Читать книгу Tollkirschen und Brombeereis - Franziska Dalinger - Страница 17

5.

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Man müsste es mir an der Nasenspitze ansehen. Ich bin nicht bloß »das Mädchen, das Schlimmes erlebt hat«, wobei die meisten Leute denken, sie wüssten genau, was das ist.

Ab heute bin ich auch das Mädchen, dessen Exfreund weggerannt und sogar in eine andere Stadt gezogen ist.

Aber das weiß niemand. Mandy hat es noch nicht erfahren. Jedenfalls hoffe ich das.

Als sie sich an mich heranpirscht, während ich im Flur auf den Beginn meiner Deutsch-Prüfung warte, liegt etwas in ihren kühlen Augen, das mir Angst macht. Wetten, sie weiß es doch? Und nun wird sie es mir genüsslich unter die Nase reiben. Einfach nur, um mir wehzutun. Mandy weiß nichts von Opferschutz, und während es mir bei allen anderen tierisch auf die Nerven geht, dass sie mich schonen, wünsche ich mir beinahe, Mandy würde sich auch an diese unausgesprochene Abmachung halten, mir gegenüber vorsichtig zu sein.

»Na, wie geht’s?«, fragt sie lässig. »Hast du dich auch gut vorbereitet?«

»Bestens«, antworte ich so kühl wie möglich.

Kaum zu glauben, dass wir mal Freundinnen waren. Mandy genießt es, wenn jemand Angst vor ihr hat. Das ist für sie wie eine Droge.

»Dann ist ja alles gut. Ich hatte zwar gedacht, dass es dich ein wenig mehr kümmert, aber ... na ja, ist auch egal. Er würde sich über einen Besuch freuen, aber seine Probleme gehen dich im Grunde nichts mehr an. Kann ich verstehen.«

»Er würde sich über einen Besuch freuen?«, platze ich heraus, obwohl ich mir fest vorgenommen habe, kein Wort zu sagen, um ihr keine Munition zu liefern. »Daniel? Nein, ganz bestimmt nicht. Ich weiß, dass er mich nicht sehen will.«

Damit habe ich ihr eine neue Waffe in die Hand gegeben. Nun weiß sie, dass Daniel nichts mehr mit mir zu tun haben will und wie sehr ich darunter leide.

»Daniel? Ach, der arme, süße Daniel«, flötet Mandy, und nun lächelt sie doch, dieses wunderbare Mandy-Lächeln, auf das sämtliche Jungs unserer Klasse sabbernd warten. »Du gehst nur seinetwegen nicht zu Tom zurück, stimmt’s? Du lässt ihn einfach sterben, ohne ihn noch ein einziges Mal zu sehen, ohne Abschied zu nehmen, nur weil dein Freund dann eifersüchtig wäre. Wie egoistisch ist das denn, hm?«

Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.

»Tom?«

»Tom liegt im Sterben«, sagt Mandy und quetscht ein Tränchen aus ihren schönen Augen. »Wusstest du das etwa nicht? Hat er dir das nicht verraten?«

Tom und Daniel sind Freunde gewesen, jedenfalls eine Weile, bis ich Tom geküsst habe oder er mich. Danach sind sie sich aus dem Weg gegangen. Aber Daniel hätte doch bestimmt mitbekommen, wenn Tom krank gewesen wäre? Und was ist mit Bastian? Der hätte mir das ja auch sagen können. Haben alle davon gewusst und geschwiegen, um mich zu schonen, weil ich das Mädchen bin, das man wie etwas Zerbrechliches behandeln muss?

Mandy macht ein todtrauriges Gesicht, obwohl sie die Situation mit Sicherheit unwahrscheinlich genießt.

»Tja, so ist das nun mal. Ich dachte bloß, du solltest das wissen. Weil wir schließlich Freundinnen waren. – So, ich muss jetzt in den Unterricht.«

Da kommen schon die anderen Schüler, die mit mir zusammen die Nachprüfung schreiben. Frau Doggermann schließt den Raum auf und nickt mir aufmunternd zu.

Ich stütze das Kinn in die Hände und starre auf den Aufgabenzettel.

Tom liegt im Sterben.

Oh Gott, denke ich. Das ist nicht wahr, oder? Daniel ist weg, und nun geht Tom auch? Tom, der Junge mit den schwarzen Haaren und dem unglaublichen Lächeln, den ich jahrelang heimlich beobachtet habe, dem ich Gedichte geschrieben habe, ein Junge zum Pferdestehlen. Mein Tom?

Ich will zu Rosi. Ich will nach Hause. Ich will irgendwohin, wo ich sicher bin vor solchen schrecklichen Nachrichten. Als könnte das die Information in meinem Kopf wieder löschen. Delete. Aus.

