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Major von Talvern legte den Handapparat des Feldtelefons auf. Nichts. Schepetowka war schon seit Stunden von der Außenwelt abgeschnitten. Sämtliche Fernsprechverbindungen waren unterbrochen. Waren die Russen, nachdem sie am frühen Morgen dieses 16. Dezember 1942 zum Großangriff gegen die italienischen Stellungen am Don angetreten waren, schon so weit vorgestoßen – mit Reitertrupps wie vor siebenundzwanzig Tagen ins Hinterland der 3. rumänischen Armee? Oder hatten Partisanen die Kabel durchschnitten? Oder hatten die verschwundenen Hiwis geheime Sabotagebefehle durchgeführt?

»Die Leitungen sind tot«, sagte Talvern zu General Körner, der sich über die große, über zwei Tische ausgebreitete Karte beugte.

General Körner wischte mit dem Rücken seiner knochigen Hand über die Karte, als wolle er etwas auslöschen, was mit Kohle eingezeichnet war und den Eindruck erweckte, als sei es unaustilgbar.

Nimm doch wenigstens jetzt dein Monokel ab, dachte der General, irritiert durch die Selbstsicherheit, die der Ia auch jetzt noch zur Schau trug, als wäre nichts Bemerkenswertes geschehen. Dabei befand man sich in völliger Ungewissheit. Seit dem alarmierenden Anruf des Verbindungsstabes beim Oberkommando der 8. italienischen Armee hatte man nichts mehr gehört. Weder von vorn, von der Front, noch aus dem Hinterland. Man wusste nicht, ob die Italiener den Angriff abgewehrt hatten, ob im Falle von Feindeinbrüchen die Auffangstellungen besetzt worden waren, ob die Donfront überhaupt noch bestand. Nach dem Anruf vom italienischen Oberkommando hatte General Körner die Regimentskommandeure und die Kommandeure der selbstständigen Formationen, wie es das Pionierbataillon, die Panzerjägerabteilung und die Aufklärungsabteilung waren, nach Schepetowka befohlen. Seit der Besprechung waren Stunden vergangen, aber bisher war in der Funkstelle, die nach dem Ausfall der Fernsprechleitungen mit den Teilen der Division Verbindung hielt, kein Spruch eingegangen, der zur Klärung der undurchsichtigen Lage hätte beitragen können. Und die Funkanlage des italienischen Oberkommandos schwieg.

Im Schulhaus von Schepetowka war es kalt. General Körner trug seinen pelzgefütterten feldgrauen Mantel mit den prächtigen roten Aufschlägen und den golddurchwirkten geflochtenen Schulterstücken. Bei der Ankunft in Schepetowka hatte der General es untersagt, Bestandteile unbeschädigter Gebäude oder irgendwelche Einrichtungsgegenstände als Brennmaterial zu verwenden. Insbesondere die Einrichtung der drei Klassenzimmer im Schulhaus – Bänke, Katheder und Schränke – war durch einen eindeutigen Befehl vor Entnahme oder Vernichtung geschützt. Es war ja überhaupt ein Wunder, dass die Einrichtung bei der Ankunft des Divisionsstabes noch vorhanden gewesen war. Das mittlerweile beschaffte Heizmaterial war streng rationiert und wurde vom Kommandanten des Stabsquartiers persönlich zugeteilt. Nur Talvern als Einziger im Stab wusste, was den sonst nicht zu Konzilianz und Nachsicht neigenden General bewogen hatte, solche Rücksichtnahme im Feindesland zu üben. Der General glaubte nicht an allzu langes Verweilen in der windigen Ecke zwischen Don und Tschir, und er wollte nicht, dass die russischen Bewohner von Schepetowka bei ihrer Rückkehr ausgeplünderte Wohnstätten vorfänden.

Talvern horchte plötzlich auf. War es Einbildung, oder war nicht aus großer Ferne ein Grummeln zu vernehmen, wie wenn schwere Eisenkugeln über einen Bohlenbelag rollten?

Er blickte zu General Körner.

Der General nickte. »Da haben wir’s, Talvern! Aber kommt das nicht von Osten?«

Jetzt vibrierten ganz leise die mit Streifen aus Zeitungspapier überklebten Fenster. Kam der Kampflärm näher, oder hatte nur der Wind sich verstärkt oder gedreht?

»Die Hauptsache ist, es kommt«, sagte der Major. »Es war ja unabwendbar. Wenn es da ist, kann man Entscheidungen treffen –«

»Entscheidungen?«, warf General Körner nachdenklich ein. »Ist es nicht so, Talvern, dass unser Handeln uns neuerdings aufgezwungen wird? Stalingrad, diese erste große Niederlage, die im Begriff ist, einen Mythos zu zerstören, scheint die Herren im OKW paralysiert zu haben.«

General Körner trat ans Fenster und lauschte hinaus. Der ferne Geschützdonner wurde auf einmal von anderen Geräuschen übertönt. Ein Pulk vieler Fahrzeuge näherte sich Schepetowka.

General Körner drehte sich zu Talvern um. »Was ist das? Hören Sie?«

Talvern rief Leutnant Walter vom Nebenzimmer. »Schauen Sie nach, was da vorgeht!«, befahl er. Seine Stimme klang ruhig. Gab es denn nichts, was Anton von Talvern aus der Fassung bringen konnte?

Leutnant Walter lief die Treppe hinunter. Als er zurückkam, war er erregt und außer Atem.

»Italienische Fahrzeuge«, meldete er, »eine Rückzugskolonne, die nicht abreißt.«

»Anhalten!«, rief der General mit rauer Stimme. »Sofort anhalten! Holen Sie den italienischen Leutnant! Nehmen Sie ihn als Dolmetscher mit!«

»Zu Befehl, Herr General!«

Leutnant Walter hinkte hinaus. Ein Stecksplitter in seinem linken Oberschenkel behinderte ihn. Er klopfte an die Tür zum Vorzimmer des Ic und winkte Leutnant Cornalli heraus.

