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2.

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Mein ultimatives Rezept für Schokoküsse: Zuerst isst man die Schokolade. Am besten seine Lieblingssorte. Dann braucht man einen Freund, einen, der so gut küssen kann, dass man selbst die Schokolade sein möchte, die dahinschmilzt. Und den küsst man dann.

Fertig.

Für alle, die keinen Freund haben, ist das natürlich ziemlich doof.

Wenn allerdings der Freund, den man hat, schlecht drauf ist, muss man auch besser zu echter Schokolade greifen. Irgendwie hatte ich mir diesen Nachmittag anders vorgestellt.

Daniel sitzt auf dem Boden, ans Bett gelehnt, und hat seine Gitarre auf dem Schoß. Die Melodie, die er vor sich hinklimpert, klingt traurig.

»Und die Ärzte wissen wirklich nicht, wann sie wieder aufwacht?«, frage ich, dabei hat er mir das bereits gefühlte tausend Mal erzählt. Seine Mutter übrigens auch schon, als ich hergekommen bin. »Sarah liegt im Koma, sie hatte einen schweren Unfall. Wir wissen noch nicht, wie es weitergeht. Ja, Daniel ist oben, geh ruhig hoch zu ihm.«

Jetzt bin ich also in seinem Zimmer, und er hält bloß sein blödes Instrument umklammert und bläst Trübsal.

»Sie übersteht es schon«, sage ich, nur um irgendetwas zu sagen. »Du wirst sehen, alles wird gut.« Ich kann es gar nicht haben, wenn Daniel so still und in sich gekehrt ist. Um ihn aufzumuntern, hätte ich ihm fast erzählt, was Mandy und ich heute in der Fußgängerzone angestellt haben, aber ich beiße mir noch rechtzeitig auf die Lippen, denn irgendwie kann ich mir denken, dass ihm das nicht gerade gefallen wird. Er wird nicht so begeistert sein, dass er mich in die Arme nimmt und küsst. Oh Mann, ich bin echt egoistisch, ich weiß. Statt angemessen um seine Schwester zu trauern, ärgere ich mich, dass er sich nicht um mich kümmert. Aber hallo? Sarah ist schließlich nicht tot, noch nicht, und ich kann doch nichts dafür, dass es ihr schlecht geht.

»Wollen wir denn heute was unternehmen?«, frage ich.

»Du, mir ist nicht so danach«, sagt er.

Ich beginne, mich zu ärgern. »Deine Schwester wird nicht davon gesund, dass du hier rumsitzt«, teile ich ihm mit, falls er nicht daran gedacht hat.

Er hebt den Kopf und schaut mich an. Wieder einmal reicht ein Blick, und meine Haut prickelt überall. In meiner Brust macht mein Herz ein paar wilde Hüpfer. Daniel ist einfach so ... süß. Vielleicht könnte ich tatsächlich damit zufrieden sein, hier zwei Stunden zu sitzen und ihn anzuschmachten.

Vielleicht.

Aber andererseits ist heute Samstag und wir haben schon die letzten Wochenenden damit verbracht, im Zimmer zu hocken.

»Gib dir einen Ruck und komm mit«, sage ich.

Eine Falte bildet sich zwischen seinen Augenbrauen. Die ist mir sonst noch nie aufgefallen. »Glaubst du wirklich, ich hab jetzt Lust, irgendwo hinzugehen? Ich mache mir echt Sorgen!« Er versucht zu lächeln, was ziemlich kläglich aussieht. »Wollen wir für sie beten?«

»Wie, laut?«

»Warum nicht?«

Ich bin nicht gut darin, laut zu beten. Überhaupt nicht. Eigentlich bin ich überhaupt nicht gut im Beten. Das heißt, ich sage Gott schon zwischendurch, was ich denke und was ich mir wünsche und so. Aber das ist ein Gespräch zwischen ihm und mir, das ist privat. Abgesehen davon, dass ich mir manchmal gar nicht sicher bin, ob es ihn wirklich gibt.

