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Die Verteidigung der Reichenberger Turnhalle

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Die Turnhalle in Reichenberg, der etwa vierzig Kilometer von meinem Heimatort gelegenen einstigen Hauptstadt des Sudetenfaschismus, wo ich nach meinem Abgang aus Kalksburg nun das Reform-Realgymnasium besuchte, lebt in meiner Erinnerung als ein olivschwarzer Klotz am Rand einer steil steigenden schmalen Straße, und ihre Verteidigung muß sich um den 15. September 1938 herum zugetragen haben, zu einer Zeit, da wir im Deutschlandsender dreimal täglich die grauenvollsten Meldungen über den Blutterror des tschechisch-jüdisch-marxistischen Mordgesindels an der friedlichen sudetendeutschen Bevölkerung zugleich mit der Versicherung des Führers vernahmen, daß eine Großmacht wie das Deutsche Reich nicht länger mehr gewillt sei, untätig die Leiden der deutschen Brüder und Schwestern, die jenseits der Grenzen einem Untermenschenvolk wehrlos ausgeliefert seien, mit anzusehen, und daß die sudetendeutsche Frage gelöst werden müsse, so oder so. In Reichenberg zwar war kein Deutscher bislang auch nur verletzt worden, und auch aus meinem Heimatstädtchen hatte ich nichts dergleichen vernommen, hingegen war dort das tschechische Grenzwachhaus überfallen und in Brand gesteckt worden, allein in allen anderen sudetendeutschen Städten sollten, wie wir hörten, schon die schrecklichsten Greuel an Deutschen stattgefunden und die tollsten Kämpfe getobt haben, und als dann eines Morgens am Reichenberger Markt Straßensperren aus Stacheldraht standen und bewaffnete Polizisten patrouillierten und mein Riegenführer Karli mir keuchend zuschrie, die Tschechen wollten die Turnhalle angreifen, da wußte ich, daß es nun auch in Reichenberg losgehen werde und daß die Stunde der Bewährung für mich gekommen sei.

Ich war dazu bereit. Vor einem Monat erst hatte ich dem Führer selbst ins Angesicht gesehen und ihm dabei ewige Treue geschworen: Ich hatte mit Tausenden Kameraden des Turnvereins am Großdeutschen Turn- und Sportfest 1938 in Breslau teilgenommen; in Achterreihen waren wir ins Stadion eingezogen und hatten im Sprechchor »Wir wollen heim ins Reich« gerufen, die neue Losung, die für uns Inbegriff allen Seins und Sehnens geworden war, und rings auf den Rängen die Menschen hatten uns zugejubelt und geklatscht und getrampelt und Hände und Tücher und Fahnen geschwungen und Lieder gesungen und alles war wie ein Traum gewesen, ein wehender jubelnder brausender Traum, aber es war ja auch in Deutschland gewesen, im Reich deutscher Freiheit und deutschen Glücks! So waren wir die Bahn des Stadions hinuntergezogen, und ich hatte verstohlen um mich gespäht, ob ich den Führer nicht sähe, der doch sicher irgendwo hier stehn müsse in der jubelnden Masse, doch ich hatte nur die Stadionbahn und drüber die brausenden Ränge gesehn, ohne die Gesichter unterscheiden zu können, rechts und links der Bahn war eine Mauer SS gestanden und wir waren die ganze Länge der Bahn hinuntermarschiert und ich war traurig gewesen, den Führer übersehen zu haben, da waren wir plötzlich in eine Kurve eingebogen, eine Gegenkolonne war zu der unsern gestoßen, ein Marsch war aufgeschmettert und hatte unsern Chor überdröhnt, und da war auf der Tribüne der Führer gestanden, ganz nah vor uns im gleißenden Scheinwerferlicht, ganz nah und groß und allein, ein Gott der Geschichte, und er hatte die Hand über uns erhoben und sein Blick war unsre Reihen entlanggeglitten und ich hatte geglaubt, mein Herz würde stillstehen, wenn der Führer mich ansehn würde, und da hatte ich jäh gewußt, daß mein Leben dem Führer geweiht war für immerdar.

