Читать книгу Tollkirschen und Brombeereis - Franziska Dalinger - Страница 14
3.
ОглавлениеAm nächsten Tag ziehe ich mich an und schreibe meinen Stundenplan für den Tag.
Zuerst: zu Daniel fahren.
Danach: zur Schule.
Nachmittags: Hausaufgaben, schreibe ich. Vorbereitung für die Englisch-Prüfung. Gespräch mit Daniel?
In mir brodelt ein kleines, beinahe hoffnungsvolles Gefühl, als hätte ich sprudelnde Kohlensäure in den Adern.
Ich bin so kribbelig, dass ich keinen Hunger habe.
»Du musst mehr essen«, sagt meine Mutter. Ich spüre ihren besorgten Blick und bedecke den verräterischen Plan mit der Handfläche.
Es stimmt, ich bin ganz schön dünn geworden. Was kann ich dafür, dass ich keinen Appetit habe? Außerdem brauche ich nicht mehr. In mir ist so eine Unruhe, eine rastlose Energie. Am liebsten würde ich ihr sagen, dass sie damit aufhören soll, sich Sorgen zu machen. Ich bin nicht magersüchtig. Ich brauche halt nicht mehr so viele Kalorien.
»Bis nachher«, sage ich und dulde, dass sie mir einen Kuss auf die Wange gibt.
Als ich losfahre, kann ich spüren, wie sie mir nachsieht. Und wie gerne sie mitkommen möchte, um mich zu beschützen, wenn sie mich schon nicht zu Hause festbinden kann.
Damit die anderen Schüler, die um diese Zeit unterwegs sind, keinen Verdacht schöpfen, reihe ich mich in den Strom ein, der in Richtung Schulzentrum fährt. Busse dröhnen an mir vorbei. Autos mit den Glücklichen, die von ihren Eltern gebracht werden. Andere Radfahrer, die durcheinanderrufen. Manche halten auch den Kopf gesenkt und strampeln verbissen vor sich hin. Ich tue es ihnen gleich. Wenn einem nichts aufzufallen scheint, wirkt man am unauffälligsten. Nur nicht jemanden anschauen, der einem zuwinken könnte.
Vor der Schule wird es noch voller. Busse und Autos drängen sich in die Haltebuchten, parken in zweiter Reihe. Dazwischen schlängeln sich in selbstmörderischer Absicht die Radfahrer hindurch.
Ich bleibe unter einer Eiche stehen, einem der letzten großen Bäume, die sich auf dem Schulhof halten konnten. Die anderen haben sie alle gefällt, weil sie zu viel Dreck machen. Schüler gedeihen wohl, der Ansicht der Stadtverwaltung nach oder wer auch immer darüber bestimmt, am besten zwischen Beton und Pflastersteinen.
Ich warte, bis die Schulklingel die letzten Nachzügler durch die großen Flügeltüren saugt.
Und bin allein.
Jetzt erst steuere ich mein richtiges Ziel an. Eigentlich kann ich es mir nicht leisten, zu schwänzen und noch mehr Stoff zu verpassen. Es ist ja schon zweifelhaft, ob ich die Prüfungen schaffe, weil ich mich so schlecht konzentrieren kann. Die Direktorin war sogar der Meinung, ich solle für den Rest des Schuljahrs zu Hause bleiben und mich erholen, aber dann würde ich erst recht durchdrehen. Ich will wenigstens versuchen, mit den anderen mitzuhalten. Die Lehrer irritiert meine Anwesenheit trotzdem; sie sind unsicher, wie sie mit mir umgehen sollen. Wenn ich fehle, tue ich ihnen daher sogar einen Gefallen.
Der Weg zum Haus der Hartmanns führt mich durch die halbe Stadt. Der schlimmste Verkehr ist vorbei. Mir wird bewusst, dass Sommer ist, während sich die Sonne aus dem rotgefärbten Dunst freikämpft und auf Strahlendgelb umschaltet. Die Amseln halten erschöpft inne – sie haben ihr Morgenrepertoire bereits verbraucht.
