Ausruf beendete der Oberst das Gespräch.
»Ich soll die Stellung am Donez halten«, sagte er nach einer Pause, »aber wenn man etwas anfordert, bekommt man zur Antwort: Fehlanzeige. Dieser Krieg wird mit den Knochen des Infanteristen geführt. Wo sind denn die ganzen technischen Wunder? Wo sind die Stuka, Panzer und was weiß ich? Außer unserer Artillerie haben wir nichts, was wir dem T-34 der anderen entgegensetzen können, und die Artillerie leidet unter chronischem Munitionsmangel.«
Erregt schritt er einige Male in der Stube hin und her, dann hatte er seine Ruhe wieder gefunden. Er setzte sich an den Tisch, stützte die Stirn auf die Hände und starrte unmutig vor sich hin. Ich wusste, wie viel auf ihm lastete und wie schwer er alles nahm.
»In Goroditsche war etwas los«, sagte ich, »aber seit zwei Stunden scheint alles wieder klar zu sein. Ich wollte Herrn Oberst nicht stören.«
Er drehte sich zu mir um, aber ohne ein Wort zu sagen, wandte er sich wieder der Karte zu.
Ich schwieg, denn ich wusste, in solchen Augenblicken vollkommener Konzentration pflegte er seiner Umgebung völlig entrückt zu sein. Die Karte belebte sich für ihn, wurde zur Landschaft, zur Szenerie der jeweiligen Ereignisse. So fasste er seine Entschlüsse.
Aber an diesem frühen Morgen war ihm keine Ruhe zum Nachdenken vergönnt.
Die Haustür wurde geöffnet, und mit einem Strom eisiger Luft kam ein fremder Major herein. Sein Mantel und seine Mütze waren mit einer Schneekruste bedeckt. Er grüßte, nahm Mütze und Kopfschützer ab und meldete sich beim Kommandeur, der aufgestanden war, als Major Moll, dritte Abteilung, Artillerieregiment 60. »Mit Teilen in Pawlowskaja eingetroffen«, fügte er hinzu, mit einer Stimme, die wie gefroren klang. Sein Gesicht war ebenso unnatürlich gerötet wie das des Feldwebels, der die Schlittenkolonne aus Slawiansk herangeführt hatte.
»Was heißt das – mit Teilen, Major Moll?«, fragte Oberst Metzelbrod.
Der Major atmete tief.
»Es heißt«, antwortete er nach einer Pause, »dass meine schwere Batterie noch zwei Geschütze besitzt. Zwei sind durch Volltreffer ausgefallen. Die beiden leichten Batterien haben zusammen sieben. Zwölf Mann habe ich mit Verwundungen und Erfrierungen am Verbandplatz abgeliefert. Meine Gefallenen musste ich zurücklassen, Herr Oberst.«
Der Kommandeur reichte Major Moll die Hand.
»Wie steht es mit Ihrer Munition?«, fragte er, obgleich ihm gewiss nach anderen Worten zu Mute war.
»Rund 50 Schuss pro Geschütz«, erwiderte Major Moll und bat, ihn einzuweisen. Er wollte sogleich in Feuerstellung gehen.
Der Oberst überlegte.
»Nicht zu nahe beim Dorf«, meinte er schließlich, »ich möchte es vermeiden, dass das Feuer auf den Verbandplatz gezogen wird. Die Leute liegen in Watte und Verbänden und können nicht in Deckung gehen. Ich schlage den Bereich der Mühle vor. Dort finden Sie auch Unterkunft für Ihre Kanoniere. Sogar ein Stall für Ihre Pferde ist dort.«
Er ging in die Kammer, holte die Kognakflasche – unsere letzte – und reichte dem Major ein Glas.
Major Moll trank in strammer Haltung. Er war noch jung. Seinem ganzen Gehabe nach hielt ich ihn für einen aktiven Offizier.
»Ah, das tut gut«, sagte er in verändertem Ton, als sei er auf einmal aufgetaut. »Eine Lausekälte, Herr Oberst. Die Kanoniere frieren an den Geschützen fest.« Dann wurde er wieder dienstlich und bat, sich abmelden zu dürfen, denn seine Abteilung stehe draußen im Schnee und hätte nach dem Marsch Ruhe nötig.
