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Gebete zum heiligen Michael

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Zwei Jahre später hatte ich diese Szene schon längst wieder vergessen. Ich hatte die fünf Klassen der Volksschule meines Heimatortes absolviert und war nun, zehn Jahre alt, frischgebackener Zögling im Jesuiteninternat Kalksburg bei Wien, einer Kaderschule des mittel- und südosteuropäischen Katholizismus, zu der mir ein Gönner meines Vaters, ein Graf H., selbst ehemals Kalksburger Zögling, den Zugang, den für Söhne bürgerlicher Herkunft zu finden nicht eben leicht war, geöffnet hatte. Es war Mitte September 1932 gewesen, als ich mit meinem Vater im Zug dahin gefahren war; zögernd hatte ich das riesenhafte, einer straßenlosen weißen Stadt gleichende Konviktgebäude betreten und war dann in einem wohl kilometerlangen, von hohen Fenstern erhellten Korridor gestanden, in dem, fern, schwarzgekuttete Mönche mit kaum mehr wahrnehmbaren Schritten dahinwandelten. Der Korridor war, wie mir schien, wohl tausendmal länger als der Korridor meiner Heimatschule, der doch schon so lang war, daß man sich drin verloren vorkam, und er war hoch wie die Halle einer Kirche, seine Wände waren bis in Kopfhöhe mit braunem Holz getäfelt, und über dem braunen Holz, zwischen Fenster und Fenster und Tür und Tür, hingen Gemälde von Heiligen und Schlachten. Im Korridor herrschte Grabesstille; lautlos, wie auf Schienen, glitten die Mönche dahin. Zögernd traten wir ein; unsere Schritte hallten; wir gingen auf den Zehenspitzen. Eine lederbeschlagne Tür tat sich auf, und ein Mönch trat heraus; mein Vater näherte sich ihm mit einer tiefen Verbeugung, die der Mönch mit einem leichten Neigen des Hauptes erwiderte; die beiden Männer flüsterten miteinander, dann nahm mich der Schwarzgekuttete, ein hagerer Mann mit gekrümmtem Rücken, bei der Hand und führte mich eine Treppe hinauf, und plötzlich stand ich dann in einem Saal, der wie ein Klassenzimmer aussah, nur daß die Fenster viel höher und die Tafel viel größer und die Bänke viel bauschiger als in meiner alten Schule waren, und in dem Klassensaal stand ein hochgewachsener blonder Mönch mit einer mächtigen Hornbrille, und der Mann, der uns geführt hatte, sagte, das sei Pater Kornelius Schmid, der mir nun die Aufnahmeprüfung abnehmen werde, und ich solle keine Angst haben und schön ruhig dabei bleiben, und dann ging mein Vater mit dem Mönch hinaus und ich stand allein in dem großen Raum und Pater Kornelius Schmid nahm die Brille ab und putzte sie und sagte: »Na, dann wollen wir mal sehn, was für Kräuterl in deinem Kopferl wachsen, mein Freunderl«, und er knuffte mich in die Seite und blinzelte und plötzlich machte die Sache Spaß. Ich stand an der Tafel und rechnete und schrieb und nannte Namen von Königen und Daten von Schlachten; der Pater fragte schneller und schneller und ich schleuderte mein Wissen aus dem Gedächtnis, es war ein gewaltiger Spaß, und ich war gerade im schönsten Eifer, als der blonde Pater lachte und sagte, es sei schon gut. Ich sagte unwillkürlich: »Schade!« und seufzte dabei, und Pater Schmid lachte; dann war mein Vater wieder da, und er lachte und weinte zugleich und drückte mich an die Brust, und dann gingen wir in einen Kontorsaal, in dem zwei alte Geistliche saßen, und mein Vater unterschrieb einen Aktenbogen, und dann zählte er viele große Geldscheine auf den Tisch, eine ganze Brieftasche voll Geld, und ich war stolz, weil Kalksburg so wahnsinnig teuer und vornehm war.