Daniel weiß allerdings nicht, dass ich so viel zweifle, das behalte ich für mich. Ich habe nämlich die heimliche Befürchtung, dass ihm das nicht reicht. Bestimmt möchte er eine Freundin, die genauso wie er glaubt: hundertprozentig. Daniel ist der Glaube unheimlich wichtig. Aus diesem Grund bemühe ich mich darum, in seiner Gegenwart Miriam aus der Gemeinde zu sein, die zwar kritisch über vieles nachdenkt, aber dennoch unerschütterlich an Gott glaubt. Das ist keine Heuchelei, oder? Denn zwischendurch glaube ich ja tatsächlich ganz fest. Nur eben nicht immer.

Trotzdem finde ich es unfair, dass ich mein Wochenende mit Beten verbringen soll. Deshalb schicke ich Mandy eine SMS und frag sie, was sie heute vorhat. Wenn überhaupt nichts läuft, kann ich ja immer noch beten.

Aber ihre Antwort kommt prompt: Sie geht wieder mal auf eine Party. Gibt es überhaupt einen Samstagabend, an dem sie nicht auf einer Party ist? Gibt es eine Feier hier in der Stadt, zu der sie nicht eingeladen ist? Wohl kaum. Ein scharfer Stich des Neides durchfährt mich. Sie hat zwar keinen Freund, aber dafür kann sie nach Herzenslust flirten und tanzen, während ich mit einem todtraurigen Daniel in dieser Bude hocke und beten soll.

Es gibt doch diese Cartoons, wo jemandem ein Engelchen und ein Teufelchen auf den Schultern sitzen. Das Engelchen will die Seele dazu bringen, das Richtige zu tun. Aber was wäre hier das Richtige? Kann Gott wollen, dass ich betend auf dem Teppich hocke, während draußen eine Party steigt? Mann, ich bin sechzehn und nicht sechzig, und als ich das letzte Mal in den Spiegel geschaut habe, ist mir auch kein Nonnengewand aufgefallen.

»Das wird dich ablenken«, versuche ich Daniel zu überreden. »Man kann doch auch zwischendurch immer mal wieder beten. Wenn du jede Minute ein Stoßgebet zum Himmel schickst, sind das sechzig Gebete in der Stunde. Sagen wir, wir bleiben vier, fünf Stunden da, dann sind es schon dreihundert Gebete. Das müsste doch reichen. Oder, falls du meinst, dass du es vergisst, könnte man ja auch immer dann, wenn ein neuer Song aufgelegt wird, beten. Dann wären das, wenn ein Lied drei Minuten lang ist, immerhin noch zwanzig Gebete pro Stunde.«

Daniel hat einen komischen Ausdruck im Gesicht, den ich nicht so recht deuten kann. Vermutlich hat ihm noch niemals jemand ausgerechnet, wie viele Gebete pro Stunde man hinkriegt, wenn man nicht durchgehend betet, sondern im Intervall.

Vielleicht könnte ich mal einen Kurs durchführen, Thema: »Intervall-Beten. So kriegst du Gott garantiert rum«. Klar, ich weiß, dass man Gott nicht durch Gebete rumkriegt. Aber warum sollte das dann mit einem Marathon-Gebet die ganze Nacht durch anders sein? Das wäre auch ein prima Kurs-Thema: »Marathon-Beten contra Intervall-Beten. Insider berichten aus der Praxis. Mit aktueller Gebetserhörungs-Statistik«.

Ich grinse vor mich hin und vergesse dabei ganz Daniels kranke Schwester.

»Geh ruhig«, sagt er. Seine Laune hat sich nicht wirklich gebessert.

Wahrscheinlich wäre es meine Pflicht als gute Freundin, neben ihm auf dem Teppich zu knien und mit ihm die Hände im Gebet auszustrecken. Bei ihm zu sein.

