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ÜBERFORDERUNG IN DER DIGITALISIERTEN WELT

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Nicht nur Krisen, Konflikte oder Kriege beunruhigen, verwirren und können damit auch ein respektvolles Miteinander stören, auch die abrupten Veränderungen im privaten, alltäglichen Bereich tun das, obwohl sie auch viele Erleichterungen und Chancen bieten. Beispielsweise die Digitalisierung. Wir alle benutzen gerne unsere Mobiltelefone, denn sie machen unser Leben einfacher. Gleichzeitig sind damit aber auch Überwachungsmöglichkeiten verbunden, die viele Menschen ebenso verunsichern wie die Neuartigkeit anderer digitaler Entwicklungen.

Schon ein einfacher Bankbesuch kann eine komplizierte Angelegenheit sein. Man muss sich die lange IBAN und die BIC-Nummer merken, und für jedes neue Gerät, das erfunden wird, gleich einen PIN-Code. Viele Menschen kommen mit den Neuerungen nicht mit oder wollen gar nicht mitkommen. Besonders Menschen über 60, die nicht beruflich dazu gezwungen sind, einigermaßen mit der digitalen Revolution schrittzuhalten, bleiben auf der Strecke.

Dazu verändert sich auch die Sprache. Bei größeren Firmen reden Führungspersonen in einer Sprache, gegen die im Vergleich sogar die Sprache der Politiker noch nahe an den Menschen ist. Viele technische Neuerungen werden bereits in einer Fachsprache geschildert, die viele ratlos zurücklässt.

Ich war selbst einmal bei einem Interview über wirtschaftliche Themen, bei dem ich nach einigen Minuten fragen musste: »Hören Sie, können Sie mir das bitte in zwei Sätzen ausdeutschen, was Sie mir da in Ihrem Fachchinesisch erzählt haben?« Vielen Experten fällt es oft gar nicht auf, dass sie sich gegenüber den meisten anderen Menschen gar nicht mehr verständlich artikulieren können.

Für viele Menschen ist die Zeit, in der sie einen Fernseher kaufen, anschließen und in Betrieb nehmen konnten wegen der technischen Herausforderungen, die ein neues Gerät an sie stellt, längst vorbei. Unlängst wurde dann auch noch das analoge Fernsehen abgeschafft, jeder bekam eine Digital-Box, und jetzt stellt der Kabelbetreiber UPC sein Programm neuerlich um, und wer das volle Programm empfangen will, braucht eine dritte Box. Die muss man wieder richtig einstellen. Selbst einige McDonald’s-Filialen haben schon das Bestellen bei Menschen abgeschafft. Früher ging man zu einer Kassa, sagte, was man wollte, bezahlte, und währenddessen kam das Gewünschte. In einigen Filialen geht es mit Bestellvorgängen an einem Automaten inzwischen schon zu wie beim Einchecken am Flughafen.

Dabei ist es bei uns noch besser als anderswo auf der Welt. In den USA sind diese Probleme noch größer. Als ich das letzte Mal dort war, wollte ich mit der Eisenbahn von New York nach Washington fahren. Das war der reinste Spießrutenlauf. Ich hatte dabei nie mit Menschen zu tun. Bei einem Automaten bekam ich nach Bezahlung einen Schein, natürlich nur mit Kreditkartenzahlung, Bargeld wurde nicht genommen. Mit diesem Schein musste ich zu einem anderen Automaten, um dort die Einstiegskarte zu erhalten. Mit der Einstiegskarte musste ich dann noch durch zwei elektronisch gesteuerte Schranken, bevor ich den Zug überhaupt sah. Ich war ein wenig verloren. Meine Englischkenntnisse sind wirklich nicht schlecht, aber die Hinweise auf diesen Automaten konnten alles bedeuten. Zum Glück stand zufällig ein uniformierter Angestellter in der Halle, der mir schließlich half.

