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DIE GLOBALISIERTE WELT
ОглавлениеDie Welt verändert sich mit stets wachsender Geschwindigkeit. Vor vierzig, fünfzig Jahren war sie nicht besser, aber ein wenig einfacher. Es gab im Großen und Ganzen zwei große Mächte, zwei Blöcke und einige Sonderfaktoren. Damals waren auch größere Krisen relativ einfach zu bewältigen. Die Erklärung für die erste Flüchtlingswelle aus Ungarn 1956 war klar: Die Sowjetunion nahm Ungarn in die Zange und zwang viele Menschen zur Flucht. Wir nahmen sie damals als gute Nachbarn auf, auch in der Erwartung, dass viele von ihnen nach Kanada oder Australien weiterziehen würden. Auch Menschen, die nicht übermäßig politisch belesen waren, verstanden, worum es ging.
Wir konnten davon ausgehen, dass die zwei Weltkriege im 20. Jahrhundert und die indiskutable Zwischenkriegszeit, jedenfalls in Europa, den Menschen einen derart immensen Schaden zugefügt haben, dass danach viel Kraft darauf verwendet wurde, derartige Katastrophen grundsätzlich zu verhindern. Dementsprechend gab es eine bemerkenswerte säkulare Entwicklung, materiell, kulturell und politisch: Staaten erlangten ihre Souveränität, Menschen schlossen sich zu Friedensbewegungen zusammen, das europäische Modell entstand. Sogar die Spannungen zwischen Ost und West vergingen letztlich. Die Berliner Mauer fiel genauso wie der Eiserne Vorhang. Diese Erfolgserlebnisse haben den Menschen Hoffnung gegeben und ihnen gezeigt, dass es aufwärtsgeht; die sozialen Modelle der einzelnen Staaten bewährten sich. Die Schulbildung wurde immer besser, die Menschen profitierten vom Wiederaufbau.
Ab einem gewissen Wohlstand wuchs seine Vermehrung aber immer langsamer. Und nachdem es so lange nur aufwärtsgegangen war, passierten auf der Weltbühne plötzlich wieder Dinge, die unsere Zufriedenheit infrage stellten. Jahrzehntelang hatte Frieden geherrscht, doch in der ersten Hälfte der Neunzigerjahre brach direkt vor unserer Haustür, in Jugoslawien, ein Krieg aus. Mit der Wirtschaft war es lange bergauf gegangen, dann unterbrachen die internationale Energiekrise und der Ölpreisschock unsere scheinbar ungestörte Fahrt nach oben.
Die Finanzkrise 2008 duschte uns alle dann endgültig kalt ab. Auf einmal wurden Dinge hinterfragt, die vorher nie bezweifelt worden waren: ein abgesichertes Familieneinkommen, das sichere Sparbuch oder ein ausgebautes Netz von Transferleistungen, schließlich selbst unsere gemeinsame Währung. Der Euro schien plötzlich nicht sicher genug. Dabei wird völlig ausgeblendet, wie oft früher gegen den Schilling spekuliert worden war, wie oft war er nicht sicher genug erschienen.
Vor der Einführung des Euro hatte etwa die Abwertung der schwedischen und finnischen Währung über Nacht unsere Papierindustrie aus dem Markt geworfen. Die wenigsten Menschen wissen heute darüber Bescheid, weil die Dinge früher nicht so publik wurden. Wenn heute Maßnahmen getroffen werden, solche Taktiken zu verhindern, regen sich die Menschen auch darüber auf. Zum Beispiel über die Rettung der Banken. Doch hätten die europäischen Staaten sie im Zuge der Finanzkrise 2008 nicht gerettet, wäre der Schaden für die europäischen Volkswirtschaften wirklich groß geworden.