Ein Kaffee wäre jetzt nicht schlecht. Wann habe ich angefangen, so viel Kaffee zu trinken? Vielleicht, als ich aufgehört habe, zu essen.
Um nicht noch mal bei uns an der Kirche vorbeizufahren, was die schnellste Strecke wäre, mache ich einen Umweg. Ich fahre langsam, lasse mir Zeit. Flüchtig sehne ich mich nach meinen Ohrstöpseln, nach meiner Musik, aber dann lasse ich es doch. In meinen Ohren höre ich Tine leise summen.
Da, das nette kleine Haus der Hartmanns mit dem üppigen Vorgarten. Ich lasse den Blick über die Rosensträucher schweifen. Es ist so lange her, dass Daniel mir Rosen geschenkt hat, mehr als ein ganzes Leben.
Kein Auto auf der Auffahrt. Ich bin mir nicht sicher, ob seine beiden Eltern bei der Arbeit sind. Seine Mutter ist Grundschullehrerin, die müsste auf jeden Fall weg sein, aber sein Vater hat, wenn ich mich recht erinnere, Gleitzeit und kann später anfangen. Vielleicht sitzt er noch in der Küche und liest Zeitung.
Eine gefühlte halbe Stunde fahre ich die Straße auf und ab, dann lehne ich mein Rad gegen den Zaun und marschiere den Weg hoch zum Haus, als hätte ich jedes Recht der Welt, hier zu sein.
Der Beweis: Ich hab sogar einen Schlüssel. Dass ich ihn gestern aus Daniels Sporttasche gefischt habe, können die Nachbarn natürlich nicht ahnen. Wann lernt dieser herzensgute Junge endlich, seine Wertsachen nicht unbeaufsichtigt zu lassen? Man muss vorsichtig sein mit dem, was man besitzt. Die Welt ist voller schlechter Menschen, das habe ich inzwischen mitgekriegt.
Meine Hände zittern, als ich aufschließe. Ich muss den Schlüssel mehrmals herumdrehen, dann ein bisschen ziehen und sie sofort aufstoßen. Knifflig. Aber Daniel hat mir erklärt, wie es geht, damals, als wir noch zusammen waren.
Mit einem sanften Schnappen fällt die Tür hinter mir wieder zu.
»Hallo?« Es ist seltsam still. Dennoch beunruhigt mich die Vorstellung, dass doch jemand hier sein könnte ... eine Putzfrau zum Beispiel. Die Hartmanns haben keine Putzfrau, oder? Dafür könnte jemand von ihnen krank im Bett liegen, die Sommergrippe geht zurzeit um.
»Hallo? Jemand zu Hause?«, frage ich laut und bemüht fröhlich.
Das Haus ist still. Aus der Küche höre ich das Ticken der Uhr.
Vorsichtig spähe ich ins Wohnzimmer, dann schleiche ich die steile Treppe hoch. Etwas fasst mir ans Bein. Entsetzt schreie ich auf, verliere den Halt, falle, greife gerade noch nach dem Geländer.
Vor mir sitzt die graugetigerte Katze und faucht mich wütend an. Vor Erleichterung lache ich laut los. Dann erst bemerke ich, dass ich mir einen Nagel eingerissen habe, und irgendwie ist es mir gelungen, das Knie gegen eine Kante zu schlagen. Es blutet nicht, aber der große blaue Fleck sieht schmerzhaft aus. Im Moment spüre ich nichts, das kommt garantiert noch nach.
Diesmal steige ich äußerst vorsichtig über die Katze und stehe gleich darauf vor Daniels Zimmertür.
Chaos erwartet mich, was ich seltsam finde, denn früher war es bei ihm immer viel aufgeräumter als bei mir. Mittlerweile räume ich pausenlos hin und her, und dafür stapeln sich nun bei ihm die Bücher und CDs, auf dem Bett und dem Boden liegen Klamotten verstreut, und sein Papierkorb quillt über. Ich tänzele auf Zehenspitzen wie eine Ballerina durch den Raum, um nicht zufällig auf seine Gitarre zu treten. Die kann ich nämlich nirgends entdecken.
