Читать книгу als die wahrheit noch männlich und katholisch war - Franziska Maria Papst - Страница 7
Оглавление1. DER TURM
Da sprach Jesus: Um zu richten, bin ich in diese Welt gekommen: Damit die nicht Sehenden sehen und die Sehenden blind werden. Einige Pharisäer, die bei ihm waren, hörten dies. Und sie fragten ihn: Sind etwa auch wir blind? (Joh 9,39-40)
babette
Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die wir uns nicht wirklich erklären können. Ich denke nicht, dass sich meine Eltern bewusst waren was sie taten, als sie mir den Namen der Heiligen Barbara gaben. Auf den ersten Blick war das auch nicht offensichtlich, denn meine frankophile Mutter nannte mich Babette und mir sollte erst Jahre später klarwerden, dass dies nicht nur eine französische Ableitung des Namens Barbara war, sondern auch, dass sich die Lebensgeschichte der Heiligen Barbara eng mit meiner eigenen Geschichte verknüpfen würde. War es also so, dass mich durch die Namensgebung ein bestimmtes Schicksal erwarten würde, oder bedeutete es, dass sich die Heilige Barbara als Schutzpatronin für ein ganz bestimmtes Thema erweisen sollte?
Als ich klein war, mochte ich den Namen nicht. Er schien mir falsch und fremd, denn es war mir manchmal, als ob ich im Grunde eine ganz andere wäre. Und doch war ich so, wie ich war. Ich war Babette. Tochter ihrer Eltern. Enkeltochter ihrer Großeltern. Aufgewachsen in der Stadt.
Wenn ich in den Spiegel schaute, blickte mir ein fröhliches Mädchen entgegen, dessen braune Haare weder gelockt noch glatt waren, sondern sich sehr willkürlich drehten und mir deshalb ein eher unstetes Aussehen verliehen. Die blauen Augen, mit denen ich mich selbst anschaute, schienen tiefer zu blicken, als das überhaupt möglich war. Fischaugen hätte ich, hatte mein Volksschulfreund immer gesagt und es ist mir bis heute nicht klar, was er damit gemeint hatte. Meinte er, dass ich stumm wie ein Fisch war, weil ich so schüchtern war oder hatte er einfach nur ausdrücken wollen, dass meine Augen w a s s e r blau waren?
Ich war ein Kind mit speziellen Begabungen. Aber das wusste ich nicht. Ich hielt meine Talente für selbstverständlich, da sie ja einfach da waren. Ich hatte die Fähigkeit die Welt in einer Tiefe wahrzunehmen, die andere gar nicht interessierte. So konnte ich mich in den Anblick einer Mauer versenken. Ich schaute und schaute und schon nach wenigen Augenblicken wurden die Steine der Mauer lebendig und begannen ihre Erlebnisse preiszugeben. Sie erzählten Geschichten von Menschen. Die Steine entführten mich in die Gedanken der Kinder, die auf der Mauer gesessen hatten. Es waren Buben, die darüber nachdachten wie sie Mama oder Papa glücklich machen konnten oder Mädchen, die fieberhaft überlegten, ob grüne Socken wohl zu weißen Sandalen passten. Die Mauersteine erzählten Geschichten über Beziehungen, über Liebe und Tod, Freude und Leid. Ich sah das Liebespaar, das sich hinter der Mauer versteckt hatte. Ich konnte sie lachen hören. Und ich war tief berührt von der jungen Frau, die erschöpft ihren Kopf gegen die Mauer lehnte und überlegte, ob es nicht leichter wäre zu sterben.
Wie Alice aus dem Wunderland konnte ich in die Löcher der Mauer hineinkriechen. Und war ich erst einmal in einem Loch verschwunden, war es plötzlich nicht mehr klein und eng, sondern im Gegenteil, ich hatte das Gefühl in der richtigen Welt angekommen zu sein. Diese Phantasie-Steine-Mauer-Welt war für mich in manchen Momenten wirklicher als die echte Welt, weil sie schöner, weiter und spannender war, als die, die mein tagtägliches Leben umschrieb. Und sie war vor allem realer, als so mancher Erwachsener erahnen konnte. Sie war m e i n e Wirklichkeit.
Dass auch das reale Leben in subjektiver Wahrnehmung besteht, wurde mir erst in späteren Jahren bewusst. Damals waren die Geschichten, die mir die Mauer erzählte nicht fremde irreale Erzählungen, keine fliegenden Drachen, auch keine Märchen von Prinzessinnen und Prinzen, sondern ich bastelte Erlebtes, Gehörtes und Erfahrenes in meinem Kopf zu Erzählungen zusammen. Es waren banale Geschichten. Alltagsgeschichten. Sie halfen mir, meine Erlebnisse und Gedanken in Worte zu fassen, die auch ich letztendlich in die Mauer verpacken konnte. Dort waren sie nicht nur gut aufgehoben, sondern ich konnte sie mir jederzeit, wie einen Kinofilm, ansehen. Das Schöne an diesen Phantasiegeschichten war aber auch, dass ich ihnen ein Happy End verpassen konnte, was im realen Leben manchmal nicht möglich war.
Doch nicht nur Geschichten aus meiner unmittelbaren Gegenwart faszinierten mich, sondern ich konnte mich auch gut in vergangene Welten hineinfallen lassen. Ich machte Reisen im Kopf und fragte mich, was diejenigen d a m a l s wohl zur Welt h e u t e sagen würden. Wahrscheinlich würden sie sich vor den neuesten Entwicklungen fürchten. Sie würden Lautsprecher für Geister und Flugzeuge für böse Drachen halten. Was haben die Menschen damals gedacht und geglaubt, fragte ich mich. Wie wussten sie zwischen Vorstellung und Realität zu unterscheiden?
Besonders geprägt haben mich die Erlebnisse, die mein Großvater aus seiner Kindheit erzählte. Meist waren es lustige Erzählungen über Streiche, die sie als Buben in dem kleinen Dorf, in dem er aufgewachsen war, durchführten. Es waren Geschichten über seine Schulzeit. Ich denke einige dieser Erzählungen hat mein Großvater auch erfunden, als er merkte, wie gerne wir seinen Erinnerungen zuhörten.
Als ich älter war, sprach mein Großvater auch über den Krieg. Aber das waren sehr seltene Momente. Umso mehr sind sie mir im Gedächtnis geblieben. Ich denke, er wollte nicht wirklich darüber reden. Er versuchte, seine Erlebnisse herunterzuspielen und erzählte im Grunde nur Harmloses. Doch die kleinen Alltagsgeschichten ließen mich das Erleben der Menschen spüren. Ich schlüpfte in die Personen seiner Erzählungen hinein. In meinem Kopf wurden seine Kriegserfahrungen lebendig.
Ich wurde zum Soldat, der an einem eiskalten Wintertag auf einem offenen Lastwagen von Klagenfurt nach Wien fuhr. Es war kalt. Sehr kalt. Der junge Mann hatte nur einen einzigen Gedanken, nämlich:
„Ich muss mich bewegen, damit ich nicht erfriere“. Und er stand auf und lief auf der Ladefläche des Lastwagens hin und her. Fünf ewige Stunden lang. Ich spürte wie mir die Kälte in die Glieder kroch und stand auf, um mich zu bewegen. Hin und her - auf knappen eineinhalb Metern - hin und her. Kniebeuge. Hin und her. Kniebeuge. Mein Kopf war leer. Ich konnte nichts Anderes mehr fühlen. Ich war der junge Mann, der sich selbst verbot zu denken und sich zwang, auf der Ladefläche des Lastwagens hin und her zu laufen. Nicht denken. Bewegen. Nicht hinterfragen. Bewegen. Nicht denken, wozu überhaupt dieser Krieg? Nicht denken, was sein wird. Bewegen. Eins. Zwei. Kniebeuge. Eins. Zwei. Kniebeuge. Zählen wie oft man hin und her gegangen ist. Und das Wichtigste: Nicht denken. Nicht hinterfragen. Weitermachen. Eine ganze Generation verbot sich das Denken. Nicht hinterfragen.
In meinen Gedanken war ich auf einmal viele Jahre später. Der gleiche Mann sitzt in einem schönen Wohnzimmer. Frau und Kind lachen ihm zu. Das ist es wofür ich gekämpft habe, denkt er sich. Dafür? Nicht hinterfragen. Der Krieg ist vorbei. Gott sei Dank. Nie wieder. Und der Soldat versucht die Kriegsbilder aus seinem Gedächtnis zu streichen.
Ich hingegen, versuchte mir alle Geschichten zu merken. Ich saugte sie richtiggehend auf. Die Bilder aus vergangenen Zeiten kamen mich besuchen. Ich mochte sie. Ich fand sie spannend. Ich fragte mich, wie Menschen in früheren Zeiten gelebt hatten, was sie überleben ließ und was sie geprägt hatte.