Der Oberst entließ ihn mit den Worten, er solle zusehen, bald feuerbereit zu sein, niemand könne sagen, was der Tag noch bringe.
Als die Tür hinter dem Major ins Schloss gefallen war, murmelte Oberst Metzelbrod: »Das also war der Erste …«
Ich fragte ihn, was er damit sagen wolle.
Er blickte mich durch seine runden Gläser an. Das kreidige Licht der Lampe warf seinen Schatten verzerrt auf Fußboden und Wand.
»Emser«, sagte er, »es werden noch andere nach Pawlowskaja kommen. Bald wird das Dorf zu klein sein, um alles unterzubringen.«
Ich wies darauf hin, dies werde im Falle eines Angriffs für die Abwehr nur von Vorteil sein.
Er sagte nichts darauf, sondern wandte sich um und ging hinüber in seine Kammer. Gleich darauf hörte ich, wie er sich ächzend auf sein armseliges Lager warf.
Ich kannte Oberst Metzelbrod schon lange. Es war nicht der Krieg, der uns erstmals zusammengeführt hatte. Wir waren im Juli 38 auf dem Stradun in Ragusa miteinander bekannt geworden. Ich hatte, von Mostar aus, einige Touren in den Karst unternommen und war in Bergschuhen. Auf den Steinquadern des Stradun – dieser steinernen Prachtstraße Ragusas – glitt ich aus, und als ich wieder auf den Beinen war, sagte eine Stimme auf Deutsch: »Hoffentlich haben Sie sich nicht verletzt!« Die Stimme gehörte Oberst Metzelbrod. Damals trug er einen hellen Flanellanzug. Eine Dame stand neben ihm. Beide waren von der Sonne Dalmatiens gebräunt und wirkten jugendlich und unternehmungslustig. Ich stellte mich vor und hörte so zum ersten Mal den ungewöhnlichen Namen Metzelbrod. Die Dame war die Frau des liebenswürdigen Herrn Metzelbrod und Mutter zweier erwachsener Söhne, die ich am Abend im Hotel Imperial kennen lernte, als ich meine neuen Bekannten – diesmal natürlich nicht in Genagelten – aufsuchte, um gemeinsam mit ihnen ein Konzert zu hören. Wir sprachen damals über die Sudetenkrise, und der nachmals reaktivierte Oberst und damalige Major der Reserve befürchtete, seine Ferien könnten ein jähes Ende finden. Im Frühjahr 39, als man den weit gereisten, weltkundigen Mann ins Auswärtige Amt holen wollte, hatte er es vorgezogen, ins Heer zurückzukehren, aus dem er im Jahre 1918 ausgeschieden war.
Im Mai 41 hatte Oberst Metzelbrod mich in sein Regiment gerufen. Wir waren seit jenem Sommer in Ragusa ständig in Briefverbindung geblieben – auch während des Krieges –, und ich war mit Freuden Adjutant bei Oberst Metzelbrod geworden. Zuvor hatte ich als Adjutant eines Gebirgsjägerbataillons am Feldzug auf dem Balkan teilgenommen. 1940, in Frankreich, war ich noch Feldwebel bei der Infanterie gewesen und Mitte Juni bei Suippe verwundet worden.
Als ich zu Oberst Metzelbrods Regiment stieß, hatte es in Zelten in Polen unweit des San biwakiert. Frau Metzelbrod hatte mir damals geschrieben, ich solle auf ihren Mann und auf Erich, den Sohn, der ihr noch geblieben war, achten. Und dann waren wir in Russland oder vielmehr in dem von den Russen besetzten Polen einmarschiert, hatten westlich Szarogrod die Stalinlinie überwunden und waren marschierend und kämpfend immer weiter nach Osten vorgedrungen. Die Stadt Tultschin, der ukrainische Bug – Stationen unseres Vormarsches. Wo der Feind uns aufhielt – und er hielt uns häufig auf mit starken Nachhuten, die seinen eiligen Rückzug deckten –, hinterließ das Regiment Gräber. Zuweilen waren es zwei oder drei, an manchen Orten aber lange Reihen. Kreuze mit einem Namen am Saum eines Sonnenblumenfeldes oder eines Dorfes, dessen Bewohner uns nach dem Abzug der Rotarmisten wie Freunde begrüßten.