In guten und in schweren Tagen, denke ich. Ja, das würde ein Mädchen tun, das es verdient, seine Freundin zu sein. In mehr als einer Hinsicht komme ich mir heute wie eine Betrügerin vor. Denn ich habe nicht die Absicht, hierzubleiben. Das würde mich so deprimieren, dass ich irgendwann völlig durchdrehe. Zumindest in einem Streit würde das hier enden.

Also bin ich in gewisser Weise sogar besonders nett, weil ich mich jetzt aus dem Staub mache.

Partys im Winter sind tückisch. Weil man ständig friert. Man friert auf dem Weg dahin. Man friert, wenn man zwischendurch rausgeht, um frische Luft zu schnappen. Der Rock ist zu kurz, die Strümpfe zu dünn, das Oberteil zu knapp. Zu einer Party kann man ja schlecht einen Angora-Pullover, Jeans und Stiefel anziehen. Ja, auch die Füße frieren, wenn man sich aus dem Gedränge löst und durch den Schnee stolpert, um kurz einen Moment aus dem Trubel zu entkommen. Dann bleibt mein rechter Schuh auch noch in einer Schneewehe stecken. Mist, jetzt habe ich die Strümpfe im Schnee, sie sind sofort nass und kalt. Ich will gerade zu meinem Schuh zurückhumpeln, als jemand ihn aus dem Schnee fischt. Ein Jemand, den ich kenne.

»Hi«, sagt Tom. »Dich sieht man ja auch immer seltener.«

Dies wird garantiert nicht eine dieser dämlichen Geschichten, in denen die oberblöde Tussi sich nicht zwischen zwei Typen entscheiden kann. Ich bin mit Daniel zusammen. Definitiv. Dass ich jahrelang in Tom verknallt war, dass ich ihn angehimmelt habe, wenn er über den Schulhof ging, dass ich in meiner Schreibtischschublade ungefähr hundertzwanzig Gedichte lagere, die alle mit seinem Namen betitelt sind, das ist Vergangenheit. Genauso wie der Kuss, den er mir in angetrunkenem Zustand gegeben hat, in jener schrecklichen Sturmnacht, die Daniel fast das Leben gekostet hätte.

Nein, ich werde ganz bestimmt nicht mit Tom flirten und alten Gefühlen die Chance geben, wieder an die Oberfläche zu kommen.

»Hallo Aschenputtel«, sagt er und reicht mir den Schuh. »Wo hast du denn deinen Ritter gelassen?«

»Kreuzritter« ist Daniels Spitzname. Er kann ihn nicht ausstehen, aber irgendwie ist er an ihm hängengeblieben, dagegen lässt sich nichts machen.

»Der hatte keine Lust«, antworte ich, denn wenn ich lüge und behaupte, dass Daniel drinnen im Saal ist, wird Tom mir das bestimmt nicht abnehmen. Es wäre für uns beide besser, wenn ich lüge, aber ich kann nicht. »Ich bin mit Mandy hier.«

Er verschont mich mit seinen Ansichten über Mandy, mit der er mal kurz zusammen war, wofür ich ihm dankbar bin (für beides, das Schweigen und dafür, dass er schon vor langer Zeit mit ihr Schluss gemacht hat).

Ich muss mich an seiner Schulter abstützen, um meinen Schuh wieder an den Fuß zu kriegen, wo er hingehört, und dabei schwankt Tom bedenklich. Ehe ich merke, was geschieht, liegen wir beide im Schnee. Mein Rücken wird nass und kalt. Überall ist Schnee, ich habe sogar welchen im Mund. Mein wütender Schrei hört sich dadurch eher wie ein erschrockenes Quieken an.

»Oh sorry, bitte vielmals um Entschuldigung«, lallt er, rappelt sich auf und hilft mir hoch, wobei er es diesmal schafft, nicht umzukippen. »Äh, du hast da Schnee.« Ungeschickt klopft er mir die weiße Pracht vom Rücken.