Heutzutage war es ja wirklich einfach zu überleben. Es gab eine eigene Wohnung für jede Familie. Es gab ein gutes Sozialsystem. Keiner musste verhungern oder verdursten. Das war bei meinen Großeltern oder Ur-ur-urgroßeltern anders gewesen.
Auch im Mittelalter war das Leben sehr mühsam gewesen, wusste ich. Eine Burg oder auch ein Hof, wo alles reibungslos ablief, garantierte damals das Überleben. Diese Erkenntnis hatten mir die Märchen der Gebrüder Grimm vermittelt, die mein ganz persönliches Paradies waren. Ich träumte mit Aschenputtel um die Wette, wünschte mir lange Haare wie Rapunzel oder überlegte wer wohl glücklicher war: Schneeweißchen oder Rosenrot?
Eines war dabei besonders auffällig: Ich fand mich nie in der Rolle der Hauptperson wieder, nämlich der (unentdeckten) Prinzessin oder der glücklichen Maid, die vom Prinzen gerettet wurde. Ich schlüpfte meist in die Person des Küchenmädchens oder bestenfalls des Stallburschen und bekam dadurch eine ganz besondere Wichtigkeit. Es war eine Rolle, die sich dadurch auszeichnete, dass sie – wie die Magd im Stall – durch ihre Arbeitskraft unverzichtbar war. Wer würde die schmutzigen Töpfe putzen? Wer sorgte dafür, dass die Laken geflickt und genug Essen auf dem Tisch war. Diese Personen waren in ihren Tätigkeiten unverzichtbar.
Die Aufgaben einer Prinzessin erschienen mir hingegen entbehrlich. Da war es doch weit wichtiger die ungeliebten, mühsamen Arbeiten des Dienstpersonals zu verrichten. Ohne das Gesinde, ohne die kleinen, unzähligen, fleißigen Hände der Knechte und Mägde gab es kein funktionierendes Burgleben. Natürlich brauchte es eine königliche Familie. Ein König musste regieren und er musste sich darum kümmern, dass seine Burg nicht auseinanderfiel. Da hatte er eine Menge zu tun. Und dazu benötigte er vor allem Dienstpersonal und Soldaten, die die Burg verteidigten. Eine Prinzessin schien mir aber in dem Zusammenhang weniger wichtig. Und wofür brauchte es einen Prinzen? Nun, ein Prinz musste irgendwann die Regierung übernehmen, aber wozu waren seine Brüder, seine Cousins, seine Onkels da? Es konnten schließlich nicht alle regieren.
Ich beschloss, dass ich auf keinen Fall Prinzessin werden wollte. Lieber eine Ritterin, oder noch besser eine liebevolle Magd im Dienst ihrer Herren. Ich wollte mich mit den wirklich wichtigen Dingen des Lebens beschäftigen: kochen, putzen, Kinder großziehen. In meinen Gedanken wurde ich ein unverzichtbarer Teil meines märchenhaften Dienstpersonals und damit auch gleichzeitig unentbehrlicher Teil der Dynastie. Ich war diejenige, die für das Aschenputtel und ihren Prinzen kochte. Ich war die Goldmarie aus Frau Holle (allerdings ohne Goldregen, denn ich wusste ja, dass es den Goldregen erst im Himmel gab). Ich war diejenige, die nachdem der Jäger das Rotkäppchen aus dem Bauch des bösen Wolfes befreit hatte, Steine holte um den Wolfsbauch damit zu füllen. Ich war diejenige, die das Stroh in die Kammer trug, das die Königin in der Rumpelstilzchen-Geschichte zu Gold spinnen musste. Ich putze die Spindel, reparierte das Spinnrad und das Wichtigste: Ich war immer dabei. Ich war dabei, als der Prinz das Dornröschen küsste und ich war dabei, als das vergiftete Apfelstück aus dem Mund des Schneewittchens sprang. Ich war mitten im Geschehen. Mein Leben war aufregend. Ich wusste alles immer aus nächster Nähe und lernte daraus für mein Leben.
Genauso lebensnah waren mir die Erzählungen der Bibel. Sie berührten mich und lehrten mich das Leben in seiner Vielschichtigkeit wahrzunehmen. Manche Menschen betrachteten die Bibel als etwas Geheimnisvolles, Kompliziertes und vor allem Unberührbares. Aber das Gegenteil war der Fall. Ich fand die Bibel weder geheimnisvoll noch kompliziert. Sie faszinierte mich. Mehr noch, ich fühlte mich verstanden. In den biblischen Geschichten begegnete ich Menschen, die mein Innerstes berührten. Sie waren in die kleinen und großen Herausforderungen des Lebens verstrickt. Es waren Menschen, die Gott begegnet waren und dann versuchten, all das Erfahrene mit eigenen Worten auszudrücken. Von Wundern war in den biblischen Erzählungen die Rede. Es waren Zaubermächte, die Hunger und Tod besiegten, wie bei der Witwe von Sarepta, bei der Elija bewirkte, dass das Mehl im Topf und das Öl im Krug nicht versiegte und darüber hinaus noch ihren Sohn zum Leben erweckte.1
Das hebräische Volk war in meinem Kopf eine eingeschworene Gemeinschaft, wie ich sie mir für das wahre Leben wünschte. Durch kriegerische Feinde bedroht, fürchteten die Israeliten immer wieder um ihr Leben und waren von Hungersnot oder Krankheiten bedroht. Aber die Geschichten hatten ein Happy End, denn im letzten Moment gab es immer einen überirdischen Helfer. Es war Jahwe, der sich in feindlicher Bedrohung als kriegerischer Gott, als himmlischer Beschützer oder auch nur als kongenialer Ideengeber zeigte und so seinem Volk böse Feinde zu besiegen half.
Die lebhaften Bilder meiner Phantasie, die von alten Zeiten erzählten, prägten meinen Zugang zu meinen Mitmenschen. Sie thematisierten zwischenmenschliche Konflikte oder zeigten das Entwicklungspotenzial von Außenseitern auf.
Besonders mochte ich deshalb auch Geschichten über Jesus. Wenn ich diese hörte, dann waren es nicht einfach Erzählungen, sondern die Figuren wurden lebendig und die Begebenheiten lustig und lehrreich. Jesus hatte runde, braune Augen, mit denen er die Menschen liebevoll anblickte und er hatte eine große Nase, die ihm etwas Seriöses verlieh. Natürlich trug er ein langes, weißes Gewand.
Ich erinnere mich noch gut an die Geschichte des Zachäus,2 so wie i c h sie erlebte.
Nach einem langen Fußmarsch war Jesus in ein unscheinbares Dorf gekommen. Es war eine Ansiedlung aus kleinen Lehmhütten und viel Wüstensand mitten in Palästina. Eine Gruppe Menschen hatte sich neugierig auf dem staubigen Dorfplatz versammelt, wo Jesus in langem, weißem Gewand stand und predigte. Auch Zachäus wohnte dort. Er war etwas später hinzugekommen und fühlte sich von der kleinen Menge angezogen. Schon aus der Ferne hatte er Jesu Stimme gehört und war ihr gefolgt, denn dieser Mann hatte etwas an sich, das ihn begeisterte und innerlich glücklich machte. Zachäus hatte lange Locken und einen finsteren Blick. Sein Kittel war etwas zu groß, aber er war aus besserem Stoff gemacht. Kleidung war schließlich eine Prestige-Sache. Als er nun in die Nähe seines Hauses kam und sah, dass Jesus dort predigte, wurde er neugierig. Er kletterte auf einen Baum, um Jesus zu sehen.
Natürlich stand mir damals so eine Art riesiger Christusdorn vor den Augen. Das ist dieser stachelige Baum mit wenigen kleinen Blättern und roten Blüten, der das Fensterbrett meiner Großmutter zierte. Sie erklärte mir damals sehr stolz, dass dies die Pflanze sei, aus der einst die Dornenkrone Jesu gemacht wurde. Dass dieser kleine Strauch aus Madagaskar und nicht aus Israel stammte und erst im 19. Jahrhundert überhaupt woanders bekannt wurde, hinterfragte sie nicht. Es war auch egal. Es war die Dornenkrone, die es ihr angetan hatte.