Dann fuhren wir mit einer Taxe nach Wien; es war das erste Mal, daß ich in einem richtigen Auto fuhr, und ich erinnere mich, daß es herrlich nach Benzin stank, ich wurde ganz schwindlig im Kopf, so herrlich stank es, und ich saß neben dem Fahrer und schaute hinaus in das Hügelland, das grün vorbeiflog, und ich war John Dillinger, der Gangsterkönig, der wieder einmal aus dem Zuchthaus entsprungen war und nun zu seiner Bande eilte, hinter sich die Polizei, die wie rasend aus ihren Pistolen schoß, doch Dillingers Wagen war der schnellste und das Glas seiner Fenster war kugelfest. Dann hielt der Wagen und Vater zahlte, und dann saßen wir in einem Märchensaal aus Gold und Kristall, das in allen Farben des Regenbogens spielte; ein Kellner, auf dessen schwarzem Frack kein einziger Flecken war, präsentierte mir, sich verneigend, auf dem ausgestreckten Arm eine Silberplatte, in deren sechsunddreißig Mulden sechsunddreißig köstliche Bissen lagen: Sardinen und Lachs und Sardellen und rosa Fleischkringlein und Tütchen aus Schinken, mit hauchdünnen Scheibchen von Gurken verziert und mit Kräutern umlegt, die ich nicht einmal dem Namen nach kannte, und auf einem runden Stückchen gerösteten Brots waren schwarze Eilein von Fischen gehäuft, und mein Vater sagte, das solle ich essen, das sei echter russischer Kaviar. Der Kellner hielt die riesige Platte ruhig auf dem gestreckten Arm und sagte: »Belieben S’ nur anzuschaffen, junger Herr!«; ich schaute schüchtern auf einen Sardinenrücken, an den ein Scheibchen Zitronenfleisch zärtlich sich schmiegte, und mein Vater lachte und füllte meinen Teller mit zwölf der köstlichen Bissen und leerte selbst dann zwölf Mulden aus. Ich erschrak, was mochte das kosten, doch mein Vater sagte, das sei das Ohrdöfer, die Vorspeisenplatte, die berühmte Ohrdöferplatte des berühmten Hotels Sacher, in dem wir nun speisten, und er sagte, es sei ganz egal, ob man ein Ohrdöfer nehme oder die ganze Platte, das koste alles dasselbe Geld, das eben sei das erstklassig Vornehme daran. Ich fragte, warum wir uns den Rest nicht einpackten und mitnähmen, aber Vater sagte, das sei gar nicht vornehm, das könnten wir zu Haus im Gasthaus Zum Rübezahl machen, aber doch nicht hier im Hotel Sacher in Wien, wo Grafen, Fürsten und Minister speisten, die Creme der Gesellschaft, und ich sah mich verstohlen um und sah plaudernde Herren im Smoking und Damen in seidenen Kleidern mit blitzenden Ringen und Spangen und Ketten, und eine gar trug einen Goldreif in der hohen Frisur, und ich nahm mich zusammen, um Vater nicht zu blamieren, und gab höllisch acht, daß mir kein Bissen von der Gabel rutschte. Der Kaviar schmeckte mir gar nicht, er war ölig und salzig, aber ich aß ihn hinunter, weil er das Vornehmste war, und mein Vater sagte, es sei ja hier sündhaft teuer, das stimme schon, doch heute sei ihm für mich das Beste grad gut genug. Dabei legte er einen Arm um meine Schulter und sagte, ich hätte die Prüfung mit Auszeichnung bestanden, summa cum laude, mit höchstem Lob, so eine Begabung sei noch nicht dagewesen, habe Pater Schmid gesagt, und dann tranken wir Gespritzten und in den Gläsern brach sich das Licht der Lüster und die Geigen sangen leise ihr himmlisches Lied. Ich war vollkommen glücklich; ich saß wie berauscht zwischen Gold und Kristall, und mein Vater sagte, ich könne mir gar nicht vorstellen, was es bedeute, ein Kalksburger Zögling geworden zu sein: die Tür, die zur großen Welt führe, hätte ich mit der bestandenen Prüfung durchschritten, und er zählte mir auf, was ich alles werden könnte, wenn ich Kalksburg absolviert hätte: Bürgermeister, Gesandter, Professor, Regierungsrat, Abgeordneter, Staatssekretär, ja so gar Minister, Vertrauter im Kreise der Exzellenzen, Auserwählter unter Auserwählten, und ich sah Gold und Kristall und Silberterrinen und dachte, daß ich mir als erstes Visitenkarten drucken lassen würde, wenn ich ein berühmter Mann