Erstmals seit 1945 wächst nun wieder eine Generation heran, der es nicht automatisch besser gehen wird als der vorherigen. Und die Schere zwischen Arm und Reich geht insgesamt auf. Stets habe ich auf den nötigen sozialen Ausgleich hingewiesen: Wir müssen diese wachsenden sozialen Unterschiede eindämmen, national wie international. Ein Grund dafür liegt auch in der nicht vorhandenen Steuergerechtigkeit und der Verantwortungslosigkeit jener, die sich weigern, ihren gerechten Anteil an den Staatskosten zu leisten. Wenn etwa Facebook jährlich mehrere Milliarden Euro Gewinn macht und in Großbritannien nicht einmal 10 000 Euro Steuern bezahlt, so ist augenscheinlich, dass der wirkliche Betrug am Staat nicht durch Hilfsbedürftige begangen wird, sondern durch jene, die sich weigern, ihren gerechten finanziellen Beitrag zum Funktionieren der gesamten Gesellschaft zu leisten. Die Ungleichheiten zwischen riesigen Gewinnen einzelner Personen oder Konzerne und der Armut nehmen auf der ganzen Welt zu. Dementsprechend erleben wir in Folge derzeit auch die größte Völkerwanderung der Geschichte samt ihren Auswirkungen auf Europa. Ebenso wird auch unser Kontinent verstärkt vom islamistischen Terrorismus erfasst. All diese Phänomene führen zu Unsicherheiten und Abstiegsängsten, die mittlerweile weit in die Mittelschicht hineinreichen. Bei vielen Menschen erzeugt das Zukunftspessimismus, bei etlichen auch eine Radikalisierung in Richtung Rechtspopulismus.
Gleichzeitig sinkt die Glaubwürdigkeit der Politik. Den Regierenden wird immer weniger zugetraut, etwas gegen die vergrößerten gesellschaftlichen Spannungen und Spaltungen unternehmen zu können. Die Arbeitslosigkeit ist immer noch sehr hoch, die soziale Spaltung wächst, und für das Flüchtlingsproblem gibt es auch nach jahrelanger Krise keine wirkliche Lösung. Daher sehen sich viele Bürger nach Alternativen um. Das führt sogar dazu, dass bisher unumstrittene Positionen langsam verblassen, auch der allerorts beschworene Anti-Faschismus.
Auch die rasanten Veränderungen der Weltpolitik überfordern viele Menschen. Früher gab es einen West- und einen Ostblock. Der Bevölkerung war klar, die Türken leben generell in ärmeren Verhältnissen, darum kommen sie zu uns als Gastarbeiter. Die Gründe für diese Zuwanderung waren deutlich. In unserer heutigen global vernetzten Welt ist aber die Verunsicherung groß, etwa was die aktuelle Syrien-Krise betrifft: Welche Rolle spielt Russland? Welche Rolle spielt der amerikanische Imperialismus? Welche Rolle spielen arabische Gruppierungen? Wer sind diese Menschen, die zu uns nach Österreich kommen? Sind das leidende Opfer oder bösartige Terroristen? Eines verstehen die Leute aber schon: Offensichtlich gibt es keine Ordnungsmacht, die diese Probleme lösen und dafür sorgen kann, dass Syrer und Iraker nicht mehr in Massen nach Europa strömen.
Wir sind in Europa natürlich nicht die Einzigen, für die die Welt kompliziert geworden ist. Ich habe einen pakistanischen Freund, der teilweise in Wien lebt. Seine Schwester ist Universitätsdozentin in Lahore. Sie beschäftigt sich dort mit Feminismus. Ihr wurde nahegelegt, entweder ihr Thema zu ändern oder die Universität zu verlassen. Das brachte uns auf die generellen Verhältnisse in Pakistan. »Welche der beiden islamischen Glaubensrichtungen hat momentan das Sagen in Pakistan? Sunniten oder Schiiten?«, wollte ich wissen. »In letzter Zeit geben die Wahabiten den Ton an.« Das Leben wird in allen Ecken der Welt komplexer. Das Gefühl, dass es niemanden gibt, der die großen internationalen Probleme in den Griff bekommt, verstärkt die Ohnmacht der Bürger. Die Amerikaner versuchten in den letzten Jahrzehnten wiederholt, Weltpolizei zu spielen, nur richteten sie leider oft damit mehr Schaden an, als sie halfen. Ich erinnere mich daran, dass George Bush meinte, die amerikanischen Soldaten müssen im Irak eingreifen und die Demokratie herbeiführen. Das war lachhaft und zeugte von einem Intelligenzdefizit.