Ein Rascheln lässt mich herumfahren, aber es ist nur der Gecko im Terrarium. Oh, es sind zwei gläserne Kästen, wie ich entdecke. Er hält das Gecko-Pärchen getrennt, wie ich feststelle. Na, wenn das nicht aussagekräftig ist! Welcher ist Churchill? Ich kann die Viecher nicht unterscheiden, an den Namen des Weibchens kann ich mich nicht mal mehr erinnern. Aber daran, dass er die Futtergrillen in seiner Schreibtischschublade aufbewahrt, schon. Ein Grund mehr, sie nicht wahllos aufzuziehen.
Wo soll ich mit der Suche beginnen? Und was könnte ich finden?
Gedichte, für mich?
Lovesongs?
Briefe?
In Fetzen gerissene Fotos?
Das Blut rauscht in meinen Ohren. Mir wird beinahe schwindlig, so sehr fürchte ich mich plötzlich. Ich muss machen, dass ich hier rauskomme. Dass ich mich bewege, solange ich noch kann.
Aber wenn ich schon hier bin ... es wird doch irgendwas geben, das mir Hoffnung geben kann. Irgendetwas.
Stumm bete ich zu dem Gott, an den ich nicht glauben kann.
Dann fange ich an, die Sachen zur Seite zu räumen, die Zettel durchzublättern, in Stapel zu ordnen. Hausaufgaben, ein Referat in Bio, Notenblätter und Fragmente englischer Textstücke, vielleicht für einen Song, an dem er tüftelt. Eine solche Zärtlichkeit durchfährt mich, dass ich am liebsten jedes Blatt küssen würde. Da ist ja auch die wertvolle Gitarre, lieblos hinter seinem alten Sofa verstaut.
Der Papierkorb erweist sich als Friedhof missratener Songtexte. Um Liebe scheint es darin nicht zu gehen, und weit ist er damit nicht gekommen. Daniel hat alles durchgestrichen und den Zettel wütend zusammengeknüllt. Ich kann ihn vor mir sehen, wie er frustriert die Papierbälle durchs Zimmer schleudert, danebentrifft und sich nicht die Mühe macht, aufzustehen und den wachsenden Berg aus Papierschneebällen aufzuheben und zu entsorgen.
Ja, ich sehe ihn vor mir, sein schönes Gesicht, wie er ungeduldig die Zähne zusammenbeißt, wie er seufzt, wie er seine Gitarre malträtiert, wenn ihm die Melodie entgleitet.
Als es im Zimmer halbwegs ordentlich aussieht, hieve ich das Instrument auf meinen Schoß und streiche behutsam über den gewölbten Leib.
Was hat Daniel gesungen? Wovon hat er geträumt? Ob er an mich gedacht hat?
Ich versuche ein paar Griffe, an die ich mich erinnere. G-Dur, e-moll, A-Dur. Wenn man sie aneinanderreiht, klingt es fast wie ein Lied. Ich höre Tine summen. Die Dunkelheit kommt näher.
Ich ducke mich, krümme mich zusammen, um sie auszuschließen, das Tropfen des Wassers an den Wänden, das Wispern der Stille. Irgendwann wird mir bewusst, dass es nur die Uhr ist, die in das Schweigen tropft.
Die getigerte Katze kommt herein, betrachtet mich eine Weile verwundert mit ihren runden Augen und fasst dann einen Entschluss. Versessen auf Zärtlichkeit und Wärme, springt sie auf meinen Schoß, wo sie sich sofort gemütlich verknotet. Weil ich auch noch die Gitarre halte, müsste es nicht allzu bequem sein, aber das scheint ihr nichts auszumachen.