wäre, denn Graf H. hatte auch Visitenkarten, goldgepreßte, mit einer Krone darauf und dem Grafentitel, und die ließ er immer durchs Dienstmädchen zu meinem Vater bringen, wenn er uns besuchte, und das schien mir das Feinste und Vornehmste von der ganzen Welt. Die Kalksburger wären eine verschworene Gemeinschaft, in der einer den andern stütze und voranbrächte, sagte mein Vater, und der Kellner mit dem Frack ohne Flecken legte mir eine Scheibe goldbraun gebratenen Mastochsenfleisches auf den Teller und wünschte mit gedämpfter Stimme einen gesegneten Appetit; da ging eine seltsame Veränderung vor.

Bislang war alles so wunderbar leise gewesen, nun wurde es plötzlich laut, Lärm brach polternd ins Plaudern der Gäste und ins Singen der Geigen, der goldene Raum hallte wider von Schritten und Rufen, im Takt scholl Geschrei, ein heiseres Schrein. Ich schrak zusammen; Messer und Gabel klirrten aufs Porzellan, doch die Gäste rings plauderten, als ob nichts geschähe, und der Kellner beugte sich lächelnd zu mir nieder und sagte, ich möge nicht erschrecken, das sein nur die Hallodris, die schlamperten, die würden wieder mal demonstrieren. »Ekelhaftes Gesindel«, sagte mein Vater unwillig, und der Takt der Stimme draußen schlug plötzlich um in einen Aufschrei der Wut, und dann hörte ich scharfe Kommandos und Trappen und Krachen; ich fuhr herum und sah entsetzt, daß sie mitten im Saal standen, mitten im Gold und Kristall standen drei mit verzerrten Gesichtern und stoppligem Kinn und geballten Fäusten, die sie drohend schwangen, und ich starrte in den bronzeumrahmten Spiegel gegenüber dem Fenster und begriff sofort, daß das die Kommune war. Ich hatte die Kommune noch nie gesehen, bei uns daheim gab es keine Kommune, da gab es nur brave, ehrliche Arbeiter, die grüßten, wie es sich gehörte, wenn sie meinem Vater begegneten, und die zur Seite traten, wenn er oder einer seines Standes an ihnen vorüberging! Die Fäuste fuhren hoch; ich dachte an die Arbeiter im Pharmaziebetrieb meines Vaters: an den Vojtek-Anton und den Heller-Fritzl und die Maschke-Anna und die andern sechs: undenkbar, daß sie die Fäuste ballten und auf der Straße schrien und aufbegehrten wie diese da, der Abschaum, die Kommune, die man an den Füßen aufhängen sollte, wie mein Vater immer sagte, wenn er beim Mittagessen uns die politische Lage erläuterte, und ich dachte empört, warum die das überhaupt dürften, dies Fäusteballen und Schrein, und warum die Polizei, die jetzt endlich auftauchte, nicht alle einsperrte, und dann plötzlich war alles wieder vorbei, es war wieder still, die Gespräche rauschten leise wie immer, die Frau mit dem goldenen Reif im Haar lächelte einem Herrn zu, und im bronzeumrahmten Glas gegenüber dem Fenster lag ruhig die Straße im milden Licht. Mein Vater stieß mich an: Ich solle essen, sagte er, der Rostbraten auf dem Teller würde kalt. Ich aß, doch es schmeckte mir nicht mehr recht, und ich lauschte, da ich aß, ob die Schreie nicht wiederkämen, und dann tat es mir plötzlich leid, daß ich versäumt hatte, auf die Straße oder wenigstens ans Fenster zu treten und Aug in Aug mit der Kommune zu stehen, und ich sagte mechanisch die Worte, die mein Vater immer an den Schluß seiner Mittagsbetrachtung zu setzen pflegte: »Der Führer wird ja bald Ordnung schaffen im Reich!« Ich dachte, daß mein Vater mir beipflichten würde, aber der trat mir auf den Fuß und zischte, ich solle in Kalksburg ja nicht von Hitler sprechen, man sei hier für Doll-fuß, und außerdem, so sagte mein Vater, würde der Führer wohl nicht durchkommen im Reich, und als ich verwundert fragte: »Warum?«, sagte mein Vater, das hänge mit den Wahlen zusammen und das verstünde ich noch nicht, das würde ich erst später verstehen. Dann stießen wir ein zweites und ein drittes Mal auf eine glückliche Zukunft und auf Kalksburg und auf mein Studium an, und ich dachte dabei trotzig, daß der Führer eines Tages doch siegen werde.