Die Welt wird physisch enger. Früher wäre die Syrien-Krise weit weg, heute kommt sie in Form von tausenden Flüchtlingen direkt zu uns. Es ist nicht absehbar, dass das in nächster Zeit aufhören wird.
Im Gegenteil, allein durch die Klimaerwärmung wird die Zahl afrikanischer Flüchtlinge weiter steigen. Die Menschen dort verlieren ihre Lebensgrundlage und ziehen in Richtung Norden oder Süden. In Südafrika gibt es immer wieder Gewalttaten gegen Nigerianer und andere Einwanderer. Im Libanon leben zwei Millionen Flüchtlinge, mehr als ein Viertel der Gesamtbevölkerung. Das registrieren wir in Europa kaum, wir diskutieren über eine Obergrenze von einigen Tausend Flüchtlingen.
Wir können es uns nicht mehr leisten, so zu tun, als würde das ganze Chaos uns nichts angehen. Die überforderten Bürger der westlichen Welt wünschen sich einen Zaun oder eine Mauer, um nur ja die Probleme draußen zu halten: Das Kind, das nicht entdeckt werden will, schließt die Augen. Das ist die Grundeinstellung: Ich will gar nichts hören oder sehen, dann geht es mich nichts an. Das ist eine Illusion.
Es geht uns sehr wohl an, was am anderen Ende der Welt passiert. Wenn die Arbeitsbedingungen in einem asiatischen Land so schlecht sind, dass Arbeitskräfte für einen Euro am Tag arbeiten müssen, betrifft uns das direkt. Denn gerade als schlecht ausgebildeter Arbeiter konkurriert man heute nicht mehr bloß mit den anderen inländischen Arbeitskräften, man steht in direkter Konkurrenz zum Arbeiter in Indonesien. Wenn es sich für eine Firma rechnet, ihre Produktion nach Asien zu verlegen, ist der Arbeitsplatz in Österreich Geschichte. Selbst gut ausgebildete Leute betrifft das: Chinesische und japanische Fachkräfte konkurrieren mit gut ausgebildeten Europäern um die gleichen Jobs. Wir können uns nicht abschotten. Dazu kommt, dass die Erdbevölkerung heute so schnell wächst wie noch nie. Früher wuchs sie jährlich im Promillebereich, heute pro Sekunde um 2,5 Personen. Heute sind wir bei 7,47 Milliarden Menschen, 2050 werden es 9,6 Milliarden sein.
Dazu kommt: Die Medienberichte aus den Krisenzentren der Welt sind auch von Interessierten schwer zu überprüfen. Nach Europa kommen derzeit viele Menschen aus Syrien, dem Irak, aus Afghanistan, früher aus Tschetschenien, demnächst wohl verstärkt aus Afrika. Die Schlepper sind eine eigene Wirtschaftsbranche geworden. Viele Menschen, mich eingeschlossen, verstehen nicht, warum man sie nicht wirksamer bekämpfen kann.
Drei Widersprüche in diesem Zusammenhang: Human betriebene Flüchtlingszentren außerhalb Europas würden viel helfen, ebenso wirtschaftliche Investitionen. Besonders wichtig dafür wäre Libyen – aber das ist ein Land, das durch seine Instabilität für eine solche Zusammenarbeit derzeit ungeeignet erscheint. Vermutlich noch länger, trotz aller französischer Vermittlungsversuche.