Dann waren wir in dem Auto, das Vater voriges Jahr erworben hatte, wieder über die Grenze zurückgefahren; der tschechische Grenzer hatte unsern Koffer durchsucht, und dann hatte es einen langen Streit zwischen ihm und meinem Vater gegeben, denn der Grenzer hatte zwischen der Unterwäsche im Koffer zehn Päckchen Zigaretten gefunden und gesagt, daß wir sie verzollen müßten, und mein Vater hatte geschrien, es sei eine Unverschämtheit, daß man als Deutscher in diesem Land nicht einmal mehr deutsche Zigaretten rauchen dürfe, ohne daß die Prager Juden daran verdienten, und dann hatte der Grenzer die Zigarettenpäckchen einfach weggenommen und aufgebrochen und in eine Grube geworfen, wo schon ein Haufen aufgebrochener deutscher Zigarettenpäckchen lag, und ich hatte vor Wut gebebt, wehrlos vor diesem Raub stehen zu müssen, und hatte die Fäuste geballt und gedacht, daß die Stunde der Freiheit bald schlagen müsse. Drei Wochen später war dann durch den Deutschlandsender die Nachricht gekommen, der Führer habe eine Million Reservisten zu den Waffen gerufen, und kurz darauf hatte ich eine heftige Auseinandersetzung mit meinem Vater gehabt, der mich mit meiner Mutter und Schwester für die kritische Zeit zu Wiener Geschäftsleuten bringen wollte. Ich hatte mich aufs heftigste geweigert, jetzt wegzugehn; jetzt würden historische Tage kommen, hatte ich gesagt, und ich wollte sie miterleben und kämpfen, wenn es not sein würde; mein Vater hatte schließlich nachgegeben, und so war ich wieder nach Reichenberg gefahren, und eines Septembermorgens dann, in der Früh eines grauen, nebligen Tages, hatte mein Freund Karli an das Fenster meiner ebenerdig gelegenen Studentenbude bei Frau Waclawek in der Gablonzer Straße gepocht und mir keuchend zugeschrien, ich solle schnell zur Turnhalle kommen, es sei Alarmstufe zwei, die Tschechen griffen heute die Turnhalle an! Dann war er weitergelaufen, um die anderen zu verständigen, und ich hatte mich auf den Weg zur Turnhalle gemacht und lief nun die Gablonzer Straße hinunter. Es war ein kalter Morgen, und ich dachte, daß nun also die Stunde der Bewährung gekommen war.

Ich war aufgeregt: Ich hatte noch nie in einem solchen Kampf gestanden; ein paar Schulraufereien und Geländespiele und die dummen Provokationen der Polizei, die ich mir wie jeder andre hatte leisten können, zählten ja nicht; nun aber sollte es ernst werden, ein richtiger Kampf mit richtigen Waffen, und ich fühlte mein Herz klopfen, und plötzlich mußte ich denken, was man wohl fühlen möge, wenn einem ein Messer durch die Rippen fuhr. Mein Schritt wurde zögernder; ich dachte jetzt nicht mehr an das Messer, ich sah es, es blitzte, und als ich kurz vor der Turnhalle bei Ferdl, einem ambulanten Wursthändler, vorbeikam, dachte ich sogar daran, mich still in eine Nebengasse zu verdrücken, doch dann schalt ich mich aus und lief schnell in die Halle hinein.