Doch an den Tag, an dem der Führer dann siegte, erinnere ich mich überhaupt nicht mehr. Ich hatte andre Sorgen; es machte mir große Müh, mich in die spartanische Disziplin des Klosterlebens zu fügen, in den immer gleichen Takt jener grauen Tage, die mit der heiligen Messe begannen und mit der Abendandacht endeten und deren unerbittlich genau eingeteilte Stunden zumeist, mit Ausnahme der Schulpausen, der Mahlzeiten und zweier Spielstunden, schweigend zugebracht werden mußten. Schweigend, in Doppelreihen und den Kopf, wie es Vorschrift war, gesenkt, so daß der Blick demütig an die Fersen des Vordermanns, der seinerseits wieder auf die Fersen seines Vordermanns sah, sich heftete, schritten wir durch die endlosen Korridore zur Kapelle und zum Studiensaal und zum Klassenzimmer, schweigend knieten wir auf der Fußraste der Kirchbank, schweigend saßen wir über Bücher und Hefte gebeugt, und schweigend mußten wir die Strafen entgegennehmen: die Haselrohrhiebe der Patres Professoren und die Kopfnüsse und Nackenschläge des Paters Präfekten, unsres Aufsehers außerhalb der Unterrichtszeit, und so waren im gleichen Takt die Tage seit meiner Aufnahme grau hingeronnen, und nur ein Tag steht heller in meinem Gedächtnis: der 15. Januar 1933, mein elfter Geburtstag. Es durfte uns zum Geburts- und Namenstag nämlich ein Fünf-Kilo-Paket mit Lebensmitteln gesandt werden, das wir zwar nicht ausgehändigt bekamen, aber dessen Inhalt der Küchenpräfekt in vierzehn Tagesportionen aufteilte, die dem glücklichen Empfänger zum Frühstück auf seinen Platz an der gemeinsamen Tafel gelegt wurden, eine hochwillkommene Ergänzung des immer gleichen Frühstücksgedecks, das aus Malzkaffee, einer Semmel und einem Löffel Marmelade bestand. Am Abend des Vortags, als um acht Uhr das Licht unsres Schlafsaals, in dem wir in kleinen, vorn durch einen Vorhang verhängten Holzkabinen lagen, gelöscht wurde, hatte ich schon sehnsüchtig an den gefüllten Teller gedacht, der, hoffentlich, morgen neben meiner Kaffeetasse stehen würde, und ich hatte schnell zum heiligen Aloysius, dem Schutzpatron des Konvikts, gebetet, daß sich das Paket auch ja nicht verspäte; mein erster Gedanke um fünf Uhr morgens, als die Glocke des Paters Präfekten uns gellend weckte, war nicht, wie empfohlen, ein Stoßgebet zur Heiligen Mutter Gottes, sondern eine sündhafte Vorfreude auf Sardinen und Keks, und sogar bei der heiligen Messe ertappte ich mich bei lüsternen Gedanken an Leckeres. Dann schritten wir, schweigend, den Kopf gesenkt und den Blick auf die Fersen des Vordermannes gerichtet, den endlosen Gang zum Studienraum hinüber und absolvierten dort schweigend unser einstündiges Morgenstudium, dann, nach dem Klingel-signal, erhoben wir uns und formten uns wieder zu Doppelreihen und schritten, schweigend und mit gesenktem Kopf, den endlosen Gang zurück und die Treppe zum Speisesaal hinunter, und da schlug ich, der Vorschrift zum Trotz, die Augen hoch, und da, wahrhaftig, prangte an meinem Platz ein gefüllter Teller. Ich erkannte ein Stück Rosinenstollen und eine Büchse Sardinen und einen Schokoladenriegel und Obst und einen – wie immer geöffneten – Brief. Dann stand ich schweigend vor den Herrlichkeiten und hatte die Hände