Oder: NGOS wie »Ärzte ohne Grenzen« werden von vielen Menschen bewundert, sie wollen Flüchtlingen mit viel privatem Einsatz und Risiko helfen. Aber Kritiker werfen ihnen vor, sie würden eigentlich den Schleppern in die Hände arbeiten.
Oder: Wir wollen Kriegsflüchtlingen, die vor Bomben, Islamisten und Giftgas-Angriffen fliehen und ihr Heimatland verlassen müssen, helfen. Aber daneben gibt es auch Wirtschaftsflüchtlinge. Man muss ihre Motive natürlich respektieren – aber auch die Bedenken vieler Europäer, für so viele Zuwanderer nicht genügend Platz zu haben, nicht nur im örtlichen, sondern auch im kulturellen Sinn.
Verwirrend auch die direkten Kriegsmeldungen. Donald Trump ordert als Reaktion auf einen Giftgas-Angriff einen Luftschlag in Syrien an. Kritiker wiederum meinen, er verfolge in dieser Region ganz andere Ziele, jedenfalls auch Waffenverkäufe in großem Stil nach Saudi-Arabien. Dem dortigen feudalistischen Wahhabiten-Regime verspricht er Unterstützung gegen das neue »Reich des Bösen«, den Iran, obwohl dort gerade in einer vergleichsweise demokratischen Wahl ein relativ gemäßigter Präsident gekürt worden ist.
Russland wiederum unterstützt den syrischen Machthaber Assad, möchte aber keine direkte Konfrontation mit den USA. Europa will wie die USA Assad gestürzt sehen, obwohl die Europäer lange Zeit mit ihm ähnlich kooperiert haben wie mit jenen Diktatoren, die im Zuge des Arabischen Frühlings gestürzt wurden. Bekanntlich folgten dann meist nicht Demokratien, sondern chaotische Zustände mit starken islamistischen Kräften.
Ähnlich wie gegen Gaddafi oder zuvor gegen Saddam Hussein unterstützen einzelne europäische Staaten und die USA die Rebellen in Syrien und tragen damit erst recht zum Chaos bei. Dort gibt es neben dem nun zurückgedrängten Islamistischen Staat und den Truppen Assads bis zu zwanzig verschiedene Gruppierungen, von denen etliche untereinander heftig zerstritten sind, weil – nicht nur in dieser Region – ein heftiger innerislamischer Religionskrieg zwischen Sunniten und Schiiten tobt. Er ist von den fatalen Konsequenzen her höchstens noch vergleichbar mit dem innerchristlichen Zwist nach der Reformation, der unter anderem zum Dreißigjährigen Krieg führte.
Wer bitte soll da noch den Überblick bewahren? Die Welt ist eben viel komplizierter als früher. Es gibt mehrere politische, wirtschaftliche und militärische Machtzentren neben den früheren zwei. Die USA sind vielleicht militärisch noch die einzige Supermacht der Welt, wirtschaftlich sind ihnen in Asien und Europa längst ebenbürtige Konkurrenten entstanden. Und Russland sehnt sich unter Putin merkbar nach früherem Einfluss. Gleichzeitig sind die Möglichkeiten internationaler Organisationen wie der UNO oder auch der EU begrenzt. Der Politik insgesamt stehen weniger Instrumente zur Verfügung, während die Lösung der Probleme immer komplizierter wird, speziell auf internationaler Ebene.
Dabei sind die Erwartungshaltungen vieler Menschen die gleichen geblieben. Wenn sich Lösungen gar nicht finden lassen, zu lange brauchen oder zu kompliziert sind, dann denken sie: Dann machen wir es eben selber. Das kann zu krassen Formen von Respektlosigkeit führen gegen alles, das anders ist. Und zu einem Nationalismus, der stets die Gefahr von unversöhnlichen Zwistigkeiten und Kriegen in sich birgt und gerade auf unserem Kontinent zu zwei großen Weltkriegen geführt hat.