Wie gesagt, in meiner Vorstellung kletterte also Zachäus auf diesen Christusdorn und stach sich Finger und Füße blutig. Aber er konnte Jesus sehen und Jesus sah Zachäus. Wie ein alter Kumpel winkte er Zachäus zu und dieser vergaß vor lauter Freude und Aufregung jeden Schmerz und begann hinunterzuklettern. In diesem Moment verfing er sich mit seinen langen Haaren in den Zweigen des Baumes. Hilflos hing er für einen kurzen Augenblick an den Zweigen fest. Was sollte er tun? Fest an den Haaren reißen oder am Baum rütteln? An den Haaren zu reißen schmerzte ziemlich, also riss er verzweifelt mit den Händen und voller Kraft die Zweige ab und sprang mit zerkratztem Gesicht und blutenden Händen auf den heißen Sand (Blasen auf den Füßen!) um in sein Haus zu laufen.
Das muss ein Bild gewesen sein. Zachäus war vollkommen blutig, verschwitzt und dreckverschmiert und hatte große Dornenzweige in seinen zerrupften Haaren. Jesus umarmte ihn und zerkratzte dabei ebenfalls seine Hände und sein Gesicht. Ich war sehr bewegt und berührt von der Geschichte und überwältigt von Emotionen, die mich wie heißes Badewasser einlullten. Zachäus war es egal, wie er aussah, ihn kümmerte nicht, ob die Dornen schmerzten oder nicht, er wusste nur eines: Er wurde von Jesus geliebt, so wie er war.
Meine Kindheit wurde also durch all diese Geschichten, die ich in meinem Kopf erlebte, geprägt. Sie blieben jedoch nicht in meinem Kopf wie ein Theaterstück oder ein Fernsehfilm, sondern ich versuchte danach zu handeln und sie lehrten mich den Umgang mit Menschen. Und sie brannten mir vor allem eine Gewissheit ein: Dass kein Mensch a l l e i n e überleben kann. Wir brauchten einander und wir brauchten Gott. Freunde und Familie zu haben bedeutete, sich gegenseitig unterstützen zu können. Es hieß, ein Netzwerk zu haben auf das man sich verlassen konnte.
Noch wichtiger war der himmlische Beistand. Mit Gott an der Spitze konnte gar nichts schiefgehen. Natürlich musste es der r i c h t i g e Gott sein, der, der die bösen Philister vertrieb, der von der römischen Besatzungsmacht befreien konnte und der, der uns in Krieg und Unheil zu Seite stand. Fazit: Wenn ich zum richtigen Volk gehörte, dann würde ich von Gott beschützt werden.
Ich mochte keinen Krieg. Die Erzählungen meines Großvaters hatten genug abschreckende Wirkung gehabt. Ich wollte in Frieden leben, so wie Jesus und Zachäus. Da war es eben notwendig, so gut wie möglich auch seine Feinde zu lieben. Mit Feinde meinte ich natürlich die aus meiner engeren Umgebung. Das war der Nachbar, dem man nicht sympathisch war, oder der Cousin, der immer so dumme Kommentare schob oder auch die Tante, die immer so seltsam roch. Familie blieb Familie.
Aber da gab es trotzdem noch den Feind, der von außen kam und die Familie zerstören wollte, so wie die Philister oder die Assyrer, die die Israeliten aus ihrem Land vertreiben oder unterdrücken wollten. Es ging also darum, eine möglichst gute Gemeinschaft zu werden, eine gottgefällige Gemeinschaft, damit nicht nur wir uns selbst gut schützen konnten, sondern auch Gott seine schützende Hand über uns ausbreiten konnte. Er war auf unserer Seite, weil wir brav waren. Sündenlos. So wie es ihm gefiel. Gut zu den anderen. Bemüht um Nächstenliebe.
Ich lernte also von klein auf, dass es wichtig war, sich in eine Gesellschaft und vor allem in die vorgegebene Rolle einzufügen, denn nur eine gute Gesellschaft kann vor dem bösen Feind schützen. Eine Sippe konnte dann möglichst gut überleben, wenn jeder seinen Teil dazu beitrug. Arbeitsteilung hat schon vielen das Leben leichter gemacht. Da gab es die, die auf die Jagd gingen und die anderen die sich um Heim und Essen kümmerten. Da gab es die, die den Clan gegen den bösen Feind verteidigten oder diejenigen, die die notwendigen Gebrauchsgegenstände herstellten. Zu allen Zeiten war das schon so gewesen.
Ich hatte auf jeden Fall das Glück in eine gut funktionierende Großfamilie hineingeboren zu werden. Dachte ich jedenfalls. Hier war alles streng geregelt. Jeder hatte seine Aufgabe. Die Männer sorgten für Sicherheit und Geld und die Aufgabe der Frauen war es, alles so zu organisieren, dass Familie und Heim funktionierten. Ich mochte meine Familie. Sie beschützte mich. Und Gott, der Herr, schaute auf uns, denn es war alles genau so, wie er sich das wünschte.
die heilige dreifaltigkeit
Die Heilige Barbara lebte im 3. Jahrhundert in Nikomedien. Der Legende nach war sie eine sehr schöne und kluge junge Frau. Viele junge Männer aus Nikomedia hielten um ihre Hand an. Barbara jedoch wies ihre Verehrer zurück. Sie wollte nicht heiraten, sondern ihre Jungfräulichkeit Gott weihen. Sie traf sich heimlich mit Christen. Ihr Vater Dioscoros war entsetzt. Seine eigene Tochter verehrte diesen dahergelaufenen, auferstandenen Wanderprediger als Gott. Ein Gott, der noch dazu in einem kleinen Stückchen Brot präsent sein sollte. Der Vater – ein angesehener Bürger – wurde nervös. Barbaras Vater war Heide, was zu dieser Zeit nichts Anderes bedeutete, als dass er an andere Götter glaubte, als die Christusjünger. Dem Kaufmann Dioscoros waren die zwölf Götter des Olymps wichtig, Zeus, Hera und all die anderen. Er hatte großen Respekt vor Hades und seiner Gemahlin Persephone, die in der Unterwelt herrschten. Seine Götter waren menschliche Gestalten mit menschlichen Eigenschaften. Sie hatten Gefühle und Gedanken. Der einzige Unterschied zu den Irdischen war, dass Götter unsterblich waren und bei Verfehlungen sehr harte Strafen aussprachen. Sie waren also alles andere als zimperlich. Sie waren verantwortlich für Naturereignisse und Unerklärliches.
Was sollte Dioscoros tun? Seine eigene Tochter war vom Bösen infiziert und von falschen Göttern verführt! Er versuchte sie mit Worten zu überzeugen.
„Barbara, du bringst uns in Gefahr! Wir werden uns den Zorn der Götter zuziehen “, warnte er sie eindringlich. Dioscoros wagte kaum daran zu denken, was passieren würde, wenn die Familie den Schutz der Götter verlieren würde.
Aber das gute Zureden half nicht. Barbara ignorierte ihren Vater und traf sich weiterhin heimlich mit ihren Christen-Freunden. Sie teilten das Brot miteinander. Eine unerklärliche Kraft und Sicherheit ging von dieser kleinen Gruppe aus, eine magische Kraft, die Dioscoros in Panik versetzte. Wenn Barbara nicht freiwillig von dieser Christen-Gruppe abließ, dann musste er notfalls Gewalt anwenden. Und so sperrte er seine Tochter in einen Turm. Da konnte sie nichts mehr anstellen.
Barbara konnte nicht aus dem Turm. Es gab einfach keine Mittel und Wege. Der Turm war gut bewacht. Die Wächter standen auf Seiten des Vaters, die Kontakte nach außen waren spärlich und nur der stumme Wärter brachte Wasser und Brot. Barbara hingegen ließ sich weder ihren Glauben noch ihr Gespräch mit Gott verbieten. Sie betete mit Jesus und ließ sich vom Heiligen Geist leiten. Barbara wusste genau, was die heilige Dreifaltigkeit bedeutete. Gott, die zeitlose, ewige, sich selbst verschenkende Liebe war in Jesus Christus menschlich und geschichtlich erfahrbar geworden. Ein kleines Stück Gott? Nein, ein ganzes Stück Gott. Und der Teil, der noch immer für uns kleine, geschichtlich gebundene Menschen greifbar ist, das ist der Heilige Geist. Kompliziert? Ja, für Theologen schon. Für Barbara schien es ganz einfach. Es musste so sein. Gott war einfach da. In drei verschiedenen Ausdrucksformen, die für das kleine, begrenzte menschliche Wesen erfassbar waren. Wenn sie schon nicht aus dem Turm herauskonnte, dann ließ sie wenigstens ein drittes Fenster in den Turm brechen. Eines für Gottvater, eines für den Sohn und eines für den Heiligen Geist.
Ihre Liebe zu Gott war ihr Todesurteil. Sie hatte keine andere Möglichkeit. Sollte sie verleugnen, was sie wusste? Weil sie Christus liebte, ging sie mit der Gewissheit der Märtyrer der ersten Jahrhunderte in den Tod, den ihr eigener Vater für sie vorgesehen hatte.