Schließlich ergebe ich mich, lege das Instrument zur Seite und lehne mich zurück. Die Katze schnurrt. Diese Art Geräusch gab es im Bunker nicht, es ist ein Laut, der jener Welt fremd ist, der mich im Diesseits hält. Ich halte mich an ihrem Schnurren fest, an ihrem weichen Fell, und obwohl ich ihre Krallen durch den dünnen Baumwollstoff meiner Hose hindurch spüre, macht mir das nichts aus.
Die Zeit versickert in den Wänden. Ich bin es gewöhnt, dazusitzen und zu warten, dass etwas geschieht. Wenn ich nicht vorschlage, dass wir ein Lied singen oder ein Spiel spielen, wird nichts geschehen. Tine liegt zusammengerollt da und horcht in die Dunkelheit, und ich bin diejenige, die etwas tun muss, die verhindern muss, dass die Gegenwart um uns herum zerbröckelt.
Aber ich bin so müde. Viel zu müde dafür. Warum muss ich immer stark sein, warum nicht auch einmal sie?
Dann plötzlich graben sich die Krallen noch tiefer in meinen Oberschenkel. Die Katze zuckt zusammen und springt wenig elegant auf den Boden.
Im Türrahmen steht ein Mann. Einen Moment denke ich, dass Finn uns wieder zu essen bringt, dann erkenne ich verwundert Daniel.
Wie kommt Daniel denn hierher, abgesehen davon, dass wir uns zufällig in seinem Zimmer befinden? Ich habe mich doch fest darauf verlassen, dass er in der Schule ist!
»Miriam?«, fragt er entgeistert.
Ich muss eingeschlafen sein. Die Uhr, die mich in den Schlaf getickt hat, kann ich vom Sofa aus nicht sehen, aber dem Licht draußen nach zu urteilen, ist es bereits Nachmittag.
Ich hab den ganzen Schultag verschlafen, was im Grunde kein Wunder ist, wenn man bedenkt, wie lange ich jede Nacht wachliege.
»Miriam?«, fragt Daniel nochmal. »Wie kommst du hier rein? Ich hab dein Fahrrad unten am Zaun gesehen, aber das hier übertrifft nun wirklich alles.«
»Ich ...«, sage ich wenig hilfreich. »Äh.«
Er schaut sich im Zimmer um. Sein Gesicht verdüstert sich. Aus irgendeinem Grund klingt er nicht dankbar, sondern wütend. »Du hast aufgeräumt? Du bist hier einfach reingekommen, ohne mich zu fragen, und räumst meine Sachen auf? Wer hat dich reingelassen, meine Mutter?«
»Was? Nein.« Immer noch hält der Schlaf mich fest, aber ich schaffe es, die Hand in die Hosentasche zu stecken und den Schlüssel herauszuholen. Der Anhänger besteht aus einem kleinen dunkelbraunen Ball und einer winzigen Gitarre.
»Du? Hast? Meinen Schlüssel? Geklaut?« Jedes Wort klingt wie eine Frage. Endlich geht ihm ein Licht auf. »Aus meiner Sporttasche, wie? Und ich dachte, ich hätte ihn verlegt.« Seine Stimme hat einen harten, kalten Klang bekommen. »Raus hier.«
»Aber du liebst mich«, flüstere ich, obwohl er nicht wie jemand klingt, der mich liebt, der mich am liebsten in die Arme nehmen und trösten und küssen möchte, damit ich die Dunkelheit und den Bunker vergesse.
Müsste Daniel nicht Mitleid mit mir haben? Müsste er nicht, wenn schon aus keinem anderen Grund, mit mir zusammenbleiben, damit ich in dieser schweren Zeit Halt habe? Wie kann er mir zu allem anderen auch noch Liebeskummer zumuten?
Daniel sieht an mir vorbei ins Zimmer, als hätte er immer noch den Müll und das Durcheinander vor Augen, das ich beseitigt habe. Vielleicht schnappt er sich gleich den Papierkorb und leert ihn über dem Teppich aus, um den alten Zustand wiederherzustellen, und fegt Zettel und Bücher aus den Regalen, bis es aussieht, als würde es schneien, bis die Blätter durch die Luft wirbeln wie Schneeflocken.