Diese scheinbare Unterordnung unter Maschinen verstärkt das Gefühl vieler Menschen, in einer chaotischen, unübersichtlichen Welt zu leben. Das verunsichernde Gefühl der Überforderung kann sie aggressiv machen, respektlos und feindselig gegenüber allem Neuen und allen Anderen. Tenor vieler Beschwerden: »Jeden Tag müssen wir etwas Neues lernen, und trotzdem übernehmen scheinbar die Maschinen allmählich die Macht.« Überall an den modernen gesellschaftlichen Schnittstellen, in den Banken, auf den Flughäfen, ersetzt die Interaktion mit Maschinen die zwischen Menschen. Und Wissenschaftler arbeiten schon längst an der Entwicklung der »künstlichen Intelligenz«: Maschinen sollen eigenständig selbst Maschinen entwickeln. Noch ist es nicht gelungen, menschliche Verstandesleistungen als Ganzes mit Maschinen nachzuvollziehen, die Forschung konzentriert sich auf Teilbereiche, auch um weitere Arbeitserleichterungen für die Menschen zu schaffen. Aber auch positive Aspekte – Roboter übernehmen in Japan sogar Hilfsdienste in Krankenhäusern – überwinden nicht die Skepsis von überforderten, weil zu wenig informierten Menschen.

Nun ist es weder die Aufgabe der Banken noch der Flughäfen, weder der Finanzwelt noch der Industrie, ein Orientierungssystem für diese neue Welt zu schaffen. Das ist vielmehr Aufgabe der Politik. Kommt sie dieser Aufgabe nicht nach, verschuldet sie politische Instabilität und verstärkt zudem die Kluft zwischen den Generationen. Die Jüngeren haben nämlich viel mehr Möglichkeiten, mit der neuen Sprache und den neuen Verhaltensmustern mitzukommen. Währenddessen geraten viele Ältere an die Grenze zum digitalen Analphabetismus. Ein Problem, das ernster ist, als viele denken: Hier geht es um einen zentralen Zusammenhalt der Gesellschaft.

Man müsste sich im Detail ansehen, wo welche Menschen in dieser Entwicklungsphase stehen und sie mit unterstützenden Erklärungen abholen. Im Fall der Banken zum Beispiel würde das eine engere Zusammenarbeit zwischen ihnen und der Politik bedingen. Andernfalls werden die Überforderten früher oder später Aggressionen entwickeln und sie auf die Politik projizieren. Zu Recht, denn wer sich mit einer Bank, einem Amt oder einem Flughafen nicht mehr auskennt, verliert das Gefühl von Geborgenheit in seiner eigenen Heimat.

Zur Verunsicherung trägt neben der digitalen Revolution auch das Verschwinden gemeinschaftlicher Institutionen bei. Am Land zum Beispiel werden nicht nur Schulen und Kindergärten geschlossen, auch Postämter, Trafiken, kleine Geschäfte, ehemals Kumulations- und Kommunikationspunkte des öffentlichen Lebens, lösen sich auf. Es gibt in dieser Hinsicht immer weniger Orte, an denen sich die Menschen geborgen fühlen können, immer weniger soziale Netze und Treffpunkte.

Vor 50 Jahren gab es im und am Lande den Schuster, den Kaufmann, die eine Partei und die andere Partei. Heute fühlen sich die meisten Menschen mit den viel komplizierteren Zusammenhängen schlicht überfordert. Die Kapitalisierung und das als notwendig erachtete Profitdenken bringen unglaubliche Wandlungen mit sich.

Überall in Österreich werden Bank- und Postfilialen zugesperrt, die Infrastruktur leidet. Als Helmut Mödlhammer von der Leitung des Gemeindebundes zurücktrat, nannte er diesen ländlichen Mangel an Infrastruktur das größte Problem vieler Gemeinden. Der Bankomat in einem kleinen Ort rentiert sich für eine Bank nicht, es wird zu wenig Geld abgehoben, also wird er abgezogen. Die Bank spart Geld, aber die Bewohner haben auf einmal keine einfache Möglichkeit mehr, an Bargeld zu gelangen. Dann vertröstet man diese Menschen, sie sollen doch einfach Telebanking verwenden. Im Prinzip richtig, aber für viele, die gar keinen Computer haben oder das Handy nicht entsprechend bedienen können, keine wirkliche Lösung. Es gibt ländliche Gegenden, in denen man eine halbe Stunde mit dem Auto fahren muss, um zu einem Bankomaten zu kommen.