Dann kam Uman. Zum ersten Mal war das Regiment an einer Kesselschlacht beteiligt, die mehr als 100 000 Gefangene mit einem Arsenal an Beutewaffen, Fahrzeugen und sonstigem Kriegsgerät einbrachte. Aber auch wir hatten Verluste zu beklagen. Wir waren weiter marschiert – nach Kirowograd und weiter zum Dnjepr. In Sturmbooten hatten zwei Kompanien unseres ersten Bataillons den breiten Strom bezwungen und hatten sich am Ostufer festgesetzt, während die Pioniere schon mit dem Brückenschlag begannen. Noch herrschten Staub und Hitze, aber die Nächte, die wir zumeist im Freien verbrachten, waren bereits empfindlich kühl.
Der Sommer war vergangen, über Nacht war nach dem regenreichen Herbst, der Straßen und Wege in grundlose Moräste verwandelte, der Winter eingezogen, und der Winter hatte uns Halt geboten. Jetzt schien der Höhepunkt seiner eisigen Macht gekommen zu sein.
Es war die Stunde der Prüfung – für den Oberst, für Erich Metzelbrod, für uns alle. Ich wusste es seit dem Augenblick, da tags zuvor der Feuerschlag der russischen Artillerie begonnen hatte.
Während ich daran dachte, hörte ich mit halbem Ohr das stuckernde Brummen einer »Nähmaschine«, wie wir die russischen Nachtbomber nannten. Irgendwo warf die Maschine ihre Fracht ab. Die Bomben detonierten mit dumpfem Getöse, und das Flugzeug verschwand.
Ich erinnerte mich an einen Tag des Vormarschs, ostwärts Perwomaisk, nach der Schlacht von Uman. Unser Wagen scherte aus der Kolonne aus und setzte uns am Straßenrand ab. Ein alter Hauptmann stand da, Chef einer Kanonenbatterie. Es war ein goldener Hochsommertag. Die Sonne brannte wie über der Wüste. Der alte Hauptmann blickte eine Weile den vorbeijagenden Fahrzeugen nach, dann sagte er in hartem ostpreußischen Dialekt:
»Das alles wird sich totlaufen, meine Herren. Schade um die vielen jungen Kerls!«
»Sie sind nicht sehr zuversichtlich, Herr Hauptmann«, meinte Oberst Metzelbrod darauf. »Sehen Sie doch nur, wie alles rollt. Uman liegt hinter uns. Ich weiß nicht, wie man an einem Tag wie heute so schwarz sehen kann.«
Sicherlich war ich der Einzige, der den spöttischen Unterton vernahm. Der alte Hauptmann aber ließ sich nicht beirren.
»Die Russen sind Wintermenschen, Herr Oberst«, sagte er, »wenn erst mal Schnee liegt, wenn das Thermometer auf 40 Grad oder noch tiefer absinkt, dann gnade uns Gott!«
Er grüßte steif, stieg in seinen Kübelwagen und fuhr seiner Batterie – zehn Zentimeter Langrohr – nach, die Seltenheitswert besaß in der Armee.
Ich fröstelte damals trotz der Sommerhitze wie im Vorgefühl kommender Schrecken. Jetzt schien das düstere Orakel des alten Hauptmanns sich zu bewahrheiten. »Was mag aus ihm und seinen Kanonen geworden sein?«, fragte ich mich. In diesem Augenblick betrat Oberleutnant von Eisen den Gefechtsstand.
»Herr Emser«, sagte er, »holen Sie den Kommandeur! Wir haben keinen Nachschubweg mehr, der Russe steht überall.«
Er war ziemlich außer Atem. Aus dem Eichenwäldchen beim Wegekreuz, knapp acht Kilometer südlich Pawlowskaja, waren er und seine Leute von einem schweren Maschinengewehr »beharkt« worden, wie er sich ausdrückte. Für den schwachen Spähtrupp war es aussichtslos gewesen, auch nur den Versuch zu unternehmen, bis zu dem kleinen Nest vorzudringen, in dem die Baupioniere lagen oder vielmehr gelegen hatten. Denn dort saßen jetzt die Russen, daran war nicht zu zweifeln.