Unnötig zu sagen, dass ich heute in meinem Lieblingsfach nicht gerade geglänzt habe. Irgendwie habe ich doch noch was hingekritzelt, hoffentlich reicht es für eine Vier. Es ist mir beinahe egal, denn nun geht es um etwas viel Wichtigeres: Was ist mit Tom? Wie ernst ist es?

Also nehme ich an diesem Nachmittag den Bus und fahre los, in die hübsche Wohnsiedlung, in der Tom zu Hause ist. Erst unterwegs fällt mir ein, dass ich meiner Mutter nicht Bescheid gesagt habe, was ich vorhabe. Bestimmt sitzt sie schon händeringend am Telefon und fürchtet sich vor dem Anruf der Polizei, die ihr mitteilt, dass man mich blutüberströmt in einem Gebüsch gefunden hat. Ich müsste sie anrufen, aber aus irgendeinem Grund bringe ich es nicht über mich. Ihre besorgte Stimme könnte ich jetzt nicht ertragen. Erst muss ich sehen, wie es Tom geht, ob er noch lebt. Während der Bus mit aufreizender Langsamkeit von einer Haltestelle zur nächsten kriecht, jedes Mal röchelnd die Türen öffnet und mit einem asthmatischen Schnaufen wieder anfährt, wächst die Panik in mir, ich könnte zu spät kommen. Mandy hat gesagt, er liege im Sterben. Wie lange kann man wohl im Sterben liegen? Entweder ist man krank oder tot. Gibt es etwas dazwischen? So etwas wie »halb tot«?

Endlich spuckt mich der fauchende, keuchende Bus aus, und ich stehe verloren vor der Siedlung und sammle meinen ganzen Mut in mir. Es fühlt sich ungewohnt an, Angst zu haben, beinahe habe ich vergessen, was das ist. Denn trotz meiner Schlafprobleme und meiner Unfähigkeit, die Dunkelheit auszuhalten, gibt es Gefühle, die mir fremd geworden sind. Früher habe ich innerlich gebebt, wenn ich zum Beispiel in eine fremde Wohnung eingebrochen bin, was, wie ich gestehe, durchaus vorgekommen ist. Jetzt kümmert mich kaum noch etwas. Ich bin eine Maschine, die ihre Termine abspult, und wenn auf meiner Liste steht, dass ich in einer Umkleidekabine oder einem Jungenzimmer etwas überprüfen will, dann tue ich das einfach.

Doch jetzt nimmt es mich schon mit, an einer Tür zu klingeln.

Ich lege mir die Worte auf der Zunge zurecht. Wenn seine Mutter öffnet, werde ich mich erst vorstellen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie meinen Namen kennt, ob Tom je von mir gesprochen hat. An ihrem Gesicht werde ich hoffentlich erkennen, wie schlimm es um Tom steht. Ob sie geweint hat, oder ob sie lächelt, weil es ihm heute besser geht? Dann kann ich sie fragen, ob er im Krankenhaus ist oder wo ich ihn finde. Oder falls sie in Schwarz öffnet, dann weiß ich erst recht Bescheid.

Die Tür geht auf.

»Ich bin Miriam Weynard«, fange ich an, stutze, denn der Junge, der vor mir steht, unterbricht mich.

»Messie?«

»Tom!« Ich kann es kaum glauben, er steht leibhaftig vor mir! Mit einem Aufschrei falle ich ihm um den Hals, und er presst mich an sich. Ich atme in sein T-Shirt, spüre seine Wärme durch den dünnen Stoff, ich klammere mich an ihn. »Du lebst«, flüstere ich.

»Messie«, sagt er noch einmal.

»Ich hatte solche Angst, dass ich nicht mehr rechtzeitig komme.«

»Nicht mehr rechtzeitig?«

Ich löse mich aus der Umarmung, trete einen Schritt zurück, ohne ihn loszulassen, und betrachte ihn. Er ist blass und hat dunkle Ringe unter den Augen, und ich kann seine Rippen fühlen. Wie viel Gewicht hat er verloren? Er kommt mir vor wie ein Gespenst seiner selbst, aber er lächelt.

»Mandy hat es mir gesagt«, erkläre ich. »Von deiner Krankheit.«

»Oh.« Tom klingt bestürzt.

»Du hättest anrufen können. Ich wäre gekommen, sofort. Jederzeit. Das weißt du doch?«

»Tatsächlich?«, fragt er leise, und ich denke daran, wie wir uns verabschiedet haben. Ich habe ihn stehen lassen und bin weggegangen. Nein, er hatte keinen Grund, mich anzurufen.