Zwei Posten vorm Tor, im Korridor Wachen; Parole: Deutschland; die Posten traten zur Seite, das Tor schlug hinter mir zu. Nun gab es kein Zurück mehr, und hier, unter den Kameraden, verwandelte sich meine Angst jäh in Gier, bald im Kampf zu stehn. Es war düster in der Halle: Die Fenster waren vom Boden bis zum Giebel mit Sandsäcken und Sprungmatten verbarrikadiert, und nur durch ein Oberfenster im flachen Dach fiel ein Streifen Lichts in den riesigen Raum. Ich sah mich nach einem Führer um, bei dem ich mich melden könnte, und an Führern, so sah ich, war kein Mangel; sie trugen Armbinden mit der Siegrune und eilten geschäftig hin und her, schickten Spähposten auf das flache Dach, stellten Gruppen, Züge und Kompanien zusammen und gaben Keulen und Eisenhanteln und andre Gymnastikgeräte als Waffen aus. Ich empfing eine Keule aus schwerem braunem Eichenholz, eine lange gezogne Keule mit griffigem Kopf und wuchtigem Rumpf: Ich sehe sie noch genau vor mir und weiß, daß ich sie zur Probe wirbelnd aus dem Handgelenk schwang. »Die haben auch Revolver!« flüsterte mein Nebenmann und deutete mit dem Kinn nach den Führern. »Stillgestanden!« schrie ein stämmiger Mann. Unsre Hacken knallten zusammen. Es wird ernst; jetzt wird es ernst, dachte ich und stand still und dachte, wie der Feind bald zur Türe hereinstürmen würde, der furchtbare Feind, der bolschewistische Mob: Er würde zur Türe hereinstürmen, und dann würde das Alarmkommando gellen und der Kampf beginnen, ein richtiger Kampf, kein Kriegsspiel mehr, ein richtiger Kampf für Deutschland, und ich wog die Keule in der Hand, und die Kameraden standen neben mir in Tuchfühlung. Der stämmige Mann sprach von unserer Treue zum Führer und vom Recht der Deutschen auf Selbstbestimmung, und dann rief er: »Sieg oder Tod!«, und wir riefen das im Sprechchor nach. Dann traten wir weg; die Kompanie, zu der ich gehörte, alles junge Burschen meines Alters, hatte die Anweisung bekommen, als Reserve in den Geräteraum zu gehen und dort auf Befehle zu warten. Wir gingen in den Geräteraum und setzten uns hin, die Waffen griffbereit neben uns; eine Weile herrschte ratloses Schweigen, dann sagte einer, daß die Roten nur kommen sollten, wir wollten es ihnen aber schon tüchtig zeigen, und dann überschrien wir einander, daß wir es ihnen aber schon tüchtig zeigen würden, wenn die Roten kämen, und einer schrie schrill, sie würden sich gar nicht getraun zu kommen, die Roten, und wir schrien, und dann begann einer einen Witz zu erzählen, und wir erzählten einander alle Zoten und Witze, die wir schon längst kannten, und wir lachten auch darüber, und das Lachen klang, wie das Schreien vorhin, über die Maßen laut. Dann waren alle Witze erzählt, und dann saßen wir wieder stumm da und warteten auf den Feind, doch der Feind kam nicht: wir saßen und warteten; der Feind kam nicht; die Gespräche zerbröckelten, aus dem Lachen wurde Gemurr. Die Zeit stand still; der Feind kam und kam nicht. An seiner Stelle kam etwas Entsetzliches: die Langeweile.