gefaltet und betete das Tischgebet, das der diensthabende Pater Präfekt uns vorsprach, und dann endlich wurde das Zeichen zum Hinsetzen gegeben und, da keiner im Gang den Kopf gehoben und keiner dem andern etwas zugeflüstert hatte, auch das Zeichen zur Sprecherlaubnis. Die Stimmen schwirrten jäh auf wie ein Spatzenschwarm, der vom Baum braust; die Teller meiner Tischnachbarn streckten sich meinen Schätzen entgegen und ich teilte Sardinen und Kekse und Äpfel aus, nur der Schiller Friedrich, der Tscheche, der links neben mir saß, bekam nichts, er hatte mir ja auch nichts von seinem Paket abgegeben. Diese Frühstücksfreuden währten zwei volle Wochen, das weiß ich genau, dann wurden die Tage wieder öd wie immer, und einer jener öden Tage muß auch der Tag gewesen sein, da im fernen Reich Adolf Hitler die Macht ergriff, um die Kommune auszurotten, doch ich erinnere mich daran nicht mehr. Ich weiß nur, daß wir von Hitler im Kloster nicht sprechen durften und daß es einmal eine ungeheure Untersuchung gab, weil an einer Tafel ein Hakenkreuz gemalt war, und daß eine Gruppe von Quintanern dann ausgeschlossen wurde, und ich weiß, daß ich diese Quintaner bewunderte.

Sonst weiß ich vom Jahr 1933 nicht viel; unvergeßlich hingegen wird mir ein Tag aus dem Jahr danach bleiben, ein Februartag mit dicken Eiskrusten auf den Bäumen und harschem Schnee auf den segnenden Händen der Muttergottesstatue im Park. Es war der Nachmittag des Faschingsmontags; am Tag zuvor hatten wir im Schülertheater Raimunds »Bauer als Millionär« gesehen und gerührt Wurzels Preislied der Zufriedenheit angehört und freuten uns nun, morgen ins Kino nach Rodaun gehen zu können, wo wir den Tonfilm »Der Herzog von Reichstadt« sehen sollten, als, es war um die dritte Mittagsstunde und wir hatten gerade Spielpause, plötzlich das Licht ausging und der Spielsaal im Halbdunkel lag. Ich war ärgerlich, daß das Licht ausgegangen war, denn ich spielte gerade Tischtennis und verfehlte einen sicheren Ball; dann aber freute ich mich mit den andern ob des günstigen Zeichens, denn in einer Viertelstunde sollte das dreistündige Nachmittagsstudium beginnen, das, wenn es kein Licht gab, wohl ausfallen mußte. Ich entsinne mich, daß wir wetteten, ob das Licht bis zum Beginn des Studiums wieder brennen würde; ich wettete dagegen und mein Freund, der Graf Staffperg, ein schmaler, zarter Junge, dafür; ich weiß noch, daß ich gewann: Das Licht blieb aus, es war schummrig im Raum, und dann rief jemand im Gang nach dem Pater Präfekten. Der Pater Präfekt, ein kleiner Mann mit verkniffnem Gesicht, stieg von seinem kanzelartigen Pult und ging hinaus. Nach einer kleinen Weile kam er mit einer brennenden Kerze in der Hand zurück und sagte, wir sollten uns setzen, er würde uns aus einem lustigen Buch vorlesen. Dergleichen war noch nie geschehen, und da er das sagte, zitterte, so schien mir wenigstens, seine Stimme, die doch sonst so zischend scharf klang, und plötzlich wurde ich unruhig und die andern auch. War etwas geschehen? Warum brannte das Licht noch nicht? Vorigen Winter war das Licht auch einmal ausgeblieben, doch da war der Schaden in wenigen Minuten behoben gewesen, und nun brannte schon über eine Stunde kein Licht! Der Pater Präfekt las die Geschichte vom Kai aus der Kiste; ich hörte kaum zu, doch ich merkte, daß der Pater Präfekt sich mehrmals verlas. Dann hörte ich plötzlich ein seltsames Knallen, es klang wie Stöße eines trockenen Hustens, und dann schrie auf einmal der kleine Liechtenberg auf: »Sie schießen!