»Ihre Landsleute rollen Richtung Heimat«, sagte er. »Wir sollen Sie aufhalten, Befehl vom General.«

Sie zogen ihre Mäntel über, die auf dem Flur an den Haken hingen, an denen früher die Schulkinder von Schepetowka ihre Mäntel aufgehängt hatten. Sie schnallten um, setzten ihre Mützen auf und stiegen eilig die knarrende Holztreppe hinunter. Als sie ins Freie hinaustraten, empfing sie der eisige Steppenwind und trieb ihnen winzige Schneekristalle ins Gesicht. Der Nebel, der sich tagelang nicht gelichtet hatte, war verschwunden, aber die jagenden Schneewolken zogen so niedrig, dass sie die Dächer der schemenhaft ragenden Häuser zu berühren schienen. In Schwaden wirbelten die winzigen Flocken.

In das Johlen des Windes mischte sich Motorengedröhn.

Auf einem schmalen Seitenweg gelangten die beiden Offiziere zur Rollbahn, die den Ort von Nord nach Süd durchschnitt, ein breites Band festgefahrenen Schnees. In Zweierreihe, dicht bei dicht, bewegten sich Lkw der italienischen Armee im Schritttempo vorwärts. Die Spitze der Rückzugskolonne hatte Schepetowka bereits passiert.

Winkend und rufend versuchten Leutnant Walter und Tenente Cornalli sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. Aber niemand achtete auf sie. Die winterlich vermummten Fahrer hatten die Wagen vor sich im Auge, die Beifahrer blickten stur geradeaus, und so weit sich Mannschaften unter den Planen verbergen mochten, hielten sie sich unsichtbar.

Tenente Cornalli hatte Tränen ohnmächtigen Zorns in den Augen. Wer hatte die Führung dieses verdammten Haufens? War denn hier niemand, der noch bei klarer Überlegung, der noch bei Verstand war? An dem deutschen Offizier und an ihm rollten diese Elenden vorbei, als ob sie beide räudige Köter wären, die die Kolonne ankläfften!

»Hat keinen Zweck«, rief Leutnant Walter, »diese Burschen bringt man nicht einmal mit Gewalt zum Stehen.«

Mit Gewalt, dachte er, wenn wir uns denen in den Weg stellen, fahren die uns bedenkenlos über den Haufen.

Auf einmal hatte Cornalli seine Beretta in der Hand. Mit der Pistole fuchtelnd, brüllte er auf Italienisch Befehle und Flüche. Doch auch von der drohend geschwungenen Waffe nahm niemand in der langsam vorbeirollenden Kolonne Notiz. Bis Leutnant Walter plötzlich den Lauf eines kurzen italienischen Karabiners entdeckte, der sich durch ein heruntergekurbeltes Seitenfenster schob.

»Herr Cornalli!«, rief Walter warnend. Zu spät. Ein Schuss hatte sich gelöst. Der italienische Leutnant drehte sich wie bei einem grotesken Tanz um sich selbst. Die Waffe entglitt seiner Hand. Schwer stürzte er in den Schnee.

Walter stand wie erstarrt. Dann warf er sich neben den Dolmetscher, nur wenige Schritte von den unaufhaltsam rollenden Rädern entfernt.

Cornalli stöhnte schwach. Walter sprang auf. In der nahen Nachrichtenvermittlung berichtete er stockend, was geschehen war. Zwei Mann rannten mit einer Krankentrage hinaus, während Walter im Laufschritt, so weit es sein verletztes Bein zuließ, den Weg zum Divisionsgefechtsstand fortsetzte.

So ungeheuerlich war das, was er gesehen und erlebt hatte, dass es beinahe über sein Fassungsvermögen ging. Der Anfang vom Ende, dachte er bruchstückhaft, Mord – sie schießen auf die eigenen Offiziere …

Als er keuchend, mit verzerrtem Gesicht vor dem Ia stand, fragte Major von Talvern: »Menschenskind, ist Ihnen ein Gespenst begegnet?«

Leutnant Walter suchte nach Worten.

»Kann verstehen, dass Sie durcheinander sind«, meinte Talvern. »So eine Rückzugskolonne ist kein erfreulicher Anblick. Sie haben nur den Vormarsch kennen gelernt. Das andere ist die Kehrseite.«

»Man hat auf Cornalli geschossen«, stieß Walter hervor.

»Was?«

Walter versuchte sich zu fassen. »Aus einem der Fahrzeuge ist auf Leutnant Cornalli geschossen worden, Herr Major. Niemand wollte anhalten. Cornalli hat die Pistole gezogen. Da ist es geschehen.«

»Weiter! Was ist mit dem Italiener?«

»Kopfschuss, Herr Major. Ich habe veranlasst, dass man ihn von der Rollbahn wegholte, und bin, so schnell ich konnte, hierhergelaufen.«

»Wohin hat man ihn gebracht?«

»Sicher zunächst zur Nachrichtenvermittlung.«

»Ich muss mich um ihn kümmern«, sagte Talvern. »Melden Sie den Vorfall dem Herrn General, Leutnant Walter!«

»Zu Befehl, Herr Major.«

Walter ging hinaus. Mehr als sonst zog er das linke Bein hinter sich her.

Talvern riss die Tür zum Geschäftszimmer auf. »Mantel, Mütze und Koppel!«, rief er dem Dienst habenden Obergefreiten zu.

Im gleichen Augenblick schrillte das Läutwerk des Feldtelefons. Mit einem Sprung war Talvern beim Apparat.

»Major von Talvern.«

Am anderen Ende sprach Oberleutnant Schenk, der Führer der 2. Nachrichtenkompanie.

»Ein Funkspruch von ›Waldhorn‹, Herr Major«, meldete er.

»Waldhorn« war der Deckname des Infanterieregiments 628.