Wie spät es schon war, als die Langeweile kam, das weiß ich jetzt nicht mehr, doch glaube ich, daß seit meinem Eintreffen in der Turnhalle bis zum Einbruch der Langeweile nicht viel Zeit verstrichen war. Es war sicher noch früh am Tag, als die Langeweile in den düstren, kaum erhellten Geräteraum kam, und sie kam körperlich greifbar, ein muffiger, langsam dahinwallender Brodem, der uns umkroch und träg sich lagerte: Sie war kein psychisches, sie war ein rein physisches Produkt, von einem vielköpfigen Menschenhaufen abgesondert wie Schweiß oder verbrauchte Luft. Wir warteten, und dieses Warten brütete die Langeweile aus: Wir hatten den Auftrag zu warten, und so warteten wir, ohne etwas andres zu tun, und es wäre mir unvorstellbar gewesen, jetzt etwa ein Buch aus der Tasche zu nehmen und zu lesen oder ein Kreuzworträtsel zu raten oder mit einem Freund ein Gespräch über ein geistiges Thema zu beginnen oder zu dösen oder gar zu schlafen: All dies wäre mir irgendwie zersetzend vorgekommen, unernst und unheldisch, dem Pathos unsres Einsatzes nicht angemessen, und so wie ich mußten wohl die andern auch empfinden, denn alle saßen wir so und warteten, und die Langeweile wogte träg um uns her. Die Lider wurden mir schwer, und mein Kopf sackte vornüber; einen Augenblick lang nickte ich ein, dann riß ich mich, beschämt, wieder hoch, und da und dort fiel ein Kopf vornüber und fuhr wieder hoch, und so saßen wir und lauschten in wachsender Verzweiflung, ob nicht endlich der Alarmruf käme, der erlösende Alarmruf, der uns in den Kampf schleudern würde, doch der Alarmruf kam nicht. Verdösenden Augs stierten wir einander an. Es war düster im Raum, und die Luft war stickig. Der Feind kam nicht. Dann aber kam, langsam, doch mit wachsender Wucht, der Hunger.

Wir pflegten uns sonst immer in der großen Pause beim Schuldiener warme Würstel und Salzstangen zu kaufen, und so hatte kaum einer Brote bei sich, und die hatte er bald verzehrt. Uns andern knurrte der Magen. Schließlich machte sich der Kompanieführer auf den Weg zum Stab, um das Proviantproblem vorzutragen. Er kam bald wieder zurück und berichtete, die Kompanie solle einen Stoßtrupp aus Freiwilligen bilden, welcher sich bis zum Wurst-Ferdl am Ende der Straße durchzuschlagen, dort Krenwürstel, Semmeln und Bier einzukaufen und die Beute zur Turnhalle zurückzutransportieren habe. Die anderen Kompanien, so sagte der Kompanieführer und schritt dabei auf und ab, würden ähnliche Stoßtrupps ausschicken; diese Truppenbewegung müsse jedoch schnell vor sich gehn, um die Verteidigungskraft der Turnhallenbesatzung nicht zu lange zu schwächen; es sei sehr wohl möglich, sagte der Kompanieführer, daß der Feind die vorübergehende Schwächung, falls er sie erkenne, ausnützen würde, um die Turnhalle anzugreifen; die einzelnen Stoßtrupps sollten daher, um keinen Verdacht zu erregen, sich in größeren Abständen voneinander bewegen, auch dürften sie nicht erkennen lassen, daß sie einander kannten. Wir fragten, ob Waffen mitgenommen werden sollten, und der Kompanieführer verneinte: Waffen sollten nicht mitgenommen werden, sagte er, zum Schutz vor plötzlichen Angriffen der Roten seien jedoch zwei Sicherungsflügel zu bilden, die aber aus Tarngründen ebenfalls keine Waffen tragen sollten. »Wer meldet sich freiwillig?« fragte der Kompanieführer, und ich sprang auf und meldete mich ungestüm; viele sprangen gleich mir auf und meldeten sich, doch ich hatte Glück, ich stand in der Nähe des Kompanieführers und wurde dem rechten Sicherungsflügel des Stoßtrupps zugeteilt. Führer des Stoßtrupps und des ganzen Unternehmens war mein Freund Karli. Wir versammelten uns in der Halle, und Karli gab uns die letzten Instruktionen: Wir würden, um den Feind zu täuschen, nicht direkt zum Wurst-Ferdl hinunter, sondern zunächst die Straße in entgegengesetzter Richtung hinaufgehn, dann in eine Quergasse einbiegen, die Parallelstraße wieder hinuntergehn und schließlich durch eine Passage den Wagen Wurst-Ferdls erreichen, in unauffälligen Abständen hintereinander einkaufen und auf dem gleichen Weg zur Turnhalle zurückkehren. »Alles klar?« fragte Karli. Wir nickten. Wir gingen durch die Halle; Posten an der Tür, Wachen im Korridor, Posten am Tor, Knüppel und Eisenschlegel, Parole: Deutschland. Das Tor öffnete sich einen Spalt. Wir huschten hinaus. Das Licht des Mittags machte uns blinzeln. Vor uns lag, im Licht des Mittags, die Stadt, die wir seit Jahren kannten. Wir blinzelten. So hatten wir die Stadt noch nie gesehn.