Wie Barbara im Turm konnte auch ich direkt mit Gott reden. Oder sagen wir besser, ich wusste, dass da jemand war.
Eines Nachts, ich war noch sehr klein, wachte ich auf, weil ich Geräusche hörte. Es war ein leises Schnaufen und ein dumpfes Tappen, als ob jemand mit schweren Schritten über einen Teppich schleichen würde. Ich riss die Augen auf, um im dunklen Zimmer irgendetwas erkennen zu können und erstarrte als ich eindeutig den Schatten eines großen Tieres erkannte. Ein Nilpferd, nein, ein Rhinozeros! Ganz leise schlich dieses Rhinozeros an mich heran. Es hatte große gelbe Augen und atmete schwer. Es kam immer näher. Ich lag wie versteinert in meinem Bett und versuchte mir einzureden, dass dieses Rhinozeros gar keines wäre, sondern mein Vater, der nachsehen kam, ob ich wohl schlief. Aber es war da. Ein Rhinozeros mit großen, gelben, leuchtenden Augen kam immer näher und näher. Ich hatte Angst. Und in dieser Angst gab es nur einen Einzigen mit dem ich reden konnte und der mir helfen würde. Ich wusste nicht wie er hieß und schon gar nicht, dass es möglicherweise der war, den ich später als Gott identifizieren würde. Er war einfach da. Ich bat ihn, mir zu helfen.
Hokuspokus – wie bei einem Zauberspruch erschien hinter dem Rhinozeros die Muttergottes mit dem Jesuskind am Arm. Sie rief etwas und das Rhinozeros löste sich in Luft auf.
Man mag nun denken, das sind Träume einer Fünfjährigen. Aber diesem Mädchen war es in dem Moment egal, ob der Traum Phantasie oder Wirklichkeit war. Wichtig war etwas ganz Anderes, nämlich die Gewissheit in Sicherheit zu sein. Ein fünfjähriges, kleines Mädchen wusste in diesem Augenblick eines: Da gibt es jemanden, der dich begleitet. Eine Art Zaubermeister. Da können die Erwachsenen sagen, was sie wollen. Ich spürte eine Kraft in meinem Herzen, die mich stark machte. In mir breitete sich eine Sicherheit aus, die bis in die Zehenspitzen ging. Ich konnte Gott spüren, wie ein Kribbeln in den Fingerspitzen, wie eine wärmende, galaktische Flüssigkeit, die sich in meinen Adern breitmachte. Von diesem Moment an wusste ich, so wie die Heilige Barbara damals Ende des dritten Jahrhunderts, da gibt es jemanden, auf den man sich hundertprozentig verlassen kann. Und das war der Christen-Gott, denn Zeus oder Hera waren für mich definitiv keine Option. Woher ich mir so sicher war, dass die Frau mit dem Kind, die mich gerettet hatte, die Muttergottes war, weiß ich nicht. Vielleicht hatte es mir jemand erzählt oder ich hatte die beiden in einer Kirche gesehen. Ich wusste einfach, dass sie es waren. Und von da an begleiteten sie mich.
Genauso selbstverständlich war mir die Heilige Dreifaltigkeit. Nicht als theologisches Gebilde oder auch nicht als Bezeichnung, sondern als Erfahrung. Gott war der, mit dem man reden konnte, er war der, der quasi unsichtbar um mich herum schwebte und in mir war. Ich redete mit ihm. Nur war mir das als Kind definitiv nicht bewusst. Er war eher wie der unsichtbare Freund oder andere Begleiter, den so manche Kinder haben. Er war da und ich habe mit ihm gesprochen.
Und Jesus? Jesus war für mich der Mensch aus den Geschichten. Er war konkret greifbar, als Mensch, den ich zwar noch nicht persönlich kennengelernt hatte, aber wie eine Person über die man spricht und der man möglicherweise eines Tages begegnet. Ich wusste: Jesus war Gott zum Angreifen.
Gott konnte ich überall finden. Jesus nicht. Jesus war für mich in der Kirche. Dort konnte ich hingehen und mich mit seinen Geschichten volllaufen lassen. Ich wusste auch, dass man Jesus im Tabernakel finden konnte, dort wo immer das rote Licht brannte. Jedes Mal, wenn ich in eine Kirche kam, hatte ich das Bedürfnis nachzuschauen, ob Jesus auch wirklich dort drinnen war. Aber natürlich traute ich mich nicht. Ich kniete mich vor dem Tabernakel nieder, in der Hoffnung, dass Jesus von selbst herauskommen würde. Ich stellte mir das ähnlich wie beim Flaschengeist aus Aladdins Wunderlampe vor. Oder auch wie auf den Bildern von Salvador Dalì. Da floss dann ein Wassertropfen aus dem Rand der Tabernakeltür, der langsam Gestalt annahm und zu Jesus wurde. Er blickte mich mit seinen runden, braunen Augen an und fragte liebevoll:
„Na, Babette, welche Geschichte möchtest Du denn heute hören?“ Ich freute mich.
„Die vom Kamel und dem Nadelöhr3“, rief ich begeistert und Jesus setzte sich auf die Stufen des Altares und begann mir die Geschichte vom reichen Mann zu erzählen, der an die Himmelstür klopfte. Vor mir erschien das Bild einer weiten Wüste, nichts außer Sand und Staub und in der Ferne ein paar Berge. Ein mittelalterlicher Kaufmann näherte sich mit seiner Karawane im Schlepptau. Er war in schwarzen Samt und Purpur gekleidet und hatte einen breiten Hut auf dem Kopf, der einen langen Schatten in der Wüstensonne warf. Einsam, mitten in der Wüste stand eine prunkvoll geschmückte Himmelstür. Der Kaufmann wollte in den Himmel kommen und klopfte mit einem strahlenden Lächeln an die Türe. Das laute Klopfen war weit in die Wüste hinein zu hören und schon erschien eine Hand mit einem Zeigefinger und eine dumpfe dröhnende Stimme rief: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.“
Der Kaufmann blickte verzweifelt auf seine Kamele, seufzte und eine Träne rann ihm über die Wange. Er würde wohl nie in den Himmel kommen. Neben der Himmelstür stand Jesus in seinem einfachen, weißen Gewand. In der Hand hielt er, lässig wie ein Stabhochspringer nach einem erfolgreichen Wettbewerb, eine riesige Nähnadel. Eines der Kamele des Kaufmanns schlurfte langsam heran und quetschte sich durch das Öhr dieser Nadel. Ich lachte und war unheimlich froh, dass es durchgekommen war. Auch der Kaufmann lächelte wieder. Er hatte die Hoffnung nun doch in den Himmel zu kommen. Jesus war für mich der eigentliche Held der Geschichte, denn er hatte diese riesige Nähnadel.
Der Heilige Geist war für mich das Komplizierteste, denn der war nicht immer da. Er kam und ging wann er wollte. Ich hatte keine Möglichkeit ihn einzufangen, obwohl ich das gerne getan hätte. Er war wie der Wind, der bei uns meistens von Osten kam. Ich mochte den Wind. Er brachte ein Gefühl von Freiheit und eine Gewissheit, dass da etwas Himmlisches war, das gleichzeitig Teil dieser Welt war. Der Heilige Geist war etwas Unbeschreibliches, fern und doch ganz nah. Er war eine Kraft, die sich in der Welt breitmachte. Leider konnte man sie so schwer behalten oder anfassen. Sie war diffus und wolkenweich. Dieser Geist war weniger jemand mit dem ich redete, sondern er redete mit mir, er flüsterte mir Gedanken ein und inspirierte mich plötzlich und unerwartet, wie eine kräftige Windhose, die alles durcheinanderwirbelte. Manchmal zog mich dieser Geist wie ein starker Windsog in seinen Bann.
Gottvater, Jesus und der Heilige Geist waren ein unschlagbares Team. Sie waren immer in meiner Nähe. Soweit meine kindliche, aber sehr lebensnahe Vorstellung der Heiligen Dreifaltigkeit.
eine gutbürgerliche familie
Meine Herkunftsfamilie könnte man als fast normale bürgerliche Familie beschreiben. F a s t. Denn ich dachte immer, dass wir normal und damit bürgerlich wären, jedoch gab es in unserer Familie ganz eigene Spielregeln. Es waren Spielregeln, die mein Tun und Denken nachhaltig bestimmten. Meine Eltern waren nach außen hin religiös, aber nicht zu sehr und man gab sich eher progressiv nach-vatikanisch. Gleichzeitig war mein Vater innerlich mehr Atheist, als religiös und vor allem von ganzem Herzen Naturwissenschaftler. Geprägt durch die Wissenschaftsgläubigkeit eines Industriezeitalters, waren Religion und Naturgesetze für ihn schwer miteinander vereinbar. Möglicherweise war es einfach nur eine Reaktion auf die von der Kirche zwanghaft vermittelte Unfehlbarkeit von Glaubenssätzen. So trennte mein Vater strikt zwischen Beweisbarem und Unbeweisbarem. Gott könne man ja schlussendlich nie beweisen, meinte er. Er freute sich jedoch wie ein Schneekönig, als Quantenphysiker die doppelte Existenz gleicher Teilchen nachwiesen, was zeige, dass es ein Außerhalb von Raum und Zeit geben müsste, da es ja merkwürdige Teilchen gab, die beschlossen hatten, an verschiedenen Orten ins Zeit-Raum-Gefüge einzutreten, aber gleichzeitig dasselbe Teilchen waren. Das war für ihn dann doch ein Beweis für die theoretische Möglichkeit einer jederzeitigen Auferstehung des Körpers.