Schenk wollte den Text des Spruches übermitteln, doch Talvern unterbrach den Nachrichtenoffizier. »Liegt der italienische Leutnant bei Ihnen?«, fragte er.

»Jawohl, Herr Major. Wollte es Herrn Major anschließend sagen. Wir haben den Herrn Oberfeldarzt gerufen. Aber jede Hilfe kam zu spät. Nach Meinung des Herrn Divisionsarztes muss der Leutnant schon tot gewesen sein, als sie ihn hereinbrachten.«

»Geben Sie jetzt den Spruch durch!«, befahl Talvern schroff, ohne auf Schenks schwer wiegende Mitteilung einzugehen.

»Jawohl, Herr Major.«

Schenk verlas den Klartext des verschlüsselt durchgegebenen Spruchs. Das Regiment meldete Feindberührung bei seinem ersten Bataillon. Zum zweiten und dritten Bataillon war bei Aufgabe des Funkspruches seit zwei Stunden die Verbindung abgerissen. Zwei Stoßtruppunternehmen waren zur Klärung der Lage angelaufen.

Talvern ging hinüber zum General.

»Das Erste sechsachtundzwanzig hat bereits Feindberührung«, sagte er. »Sonst bis jetzt nichts Neues. Was hier geschehen ist, wissen Herr General.«

General Körner nickte schwer.

»Es ist, als ob Schnee und Dunkelheit alles verschlängen«, murmelte er. »Die rumänische Armee – Stalingrad –, jetzt die Italiener. Und wir?«

Der General schwieg. Auch Major von Talvern sagte nichts mehr. Etwas Unheimliches bahnte sich an. Ein Gefühl des Unbehagens schlich sich in Anton von Talverns Gelassenheit. Er kehrte in seinen Dienstraum zurück. In den kahlen Raum mit den mit Zeitungsstreifen beklebten, vereisten Fenstern. Mit dem helleren Fleck an der vom Ofenrauch gedunkelten Wand, wo einst Stalins Bild gehangen hatte. Ein Bild des »Führers« aufzuhängen, hatte man versäumt.

Es war Zeit, die Abendmeldung vorzubereiten. Was war zu melden? Der Tod eines italienischen Offiziers. Sonst war alles unklar, alles in der Schwebe. Das Fernsprechnetz war zerstört und nicht wieder in Stand gesetzt. Man hing in der Luft. Auf die Funkgeräte war nur bedingt Verlass. Man sollte führen. Aber wer konnte befehlen, wenn er sich wie der Stab in Schepetowka in völliger Ungewissheit, in der Isolierung befand? Wer?

Seit seiner Abfahrt von Lysselkowo am Abend des 15. Dezember hatte die 3. Batterie nichts mehr von Wachtmeister Fendt gehört. Auch von dem italienischen Bataillon, mit dem man noch in der Nacht Funkverbindung hatte, wusste man nichts. Den ganzen 16. Dezember und die folgende Nacht hindurch hatte der Funktrupp in Lysselkowo die Italiener immer wieder gerufen, aber deren Gerät hatte keine Antwort gegeben.

Trüb brach der Morgen des 17. Dezember an. Die Fenster der kleinen, niedrigen Lehmkate, die Hauptmann Martin als Quartier und zugleich als Gefechtsstand diente, waren mit einer dicken Eisschicht überzogen. In dem kleinsten unheizbaren Raum schlief der Hauptmann auf einer von Trossleuten gezimmerten Pritsche.

In der größeren Stube lagen Leutnant Holler, der B-Offizier, und die Männer vom Batterietrupp dicht aneinander gedrängt auf einer dünnen Schütte von mit Zeltbahnen bedecktem Stroh.

Als Hauptmann Martin sich auf der Pritsche aufrichtete, war es ihm, als habe sich das Artilleriefeuer, das gestern noch im Norden rumpelte, nach Westen, möglicherweise auch nach Südwesten, verlagert. Auch im Osten, allerdings in größerer Entfernung, schien Geschützfeuer aufzuleben. Das musste an der Tschir-Front sein, die sich Ende November nach dem Durchbruch der Russen bei der 3. rumänischen Armee gebildet hatte.

Hauptmann Martin hatte fest mit einem nächtlichen Alarm gerechnet. Doch die Nacht hatte nichts Ungewöhnliches gebracht – jedenfalls nicht für Lysselkowo.

Martin warf den Übermantel und die Decken zurück und stand stöhnend auf. Morgens, beim Aufstehen, machte sich das Rheuma, das zeitweilig seine ganze linke Körperhälfte erfasste, am übelsten bemerkbar. Erst beim zweiten Versuch gelang es ihm, sich nach seinen Filzstiefeln zu bücken. Dieser zweite Winter, der für ihn in Russland angebrochen war, wartete wieder mit strengen Frösten auf. Wie alle anderen schlief auch Martin in voller Uniform. Und auch ihn plagten bereits wieder die Läuse, die nicht danach fragten, ob einer Schulterstücke mit zwei Sternen, Korporalslitzen, einen Gefreitenwinkel oder überhaupt keine Rangabzeichen besaß.

Als Hauptmann Martin in den Nebenraum trat, kam der kleine Leutnant Holler soeben aus seinen Decken hoch.

»Merken Sie was?«, sagte der Batteriechef. »Das hört sich doch so an, als ob der Russe durch wäre. Aber das ist doch nicht möglich. Wenn da etwas passiert wäre, hätte man uns doch verständigen müssen.«

Leutnant Holler hob die Schultern.

»An sich schon, Herr Hauptmann. Aber wir wissen ja: Die Makkaroni betreiben hier ihren eigenen Laden.«

»Sie sollen nicht ›Makkaroni‹ sagen!«, warf der Hauptmann ein. »Die Italiener sitzen auf dem gleichen Ast wie wir. Es sind unsere Verbündeten, und ich wünsche nicht, dass man abfällig über sie spricht.«

Heute hat es ihn wieder, dachte Holler. Wenn das Rheuma den Chef packte, war er sich selbst zuwider. Doch sonst kam man gut mit ihm aus. Im Übrigen war Hauptmann Martin nicht nur auf artilleristischem Gebiet ein ausgesprochener Könner.