So hatten wir die Stadt noch nie gesehn, und sie sah doch aus wie immer: Die Laubengänge mit den Gemüseständen, um die sich nun, zur Mittagszeit, nicht mehr der Schwarm der Hausfraun mit Taschen und Körben drängte; Kinder schleppten Bierkrüge aus dem Wirtshaus, Katzen sonnten sich im Rinnstein, der Bettler am Straßeneck sang seine Litanei, im Café die Männer umstanden die Billard und Tarockpartien, ein Tageshürchen schminkte sich die Lippen, Zeitungshändler schrien ihre Ware aus, die Glasscheiben des Bat’a-Geschäfts, hinter denen der elegante bürstenblonde Verkäufer auf und ab ging, glitzerten in der Sonne, Reklamen für Shell-Oil und Stollwerckbonbons schrien von der Fassade: Die Stadt lag im milden Licht des Mittags, der Nebel war verflogen, die Stadt sah aus wie immer, auch die Barrikade am Marktplatz änderte wenig an ihrem vertrauten Bild, und doch war sie nicht mehr die Stadt, die wir kannten: Sie war Feindgebiet, grau, in den Häusern Schießscharten und Heckenschützen dahinter, irgendwo lauernd der Feind, die Lauben gespenstisch, das Niemandsland! Wir huschten, Sicherungsflügel und Stoßtrupp, die Straße hinauf, und alles kam mir schemenhaft vor; wir waren im Krieg, wir waren im Einsatz, ich war kein Gymnasiast mehr, ich war zweiter Mann im rechten Sicherungsflügel des Proviantbeschaffungsstoßtrupps der Reservekompanie, und es wäre, hätte ich einen Revolver besessen, mein gutes Recht gewesen, jeden Feind abzuknallen, jeden Roten, jeden Bolschewiken wie dort den jungen Mann, der ein Extrablatt der Roten Fahne ausrief; wir waren im Kampf, und wir huschten, Schemen, durch die Straßen; es war ein läppisches Spiel, und das Schauerliche war, daß aus diesem läppischen Spiel jederzeit ein Mord herausschlagen konnte wie eine Kugel aus einer scharf geladenen Operettenpistole. Es war ein läppisches Spiel, das wir da trieben, eine Kinderei, und sie war doch mörderisch, und es war das Entsetzliche, daß wir beides nicht spürten: nicht das Läppische und auch das Mördrische nicht. Wir waren im Einsatz, wir handelten auf Befehl, wir stießen durchs Feindgebiet vor, und so gingen wir, das fünfköpfige Einkaufskommando in der Mitte, die dreiköpfigen Sicherungsflügel links und rechts, ganz unauffällig die Straße hinauf, bogen ohne besondere Vorkommnisse ab, drängten uns durch den Strom der Arbeiter, die, Deutsche wie Tschechen, von der Frühschicht kamen, die Parallelstraße wieder hinunter, durchquerten, Mann an Mann, die Passage und kauften in unauffälligem Abstand je zwanzig Paar Würstel mit Semmeln und Bier. »Habt ihr heut Übung, ihr seid’s schon die dritten, die nach Würsteln kommen?« fragte Wurst-Ferdl und strahlte uns an. Wir verzogen keine Miene. »Die andern, die gekommen sind, die sind nicht von uns«, sagte Karli, der Stoßtruppführer, geistesgegenwärtig. Die Straße herab kam der vierte Trupp. »Versteh schon!« sagte Wurst-Ferdl und zwinkerte mit den Augenlidern. Der vierte Stoßtrupp hatte den Stand erreicht. Wir kannten einander nicht. »Zwanzig Paar Würstel mit Semmeln und Bier«, sagte der Truppführer des vierten Stoßtrupps. Wurst-Ferdl grinste. Unser Stoßtrupp nahm Würstel, Semmeln und Bier und schritt mit undurchdringlicher Miene der Passage zu, durchquerte sie, ging, nun im Strom der Arbeiter, die Parallelstraße hinauf, bog ab, schritt die Hauptstraße hinunter, vorbei an den Buden am Markt und dem Café mit seinen Tarockspielern und Tageshürchen und der Reklame für Shell-Oil, und Karli, der Stoßtruppführer, pochte dreimal kurz und einmal lang mit der Faust gegen das Tor; das Tor tat sich einen Spalt breit auf; Doppelposten, Parole: Deutschland!, wir huschten hinein, Wachen im Korridor, Posten an der Tür, Knüppel und Keulen; die Halle; Düsternis, wir waren zurückgekehrt. Im Geräteraum setzte der Stoßtrupp die Krenwürstel ab, und Karli meldete dem Kompanieführer die Ausführung des Befehls. »Keine besonderen Vorkommnisse!« so schloß Karli seine Meldung. »Alles antreten zum Essenempfang!« befahl der Kompanieführer. Dann kauten wir. Und dann kam wieder die Langeweile.

