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Nach Goroditsche
ОглавлениеAuf den Rundungen der weißen Hügel wuchsen schmutziggraue Rauchpilze auf, verflüchtigten sich und machten neuen Platz. In der Ferne hämmerten die Paukenschläge der Abschüsse, mit widerwärtig jaulendem Fauchen zogen die Granaten ihre Bahn durch die eisige Luft, und wenn das Krachen der Einschläge allzu nah erfolgte, warfen wir uns in den Schnee und warteten, bis das Schwirren der Splitter zu Ende war. Eine Wolke schwärzlichen Qualms, durchzüngelt von gelbroten Flammen, die träge vor uns aufstieg und immer neu genährt wurde, wies uns die Richtung. Verworrenes MG-Feuer schnarrte, dazwischen flackerte Gewehrfeuer auf, oder das Ratsch-Bumm eines Panzers bellte.
74 Mann folgten mir in langer Reihe, darunter eine Granatwerfergruppe, die gerade, als wir aus Pawlowskaja ausmarschierten, von irgendwoher dort eingetroffen war. Ich hatte die Leute – es waren Versprengte – kurzerhand vereinnahmt, desgleichen zwei leichte Maschinengewehre, die herrenlos auf einem Schlitten gelegen hatten, der vor dem Schulhaus stand. Ich hatte den bunt aus allen möglichen Waffengattungen zusammengewürfelten Trupp in zwei Züge eingeteilt. Feldwebel Strobel, der Führer der Kolonne aus Slawiansk, hatte den ersten unter sich; den zweiten führte ein mehrfach ausgezeichneter Unteroffizier vom Pionierzug des Regiments.
Feldwebel Strobel ging neben mir. Er war ein trockener Bursche. Furcht schien er nicht zu kennen. Wegen einer Verwundung war er vor kurzem in den Stab des Pionierbataillons unserer Division versetzt worden; aber er hatte, wie er offen zugab, nichts dagegen, wieder an der Front zu sein. Er kannte unsere Aufgabe.
»Wir werden das schon schaukeln, Herr Leutnant«, meinte er voller Zuversicht.
Blutrot starrte die Sonne durch weiße Wolken. Außer uns, dem quirlenden Qualm vor uns und den immer neu aufsteigenden Rauchpilzen einschlagender Granaten gab es nichts, was sich regte in der eisigen, weiten Öde.
Wir zogen an einem zerschossenen Lkw vorbei. Er stand schon seit November dort und war schwer mit Schnee beladen.
Unter den Tritten unserer Stiefel knirschte die Schlittenbahn, die nur eine dünne Neuschneeschicht über der festgefahrenen Glätte aufwies. Der Frost schnitt wie mit Messern in unsere Gesichter, er trieb Tränen in die Augen, und die Tränen wurden auf den Wangen zu Eis. Von Zeit zu Zeit verfärbte sich eines der Gesichter kalkweiß. Man rieb es mit Schnee, und das Blut strömte zurück.
Das brennende Goroditsche war noch fern, doch schon stieg uns der Brandgeruch beißend in die Nase.
Durch die tiefen Schneewehen einer Schlucht stapften wir der Häusergruppe entgegen, in der sich Major Hartungs Bataillonsgefechtsstand befand. Nichts war zu hören, was auf ein Gefecht hätte schließen lassen. Im Näherkommen entdeckte ich am Fenster eines der von Einschlägen stark mitgenommenen Häuser einen MG-Lauf, aber sonderbarerweise fiel kein Schuss daraus. Dann bemerkten wir einen weiß gestrichenen Panzer, der an einem Abhang wie in sinnloser Wut um sich selber kurvte. Eine der Laufketten hing beschädigt herab. Und dicht bei den Häusern lagen etliche Russen reglos und halb versunken im Schnee.
Der Panzer blieb plötzlich stehen. Aus seinem Geschütz löste sich ein Rauchwölkchen. Nahe vor uns fuhr die Granate – ein Blindgänger – in den aufstiebenden Schnee.
Wir achteten nicht darauf und stürmten feuernd und brüllend zu den Häusern hinab. Mehrere Gestalten in rehbraunen Mänteln kamen aus den zersplitterten Türen hervor, hasteten, ohne einen Schuss abzugeben, in Richtung des Panzers davon und verschwanden hinter dem Hügel. Die Luke des Panzers öffnete sich, drei Mann in Pelzmützen stiegen heraus und liefen hinter den anderen her. Aber nur einer gelangte in Deckung.