»Was für eine Krankheit ist es?« Natürlich ist es unhöflich, das einfach so geradeheraus zu fragen. So etwas tut man nicht. Aber wie gesagt, ich bin wie auf Autopilot, und auf meiner Liste steht: Tom besuchen, falls er noch lebt. Natürlich muss ich wissen, wie viel Zeit ihm noch bleibt, was »im Sterben liegen« bedeutet.

»Ist es Krebs?«, taste ich mich behutsam voran. »Wenn du nicht darüber reden willst ... Ist schon okay, wirklich.«

»Wer hat dir gesagt, dass ich Krebs habe?«, fragt Tom.

»Mandy hat es angedeutet.« Ängstlich betrachte ich sein Gesicht, suche nach Anzeichen für die Krankheit. Seine Haare hat er noch, alle Wimpern sind an Ort und Stelle. Nach einer Chemotherapie sieht er nicht aus. Aber was hat er dann?

»Komm erst mal rein.« Tom zieht mich ins Haus. Von seiner Mutter keine Spur.

»Ist sonst niemand da? Muss sich nicht jemand um dich kümmern?«

Tom zögert kurz. »Ich bin lieber allein, wenn ich mich nicht gut fühle.«

»Ich kann auch gehen«, sage ich schnell, aber er legt den Arm um meine Schultern und führt mich hoch in seine Dachwohnung. Tom hat das gesamte Obergeschoss nur für sich. Das Bett ist nicht gemacht, es herrscht ein recht großes Durcheinander, aber ich entdecke nichts von dem, was ich erwartet habe: kein Tropf, keine Stapel von Laken und Tüchern, Flaschen und Tablettenschachteln.

»Bist du wirklich krank?«, entfährt es mir.

Tom braucht wieder eine Weile, um zu antworten. »Du bist hier, weil du gehört hast, dass es mir schlecht geht«, sagt er. »Das ist ... oh Messie, ich bin total gerührt. Obwohl ich ja eigentlich nicht wollte, dass jemand davon erfährt. Ich kann es nicht ertragen, wenn alle mich anstarren. Wenn jeder, der mich sieht, nur einen Gedanken hat: dass ich ... dass meine Zeit bald zu Ende geht.«

Er wendet sich mir zu, bemerkt, dass ich sein Zimmer inspiziere, lächelt traurig. »Ich kann es nicht ertragen, wenn alles nach Krankheit riecht«, flüstert er. »Desinfektionsmittel, Arzneien ... das ist wie der Hauch des Todes. Normalität, verstehst du? Ich will bloß Normalität.«

Oh, das verstehe ich nur zu gut. Vielleicht bin ich sogar die Einzige in der ganzen Stadt, die genau weiß, wovon er redet.

»Ja«, flüstere ich.

Erneut schlingt er die Arme um mich. Beinahe habe ich vergessen, wie gut sich das anfühlt. Tom fühlt sich gut an. »Es ist ... ich spreche nicht gern darüber«, murmelt er in mein Haar. »Es ist nicht operabel, die Ärzte kommen nicht dran. Sie haben mich wieder nach Hause geschickt.«

»Ein Tumor?« In meiner kleinen Seifenblasenwelt tauchen immer größere und schrecklichere Ängste auf. Bis jetzt konnte ich hoffen, dass Mandy sich geirrt hat.

Er küsst mich auf die Schläfe, erwischt halb mein tränennasses Auge, lacht. Dann verändert sich seine Stimme, bemüht sich um die Normalität, die er so schrecklich ersehnt.

»Möchtest du was trinken? Ist ziemlich stickig hier drin. Wir können auch rausgehen.«

Wird dir das nicht zu viel, will ich fragen, schlucke die Worte noch rechtzeitig runter. Genau das möchte er ja nicht. Dass man ihn ununterbrochen bemitleidet und umsorgt und ihn ständig fragt, wie es ihm geht und was er gerade braucht.

»Ist gut«, sage ich gespielt munter, während es mir das Herz zerreißt.

Die vielen Stufen wieder hinunterzusteigen, fällt ihm sichtlich schwer, aber ich sage kein Wort und biete ihm nicht an, ihm zu helfen. Wir treten in den Garten hinaus, scheuchen eine übelgelaunte Katze von der Liege, machen es uns bequem. Den ganzen Nachmittag liegen wir nebeneinander in der Sonne, teilen uns einen iPod – jeder einen Stöpsel im Ohr – und hören Musik.

Später, als die Schatten länger werden und die Luft kühler, bietet er an, mich mit dem Auto nach Hause zu bringen.