Was zur nächsten Furcht beiträgt: die Abschaffung des Bargeldes an sich. Oder zur gänzlichen Abschaffung der Bankfilialen. Vor Kurzem haben wir einen Brief von der Wäscherei erhalten, in der unsere Vorhänge gereinigt werden: Künftig würden keine Zahlscheine mehr verschickt, man müsse per Online-Banking bezahlen. Am nächsten Tag kam ein Brief unserer Hausbank: Beim Gebrauch der Bankomat- und Kreditkarten wird wieder irgendeine Änderung durchgeführt. Der Brief beinhaltet ein ganzes Feuerwerk an technischen Ausdrücken ohne wirkliche Erklärung. Wer damit beruflich nichts zu tun hat, hat es schwer.

Die treibende Kraft hinter solchen Rationalisierungen ist der Wunsch, Kosten einzusparen, vornehmlich beim Personal. Konzerne, die wirtschaftlich agieren, werden immer so vorgehen. Das wird die Politik nicht aufhalten können. Es geht aber darum, die Begleiterscheinungen besser zu gestalten und zu erklären. Es wird bald so weit kommen, dass jeder Mensch verpflichtet ist, einen Computer daheim zu haben. Es gibt aber genügend Menschen, die keine Internetanschlüsse haben und auch gar keine wollen. Die Politik muss sicherstellen, dass auch für sie gesorgt ist. Sonst lässt sie den Menschen nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie passen sich den immer kürzer werdenden Innovationsfristen an, oder sie gehen unter.

Denn in der heutigen globalisierten Welt geht es immer schneller, rasanter, fordernder zu. Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Kommunikation haben für alle Menschen eine ungeheuer rasante Entwicklung genommen. Die technologischen Errungenschaften in den Bereichen Kommunikation und Transport haben die Welt und die Weltwirtschaft zum globalen Dorf vernetzt. Diese Umbrüche bringen Chancen für sozialen, demokratischen, ökologischen und wirtschaftlichen Fortschritt zum Wohl aller mit sich. Die Öffnung von Grenzen und Märkten, die Digitalisierung mit ihren gigantischen Möglichkeiten, die Roboterisierung der Arbeitsprozesse, die Zeit und Raum übergreifende Kommunikation – das alles kann dazu beitragen, Hunger, Armut und Krankheit weltweit zu bekämpfen und Wohlstand zu mehren. Dieser Wandel wird die Art und Weise, wie wir arbeiten, wie wir wohnen, wie wir uns bewegen, wie wir insgesamt leben revolutionär verändern. Und diese Veränderungen werden nur eine Richtung kennen, die der Beschleunigung. Unser Verständnis muss es sein, positiv an diese Chancen heranzugehen. Die Zeit zurückzudrehen, die Uhren der Geschichte aufzuhalten, das wird nicht funktionieren.

Diese Umbrüche bringen eben auch Risiken mit sich: wachsende Ungleichheit nicht nur zwischen im materiellen Sinn Reicheren und Ärmeren, sondern auch zwischen Modernisierungsgewinnern und -verlierern, zwischen Wissenden und Wenigerwissenden, zwischen jenen, die sich den Folgen von Globalisierung und Digitalisierung stellen können und jenen, die das nicht tun (können).

Für viele Menschen stellt die global vernetzte Gesellschaft, in der wir heute leben, deswegen keine Chance, sondern eine Bedrohung dar. Es wäre verantwortungslos, sie darin zu bestärken, es geht aber sehr wohl darum, diese Ängste zu respektieren. Nur dann kann es gelingen, sie Zug um Zug aufzuweichen.

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