Ich habe mir so gewünscht, dass die Leute mich behandeln, als wäre alles normal, als wäre ich nicht das Mädchen, das verschwunden war. Und Daniel ist der Einzige, der genau das tut. Er sieht nicht das Opfer, das geschont werden muss. Er sieht Messie, die mit Tom auf Partys gegangen ist und ihn geküsst hat, während sie mit Daniel befreundet war. Messie, die in die Umkleide eindringt und seine Tasche durchwühlt, die seinen Hausschlüssel klaut und in sein Haus einbricht und in seinen Privatsachen kramt.
Er sieht mich, wie ich bin, nicht, wie ich sein möchte, und das tut so weh, dass es kaum auszuhalten ist.
Ängstlich warte ich darauf, dass er noch etwas hinzufügt, aber er schweigt, und in meiner Luftröhre wohnt ein stechender Schmerz, der mir das Atmen erschwert. Sanft lege ich den Schlüssel mit den leise klimpernden Anhängern auf das Sofa und gehe aus dem Zimmer. An der Tür tritt Daniel zur Seite, damit ich ihn nicht streife.
Ich muss schlucken, aber irgendwie schaffe ich es, mich nicht nach ihm umzudrehen, während ich die Treppe hinuntersteige.
Aus der Küche ertönt leise Lobpreis-Musik, und gerade als ich die Hand nach der Haustürklinke ausstrecke, kommt Daniels Mutter in den Flur.
»Miriam?«, fragt sie.
Sie klingt nicht im Mindesten überrascht. Ach ja, mein Fahrrad am Zaun. Natürlich hat sie es auch bemerkt. Auffälliger hätte ich es wirklich nicht machen können.
Ich bringe es nicht fertig, über meine Dummheit zu lächeln. Die Haare fallen mir ins Gesicht, ich hoffe, sie verbergen meine Tränen.
»Wie schön, dich zu sehen«, sagt Frau Hartmann freundlich. »Komm doch noch mal kurz mit. Bestimmt hast du Durst, bei der Hitze draußen.«
Jetzt, da sie es sagt, merke ich, dass ich tatsächlich gerne etwas trinken würde. Vielleicht kommt das Brennen in meiner Brust vom Durst.
Sie legt mir die Hand auf die Schulter und führt mich zurück in die Küche, wo sie die Musik leiser dreht. Helle Stimmen wie Vogelgezwitscher singen »Hosanna« und »Praise the Lord«.
Frau Hartmann drückt mich auf einen Stuhl und kramt im Kühlschrank. »Weiß deine Mutter, dass du hier bist?«
»Ich hätte heute Nachmittagsunterricht gehabt. Sie erwartet mich noch nicht zurück.« Ich bin überrascht, dass mein Gehirn noch funktioniert. Dass ich reden kann, ohne in wildes Schluchzen auszubrechen.
»Daniel hat dir bestimmt gesagt, dass er zu seiner Schwester zieht.«
»Was? Er zieht zu Sarah?«
Sie setzt sich mir gegenüber, schiebt mir ein Glas Fanta zu. »Es ist das Beste so. Sie braucht jemanden, der sich um die Wohnung kümmert, um die täglichen Arbeiten, die anfallen. Was die Schule angeht, er wird schon klarkommen.«
Ich sitze da wie erschlagen, kann es immer noch nicht fassen. Daniel zieht weg? Und mir hat er nichts gesagt.
»Bitte, versuch nicht, ihn dort zu erreichen.«
»Aber ...«, fange ich an und verstumme, denn ich weiß nicht, was ich sagen soll.