Ich erschrecke. Immer, wenn er mich mitnehmen will, ist er betrunken oder ich bin durchnässt oder sonst etwas stimmt nicht. Ich bin es nicht gewöhnt, dass es klappt, wir beide in einem Wagen, und dass dabei nicht irgendetwas passiert.

»Kannst du denn fahren?«

»Du meinst, in meinem Zustand?« Er lächelt und wirkt plötzlich ein, zwei Jahre jünger. Wir haben zu lange in der Sonne gelegen, nun spüre ich, dass meine Haut brennt, und sehe einen rötlichen Schimmer auf seinem Nasenrücken und seiner Stirn. »Keine Sorge. Ich habe bloß manchmal, ähm, Ausfälle.«

»Ausfälle?«

Er räuspert sich, scheint zu überlegen, wie viel er mir anvertrauen will. »Blindheit zum Beispiel. Gleichgewichtsstörungen. Kopfschmerzen.«

Entsetzt starre ich ihn an, doch Tom lächelt bloß, beugt sich vor und küsst mich auf den Mund. Es ist ein ganz kurzer und leichter Kuss, zart wie ein Streicheln. »Keine Sorge«, sagte er. »Das kündigt sich vorher immer an. Die Fahrt bis zu euch kriege ich wohl noch hin.«

»Aber …«

»Keine Widerrede«, sagt Tom und grinst, und ich lächle zurück.

Blindheit, denke ich. Stürze. Schmerzen.

Ich halte seine Hand, so fest es nur geht.

»Er hat dich nach Hause gebracht«, sagt Tabita am Abend, als ich zu ihr ins Bett schlüpfe, in die Geborgenheit ihrer Nähe, ihrer Lampe, ihrer Geschichten. »Tom.«

»Mmh.« Ich kuschle mich in ihre Decke. »Kann schon sein.«

»Bist du nun ganz verrückt geworden?«, fragt sie. »Ich dachte, du liebst Daniel. Was denn jetzt?«

»Ich hab ihn bloß besucht«, verteidige ich mich. »Ich bin nicht mit ihm zusammen. Außerdem …« Nein, ich will nicht weinen. Nicht jetzt, nicht in Tabitas Kissen. Ich will auch nicht darüber reden, dass Tom krank ist, dass ihm nur wenig Zeit bleibt. Aber dann tue ich es doch.

»Ist ja krass«, flüstert sie.

Dann liest sie mir wieder vor. Von Eliza, die zusammen mit dem Piraten und verarmten Grafen Mortimer durch die Dunkelheit flieht, hinter sich eine Bande übler Mordgesellen.

Alle finden, dass ich schon wesentlich besser aussehe. Papa klopft mir auf die Schulter, meine Mutter lächelt verstohlen. Dabei habe ich mich nur hübsch gemacht, um mit Tom auszugehen.

Außer Tabita weiß niemand, wie es um ihn steht. Ich habe ihm versprechen müssen, mit keiner Menschenseele darüber zu reden, denn er will nicht, dass die Leute ihn anstarren und bloß seine Krankheit sehen. Nicht einmal Tine und Bastian gegenüber habe ich es erwähnt. Woher Mandy es erfahren hat, weiß ich immer noch nicht. Ob sie doch noch Kontakt zu Tom hat? Schließlich war sie mal mit ihm zusammen.

»Siehst du Mandy manchmal noch?«, taste ich mich vorsichtig vor, als Tom seinen Wagen vor dem Restaurant parkt.

»Mandy.« Immer, wenn er sie erwähnt, hat seine Stimme etwas Bitteres. »Mandy ist das egoistischste Weibsstück, das ich kenne.«

»Aber sie ist auch das schönste Mädchen an der ganzen Schule. Jungs sind Augenmenschen.«

»Ich bin nicht wie die meisten Jungs«, sagt Tom. Er lacht leise. »Ein gewisses Maß an Charakterlosigkeit kann ein perfekter Körper durchaus ausgleichen, aber irgendwo ist Schluss. Du dagegen …« Er schenkt mir ein warmes Lächeln.

»Vielleicht bin ich ja auch ein bisschen charakterlos«, sage ich.

»Bestimmt nicht«, flüstert er und beugt sich vor und küsst mich, so wie beim letzten Mal, ganz vorsichtig und zärtlich, als sei ich die Kranke und nicht er.

Es ist Zeit, dass ich Daniel vergesse, der nichts von mir wissen will. Auf einmal sehne ich mich danach, wieder lebendig zu sein. Meine Seifenblase platzen zu lassen und wieder zu spüren, alles zu spüren, das Leben, meine Gefühle, die Sonne, die Hand eines Jungen in meiner.

Einen Moment lang vergesse ich, dass er sterben wird.

Heute sind wir beide lebendig.

Tollkirschen und Brombeereis

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