Unmöglich, diesen Nachmittag zu beschreiben: den schlammig sich hinwälzenden Lauf der Stunden, von denen jede Minute eine Ewigkeit schien, die trüben Blasen der Obszönitäten, die in den Hirnen aufquollen und träg zerplatzten, das pfeifende Schnarchen des Geists, der sauerschale Bierdunst, die Öde der Freiübungen, die wir von Zeit zu Zeit in Gruppen vollzogen und die doch nur den Brodem der Langeweile aufwirbeln machten. Die Zeit rann wie stockender Talg; ihr Geschmack lag uns fad im Rachen. Kein Feind; die Wache patrouillierte nebenan auf dem Korridor, wir hörten ihre Schritte klappern und stöhnten in die verdöste Zeit und hörten die Schritte auf dem Korridor klappern, da brauste plötzlich ein Ruf vom Dach herunter wie ein Donnerhall: Der Dachposten schrie es dem Melder zu und der Melder der Korridorwache, und wir hörten die Korridorwache »Alarm!« schreien und griffen zu unsern Waffen und stürzten in die Halle.

Der stämmige Mann stand in der Halle und schrie: »Alarm!«, und wir rannten durcheinander und stellten uns in Reih und Glied, und kaum waren wir aufgestellt, da war es auch schon geschehn: An den Türposten vorbei und mit den Reihen der Korridorwachen in die Halle hinein kam ein tschechischer Polizeileutnant geschritten, ein kleiner drahtiger Mann, dem zwei ältere Polizisten folgten, und wir preßten die Fäuste um die Waffen und bebten vor Kampfeseifer und der stämmige Mann trat vor und ging, die Eisenhantel in Händen wägend, dem tschechischen Leutnant entgegen und der tschechische Leutnant führte die Hand zum Käppi und sagte: »Scheen gut’n Abend winsch ich den Härschaften«, und der stämmige Mann hob die Eisenhantel vor die Brust.

Ich zitterte.