Meine Mutter ging regelmäßig in die Kirche und setzte mit ihrem religiösen Aktivismus ein Zeichen für ihr Gutsein. Sie hatte aber durch ihre patriarchale Prägung im Grunde nur einen einzigen Gott: meinen Vater. Trotzdem war unsere ganze Familie katholisch. Genau genommen: die ganze Großfamilie. Der Sonntagsgottesdienst und ein gewisses kirchliches Engagement waren selbstverständlich. Man setzte sich für eine gute Sache ein und glaubte vor allem an die Moralinstanz Kirche. Die Kirche und mit ihr eine ethische Regelung des Lebens war schließlich ein Bollwerk in dieser verluderten Welt.
Ich wuchs in einem 1960er Jahr Wohnblock in einem gutbürgerlichen Stadtviertel auf. Es war einer von diesen Betonbauten, die schnell hochgezogen wurden, um möglichst vielen Menschen eine eigene Wohnung zu verschaffen, aber doch ein gewisses ästhetisch-architektonisches Mindestmaß boten. Meine Eltern brachten es zu Wohlstand, den sie jedoch nicht auslebten. Sie deponierten das Geld lieber am Bankkonto, für den Fall, dass einmal wieder schlechte Zeiten kommen würden. Sie zählten zu dieser Nachkriegsgeneration, die verbissen arbeitete, sich nichts gönnte und für die Anerkennung der erstrebenswerte Sinn des Lebens war.
In diesem Wohnblock machte ich aber gleichzeitig die Erfahrung, dass es auch Menschen gab, die anders dachten.
Unsere Nachbarin war katholisch, aber sie ging nie in die Kirche. Meine Eltern sagten immer:
„Na ja, das sind halt die sozialistisch geprägten“. Für sie waren die Sozialisten die einfachen Arbeiter, die es im Leben nicht weit bringen würden, aber zu denen man großzügig zu sein hatte, schließlich produzierten s i e, was w i r zum Leben brauchten. Wir hingegen hatten eine gewisse Verantwortung. Wenn wir mit den Nachbarskindern spielten, schlich sich mir manchmal ganz heimlich die Vermutung ein, dass diese mehr Freiheiten und weniger Verbote hätten. Ich spürte leichten Neid aufkommen, den ich aber gleich wieder zur Seite schob. Sie hatten die schlechteren Tischmanieren und sie würden einmal die minderwertigen Jobs bekommen. Also war es besser, b e s s e r zu sein.
Zu meinen Eltern hatte ich wenig Beziehung. Es lässt sich eher so beschreiben, dass sie meine selbstverständliche Umgebung waren, schließlich gab es keine andere. Sie waren das Umfeld in dem ich aufwuchs.
Mein Vater war Familienerhalter und zugleich ein Patriarch, der im Grunde nur seine eigenen Wünsche kannte und verbal um sich schlug, wenn jemand auch nur anders dachte. Er konnte cholerische Anfälle bekommen, wenn das Essen nicht seinem Geschmack entsprach oder Kinder laut brüllend durchs Zimmer rannten. Dann lief sein Gesicht rot an. Seine Augen traten hervor und glichen toten Tintenfischen, die an die Wasseroberfläche gespült worden waren. Wenn sich die Krakelfüße der Tintenfische dann in seinem Gesicht ausbreiteten, bedeutete das für uns Kinder vor allem eines: In einer Katzenlauerstellung das freundlichste Gesicht der Welt aufsetzen, sich ganz still und leise verhalten und ihn andächtig anbeten. Das gab ihm offenbar ein Gefühl von Kontrolle und er beruhigte sich schnell wieder.
Meine Mutter hatte nur Augen für ihn (und für sich) und hatte ihre Pflichten mit der Geburt von vier Töchtern erfüllt, auch wenn alle stillschweigend bedauerten, dass kein Sohn da war, um das väterliche Patriarchat zu übernehmen. Aber das würden ja dann in weiterer Folge die zukünftigen Schwiegersöhne tun, so die Hoffnung. Als meine Mutter nach der vierten Tochter eine Fehlgeburt hatte, war die Geburtenplanung schließlich abgeschlossen.
Nach außen hin waren wir eine nette, gut-österreichische Familie, die christliche Werte hochhielt. Der Familienverband hatte einen hohen Stellenwert, was sich in artigen Weihnachtsbesuchen und erfolgreichen beruflichen Karrieren auszudrücken hatte, die der gesamten Sippschaft ein Netzwerk und gesellschaftliche Anerkennung boten. Im alltäglichen Miteinander waren wir Töchter allerdings den Großteil unserer Kindheit uns selbst überlassen, eingebettet in ein selbstverständliches strenges Gedankengebäude. Es mag seltsam klingen, aber wir gehorchten unbewusst Vorgegebenem. Auf den ersten Blick hatten wir viel Freiheit. Untertags schaute uns niemand auf die Finger, was wir als scheinbares Paradies betrachteten. In Wirklichkeit gab es allerdings sehr strenge Spielregeln. Nur wenn man sich an diese hielt, dann konnte man gut überleben.
So merkte ich beispielsweise bald, dass ich mich nicht allzu auffällig benehmen durfte. Kein Mensch kümmerte sich darum, was wir taten, solange wir dann da waren, wenn wir da zu sein hatten. Ich war eines jener Kinder, die sich wie ein Chamäleon anpassen konnten. Unsichtbar, wenn die Eltern mit sich beschäftigt waren, jedoch sichtbar, wenn es darum ging kindliche Pflichten zu erfüllen.
Diese Pflichten bestanden keineswegs im Aufräumen oder Putzen. Das war niedere Arbeit. Unsere kindlichen Aufgaben bestanden vor allem im Repräsentieren und Bewundern. Es galt ein bestimmtes Bild unserer Familie nach außen zu transportieren. War Besuch da, so hatten wir wohlerzogen und leistungsbewusst zu sein. Meine älteste Schwester wurde wegen ihrer guten schulischen Leistungen gelobt und die Jüngste spielte ein Klavierstück vor. Man konnte etwas, wusste etwas und man war eine Tochter zum Heiraten. Das klang ein bisschen nach Relikt aus dem 19. Jahrhundert, aber es war ein Wert, der nicht nur in unserer Familie, sondern ganz allgemein in bürgerlichen Kreisen hochgehalten wurde. Männer heirateten eine gute Partie und Frauen wurden geheiratet. Und das Ganze diente dem Erhalt der Sippe.
Damit beschäftigt ein Ideal aufrecht zu erhalten, merkte ich bald, dass ich gewisse Dinge nicht denken durfte. So war es von Seiten meiner Eltern her streng untersagt, auch nur ansatzweise zu überlegen, dass irgendetwas in unserer Familie falsch sein könnte. Es war verboten auch nur zu ahnen, dass das, was mein Vater sagte, nicht richtig sein könnte. Darüber hinaus hatte man im Vorhinein die Wünsche unseres Vaters zu kennen und zu erfüllen. Es war eine Art vorauseilender Gehorsam. Wir lebten in einem selbstverständlichen Patriarchat. Wir kannten es nicht anders.