»Lass das.« Ich packe seine Hand und entferne sie von meiner Taille. Mist. Jetzt bin ich völlig durchnässt, was wohl bedeutet, dass ich sofort nach Hause muss. Mir ist so kalt, dass meine Zähne klappern. Dabei bin ich noch gar nicht so lange auf dieser Party. Vielleicht eine oder zwei Stunden. Noch viel zu früh, um zu Hause anzurufen und Papa zu bitten, mich abzuholen. Mein Vater hält sowieso nicht viel von Partys, auf denen Schüler Alkohol trinken, flirten und Dinge tun, an die sie sich am nächsten Tag nicht mehr erinnern können oder die, bei Licht besehen, nur halb so lustig sind wie gedacht. Wenn Papa sieht, dass ich mich im Schnee gewälzt hab, denkt er womöglich etwas ganz Schlimmes von mir, vor allem, da Tom wie ein Trottel danebensteht und darauf wartet, dass ich ihm entweder eine reinhaue oder ihn küsse.

»Komm, ich bring dich nach Hause«, schlägt er vor.

Im Moment tendiere ich zu »eine reinhauen«.

»Du kannst nicht fahren«, sage ich. »Ausgeschlossen.« Woran man sieht, dass ich durchaus lernfähig bin. Wie könnte ich jemals vergessen, dass ich mich schon mal zu ihm ins Auto gesetzt und erst dann gemerkt hab, dass er kaum geradeaus fahren konnte? Ein Glück, dass aus mir und Tom nichts geworden ist. Er trinkt zu viel. Er hängt auf zu vielen Partys rum. Er ist völlig verrückt. Ganz im Gegensatz zu Daniel, der zwar noch keinen Führerschein hat, aber wenn er endlich Auto fahren kann, sicher unheimlich vernünftig und erwachsen mit dieser Verantwortung umgehen wird. Weil Daniel ja immer so schrecklich erwachsen und nett und brav und LANGWEILIG ist!

Aaaaaah!

Ich packe Tom am Kragen und schaue in seine blauen Augen. Augen, strahlend blau, tiefblau, so wie er im Moment durch und durch blau ist. Die Farbe bildet einen wahnsinnigen Kontrast zu seinen schwarzen Haaren. Ich könnte ihn jetzt küssen. Einfach so. Weil ich immer noch wütend auf Daniel bin. Weil ich diese Jahre, in denen ich heimlich in Tom verliebt war, nicht einfach so abstreifen kann innerhalb weniger Monate; manchmal geistert er ungefragt durch meine Träume. Weil ich hundertdreiundzwanzig Gedichte in meiner Schublade liegen habe. (Oder waren es bloß hundertzwölf? Muss ich mal nachzählen und durchnummerieren.) Weil ... weil ich Lust dazu habe! Und weil niemand es je erfahren wird. Tom wird sich garantiert an überhaupt nichts erinnern.

Unsere Gesichter kommen sich näher. Ich kann seine Bierfahne riechen. Das gibt letztendlich den Ausschlag. Dieser Geruch verdirbt mir den Appetit.

Ich stoße Tom von mir weg, und er landet zum zweiten Mal im Schnee. Er lacht und lacht, wie ein Irrer.

Ich lasse ihn liegen und suche nach meinem Handy. Wo (unfrommer Fluch, bitte kurz weghören) ist mein Handy? Ich muss es vorhin verloren haben. Na toll. Jetzt kann ich hier danach wühlen. Tom lacht immer noch, er klingt glücklicher, als er sollte. Das Dumme ist, ich weiß genau, was ihn so freut. Das war knapp, echt knapp, und er weiß es, so wie ich es weiß, und wenn ich Pech habe, weiß er es morgen auch noch. Wie blöd war ich eigentlich zu glauben, es wäre egal, weil niemand es sieht? Ich würde es wissen. Immer. Immer, wenn ich mit Daniel zusammen bin, würde ich daran denken müssen. Was für ein Glück, dass ich es nicht getan habe.