«, und dann sprangen wir auf, und plötzlich schrie alles durcheinander, und dann wurde die Tür aufgerissen und der Pater Präfekt von der Nachbarklasse kam hereingestürzt und fragte, ob wir es auch schon gehört hätten, und dann waren es mehrere Hustenstöße, die sich überkreuzten, und plötzlich wirbelten wir alle im Gang durcheinander. Es war unvorstellbar, doch wir schrien durch den Gang, wo doch kein Wort fallen durfte, und es hieß, die Roten hätten das E-Werk besetzt und in Liesing und Hitzing und Mödling würde geschossen, und dann hieß es, Wien brenne, die Roten hätten Wien in Brand gesteckt und marschierten nun auf Kalksburg zu! Dann knieten wir alle in der Kapelle vor dem Bild der Unbefleckten Jungfrau Maria, und der Pater Generalpräfekt kniete vor dem Altar und las das Gebet zum heiligen Erzengel Michael, dem Kämpfer mit dem flammenden Schwert: »Glorreicher Fürst der himmlischen Heerscharen«, so hörten wir, »heiliger Erzengel Michael, beschütze uns in dem Kampfe und dem furchtbaren Streit, den wir gegen die bösen Geister zu bestehen haben, komme zu Hilfe den Menschen, die Gott unsterblich nach seinem Bild und Gleichnis gestaltete, schlage heute mit dem Heere der heiligen Engel die Schlachten, wie du ehedem gegen Luzifer und die abtrünnigen Engel gekämpft hast, für die es keine Stätte mehr gab im Himmel!« Er psalmodierte die heiligen Worte, und das Wort Himmel sang er beinah, und die gedehnten Silben hallten im riesigen Raum, in dem das rote Licht der Ampeln sich verlor. Die Statuen der Heiligen in den Altarnischen rings hoben ihre wachsbleichen Hände, und goldene Gewänder fielen in Falten an ihnen nieder. »Auf denn, o unbesieg-tester Fürst, eile dem Volke Gottes zu Hilfe gegen das Anstürmen der verworfenen Geister«, sang der Pater Generalpräfekt, und ferne tackte ein Maschinengewehr. Dann sprach der Pater Generalpräfekt die Litanei zur Unbefleckten Empfängnis vor, und in höchster Not schrien wir auf Knien das »Bitte für uns« zum Himmel:

»Du Königin aller Engel und Heiligen,

bitte für uns;

du Schrecken und Besiegerin der bösen Geister,

bitte für uns!«,

und ich sah im verfließenden Schein des Öllichts die milden Züge der Heiligen, die ich so oft während der Messe geschaut: die hohe weiße Stirn und das braune Haar und der weiche Mund mit den schmalen, kaum geschwungenen Lippen, und ich sah den rötlichen Schein ihr Gesicht überwallen und flehte: Bitte, o bitte für uns!, und draußen, näher, hämmerte das Maschinengewehr. Dann drängten wir uns in den Schlafsaal, auf den Kabinenwänden standen Kerzen, der Pater Präfekt empfahl uns, noch einmal vor dem Einschlafen ein Stoßgebet zur Heiligen Jungfrau oder zum heiligen Erzengel Michael zu richten, dann wurden die Lichter gelöscht, ich kroch unter die Bettdecke und dachte schauernd an alles, was ich von der Kommune wußte: Sie waren Verbrecher und wollten nicht arbeiten und wollten den ehrlichen Menschen alles