Wenn es zum sonntäglichen Familienausflug losging, standen wir eine Viertelstunde lang aufgereiht wie die Orgelpfeifen, Stiefel und Mantel bereits angezogen, im Vorraum. Mein ungeduldiger Vater hatte es sich zur Gewohnheit gemacht seinen Mantel erst dann anzuziehen, wenn wirklich alle fertig waren. Es wäre eine Zumutung gewesen ihn warten zu lassen. Das lief dann so ab:
Mein Vater saß am Klavier und trällerte eines seiner volkstümlichen Lieder während meine Schwester mit den Schnürbändern ihrer Stiefel kämpfte. Ich schielte zu ihr. Die Ösen, in die sie mühsam die schwarzen Bänder einfädelte, wurden in meiner Phantasie immer größer. Wie Maikäfer begannen sie sich zu bewegen und die Stiefel hinauf und hinunter zu krabbeln. Meine Schwester versuchte verzweifelt sie einzufangen, um ihre Schnürbänder daran festzumachen. Während ich sie so beobachtete, wurde mir immer wärmer und Schweiß begann an mir hinunter zu rinnen. Ich fühlte wie mein Unterhemd feucht wurde. Aber ich stand steif wie eine Zinnsoldatin mit einem süßen Lächeln im Gesicht. Ich wollte ja schließlich keine Ohrfeige riskieren. Diese Eigenschaft äußerlich ruhig zu bleiben und viel auszuhalten, nicht umzufallen oder auszurasten, ist mir in meinem Leben noch oft zu Gute gekommen. Schlussendlich waren wir dann alle angezogen und mein Vater startete hocherhobenen Hauptes mit seinen Töchtern zum Sonntagsausflug. Wir marschierten nicht weniger überheblich mit. Wir konnten stolz auf unsere Leistung sein. Wir hatten keinen Fehler gemacht. Alles war perfekt. Genauso wie mein Vater es wollte.
Meine Mutter passte sich meinem Vater wie ein Schatten an. Wenn er etwas brauchte, lies sie alles liegen und stehen. So konnte sie in einem Augenblick noch gemütlich am Telefon mit einer Bekannten plaudern, kaum kam mein Vater bei der Tür herein, legte sie mit einer überstürzten Ausrede den Hörer auf. Das mag ja in einigen Fällen angebracht sein, aber auch wenn mein Vater nichts wollte und nichts brauchte, war sie für ihn da. Jede Minute.
Selbstverständlich war meiner Mutter ihr Mann wichtiger als ihre Kinder. Schließlich hatten sich die Kinder den Eltern anzupassen und nicht umgekehrt.
Eines Tages merkten meine Schwester und ich die schlechte Stimmung meines Vaters. Wir hatten Angst, dass er uns unbegründet schlagen würde. Hilfesuchend lief meine Schwester zu unserer Mutter. Die ging schnurstracks zu meinem Vater und kam mit der Antwort wieder:
„Wenn ihr brav seid, wird er euch nicht schlagen. Ihr braucht keine Angst zu haben.“ Ich fühlte mich verraten. Warum hatte meine Mutter ihm von unseren Ängsten erzählt? Ich hatte gedacht, wir wären Verbündete gegen die cholerischen Ausschweifungen meines Vaters. Aber dem war nicht so. Wir waren nur Kinder. Untergeordnet und ausgeliefert. Brav sein hieß, sich still den Vorgaben des Familienoberhauptes auszuliefern. Da gab es keine Bündnisse oder Gehorsamsverweigerung, keine Diskussion oder gar konstruktive Kritik.
Meine Eltern hielten diesbezüglich fest zusammen und waren mehr als nur einer Meinung, sie waren eins: im Denken, im Fühlen, im Handeln. Alles hatte sich meinem Vater anzupassen. Was nicht nach seinen Vorstellungen ging, wurde geleugnet. Genauso wurden wir Kinder ignoriert, wenn wir uns anders benahmen, als von uns erwartet wurde. Es war eine Form der Strafe durch Liebesentzug.
Ich habe damals nicht verstanden, warum unsere Eltern so waren. Sie selbst erzählten, dass unsere Großeltern noch viel strenger gewesen wären. Sie betonten immer, dass wir es viel besser hätten, denn sie hätten als Kinder nicht nur unter der strengen Erziehung, sondern auch unter der Armut der Nachkriegszeit gelitten. Ihre eigene autoritäre Erziehung war ihnen trotzdem in Fleisch und Blut übergegangen. Sie hinterfragten nicht, ob das, was sie glaubten und lebten, auch gut und richtig war, oder ob es da möglicherweise Dinge gab, die so nicht sein sollten. Was Wahrheit war, wie man zu leben hatte und was man glauben musste, wurde vorgeschrieben. Die Wahrheit kam von meinem Vater. Meine Mutter schaltete ihr Denken aus.
Im Nachhinein denke ich, dass es eine Generation war, die mehr durch den Krieg geprägt wurde, als sie sich eingestehen wollte. In ihrer eigenen Kindheit hatte sich eine große Sprachlosigkeit breitgemacht, da keiner die Schrecken des Krieges bildlich heraufbeschwören wollte. Es war außerdem ein Krieg gewesen, der sich die Verabsolutierung eines Gedankengutes zunutze gemacht hatte.
Uns Kindern schärfte man ein, keinesfalls auf so jemanden wie Adolf Hitler reinzufallen. Der Nationalsozialismus hatte sich als gefährlich herausgestellt und Ideologisierung in jeglicher Form wurde auch von meinen Eltern skeptisch beäugt. Gleichzeitig war es trotzdem die Zeit der Suche nach der besten aller Wahrheiten, denn jeder in unserer Familie hing seiner eigenen Idealvorstellung nach und suchte nach der einzig wahren Gesellschaftsform. Es war die Zeit, in der der Sozialismus gegen den Kommunismus ausgespielt wurde, oder darum gestritten wurde, welche Form des Liberalismus die richtige sei. Die großen politischen Parteien konnten sich eine eindeutige Weltanschauung verpassen und die soziale Marktwirtschaft schien uns bürgerlichen geprägten Staatsbürgern die ideale Mischung zwischen christlicher Mildtätigkeit und einer Weichenstellung für beruflichen und gesellschaftlichen Erfolg. Die politischen Diskussionen kreisten im Grunde nur um eine Frage: nämlich, welches die b e s t e aller Ideologien sei.
Mein heimatliches Umfeld war also durch ein zweifaches geprägt. Durch das väterliche Patriarchat, welches auch uns zu Sprachlosigkeit verdammte und jegliches Aufbegehren im Keim erstickte, und dem Streben nach einer erneuerten Gesellschaft, die sich irgendwo zwischen christlich-bürgerlich und sozialmarktwirtschaftlich bewegen musste. Diese doppelte Prägung, das patriarchale Denken und das Hochhalten einer bestimmten Ideologie, sollte die Grundlage dafür bilden, dass ich mich in der Katholischen Kirche so richtig wohlfühlen würde. Patriarchales Denken bezieht sich nicht exklusiv auf eine Person, nämlich den Vater, wie man annehmen möchte, sondern Patriarchat und hierarchisch strukturierte Ideologien sind eng miteinander verknüpft. Doch dazu später.
Als Kind erlebte ich das natürlich nicht so reflektiert, sondern eher selbstverständlich. Ich war nicht die einzige, die so erzogen wurde. Meine Mitschülerinnen in der Klosterschule und meine Freunde aus dem bürgerlichen Milieu trugen ihren Teil dazu bei, mein gesellschaftliches Umfeld als selbstverständlich zu empfinden.
das brav-system
In der Schule hatte ich schlechte Noten. Ich dachte, ich wäre dumm. Immer wenn ich mir etwas merken wollte, kam ein großer schwarzer Balken, der mir suggerierte: Babette, Du verstehst das nicht. Also begann ich erst gar nicht nachzudenken, sondern die Schule musste in irgendeiner Form absolviert werden.
In Wirklichkeit war ich nicht dumm. Ich war sogar sehr intelligent, aber ich scheiterte an meinen eigenen, falschen Vorstellungen. Der Unterricht erschien mir wie ein Riesenberg Wissen, welcher vor allem eines abverlangte: sich diesen Wissensberg in einer ganz bestimmten Art und Weise zu merken. Es stand nicht zur Diskussion, ob diese einzelnen Wissensteile auch in irgendeiner Form zusammenhingen oder ob womöglich erkenntnistheoretische Fähigkeiten gefragt sein könnten.
Bei meinen Eltern war sinnlose philosophische Denkakrobatik verpönt. Darunter verstanden sie die Beschäftigung mit dem Sinn des Lebens oder auch das Hinterfragen von Autoritäten. Wenn ein Politiker, ein Lehrer, ein Arzt oder eine andere gebildete Persönlichkeit etwas feststellte, dann war dies selbstverständlich als richtig hinzunehmen, so wie ich schon von klein auf gelernt hatte, einen Patriarchen nicht zu hinterfragen. Gleiches galt für die Schule und so verstand ich bald, dass eigentlich vor allem eines nötig war: Zu wissen wie der Lehrer tickte. Die Lehrer lobten, wenn man das wusste, was sie gesagt hatten und gaben schlechte Noten, wenn man sich anders verhielt. Objektiv gesehen war das vielleicht anders, aber es war das, was ich mir aus meinem kindlichen Erleben zusammenbastelte und was vor allem ausreichenden schulischen Erfolg brachte.