Wir drangen in die zerstörten Häuser ein. Hinter dem verlassenen MG fanden wir zwei Tote. Von den anderen fehlte jede Spur. Wir riefen, durchforschten jeden Winkel, auch nach Gefallenen suchten wir, doch ohne jeden Erfolg. Zweifellos hatten die Russen mit großer Übermacht den Bataillonsstab ausgehoben und Major Hartung und alle anderen in die Gefangenschaft geführt. Eine andere Erklärung gab es nicht.
Ich ließ sammeln, und wir setzten den Marsch nach Goroditsche fort. Bald war Hartungsried, wie wir im Regiment die kleine Häusergruppe nannten, unseren Blicken entzogen. Der Weg führte auf eine Anhöhe, auf der uns MG-Feuer aus der linken Flanke empfing. Wir robbten durch den Schnee, bis der Weg sich wieder senkte. Ich dachte an den Oberst und sah ihn vor mir, wie er mir die Hand zum Abschied presste. Und ich glaubte die Worte nochmals zu vernehmen, die er mir mitgegeben hatte auf den Weg: »Denken Sie an Goroditsche!« Ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, alles Persönliche auszuschalten, hatte er sich diesen Appell vom Herzen gerungen. Ich war entschlossen, ihn nicht zu enttäuschen.
Aus dem Dorf, dem wir zustrebten, schlugen noch immer riesenhafte Flammen, und der Rauch quoll senkrecht hoch.
Eine russische Batterie, die allem Anschein nach bereits diesseits des Donez stand, begann sich auf den Schlittenpfad einzuschießen, vermutlich, um uns von unserem Vorhaben abzubringen. Wir bogen rechts ab in den tiefen Schnee und traten abwechselnd die Spur. Aber wir kamen nur sehr langsam vorwärts.
Bis auf etwa fünf Kilometer hatten wir uns Goroditsche genähert. Vor uns lebte der Gefechtslärm wieder auf, und wir legten Tempo zu, so gut wir konnten, um möglichst schnell eingreifen zu können.
Auf einmal verdunkelte sich im Norden der Himmel. Die schwarzgraue Wolkenwand kam mit großer Geschwindigkeit näher. Eisiger Wind fauchte uns entgegen, trieb den aufgewirbelten Schnee in Wolken vor sich her und wurde zum Sturm. Es begann zu schneien, immer dichter fiel der Schnee, der Sturm überschüttete uns mit weißen Kaskaden. Wir mussten anhalten und kauerten uns im Schutz einer Wechte nieder. Es gab keine Sicht mehr, und unter dem Sausen des Schneesturmes erstickte jedes andere Geräusch.
Ich wusste, wir würden erfrieren, wenn wir dort, wo wir Halt gemacht hatten, hocken blieben. Aber ich konnte mich nicht zur Umkehr entschließen. Ich trieb die Leute hoch, und wir stampften, die Arme schlagend, um uns selbst, um das Blut in Bewegung zu halten. Dicht neben uns lief der Schlittenpfad; er war jetzt tief überweht und kaum mehr erkenntlich.
Es dauerte eine Stunde, dann wurde es lichter, wenn der Schnee auch noch immer in Massen fiel.
Plötzlich erblickte ich voraus schemenhafte Gestalten, die auf dem Weg unendlich langsam herankamen. Ich machte Feldwebel Strobel auf die geisterhafte Wahrnehmung aufmerksam. Wir brachten die Maschinengewehre in Stellung, auch den Granatwerfer, den wir bei uns hatten, und erwarteten geduckt den stetig näher rückenden gespenstischen Zug. Dann erkannte ich an den Stahlhelmen und am Grau der Mäntel, dass es Leute von uns waren.
Ich sprang auf und rief.
Ein Mann, der an der Spitze der Kolonne durch den Neuschnee stapfte, löste sich von den anderen. Ich ging ihm entgegen, und gleich darauf sah ich, das war John, Leutnant Fritz John, Zugführer in Erich Metzelbrods Kompanie. Sein Mantel war zerfetzt und sein schlaff herabhängender linker Arm unter dem aufgerissenen Ärmel dick verbunden.