»Man sollte ›Blaumeise‹ anrufen«, schlug Holler vor. »Vielleicht weiß man dort etwas.«

»Blaumeise« war der Deckname einer deutschen Sicherungskompanie, die zwanzig Kilometer nordostwärts in der Kosaken-Stanize Nikolskaja lag. Oder gelegen hatte.

»Gut«, meinte Hauptmann Martin, »versuchen wir’s.«

Der Leutnant nahm den Handapparat des Feldtelefons ab und drehte die Kurbel.

»Holen Sie ›Blaumeise‹ ran«, sagte Leutnant Holler. »Und schicken Sie auch gleich den Nachrichtenstaffel-Führer zum Gefechtsstand.«

Der Gefreite wiederholte den Befehl. Als er gleich darauf wieder sprach, klang seine Stimme erregt.

»›Blaumeise‹ antwortet nicht, Herr Leutnant«, sagte er. »Die können doch nicht klammheimlich abgebaut haben?«

»Unsinn«, versetzte Holler. »Wird ’ne Störung sein. Versuchen Sie’s später noch mal!«

Er legte auf und läutete ab. Im gleichen Augenblick trat der Nachrichtenstaffelführer ein.

»Unteroffizier Kolb zur Stelle.«

»Störungssucher immer noch nicht zurück?«, fragte Hauptmann Martin. Gestern Mittag waren zwei Mann losgezogen, um die gestörte Fernsprechleitung zum Abteilungsgefechtsstand zu flicken.

Der Unteroffizier nahm erneut Haltung an.

»Nein, Herr Hauptmann. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was da los ist. Lenk und Pohlmann sind doch zwei alte Hasen. Wenn etwas Besonderes wäre, hätten die beiden unter allen Umständen den Draht angezapft, um Meldung zu machen. Es ist beinahe so, als ob ringsherum alles weg wäre, und wir wären allein übrig geblieben.«

»Wie kommen Sie darauf, Kolb?«, fragte der Batteriechef.

»Alle Leitungen nach außerhalb sind tot, Herr Hauptmann«, antwortete der Unteroffizier. »Und mit dem Funkverkehr sieht es praktisch nicht anders aus. Was zu hören ist – sogar zum Teil auf unseren Frequenzen –, sind verschlüsselte russische Sprüche. Und das Arifeuer im Westen. Die Italiener werden doch nicht getürmt sein?«

Hauptmann Martin schüttelte den Kopf, obgleich er im Stillen die Befürchtung des Unteroffiziers teilte. Zweifellos war seit gestern Schwerwiegendes an der Front geschehen.

Martin griff zum Handapparat des Fernsprechers und befahl, ihn mit dem Gefechtsstand der Pioniere zu verbinden. Gestern früh war die Pionierkompanie unter Oberleutnant Mareiner auf Weisung der Division als Verstärkung in Lysselkowo eingerückt. Mit den Pionieren hatte es eine besondere Bewandtnis: Sie waren am 21. November in die Katastrophe im Donbogen geraten und waren im Gegensatz zu den meisten anderen Einheiten nicht nach Osten in Richtung Stalingrad, sondern nach Westen abgedrängt worden. Zwei Wochen lang hatten sie als Bestandteil einer Alarmeinheit am Tschir gekämpft, dann waren sie auf höheren Befehl dem Pionierbataillon der Division zur besonderen Verwendung unterstellt worden. Martin fand es beruhigend, dass jetzt außer seiner Batterie noch etwas im Dorf war. Eine Artilleriestellung, vor der möglicherweise nichts Eigenes mehr war, ließ sich mit den Geschützen und den Trossleuten allein nicht verteidigen. Die Pionierkompanie jedoch war eine erprobte Kampfeinheit. Vor allem war sie reichlich mit Minen aller Art ausgestattet.

Am anderen Ende der Leitung meldete sich Oberleutnant Mareiner, ein Tiroler aus der Gegend von Kufstein, die auch Martin gut bekannt war.

»Können Sie mal ’rüberkommen, Herr Mareiner?«, fragte der Hauptmann.

»Schon im Bild«, gab Mareiner zurück. »Bin in fünf Minuten bei Ihnen, Herr Hauptmann.«

Martin wandte sich dem Nachrichtenstaffelführer zu.

»Ist gut, Kolb. Sehen Sie weiter zu, dass die Verbindungen wieder zu Stande kommen! Sobald Sie Erfolg haben, läuten Sie mich an!«

Der Unteroffizier verließ den Gefechtsstand, in dem währenddessen auch der Batterietrupp munter geworden war.

Einer der Melder, der Obergefreite Kranz, legte trockenes Holz, das von einem abgerissenen Zaun stammte, auf die Glut im Ofen.

Bevor Hauptmann Martin in seine kleine Stube zurückkehrte, bedeutete er Leutnant Holler, sich mit dem Pionieroffizier bei ihm einzufinden, sobald dieser im Gefechtsstand eintreffe. Die bevorstehende Besprechung sollte nicht vor den Männern stattfinden. Wenn man die Mannschaft vorzeitig beunruhigte, war das nur der Keim für Parolen und Gerüchte, die womöglich dem Ausbruch einer Panik Vorschub leisteten. Im vergangenen Winter hatte Hauptmann Martin eine solche Panik bei einer schwer angeschlagenen Kompanie erlebt, die Hals über Kopf ihre Stellung verlassen hatte.