wegnehmen weil sie zu faul waren und sie plünderten und mordeten und raubten was sie nur konnten und schrien im Takt und ballten die Fäuste und sie waren mitten in dem herrlichen Saal von Gold und Kristall gestanden und hatten die Fäuste geballt und im Takt geschrien und nun hatten sie Wien in Brand gesteckt und marschierten auf Kalksburg zu, und ich dachte, daß ich als Märtyrer der Jungfrau sterben würde. Nein, ich würde die Heilige Madonna nicht verleugnen, ich würde dem Mob entgegengehn, das Bild meiner Königin im Herzen und das Kreuz des Heilands in Händen, und draußen, näher, hämmerte das Maschinengewehr.

Dann schlief ich ein, und als ich wieder erwachte, dröhnte der dunkle Morgen; es hallte dumpf, die Fenster klirrten; ich fuhr aus dem Bett, da hörte ich die Stimme des Paters Präfekten, der rief, die Heilige Mutter Gottes habe unser Flehen erhört, die Roten müßten zurückweichen, Mödling sei schon befreit und die heldenhaft kämpfende Heimwehr schösse mit Artillerie die roten Viertel in Klumpen. Der Morgen hallte dumpf, die Fenster klirrten; ich wusch mich und zog mich an und wartete dann in meiner Kabine auf das Glockenzeichen, das uns auffordern würde, uns schweigend in Zweierreihen aufzustellen, um zur Kapelle zu marschieren. Ich fieberte vor Ungeduld; auf dem Bord überm Bett lag ein Kalender, aber ich wollte jetzt nicht lesen. Ich fieberte vor Ungeduld und dachte sogar daran, mein Bett zu machen, doch dann ließ ich es sein, denn man hatte uns eingeschärft, das sei Arbeit der Hausdiener, das brauchten wir nicht zu tun. Ich biß mir auf die Zunge, ich wollte gar zu gern den Hans Staffperg, der die Nebenkabine bewohnte, fragen, ob er mit mir auch ein Märtyrer werden wolle, aber ich durfte meine Kabine vor dem Zeichen nicht verlassen, und erst recht nicht durfte ich sprechen, erst beim Frühstück durften wir, wenn alles geklappt hatte, das erste Mal am Tage sprechen, und die drei Stunden bis dahin erschienen mir endlos lang. Der Morgen hallte, die Kerzen auf den Kabinen flackerten, die Handglocke gellte, wir schlugen die Vorhänge zurück und traten aus unsren Kabinen und stellten uns in Zweierreihen auf, gesenkten Haupts, wie es Vorschrift war, dann schritten wir langsam, den Blick auf die Fersen des Vordermanns geheftet, den endlosen Gang zur Kapelle hinunter, die Morgenandacht zu verrichten, und ich sah die Fersen meines Vordermanns, immer die Fersen und den endlosen Gang, durch den wir vieldutzendmal am Tage so schritten, und ich dachte plötzlich mit Erschrecken, daß ich noch sieben Jahre so gehen sollte, den Kopf gesenkt, und plötzlich wurde mir die Brust eng und ich sah auf, da traf mich der Faustschlag des Paters Präfekten im Genick. Es war ein schwacher Schlag und ein flüchtiger Schmerz, der Pater Präfekt hatte nicht mit voller Kraft zugeschlagen; ich senkte wieder den Kopf und sah den endlosen Korridor und plötzlich rauschte eine wilde rote Welle durch mein Blut. Die Schläfen hämmerten; ich preßte die Nägel in die Ballen meiner Hände, und ich wußte jäh etwas, was ich schon lange gewußt hatte, schon vom ersten Tag an, da ich sie gesehen: Ja, dachte ich, sie sollten kommen, die Roten sollten kommen, mit Messern und Äxten und Feuerbränden