»Fritz!«, rief ich betroffen. »Mensch, Fritz!« Meine Stimme war mir selbst fremd geworden.
»Wir haben’s geschafft«, sagte er, »der Schneesturm ist zur rechten Zeit gekommen.«
»Was ist mit Goroditsche?«, fragte ich.
Er machte mit der heilen Rechten, die in einem Fausthandschuh steckte, eine müde Bewegung. »Der Iwan sitzt in Goroditsche«, sagte er. »Wir hatten nur noch zwei Häuser. Der Kolchos ist abgebrannt.«
»Wir waren auf dem Marsch zu euch, Fritz«, bemerkte ich, »der Sturm hat uns aufgehalten.«
»In Ordnung, Emser«, sagte er. Seine Augen flackerten wie im Fieber.
Erst jetzt fragte ich stockend nach dem Sohn des Kommandeurs.
John drehte sich um – die Kolonne war inzwischen herangekommen – und deutete auf den ersten der Schlitten, die erschöpft taumelnde Soldaten im Mannschaftszug hinter sich herschleppten. Die Schlitten waren mit in Decken gehüllten Gestalten beladen.
John ging mit mir zu dem vordersten Schlitten. Zwischen zwei Landsern, die ich nicht kannte, lag Erich Metzelbrod. Sein gelbbleiches, stoppelbärtiges Gesicht war mit gefrorenen Blutrinnsalen gesprenkelt. Die Augen waren geschlossen, die Lippen fest zusammengepresst. Schnee häufte sich auf den Decken.
»Als wir Goroditsche räumten«, sagte John, »war er noch am Leben. Sieh dir die Kompanie an, Eimer. Ganze 36 Mann, die 18 Verwundeten nicht mitgezählt.«
Ich stellte aus meinen beiden Zügen eine Marschsicherung auf und nahm John, der am Zusammenbrechen war, beim Arm.
Als wir uns Hartungsried näherten, im Schneetreiben, das nach kurzem Nachlassen wieder dichter war, gewahrte ich im Schutz der zerschossenen Häuser eine Ansammlung von Landsern. Sie kreiselten die Arme und stampften im Schnee. Leutnant Zeltinger kam auf uns zu.
»Was ist mit Major Hartung?«, fragte er.
Ich zuckte die Schultern. »Wahrscheinlich in Gefangenschaft. Und Sie, Herr Zeltinger?«
»Ja«, sagte er, »ich. Von zwei Kompanien bin ich der einzige überlebende Offizier. Ich wollte mich gerade in Hartungsried sesshaft machen. Was halten Sie davon?«
Ich stimmte zu. »Der Kommandeur wird dann entscheiden«, sagte ich und gab Zeltinger die Hand.
Wir zogen weiter. Aber erst gegen Abend kamen wir in Pawlowskaja an und brachten die Verwundeten – durch Artilleriebeschuss waren unterwegs noch fünf Mann dazugekommen, darunter Feldwebel Strobel – zum Verbandplatz. Auch Leutnant John blieb in der Schule.
Der Ort Pawlowskaja, in dem zwei Tage zuvor kaum Bewegung gewesen war, glich jetzt einem Heerlager. Wieder brannten einige Häuser, die Treffer bekommen hatten. Davor standen Soldaten und wärmten sich, Versprengte aller Waffengattungen.
Nachdem ich dafür gesorgt hatte, dass alle Leute, die ich mitgebracht hatte, untergekommen waren, meldete ich mich beim Kommandeur. Er wusste bereits durch Versprengte, was in Hartungsried geschehen war. Er sah mir fest in die Augen.
»Wie steht’s, Emser?«, fragte er. Es war leicht zu erraten, worauf sich seine Frage bezog.
»Oberleutnant Metzelbrod ist verwundet«, antwortete ich, »wir haben ihn auf dem Verbandplatz abgeliefert. Auch Leutnant John. In Goroditsche sitzt der Russe, Herr Oberst.«
Der Oberst nickte. »Danke, Emser«, murmelte er, »guter Emser.«
Er holte Mantel und Mütze und verließ den Gefechtsstand. Er ging gebeugt wie unter einer schweren Last.
Ich war auf einmal todmüde und legte mich auf die Ofenbank. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Vielleicht war es die Nachwirkung des sibirischen Frostes und der blendenden Helle, die vom Schnee ausging wie fahler Totenschein.