In der Stube war es empfindlich kalt. Der Hauptmann zog seinen Übermantel an und rieb sich das schmerzende linke Bein. Als er sich gerade eine Zigarette anzündete, auf nüchternen Magen, da die Feldküche den so genannten Kaffee erst später ausgab, erschienen Oberleutnant Mareiner, der athletische, abgehärtete Tiroler, dem die Kälte nichts anzuhaben schien, und der kleine Leutnant Holler.

Mareiner hielt nicht viel vom steifen Komment des großdeutschen Offizierskorps. Mit einem »Servus, Herr Hauptmann« ging er, die Hand zur Begrüßung ausgestreckt, auf Martin zu.

Der Batteriechef ergriff die hart zupackende Hand des Pionieroffiziers. Im Stillen sagte er sich, ein richtiger Kerl sei mehr wert als alle preußische Akkuratesse.

»Kann mir denken, weshalb Sie mich gerufen haben, Herr Hauptmann«, sagte Mareiner. »Mir scheint, dass es hier in der Gegend obergewaltig stinkt. Haben Sie inzwischen etwas von Ihrem Wachtmeister gehört?«

»Nein«, gab Martin zurück, »das kommt ja zu allem Übrigen noch dazu. Fendt ist mein bester Portepeeträger. Wenn der sich in Schweigen hüllt, muss es vorn bei den Italienern mehr als mulmig aussehen. Denken Sie, auch von den ausgeschickten Störungssuchern haben wir nichts mehr gehört.«

»Wenn Sie mich fragen, Herr Hauptmann«, meinte der Oberleutnant, der über der Uniform einen Mantel aus abgeschabtem Schaffell trug, »also, wenn Sie mich fragen, dann sage ich Ihnen klipp und klar: der Russ’ hat die Italiener am Don überrannt und ist längst an Lysselkowo vorbei.«

Martin wiegte bedächtig den Kopf.

»Wenn es so wäre, Herr Mareiner, dann hätten doch wenigstens ein paar Versprengte hier auftauchen müssen. Es ist undenkbar, dass der Russe die ganze italienische Armee einfach geschluckt hat.«

»Ich habe im November den Zauber bei den Rumänen erlebt«, warf der Oberleutnant ein. »Da hat man auch nicht mehr gewusst, wo oben ist und wo unten. Für solche Pannen ist nicht jeder gebaut, Herr Hauptmann. Das kann nur die deutsche Wehrmacht mit ihrer Elefantenhaut verkraften. Aber was sollen wir viel herumreden? Ich schlage vor, dass ich mich mal in der näheren Umgebung umschaue.«

»Gerade das wollte ich anregen, Herr Mareiner«, entgegnete der Hauptmann. »Wir müssen Klarheit haben. Erst dann können wir Entschlüsse fassen.«

»Sehr richtig«, stimmte Mareiner zu, »und deshalb will ich keine Zeit verlieren.«

Oberleutnant Mareiner, im langen Russenschneehemd, glättete, auf die hohen Stöcke gestützt, die Laufflächen seiner schmalen karelischen Skier. Die acht Mann, die sich mit ihm am Westrand von Lysselkowo zum Aufbruch ins Ungewisse bereitstellten, hatten die gleiche russische Winterausrüstung wie er. Ende November, auf dem Rückzug zum Tschir, als die Kompanie, oft in schwere Nachhutgefechte verwickelt, in der verschneiten Steppe T-Minen verlegte, um das Vordringen der feindlichen Panzer aufzuhalten, hatten sie eine starke russische Schneeschuh-Patrouille überwältigt und die Schneehemden, Skistöcke, Schuhe und Skier vereinnahmt. Da die Kompanie sich vorwiegend aus Tirolern und Oberbayern zusammensetzte, war es Mareiner nicht schwer gefallen, Leute zu finden, die mit der Skiausrüstung umgehen konnten. Schon bei den nächsten Unternehmungen hatte er festgestellt, wie brauchbar der Ski, insbesondere der Langlaufski, auf der winterlichen Steppe war. Und in dieser Stunde, als er auszog, um zu erkunden, was sich im Laufe des gestrigen Tages und der Nacht im Abschnitt der Italiener ereignet hatte, begrüßte er es ganz besonders, dass seine Pioniere und er gut getarnt und beweglich waren und somit rasch verschwinden konnten, wenn seine Vermutung zutraf. Für ihn hatte die italienische Front sich unter dem Ansturm der Russen aufgelöst wie vor knapp vier Wochen die der Rumänen. Wenn seine Annahme richtig war, würde er nach seinem Dafürhalten bei seinem Spähtruppunternehmen eher auf Rotarmisten als auf Italiener stoßen.

Er rückte seine Maschinenpistole zurecht, die ihm vor der Brust hing, stieß einen Skistock hoch und wandte sich in zügigem Gleitschritt der von dichtem Schneetreiben verhüllten Steppe zu.

Als er nach kurzer Zeit verhielt und den Kopf drehte, um sich zu vergewissern, ob seine Leute die befohlenen Abstände einhielten, waren die schneevermummten Hütten von Lysselkowo kaum mehr zu erkennen.

Der heftige Geschützdonner, der seit Mitternacht von Nordwesten nach Westen gewandert war, hatte nachgelassen. Ein Zeichen, dass die Russen ihre Angriffe eingestellt haben könnten, war das freilich nicht. Auch die Rote Armee vermochte sich nicht leichter Hand über die Härte des Winterkrieges hinwegzusetzen. Die Schwierigkeit, den Nachschub durch tief verschneites Gelände der kämpfenden Truppe zuzuführen, verlangsamte auch drüben die Bewegungen im Verhältnis zur Ausdehnung der Strecken, die zu überwinden waren.