»Steh auf und hilf mir suchen!«, fahre ich ihn an, damit er endlich aufhört zu lachen. »Mein Handy ist weg.«

»Du brauchst niemanden anzurufen«, beschwört er mich, während er sich herumrollt, um ungeschickt aufzustehen. »Ich kann dich doch bringen.«

Da ist es. Ich fische meinen Rettungsanker aus dem Schnee. Zum Glück ist es wasserdicht. Eigentlich sollte ich für Tom ein Taxi rufen, aber da kommen seine Kumpels aus dem Saal, entdecken uns und ziehen ihn wieder mit ins Gedränge. Es scheint ihn nicht zu stören, dass er völlig nass ist. Zum Abschied wirft er mir eine Kusshand zu. Ich verdrehe bloß die Augen. Mit zitternden Fingern wähle ich die heimische Nummer und bestelle meinen persönlichen Fahrdienst.

Michael entschuldigt sich wortreich. »Tut mir leid, ich kann nicht kommen, mein Wagen steht zurzeit nicht zur Verfügung.« Was immer das heißen mag. Hat er ihn einer hilfsbedürftigen alleinerziehenden Mutter mit vier Kindern ausgeliehen, die keine Getränkekisten schleppen mag, weil sie es im Rücken hat? Wär nicht das erste Mal, aber die fortgeschrittene Uhrzeit spricht doch eher dagegen. »Aber ich sag Manfred Bescheid.«

»Klar, danke. Papa wird sich freuen.« Fröstelnd reibe ich mir die Oberarme und wippe ein bisschen hin und her, um nicht ganz auszukühlen.

Aus dem Schatten vor dem Festsaal löst sich eine Gestalt. Ein glühendes Pünktchen in der Dunkelheit weist auf einen Raucher hin. Ansonsten muss ich warten, bis er in den Lichtschein tritt, dann endlich erkenne ich, wen ich vor mir habe. Es ist eine Sie. Kim. Kim, die einmal zu Mandys Clique gehört hat, bis wir uns alle wegen der Sache mit Steffi und dem armen kleinen Hendrik zerstritten haben. Ich weiß, dass sie immer noch sauer ist, schließlich gehen wir in eine Klasse. Wir, Mandy und ich, haben die Sozialstunden, die man uns aufgebrummt hat, als die Sache rauskam, mit Fassung ertragen, aber Kim betrachtet mich als Verräterin der schlimmsten Sorte.

»Ach, sieh einer an.« Mehr sagt sie nicht, was es irgendwie noch ungemütlicher macht.

»Hi, Kim«, begrüße ich sie. »Ich wusste gar nicht, dass du auch hier bist.«

Sie lässt mich in ihrem eisigen Schweigen schmoren. Wärmer wird mir davon nicht. Kim ist Boxerin und kann es überhaupt nicht vertragen, wenn irgendetwas nicht nach ihrem Willen geht.

»Sag mal, ist dir dein schnuckeliger Mr. Blond-and-Perfect etwa schon langweilig geworden?«

Langweilig? Wie kann sie es wagen! »Er hatte einfach keine Lust«, fauche ich sie an. Daniel ist vielleicht kein begeisterter Partylöwe, aber er wäre mitgekommen. Mir zuliebe. Nur eben nicht heute. »Seine Schwester liegt im Koma, da wäre dir wohl auch nicht so nach Abtanzen zumute!«

»Aha«, sagt Kim. »Und warum bist du dann hier?«

Gott, sie hat recht. Es trifft mich wie ein Schlag. Warum bin ich hier? Es macht sowieso keinen Spaß, ohne ihn. Mandy habe ich im Gedränge zwar aufgestöbert, aber irgendwie nervt sie mich nur. Die ganze Zeit denke ich daran, wie Daniel zu Hause sitzt und sich um Sarah Sorgen macht.

»Weiß er eigentlich, was du hier abziehst? Jemand sollte ihn warnen.«

Mir wird abwechselnd heiß und kalt. Also war sie die ganze Zeit da. Und hat es nicht für nötig gehalten, sich bemerkbar zu machen. Man hüte sich vor Leuten, die in irgendeiner dunklen Ecke heimlich rauchen.