»Es ist auch für ihn nicht leicht«, sagt sie leise. Sie hält den Kopf, als würde sie horchen, ob er noch oben ist oder im Treppenhaus lauscht. »Er hat so schrecklich gelitten, als du weg warst, Miriam. Die ganze Zeit hat er dich nie aufgegeben. Er hat gesucht und gesucht. Ich weiß nicht, was mit ihm passiert wäre, wenn er dich nicht gefunden hätte.«
Ich wage es, in ihr Gesicht zu sehen. Vielleicht wünscht sie sich auch, jemand anders zu sein. Nicht die Frau, die einen Sohn hat, der halb wahnsinnig geworden ist vor Kummer. In dessen Zimmer das Chaos ausgebrochen ist und der neue Spuren im Gesicht hat, für die ich verantwortlich bin.
»Er liebt mich nicht mehr«, wispere ich.
Frau Hartmann schenkt mir ein Lächeln, das so warm und freundlich und traurig ist, das ich es lieber zurückgeben würde. Auf einmal habe ich Angst, was sie zu mir sagen könnte. Dass sie auch zu denen gehören wird, die keine Rücksicht darauf nehmen, dass ich ein traumatisiertes Entführungsopfer bin.
»Doch«, sagt sie leise, »er liebt dich, und wie. Er liebt dich so sehr, dass ich mir manchmal wünsche, er könnte einfach damit aufhören. Aber natürlich kann er das nicht. Man kann seine Gefühle nicht einfach abstellen. Du nicht, und er auch nicht.«
»Aber dann ... ich verstehe nicht, warum ...«
»Liebe ist nicht genug«, sagt Frau Hartmann. Sie spricht weiter, bevor ich protestieren kann. »Heutzutage wird den jungen Leuten eingeredet, dass die Liebe ausreicht, für alles. Aber das ist nicht wahr. Es braucht ein wenig mehr, um eine tragfähige Beziehung zu gestalten. Gemeinsame Ziele. Eine gemeinsame Basis. Ein Fundament, verstehst du? Damit es nicht nur ein Strohfeuer ist, das bei den ersten Schwierigkeiten erlischt.«
»Es ist kein Strohfeuer«, sage ich leise zu meinem Glas, das ich in den Händen drehe. Die Fanta glüht wie ein kleines Feuer, oder zumindest versuche ich, mir das vorzustellen. Unsere Liebe kann nicht so einfach erlöschen, sie ist dazu fähig, alle Schwierigkeiten zu überwinden. Zu wachsen. Zu halten. Oder?
»Das weißt du wahrscheinlich schon, aber Daniel ist ein Typ, für den es nur alles oder nichts gibt. Ganz oder gar nicht.« Sie lächelt versonnen, wahrscheinlich gefällt ihr das an ihrem Sohn. Ich spüre, dass sie stolz auf ihn ist. »Wenn man sich auf eine Freundschaft einlässt, weiß man vorher natürlich noch nicht, ob es passt. Ob man denjenigen gefunden hat, mit dem man sein Leben verbringen will. Aber wenn man sich besser kennenlernt und merkt, dass es eben doch nicht geht, trotz der gegenseitigen Anziehung, ist es dann nicht vernünftig, so früh wie möglich einen Schlussstrich zu ziehen?«
Ich will mich wehren. Ihr sagen, dass ich mir gerade ziemlich angepredigt vorkomme, vielen Dank auch, und ob das Daniels Meinung ist oder ihre?
Aber ich sage nichts. Ich höre ihr nur zu und male mit dem Fingernagel ein Muster in das beschlagene Glas.
»Auch wenn es wehtut, versuche es zu akzeptieren«, sagt sie behutsam. »Lass ihn einfach gehen, ja? Du bist so jung, du weißt nicht, was Gott noch alles für dich bereithält. Oder wen. Irgendwann findest du den Mann, der wunderbar zu dir passt, da bin ich mir sicher. So ein hübsches Mädchen wie du.«
Die Tränen quellen aus meinen Augen. Hastig fingere ich nach einem Taschentuch, wische mir übers Gesicht.
»Ich muss los«, stoße ich hervor. »Danke für die Fanta.«
Ich stürze los, bin an der Haustür, bevor sie mich zurückholen kann. Schon zum zweiten Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden fliehe ich aus einem Haus.