»Was belieben die Härschaften da zu machen?« fragte der Leutnant. »Wir turnen«, sagte der stämmige Mann heiser. Ich fühlte das Blut in den Schläfen pochen; jetzt mußte der Befehl zum Sprung auf den Feind kommen! »Turnen iss sich gesund«, sagte der Leutnant und hob die linke Hand und strich mit der Rechten den Ärmelaufschlag zurück; »iss sich sehr gesund«, wiederholte er und schob den Ärmelaufschlag zurück und dabei sagte er lächelnd ein drittes Mal, daß Turnen sehr gesund sei, und fügte, auf die Armbanduhr sehend, hinzu, daß er die Herrschaften nicht habe stören wollen und schon wieder gehn werde; er wolle nur, und er hielt dem stämmigen Mann die Uhr vor die Augen, darauf aufmerksam machen, daß es schon Viertel nach sieben sei und um acht, nicht wahr, sei doch Polizeistunde, da doch der Belagerungszustand verhängt worden sei, und manche der Herrschaften dürften, so sagte er, vielleicht einen längeren Heimweg haben und sollten sich dann nicht so hetzen, und er schob den Ärmelaufschlag über die Uhr zurück, führte die Hand ans Käppi und wandte, im Umwenden sagend: »Gute Unterhaltung winsch ich den Härschaften noch«, sich um und ging, gemütlich, zur Tür hinaus, und die beiden Polizisten folgten ihm gemächlichen Schritts. Wir starrten einander an: Was sich soeben ereignet hatte, konnte nicht wahr gewesen sein, das war doch eine Sinnestäuschung gewesen, ein Spuk, ein Phantom; wir starrten einander entgeistert und ratlos an, und dann starrten wir auf unsre Führer, und was dann weiter geschah, weiß ich nicht mehr genau, ich weiß nur, daß alles dann sehr schnell ging und daß der stämmige Mann etwas wie »Auftrag erfüllt« und »Unser Tag kommt noch« und »Anschlag abgewehrt« gesagt hatte, und dann weiß ich, daß ich die Keule wegwarf und schnell nach Hause lief, denn ich hatte einen weiten Heimweg.

Am nächsten Morgen hörten wir dann vom Deutschlandsender einen Bericht über die neue entsetzliche Bluttat des tschechisch-jüdisch-marxistischen Mordgesindels: Eine Horde vertierter Polizeisoldaten habe, so hörten wir, die Reichenberger Turnhalle gestürmt, sei dort über harmlose gymnastiktreibende Schulkinder hergefallen und habe, jedem Selbstbestimmungsrecht der Völker hohnsprechend, aufs unmenschlichste unter den Jugendlichen, die sich heldenhaft verteidigten, gewütet; es habe Tote und zahlreiche Verletzte gegeben, meldete der Sender, Blut sei in Bächen über den Boden der Turnhalle geströmt; die Verzweiflungsschreie der Kinder hätten zum Himmel gehallt und sich mit dem gellenden Johlen des roten Mobs und den klaren Kommandostimmen der heldenhaften Verteidiger gemischt, und es sei für eine Großmacht wie das Deutsche Reich nicht mehr länger zu ertragen, diese Greueltaten an seinen Brüdern und Schwestern jenseits der Grenzen ruhig mit anzusehen. Ich hörte diesen Bericht, der mit dem Abspielen des Egerländer Marsches endete, zusammen mit Karli in meiner Studentenbude bei Frau Waclawek in der Gablonzer Straße; wir hörten diesen Bericht und wußten, daß jedes Wort erlogen war, und hörten ihm dennoch leuchtenden Auges, und es kam uns überhaupt nicht in den Sinn, daß das alles einfach erlogen war. »Mensch, der versteht sich auf Propaganda, der kleine Goebbels«, sagte Karli, mein Stoßtruppführer, und boxte mich in die Rippen, »so eine Propaganda war ja noch nie da, das ist wirklich grandios!«, und Karli sagte, kein anderes Land als das Reich könne so eine grandiose Propaganda aufziehen, und ich nickte. Er hatte ja recht.

Wenige Tage später beschlossen in München die Regierungschefs Englands, Frankreichs, Italiens und Deutschlands die Zerstückelung der Tschechoslowakei.

Das Judenauto

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