»Ich weiß nicht, was du meinst«, sage ich. »Warum sollte es Daniel stören, wenn ich mich mit Tom treffe?«

»Wenn du ihn abknutschst, dann vielleicht schon«, meint sie gehässig.

Von ihrem Winkel aus hat es möglicherweise danach ausgesehen, dass wir uns geküsst haben. Aber haben wir ja gar nicht. Daher kann sie mir nichts.

»Tja«, räume ich ein, »in dem Fall hätte ich ein Problem. Aber was geht dich das an?«

Kim stößt mich an, sodass ich rückwärts stolpere. »Du kommst dir wohl ganz toll vor, wie?«

Ich lande im Schnee. Eigentlich könnte ich gleich hier liegenbleiben, denn ich hab echt keine Lust, mich mit Kim zu prügeln. Mit einer Frau, deren Fäuste aus Stahl sind? Nein danke. Panisch schicke ich ein Stoßgebet nach oben: Lass Papa schnell herkommen, Gott, bitte!

Kim mustert mich voller Verachtung, dreht sich dann abrupt um und schreitet davon. Sie verzichtet sogar auf den Anblick, wie ich mich stöhnend aufrichte.

Eigentlich könnte ich zwischendurch auch mal für Daniels Schwester beten, die ich überhaupt nicht kenne, doch stattdessen flehe ich bloß darum, dass Papa schnell fährt, obwohl es glatt ist, und nicht wie sonst im Schneckentempo, und dass er keine blöden Fragen stellt.

Die erste Bitte hat schon mal nicht funktioniert. Er braucht ewig. Die zweite ... na, so halb.

»Was ist denn mit dir passiert?« Er dreht die Heizung höher.

Dass er überhaupt nicht fragt, habe ich auch nicht erwartet. »Bin ausgerutscht. Da vorne auf dem Parkplatz ist es glatt«, sage ich.

Und mein Papa, der liebe, herzensgute Pastor Manfred Weynard, glaubt mir das sofort, denn er kann sich nicht vorstellen, warum irgendjemand lügen sollte, wenn er genauso gut die Wahrheit sagen kann.

Als ich vom Bad in mein Zimmer wanke, müde und nicht so ganz bei mir, sehe ich Licht in Tabitas Zimmer. Müsste sie nicht schon längst schlafen? Leise drücke ich die Klinke runter.

Im Schein der Nachttischlampe liest meine Schwester ein dickes Buch. Sie liegt auf dem Bauch und kaut so konzentriert auf einer Haarsträhne herum, dass sie mich gar nicht wahrnimmt. Beim Umblättern raschelt die Seite.

»Hey, Tabby«, flüstere ich, »weißt du eigentlich, wie spät es ist?«

»Wie war die Party?«, fragt sie, ohne aufzusehen.

»Leg endlich das Buch weg. Du musst schlafen.«

»Kümmere dich um deinen eigenen Kram«, gibt sie zurück und liest einfach weiter.

Ich betrachte Tabita einen Moment. Ihr Haar glänzt im Licht. Unter der Bettdecke zeigen sich die Umrisse ihres schmalen Körpers.

Fast ehrfürchtig schließe ich die Tür wieder und tappe in mein eigenes Zimmer. Auf einmal ist es nicht mehr selbstverständlich, dass ich eine Schwester habe. Das ist ein beunruhigender Gedanke, der mich nicht besonders gut schlafen lässt, und jedes Mal, wenn ich aufschrecke, springt mir ein Satz auf die Lippen. Ich spreche ihn nicht laut aus, aber in meinem Inneren hört es sich an wie ein Hilfeschrei: Bitte, Gott, bitte, mach Sarah gesund ...

Ich weiß, dass Daniel auch nicht schlafen kann, dass er ebenfalls in seinem Bett liegt und betet, und so beten wir denn doch zusammen. Heute Nachmittag wusste ich nicht, wie ich anfangen sollte, jetzt weiß ich nicht, wie ich aufhören könnte.

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