Durch die Existenz dieses schwarzen Balkens hatte ich immer das Gefühl anders zu sein. Für meine Mitschüler schienen die Anforderungen der Schule nicht so umständlich zu sein. Sie hörten zu und lernten.
Es war in der ersten Klasse Gymnasium, als wir eines Tages in der Schule einen alltäglichen Arbeitsauftrag bekamen. Wir sollten in unserem Hausübungsheft einen Aufsatz zum Thema Stephansdom gestalten. Wir hatten die Woche davor eine Exkursion in den Dom gemacht und dabei Fakten über die Stephanskirche und seine Geschichte gelernt. Aber statt die dort gekauften Postkarten einzukleben und die Geschichte von Meister Pilgrim wiederzugeben, hatte ich meine ganz eigenen Erinnerungen an den Stephansdom. Es soll dort täglich über 150 Messen gegeben haben (Wie ging das?) und das wurde erst im Zuge des Zweiten Vatikanums (Was war das?) abgeschafft. Und: der Stephansdom sei eigentlich eine Allerheiligenkirche, was ein gewisser Rudolf bewerkstelligt hätte. So begann ich mit einer Akribie viele verschiedene Heilige in mein Heft zu malen.
Mein Vater hatte den 20-bändigen Brockhaus in seinem Studierzimmer stehen, was ihn nicht ohne Stolz erfüllte, schließlich war dieses Werk nicht billig gewesen. Ich hielt mich also für besonders schlau und schrieb den Absatz über das Zweite Vatikanum und die Liturgiereform ab. Soso - es gab seitdem keine Messen mehr in Latein, stellte ich mit Bedauern fest, erschienen mir doch Latein und Französisch als zwei wunderbare Sprachen.
Ich bekam keinen Einser auf meine arbeitsintensive wunderbare Hausübung. Im Gegenteil. Die Lehrerin blickte mich strafend an. Das sähe man, dass ich beim Schulausflug überhaupt nicht aufgepasst hatte, meinte sie, denn Heilige abzumalen und etwas aus dem Lexikon abzuschreiben, was ich nicht verstehe, sei keine Leistung. Ich solle mich mit Gelerntem beschäftigen, denn in meinem Aufsatz, da stehe rein gar nichts über den Stephansdom. Ich war verzweifelt. Das vom Meister Pilgrim, das wusste doch schon jeder. Ich hatte gedacht, etwas viel Interessanteres gefunden zu haben, musste aber jetzt beschämt eingestehen, dass dem wohl nicht so war. Mit schlechtem Gewissen nahm ich mir vor nicht mehr in Eigenregie zu forschen und in Zukunft demütiger zu sein. Ich hatte begriffen, dass ich mir nicht einzubilden brauchte, dass der Brockhaus schlauer als unsere Lehrer wäre.
Ähnliches passierte mir in Englisch. Ich fand den Englischunterricht ziemlich langweilig. Um nicht zu sagen ä u ß e r s t langweilig. Um mich zu beschäftigen, begann ich meine Hefteinträge spiegelverkehrt zu schreiben. Von rechts nach links. Anfangs war das eine ziemliche Herausforderung, doch bald machte es mir richtig Spaß. Ich tat dies so lange, bis meine Lehrerin die nicht korrekt eingetragenen Vokabeln bemerkte.
„Was soll das Babette“, schimpfte sie. In meiner Schüchternheit wusste ich kaum zu antworten.
„Wir üben uns hier nicht in Geheimschrift, sondern wir lernen Englisch. Wie willst du denn zuhause entziffern, was wir gelernt haben.“ Ich blickte mit rot angelaufenem Gesicht zu Boden. Durch die Rüge eingeschüchtert, traute ich mich nicht zu sagen, dass es ja wohl keinen Unterschied mache, ob ich die Vokabeln von links nach rechts oder von rechts nach links lesen würde. Leider hatte ich sie nicht gelernt und deshalb war meine schlechte Note vorprogrammiert. Ich fürchtete mich schon vor dem, was meine Eltern sagen würden, aber die Lehrerin gab sich damit zufrieden, dass ich das Heft neu schrieb. Von links nach rechts.
Ich redete mir ein, dass dies nur unbedeutende kleine Schulerlebnisse wären. Aber all diese Kleinigkeiten indoktrinierten und durchdrangen mein Denken. Sie spiegelten auch den Mainstream einer Zeit wider, denn sie lehrten mich meinen Lehrern und nicht meiner Intuition zu gehorchen.
Genauso ging es wohl meinen Lehrern, die, wenngleich eine Generation vor mir geboren, ihrerseits prägende kindliche Erfahrungen gemacht hatten. Auch sie waren durch unvorhergesehene Traumata beeinflusst und wurden zu Handlungsweisen verführt, die eines Lehrenden aus heutiger Sicht unwürdig sind. Es sind manchmal nur einzelne Worte, kleine Gesten oder auch gut gemeinte Ratschläge, die sich in unserer Erziehung breitmachen. Aber besteht Lebenserfahrung nicht aus tausenden kleinen Momenten? Manchmal sind es kleinste Blitzlichter der Erfahrung, die uns automatisch - wie ein verwundetes Wildkätzchen - reagieren lassen, weil sie unsere Überlebensinstinkte ansprechen. Um kindliche Prägungen zu reflektieren, zu kategorisieren und eine möglichst menschliche Entscheidung zu treffen, braucht es Zeit und die Distanz eines Erwachsenen. Um niedere Instinkte zu unterdrücken, wie beispielsweise auf Gewalt nicht wieder mit Gewalt zu reagieren, braucht es oft mehr als übermenschliche Anstrengung.
Die Schule entsprach also nicht meinen Vorstellungen. Ich hinterfragte das jedoch nicht und versuchte mich anzupassen. An strenge unausgesprochene Regeln und konkrete Vorgaben gewöhnt, war ich ruhig und vor allem schüchtern. Alle vier waren wir ruhig und schüchtern, sei es in der Schule, zu Hause oder bei Freunden. Ich wusste, dass wir nicht widersprechen durften und schon gar nicht schreien oder provozieren.
Mein Umfeld, der in ihr umherwandelnde Zeitgeist und ein patriarchal geprägtes Elternhaus, lehrten mich also das zu tun, was man von mir erwartete. Mehr noch, ich war gezwungen, ein vorauseilendes Feingefühl für unausgesprochene Befehle zu entwickeln. Die oberste Priorität war b r a v zu sein. Brav und folgsam bedeutete in meinem Fall schon im Vorhinein zu ahnen, was die jeweils übergeordnete Autoritätsperson von mir wollte und dementsprechend zu handeln. Kreativität oder Anderssein war gefährlich. Das scheint paradox in einer Zeit, die gerade einen Weltkrieg hinter sich hatte, der von eben dieser Haltung des Gehorsams geprägt gewesen war. Doch es war genau dieser Krieg gewesen, der Machtmissbrauch durch eine mit Gewalt untermauerte Autorität noch immer allgegenwärtig erscheinen ließ. Offenbar stufte mein Unterbewusstsein jegliche Form von Widerstand als lebensgefährlich ein. Ich hatte ständig Angst, etwas falsch zu machen.
familienoberhaupt
Wenn ich heute über meinen Vater schreibe und ihn als Patriarchen definieren kann, so mache ich das aus einer zeitlichen Distanz heraus. Damals war das anders. Mein Vater war mein Wunder-Vater. Zumindest in den Augen seiner Tochter. Er konnte alles, er wusste alles, er durfte alles.
Ich war acht Jahre alt und hatte mein erstes eigenes Fahrrad. Es war funkelnagelneu. Trotzdem dauerte es nicht lange und schon hatte das Rad einen Patschen. Die Luft war draußen und nichts ging mehr. Aber Gott sei Dank hatte ich einen motivierten Vater, der sich daran machte den Schlauch auszubauen und zu flicken. Aber den Schlauch wieder auf das Rad zu montieren war offensichtlich komplizierter, als er mich anfangs hatte glauben lassen. Er schraubte, wurstelte und schimpfte, um dann schließlich mit einem gewissen Maß an Brutalität den Schlauch in die passende Position zu bugsieren. Ich freute mich für ihn, als es geschafft war. Doch als ich sah, wie er vergeblich versuchte Luft in den Schlauch zu pumpen, wich meine Freude einer Ratlosigkeit. Mein Vater begann furchtbar zu schimpfen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, dass ich meinem armen Vater so eine Arbeit machte. Schnell zog ich den Schlauch wieder vom Rad und suchte das Loch. Es war ziemlich groß. Möglicherweise hatte sich der Schraubenzieher beim Aufziehen in den Schlauch gebohrt. Mein Vater hielt das hingegen für unmöglich und schimpfte:
„So eine Frechheit, da haben sie uns doch tatsächlich einen alten Schlauch verkauft. Das kann ja nicht funktionieren. Ich werde mich beschweren gehen.“
Dann rauschte er unter Schimpfen ab. Ich gab meinem Vater recht. Es war sicher nicht sein Fehler gewesen. Damals erwartete ich, er würde sofort ins zuständige Geschäft gehen und sich beschweren. Aber es dauerte. Zuvor hatte er noch tausend andere Dinge zu tun. Eine Woche später fasste ich mir ein Herz und sprach ihn auf den kaputten Schlauch an. Schließlich konnte ich eine Woche lang nicht Radfahren. Ich versuchte vorsichtig anzumerken, dass es ja auch beim Montieren passiert sein könnte und man könne das Rad ja in ein Geschäft bringen. Das war das falsche Stichwort. Er begann wieder mit einer Schimpftirade.