Während Oberleutnant von Eisen noch sprach, kam der Oberst herein. Er hatte alles gehört.
»Wärmen Sie sich auf, Eisen«, sagte er, »Sie haben Ihre Sache gut gemacht. Wir wissen jetzt, was anliegt.«
Es war sieben Uhr. Aber draußen war es noch dunkel. Ich rief die Vermittlung an und verlangte eine Verbindung mit dem Divisionsgefechtsstand. Wenig später erfuhr ich, die Leitung sei gestört. Erst jetzt fiel mir ein, wie einfältig es gewesen war, anzunehmen, dass die Russen unsere Fernsprechleitungen unangetastet lassen würden. Man musste sich erst zurechtfinden.
Ich gab den Befehl, im Gefechtsstand ein Funkgerät aufzubauen, denn die Verbindung zur Division musste klar sein. Nach vorn, zu den Bataillonen, waren die Leitungen noch intakt, und wenn sie zerschossen wurden, gingen die Störungssucher hinaus und flickten den Draht, der, wenn es schlimm kam, zur Lebensader werden konnte. Der Funkverkehr war recht fragwürdig; er war von Witterungs- und anderen Einflüssen abhängig, und gerade, wenn man ihn am nötigsten brauchte, versagte er häufig wie eine komplizierte Spielerei.
So stand es um sieben Uhr. Unteroffizier Baierle kam mit dem Funktrupp. Sie bauten ihr Gerät auf und gaben nach einigem Hin und Her an die Division glücklich die Meldung durch, unsere rückwärtige Verbindung sei in Feindeshand. Darauf gingen sie auf Empfang.
Wenig später kam ein Spruch vom Ia, das Regiment habe, wie am Vortag befohlen, die Stellung, komme was wolle, zu halten. Kein Wort davon, dass man versuchen werde, von außen unseren Nachschubweg freizukämpfen, kein Wort von Verstärkung, keine Silbe über den Gegenangriff, der nach früheren Verlautbarungen am Morgen hätte anlaufen müssen.
Abgeschrieben, dachte ich voller Bitterkeit. Ich wusste damals noch nicht, dass dies die neue Taktik war, dass man ein Jahr später eine ganze Armee, unsere Nachbararmee, die sechste, draußen an der Wolga abschreiben würde wie eine Hand voll ersetzbaren Materials. Ich war tief beeindruckt, aber ich sagte mir, ein Regiment wie das unsere besäße doch genügend Kampfkraft, sich selbst zu behaupten, wenn die Division, wohl auf höhere Weisung hin, nichts für uns tun könne oder dürfe.
Um 7 Uhr 30 oder einige Minuten früher begann es wieder zu rumoren. Der Feuerschlag des Vortages wiederholte sich, und diesmal war unser Abschnitt der Amboss, auf den der Granatenhagel mit geballter Wucht niederschmetterte.
Auch Pawlowskaja war stark betroffen, wieder ging eine Anzahl Häuser in Flammen auf, und Rufe nach Sanitätern gellten durchs Dorf. Als der Beschuss endlich nachließ, meldeten die Bataillone, russische Infanterie greife vom Donez her an. Auch Panzer waren wieder dabei; sie wälzten sich durch den Schnee und walzten die Häuser nieder, in denen diejenigen von den unseren, die nicht in den Gräben am MG standen, vor der mörderischen Kälte Schutz suchten. Trotzdem hielten die Kompanien fürs Erste ihre Stellungen. Aber es war ein ständiges Hin und Her. Auf Einbrüche, die der Feind erzielte, erfolgte der Gegenstoß, und wiederum wurde um die Häuser, um armselige russische Katen, gekämpft, um die Wärme, die darin zu finden war.
Um neun Uhr riss die Verbindung zum dritten Bataillon ab.
Einige Minuten später erschien Stabsarzt Mende, der Chef des Verbandplatzes, im Gefechtsstand. Er bat, den Kommandeur sprechen zu dürfen, und als der Oberst, der gerade Major Knappe an der Strippe hatte, frei war, legte er ihm nahe, für den Abtransport des Verbandplatzes zu sorgen. Die Verwundeten seien hilflos dem Artilleriefeuer preisgegeben, und viele Verwundungen und Erfrierungen könnten am Ort nicht behandelt werden.