Oberleutnant Mareiner fragte sich, warum man nach den Erfahrungen mit den Rumänen bei Kletzkaja die lebenswichtige Donfront südostwärts Kalitwa nicht mit deutschen Verbänden besetzt hatte. Den Italienern fehlte, allein schon von der mittleren und unteren Führung her, das Vermögen, in windigen Stellungen massierten Angriffen der Russen standzuhalten. Die persönliche Tapferkeit des Einzelnen zählte dabei nicht. Es war eine Frage der Taktik und im Übrigen der Persönlichkeit des jeweiligen Führers, ob man im Stande war, sich in einem Abschnitt zu behaupten, an dem der Feind womöglich links und rechts vorbeigeflutet war. Außerdem waren die Italiener, mit Ausnahme der Alpinisoldaten, für den Krieg im winterlichen Osten weder körperlich geeignet noch geschult.

Als Mareiner den Befehl erhalten hatte, mit seiner Kompanie nach Lysselkowo zu gehen und sich dort einzurichten, war er überzeugt gewesen, dass man eine Ausweitung der russischen Winteroffensive gegen den Abschnitt der 8. italienischen Armee erwartete. Aber mit einem Durchbruch, wie er mutmaßlich mittlerweile eingetreten war, hatte man anscheinend nicht gerechnet.

Das Schneetreiben wurde immer dichter. Der eisige Nordwind verstärkte sich und wurde zum Sturm. Tief geduckt schob Mareiner sich auf seinen Skiern vorwärts, gefolgt von seinen acht Pionieren, die nun näher aufrückten, um einander nicht aus den Augen zu verlieren.

Sie gelangten zu einer Balka, wie sie zu Hunderten die Steppen Südrusslands durchziehen, und da der vom Sturm gepeitschte, dicht fallende Schnee jegliche Sicht verwehrte und infolgedessen die Gefahr bestand, dass der kleine Spähtrupp ahnungslos in den Feind rumpelte, beschloss Oberleutnant Mareiner, in der windgeschützten Schlucht abzuwarten, bis der Schneesturm sich ausgetobt hatte, was erfahrungsgemäß nicht allzu lange dauern würde.

Als Sicherung gegen unliebsame Überraschungen stellte Mareiner einen Doppelposten an den nordwestlichen Zugang zur Balka.

Sie warteten nur wenige Minuten und rauchten gerade die ersten Züge ihrer mit Mühe angesteckten Zigaretten, als einer der Posten mit der Meldung erschien, eine größere Kolonne von Fußtruppen nähere sich. Mareiner machte seine Maschinenpistole frei und führte seine Leute, die ihre Karabiner schussbereit hielten, zum Ausgang der Balka. Dort übergab er Unteroffizier Perch, einem Landsmann aus dem Inntal, das Kommando und glitt selbst ins Schneetreiben hinaus, um nach Möglichkeit festzustellen, ob die näher kommende Kolonne, die nur schattenhaft zu erkennen war, zur »anderen Feldpostnummer« gehörte.

Hinter einen verschneiten und vereisten Strauch geduckt, beobachtete Mareiner die schwerfällig durch den Schnee stapfenden Gestalten, die wie gespenstische Schemen vorbeizogen und es offenbar nicht im Sinn hatten, ebenfalls in der Balka Schutz vor dem Sturm zu suchen.

Auf einmal vernahm er einen schwachen Kommandoruf, der vermutlich italienisch, keinesfalls jedoch russisch war. Einer plötzlichen Eingebung folgend brüllte er: »Evviva Italia – evviva Italia!«

Im nächsten Augenblick löste sich die Ordnung der Kolonne auf. Soldaten in dunkelgrauen Mänteln und den Stahlhelmen des italienischen Heeres stürzten auf den Skiläufer im Schneehemd zu, der hinter dem vereisten Strauch hervorkam, und ungezählte Stimmen sprachen und riefen aufgeregt durcheinander. Das einzige, ständig wiederholte Wort, das Mareiner verstand, war: »Tedesco«.

Mit eifrigem Kopfnicken und »si, si, si« bestätigte er, dass er Deutscher sei, und steigerte damit die Aufregung der Italiener so gewaltig, dass diese einander nur noch überschrien. Bis schließlich von der Spitze der Kolonne ein Offizier herankam, mit scharfer Stimme Ruhe gebot und sich dem »Tedesco« gegenüber als Tenente Giuseppe Favere bekannt machte.

»Hoch erfreut«, sagte Mareiner und nannte seinerseits Dienstrang und Namen.

»Ich bin glücklich, Herr Kamerad«, sagte Leutnant Favere in gut verständlichem Deutsch. »Der Himmel schickt Sie uns. Aber – per Dio – Sie sind doch nicht auch versprengt wie wir?«

Mareiner verneinte lachend.

»Ich bin auf Erkundung«, sagte er, »aber von Ihnen kann ich sicher erfahren, was bei Ihnen passiert ist. Wir sind seit gestern ohne jede Verbindung.«

»Das glaube ich wohl«, entgegnete der italienische Leutnant. »Es ist bei mir nicht anders. Der Russe ist durchgebrochen. Mehr weiß ich auch nicht. Ich habe mit meiner Kompanie meine Stellung geräumt, als sie nicht mehr zu halten war. Wir sind unterwegs in starkes Artilleriefeuer geraten und später von russischen Reitern angegriffen worden. Meine Verluste waren sehr hoch, Herr Kamerad. Zuletzt habe ich im Schneesturm die Richtung verloren.«

»Welches Bataillon?«, schrie Oberleutnant Mareiner. Das Tosen des Sturms schwoll plötzlich so sehr an, dass es einem förmlich die Worte vom Mund wegriss. Doch Leutnant Favere hatte verstanden.

»Bataillon ›Derrutti‹ – stellvertretender Bataillonsführer Capitano Berti«, gab er ebenso lautstark zurück.

»Was ist mit Fendt? Wo ist er?«, fragte Mareiner. »Der deutsche Wachtmeister Fendt. Er war unterwegs zu Ihrem Bataillon.«

Der Italiener antwortete mit einer hilflosen Geste.

»Ich weiß nichts von einem deutschen Wachtmeister.«

»Wohin wollen Sie mit Ihren Leuten?«, fragte Mareiner, beunruhigt durch das sichere Gefühl, sich nicht länger aufhalten zu dürfen.