sollten sie kommen und alles hier umhaun, alles, alles, das Kloster, die Mauern, die Gänge, die Kapelle, die Statuen, die Altäre, alles, alles, und alles sollten sie abschlachten, die Patres, die Diener, die Zöglinge, alles, die Bilder aufschlitzen, Aloysius und Maria und Michael, alles, und die Messer in Wänste unter den Kutten sollten sie rennen und den Pfaffen die Gurgel abschneiden, das sollten sie, ja, und Feuer sollten sie legen, rotes, großes fressendes Feuer, das das alles zerstörte, und wenn sie mir selber den Hals abschnitten, was war schon dabei, wenn hier nur kein Stein auf dem andern blieb! Ich wußte, daß das, was ich da dachte, eine Todsünde war, vielleicht sogar die Sünde wider den Heiligen Geist, die nicht vergeben werden kann, aber auch das war mir egal, dann würde ich eben in die Hölle kommen, was kümmerte das mich! Während der Messe wurde mir kalt und Frost schüttelte mich und dann bekam ich Fieber, der Pater Präfekt führte mich in den Krankentrakt, und dann lag ich im Bett und phantasierte und träumte von Feuern und Madonnen und bocksbeinigen Teufeln, denen Schweiß vom Bauch troff, und nachts dann wachte ich auf und war ganz naß und dachte, daß ich jetzt wohl sterben müßte. Am nächsten Morgen schrieb ich Pater Kornelius, der mein Beichtvater geworden war, einen Zettel und bat ihn, mir die Beichte abzunehmen, und dann beichtete ich ihm in der wachstuchverhangenen Zelle meine sündhaften Gedanken der Rebellion, und Pater Kornelius fragte mich lange aus, ob ich mit anderen Zöglingen darüber gesprochen hätte oder ob auch ein anderer der Ansicht wäre, die Kommune sollte kommen, und ich schüttelte den Kopf und sagte, ich allein nur trüge die Schuld. Dann legte mir Pater Kornelius als Buße auf, einen Monat lang jeden Morgen den heiligen Aloysius um die Gnade der Demut, die mir mangle, zu bitten, dann schlug er das Kreuz über mich und sprach mich frei. Ich tat, genesen, wie er geboten und versuchte zwei Jahre lang, die Gnade der Demut zu erwerben, dann kletterte ich eines Abends über die Parkmauer und floh nach Hause und dachte, daß ich niemals wieder ins Kloster zurückgehen würde, mochte mein Vater auch toben und schrein. Mein Vater aber tobte nicht, ja er schimpfte mich nicht einmal aus; er drückte mich an sich und gestand mir, daß er sich schon manchmal Gedanken über meine Zukunft gemacht habe und daß er mich Ende dieses Jahres sowieso aus dem Konvikt genommen hätte, denn die Weltgeschichte habe, so sagte er, und seine Augen strahlten, ehernen Schritts zu marschieren begonnen, und es sei ganz klar, daß nicht der reaktionäre Klerus die Zukunft für sich haben werde, sondern das Deutschland Adolf Hitlers, zu dem eines Tags auch das Sudetengebiet gehören werde. Ich fiel ihm in die Arme und konnte vor Freude nicht reden, und am nächsten Tag dann trat ich in den Deutschen Turnverein, die Jugendorganisation der Sudetenfaschisten, ein; meine früheren Schulkameraden beglückwünschten mich, daß ich nicht mehr ins Kloster zu gehen brauchte, und als ich die graue Kluft des Turnvereins am Leib trug, atmete ich auf und wußte erlöst, daß nun die Welt für immer im richtigen Lot war!

Das Judenauto

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