Oberst Metzelbrod blickte abwesend vor sich hin, als wären seine Gedanken weit weg von Pawlowskaja. Doch als der Stabsarzt seine Bitte eindringlich wiederholte, unterbrach er ihn mit den Worten:
»Doktor, ich kann Ihnen nicht helfen, so bitter es mir ist. Es gibt zur Zeit kein Zurück – für keinen von uns. Im Süden – vermutlich auch im Osten steht der Russe. Ich habe den Ia ersucht, Sturmgeschütze einzusetzen. Aber ich fürchte, die Sturmgeschütze werden gegenwärtig an so vielen Ecken gebraucht, dass für unseren Schlittenweg nichts mehr übrig bleibt. – Nichts zu machen, Doktor!«
An Stabsarzt Mendes linker Wange zuckte die Narbe, die ihm vor Abbeville ein Paksplitter beigebracht hatte. Er verneigte sich steif wie jener alte Hauptmann an der Vormarschstraße.
»Verstehe, Herr Oberst«, sagte er, »eingeschlossen. Mit 20 Verwundeten oder, genau gesagt, 198. Aber die Zahl nimmt ja ständig zu. Hätte die Division da nicht früher disponieren können? Es sind doch Menschen, Herr Oberst, hilf- und wehrlose Menschen!«
Oberst Metzelbrod schüttelte den Kopf.
»Die Division, Doktor, die Division trifft keine Schuld. Das alles ist überraschend eingetreten. Man hat den russischen Angriff erwartet, aber weiter südlich in der Gegend von Artemowsk. Ich begreife Sie, Doktor, niemand begreift Sie besser als ich. Aber ich bin machtlos. Dazu kommt: Zum Abtransport Ihrer Verwundeten benötigt man Schlitten und Pferde oder die entsprechende Anzahl Sankas. Nun, die Sankas stehen unbeweglich in Slawiansk. Sie wissen ja, wie viele Motoren man im November zur Überholung nach Deutschland geschickt hat. Man richtete sich auf Winterquartiere ein und nicht auf einen Winterkrieg. Die Pferde aber sind zum großen Teil ins rückwärtige Armeegebiet gebracht worden. Sie waren fertig vom monatelangen Vormarsch und brauchten Ruhe, gutes Futter. Sie sehen, selbst wenn wir den Weg frei hätten, wäre der Abtransport Ihrer Verwundeten eine unlösbare Aufgabe.«
Stabsarzt Mende grüßte stumm und verließ uns. Ich folgte ihm in Gedanken ins Schulhaus, das angefüllt mit stöhnenden, aus ihren Wunden blutenden, halb erfrorenen Männern war, die alle verarztet und versorgt und gerettet werden wollten.
Plötzlich schrak ich aus meinen Gedanken auf. Vor mir stand Unteroffizier Baierle.
»Vom dritten Bataillon, Herr Leutnant«, sagte er mit verstörtem Ausdruck und reichte mir einen Funkspruch, der soeben eingegangen war.
Ich las: »Bataillonsgefechtsstand in Nahverteidigung. Goroditsche in Flammen. Erbitte Verstärkung. Hartung.«
Ich gab dem Oberst das Blatt. »Rufen Sie Eisen!«, befahl er scheinbar völlig ruhig.
»Herr Oberst«, bemerkte ich, einem plötzlichen Einfall folgend, »ich bitte darum, selbst gehen zu dürfen. Ich kenne das Gelände besser als Oberleutnant von Eisen.«
Oberst Metzelbrod zögerte. Dann stimmte er zu.
»Baierle wird mir so lange zur Hand sein«, sagte er.
»Nehmen Sie sich an Leuten, was Ihnen brauchbar scheint. Auch Feldwebel Strobel von der Schlittenkolonne mit seinem Zug. Gott befohlen, Emser! Und denken Sie an Goroditsche!«
In Stahlhelm, Mantel und Tarnhemd, die Maschinenpistole umgehängt, trat ich in den Schnee hinaus.