»Kein Befehl«, erwiderte Favere.

»Wir bringen Sie erst einmal nach Lysselkowo«, sagte Mareiner. »Rufen Sie Ihre Kompanie zusammen. Ich hole nur rasch meine Leute.«

Er drehte seine Skier um und lief mit langen Gleitschritten zur Balka.

»Wir kehren um«, rief er den Pionieren zu. »Es sind Italiener – eine versprengte Kompanie. Perch, Sie übernehmen mit zwei Mann die Führung. Die anderen kommen mit mir.«

Die Kolonne der Italiener tauchte im Flockenwirbel auf. Man hörte die anfeuernden Avanti-Rufe des Offiziers. Unter den Soldaten, von denen manche nicht einmal mehr ihre Gewehre bei sich hatten, waren auch mehrere Verwundete. Einige wurden von Kameraden gestützt.

Als Mareiner Favere erblickte, rief er ihm zu, er solle den drei Mann auf Skiern folgen. Er selbst werde sich mit dem Rest seiner Leute an den Schluss der Kolonne setzen, um dafür zu sorgen, dass niemand zurückbleibe.

Die grauen Schemen zogen dicht aufgeschlossen vorbei. Nach Mareiners Schätzung waren es etwa siebzig Mann. Wenn die Kompanie bei Beginn des russischen Angriffs ihre volle Kriegsstärke gehabt hatte, mochte Favere die Hälfte seiner Männer verloren haben.

»Die müssen ganz hübsch Federn gelassen haben«, bemerkte einer der Pioniere. »Sind halt Spagettifresser.«

»Halt die Luft an, Franz!«, versetzte Mareiner scharf. »Meinst du, ihr seht besser aus, wenn euch der Iwan die Stellung unter dem Sitzfleisch wegschießt?«

Er wartete, bis die letzten Italiener – eine Gruppe humpelnder Nachzügler, die offenbar erfrorene Füße hatten – vorbei waren. Dann schloss er sich mit seinen Pionieren an.

Im Grunde war Mareiner jetzt vollkommen im Bilde. Wenn der Feind die Gegend bereits mit Reiterspitzen unsicher machte, war es nicht ratsam, die Erkundung noch weiter vorzutreiben. Den Reitertrupps folgten zumeist Panzer mit aufgesessener Infanterie. Auch nach dem Erdrutsch bei Kletzkaja war es so gewesen. Fraglich war nur, was aus den Italienern werden sollte, wenn sie glücklich nach Lysselkowo gelangten. Doch das zu entscheiden, war Sache des Ortskommandanten Hauptmann Martin. Zur Stunde war nur eines wichtig: man besaß die Gewissheit, dass die Front am Don vom Russen aufgerissen worden war, und dass man nichts Wesentliches an eigenen Kräften mehr vor sich hatte. Alles andere würde sich ergeben, wenn die Panik sich legte, die allem Anschein nach große Teile der italienischen Front erfasst hatte.

Mareiner vermutete, dass in Kürze auf irgendeinem Weg bei Hauptmann Martin der Befehl eintreffen würde, Lysselkowo, das sicherlich bereits überflügelt war, zu räumen und Anschluss zur neuen Front zu suchen, die sich weiter rückwärts bilden würde. Die sich bilden musste, dachte Mareiner. Bisher war das immer so gewesen, selbst nach der Katastrophe bei den Rumänen. Aber was dann, wenn es einmal anders lief, wenn es zu keiner Frontbildung mehr kam, wenn alles ins Fließen geriet? Hatte man nicht 1941 den Russen in der Zeit von Ende Juni bis Oktober durch die ganze Ukraine bis an den Donez zurückgeworfen? Wenn nun das Blatt sich wendete, wenn plötzlich der Feind am Zuge war? War nicht Stalingrad, die Einschließung einer ganzen deutschen Armee, das böseste Vorzeichen? Nein, versuchte Mareiner sich einzureden, wir sind ja noch da!

Der Sturm verebbte. Auch der Schneefall ließ nach. Das Grollen des Geschützfeuers war wieder zu vernehmen. Seltsam war nur, dass die Gegend um Lysselkowo anscheinend ausgespart blieb. Jedenfalls war dort, wo das Dorf lag, das an das schneebeladene Tannenwäldchen im Norden grenzte, alles ruhig.

Die licht ragenden Tannen, zwischen denen die vier schweren Feldhaubitzen der 3. Batterie in Feuerstellung standen, und die kleinen lehmfarbenen Katen mit ihren dicken weißen Hauben und dem bis an die Fenster angeschaufelten Schnee kamen in Sicht. Aus den Schornsteinen stieg Rauch in die eisige Luft.

Leutnant Favere kam von der Spitze zu Oberleutnant Mareiner zurück.

»Ich verstehe nicht, dass der Russe Ihr Dorf noch nicht angegriffen hat«, sagte er.

»Seien Sie froh«, entgegnete Mareiner. »Auf diese Weise können Ihre Leute sich aufwärmen und sich von ihrem Schock erholen. Ich bringe Sie zu Hauptmann Martin. Er führt die Batterie, die in Lysselkowo liegt. Mit ihm können Sie beraten, was weiter geschehen soll.«

Sie erreichten das Dorf. Während die Italiener sich, von deutschen Soldaten bestaunt, auf dem Platz drängten, auf dem das Stalindenkmal aus Gips gestanden hatte, von dem nur noch die Beine vorhanden waren, geleitete Oberleutnant Mareiner, der seine Skier abgeschnallt hatte, den italienischen Tenente zum Batteriegefechtsstand.

Mareiner gab Hauptmann Martin Bericht und entfernte sich.

Favere wurde von dem Hauptmann aufgefordert, abzulegen und es sich bequem zu machen. Er zog seinen Mantel aus und streifte den Kopfschützer ab, den er unter dem Stahlhelm trug. An seinen schwarzen Augenbrauen hing Eis, das langsam abtaute. Wie Tränen bildeten sich Rinnsale auf seinen hageren Wangen.

Hauptmann Martin stand vor dem Tenente, der sich, auf einmal von Erschöpfung übermannt, auf einen klobigen Stuhl niedergelassen hatte.

»Es ging alles so schnell, Herr Hauptmann«, sagte Favere, die dunklen Augen auf das gerötete Gesicht des Batteriechefs gerichtet. »Meine Kompanie hat tapfer gekämpft. Sie kamen mit großer Übermacht. Meine Stellung war nicht günstig. Der Graben war mit Schnee angefüllt. Er bot keinen ausreichenden Schutz vor dem Artilleriefeuer, mit dem der Angriff eingeleitet wurde. Als sie kamen, hatte ich schon viele Ausfälle. Meine Nachbarkompanien waren überrannt, ehe wir recht zur Besinnung kamen. Ich musste räumen, sonst wären wir in Gefangenschaft geraten.«

»Sie brauchen sich bei mir nicht zu rechtfertigen, Herr Favere«, sagte Hauptmann Martin. »Mein Kompliment übrigens – Sie sprechen sehr gut deutsch.«

Tenente Favere lächelte schwach.

»Ich war vor dem Krieg in verschiedenen Garnisonen in Südtirol, Herr Hauptmann. Aber – verzeihen Sie – mir liegt es sehr am Herzen, was aus uns werden soll.«

»Sie bleiben hier«, erklärte der Hauptmann. »Ich halte Lysselkowo so lange, bis ich den eindeutigen Befehl zum Abrücken bekomme. Ihre Leute sind ein wertvoller Zuwachs für die Ortsverteidigung. Ich werde die Stellungen, die bereits vorhanden sind, weiter ausbauen lassen. Wir sind hier fürs Erste ausreichend mit Munition und Verpflegung versorgt. Entschuldigen Sie mich einen Augenblick.«

Martin ging in den größeren Raum hinüber, in dem der Ofen angenehme Wärme verbreitete, die jetzt auch bis in seine Stube strahlte, und befahl Leutnant Holler, für die Unterbringung der Italiener zu sorgen und sich vor allem auch darum zu kümmern, dass die Verwundeten und Frostgeschädigten im Verbandsplatz, der im Komsomolzenheim untergebracht war, in Pflege kämen.

Als Martin wieder bei Leutnant Favere war, sagte er: »Ich habe alles für Ihre Kompanie veranlasst. Auch für Sie werden wir ein Quartier finden. Jetzt noch eine Frage, Leutnant: Welche Ausdehnung hat Ihrer Meinung nach die Durchbruchslücke am Don? Sie wissen ja wohl, dass wir hier völlig im Dunkeln tappen.«

»Ich weiß eigentlich ebenso wenig wie Sie, Herr Hauptmann«, antwortete Favere. »Aber ich glaube nicht, dass meine Armee auch nur Teile der Don-Stellung halten kann, nachdem unser rechter Flügel im Abschnitt südwestlich Weschenskaja eingedrückt worden ist. Nach den letzten Nachrichten, die mir zugegangen sind, greift der Russe auch am Tschir an. Wenn er dort durchbricht, dürfte er uns in der Zange haben.«

»Möglich«, räumte Hauptmann Martin gelassen ein. »Ja, und jetzt zum Wesentlichen: Sie sind mit Ihrer Kompanie bis auf Weiteres mir unterstellt. Bis zu anders lautenden Weisungen von höherer Stelle empfangen Sie Ihre Befehle ausschließlich von mir. Ich danke Ihnen, Leutnant Favere.«

Der Italiener erhob sich in sichtlicher Verwirrung. Die geradlinige und militärisch knappe Art des deutschen Hauptmanns war ihm ungewohnt. Völlig unverständlich war es für ihn, dass der Hauptmann in Lysselkowo bleiben wollte, obgleich er sich darüber klar sein musste, dass das Dorf, im Großen betrachtet, bereits mitten im Feindgebiet lag, und dass nicht die geringste Aussicht bestand, es auch nur kurze Zeit zu halten. Doch an Widerspruch dachte Leutnant Favere nicht. Ohne die Hilfe der Deutschen konnte er sich mit dem zusammengeschmolzenen Rest seiner Kompanie nicht durchschlagen.

»Ich glaube, ich bin es, der zu danken hat, Herr Hauptmann«, sagte er.

Hauptmann Martin wehrte lächelnd ab.

»Seien Sie vorsichtig! Wir gehen unruhigen Zeiten entgegen. Aber fürs Erste sind wir hier besser aufgehoben als draußen im Schnee.«

»Vielleicht hat die gleiche Überlegung dazu geführt, dass man sich entschlossen hat, die sechste deutsche Armee in Stalingrad zu konzentrieren«, meinte der Italiener.

»Durchaus nicht«, versetzte Hauptmann Martin scharf. »Lysselkowo ist nicht Stalingrad. Dieser Trümmerhaufen an der Wolga – ich bin gut unterrichtet – hätte aufgegeben werden müssen, als der Russe bei den Rumänen durchbrach. Wären die Teile der sechsten Armee, die in Stalingrad lagen, rechtzeitig zurückgegangen, dann wäre es zu dem Schlag, der jetzt gegen Ihre Armee geführt worden ist, nicht gekommen.«

Leutnant Favere war bereits im Mantel. Er griff zum Stahlhelm und zu seinem kurzläufigen Karabiner, grüßte und verließ den Gefechtsstand. Die Sicherheit des deutschen Hauptmanns hatte auf ihn übergegriffen. Er fühlte sich nicht mehr verloren wie noch vor kurzer Zeit während des Marsches im Schneesturm, ehe er mit der deutschen Skipatrouille zusammentraf.

Front ohne Helden

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