„Ja eine Frechheit ist das, ein alter Schlauch“, und er schüttelte den Kopf. „Wie die Händler uns Konsumenten ausnehmen, das geht nicht.“ Meine Mutter nickte eifrig und stimmte meinem Vater lautstark zu:
„Neue Fahrräder mit alten Schläuchen zu verkaufen, für wie dumm halten die uns.“
„Ja“, sagte mein Vater, „das lassen wir uns nicht gefallen.“ Dann sprach er noch lange darüber, wie viele Schläuche er schon gewechselt habe und immer habe es funktioniert. Schließlich fuhren wir alle drei, meine Mutter, mein Vater und ich zum Geschäft um dem unverschämten Verkäufer die Leviten zu lesen. Vor der Türe des Radhändlers fiel meinem Vater plötzlich ein, dass er noch eine wichtige Besorgung zu machen hätte und er schickte meine Mutter ins Geschäft. Diese führte widerspruchslos den Befehl meines Vaters aus, allerdings nicht so wie ich es erwartet hatte. Sie ging demütig ins Geschäft, bestellte mit leiser Stimme einen neuen Schlauch, den sie still bezahlte und damit war die Sache erledigt. Ich war enttäuscht. Warum hatte sie dem Verkäufer nicht die Meinung gesagt. Und wo war mein Vater?
Wieder daheim bat meine Mutter den Hausmeister mein Fahrrad zu richten, der das in wenigen Minuten erledigt hatte.
Beim Abendessen sagte mein Vater laut zu meiner Mutter:
„Aber du hättest den Hausmeister nicht bitten müssen, ich hätte das schon noch gemacht.“ Meine Mutter meinte freundlich: „Aber wir wissen doch, dass du immer so viel zu arbeiten hast, da musst du das nicht auch noch machen.“ Mein Vater grunzte versöhnlich und konzentrierte sich dann auf das Essen.
Ich wollte es mir nicht eingestehen, aber dieses Erlebnis gab mir eine erste schmerzhafte Ahnung davon, dass mein Vater doch nicht so perfekt war, wie er vorgab zu sein. Zumindest war er kein begnadeter Reifenwechsler und er war auch nicht mutig, sondern überließ unangenehme Sachen gerne meiner Mutter. Aber das durfte ich damals nicht wissen.
Ich hatte meine Lektion gelernt. Ich hinterfragte nicht, bewahrte mir meinen Kleinmädchen-Blick und stellte meinen Vater auf ein Podest. Er war toller und besser als alle anderen, er konnte alles und wusste, wie das Leben funktionierte. Familienvater zu werden erschien mir sehr erstrebenswert. Ein wunderbares Geschenk.
Schon bald stellte sich deshalb bei mir eine diffuse Gewissheit ein, dass mein Vater den besten Teil in unserer Familie gewählt haben könnte. Es war eine Tatsache, die ich für mich mit einem nicht eindeutigen Geschlechterverhalten beantwortete. Obwohl ich mich durchaus als Mädchen wohlfühlte, wäre ich oft gerne ein Bub gewesen. Mein bester Freund, war eben ein bester F r e u n d und keine Freundin. Und ich war sein bester Freund. Man sagte uns schon im Volksschulalter eine Liebschaft nach. Aber die Wahrheit war, dass ich von ihm ganz wunderbare Dinge lernte. Tretautos bauen, zum Beispiel, oder alte verfallene Häuser zu erforschen. Räuber und Gendarm gehörte auch zu unseren Lieblingsspielen, wobei ich am liebsten der Räuber war. Es waren auch die Kämpfe um ein fiktives Schlachtfeld, die wir mit langen Brennnesselstauden ausfochten. Wenn ich am Abend meine mit roten Pusteln übersäten Arme und Beine in kaltes Wasser tauchte, tröstete ich mich damit, dass das gut für das Immunsystem sei und ich auf jeden Fall ein guter Soldat geworden wäre. Wir kletterten über Schuppendächer, erforschten Kanaltunnel und bauten vor allem immer wieder lustige Erfindungen die mehr schlecht als recht funktionierten. Wir erfanden eine Leuchtglocke für die Nacht, die eben leuchtet und nicht klingelt. Oder wir wussten, wie man ein Zelt ohne Stäbe baut, das nur mit Schnüren befestigt wird. BabSi-Patent nannten wir diese Dinge, eine Mischung aus den Worten Babette und Sigi. Meine Haare ließ ich mir genauso kurz schneiden wie Sigi, trug Buben-Hemden und als man mich im Geschäft mit: Na, was hättest Du denn gerne junger Mann? anredete, war ich glücklich.
Das änderte sich dann aber mit der Pubertät, wo es mir doch besser schien ein Mädchen zu sein.
schwarzweiß und exklusiv
Äußerlich war meine Welt ganz einfach. Es gab die, die alles richtig machten und die, die auf dem falschen Weg waren. Unsere Familie - und mit ihr meine kleine Welt – war natürlich am richtigen Weg. Man war gut katholisch und schlecht evangelisch, man war gut bürgerlich und schlecht proletarisch, man war politisch schwarz oder gehörte zu den Roten. Natürlich gab es in meiner Welt auch andere Gruppen, die schwer zuzuordnen waren, da sie sowieso unwichtig oder nur ein Teil eines größeren Ganzen waren. Als ich einmal nachfragte, was es mit der Anti-Atomkraft oder der Grünbewegung auf sich hatte, fanden meine Eltern die Frage zwar interessant, aber nur partiell relevant.
„Oh, es ist gut, sich über solche Themen Gedanken zu machen“, kommentierte mein Vater, „aber eine politisch wichtige Partei ist das nicht.“ Ebenso war die Hippie-Bewegung für meine Eltern längst vorbei und diverse Frauenrechtlerinnen von Simone de Beauvoir, über Johanna Dohnal bis zu Alice Schwarzer waren auf jeden Fall lobenswert-erwähnenswert, aber übertrieben feministisch.
„Die sind ja keine richtigen Frauen“, pflegte mein Vater zu sagen. Da ich diese Frauen nicht persönlich kannte, ein Fernseher war bei uns verpönt und demzufolge erst bei den Nachbarn zu finden, hatte ich sehr phantasievolle aber wenig realistische Bilder zum Weltgeschehen und stellte mir feministische Frauen als unansehnliche Mannweiber vor, mit muskulösen Armen, dicht behaarten Beinen und einem finsteren Blick. Feminismus erschien mir als etwas definitiv Unattraktives.
Ich wuchs also in einer schwarz-weißen Welt auf. Wir gehörten zu den Richtigen und zu den Besseren. In den seltenen Momenten, in denen ich allerdings Einblick in das Leben meiner Schulkolleginnen hatte, schlichen sich bei mir Zweifel ein. Natürlich waren auch sie katholisch-patriarchal geprägt, aber manches war anders. Da gab es diejenigen, die Partys machten und sich dabei so gar nicht moralisch verhielten. Da gab es andere, die hatten einen Fernseher, den auch die Eltern benutzten und mehr noch, sie kommentierten das politische Tagesgeschehen mit einer frechen Selbstverständlichkeit, die mir als Verrat an der jeweiligen Parteizugehörigkeit erschien. Und es gab Eltern, die sich scheiden ließen. Einfach so. Auch wenn es für die Kinder schmerzhaft war. Dann gab es auch noch die, die Gott und die Kirche kritisierten, ohne dass es Konsequenzen für sie gehabt hätte. Als ich meinen Vater schüchtern auf solche Details ansprach meinte er nur abfällig:
„Ach ja, die ungebildeten Leute denken so. Das ist das Proletariat. Für uns ist das nicht so.“ Das war sein Standardspruch. Auch für mich war dieser Satz eine große Stütze, wenn Widrigkeiten mein enges Weltbild bedrohten. Wir sind anders, weil wir sind etwas Besonderes, konnte ich mir dann einreden. Wir hier sind die Könige, dort sind die Untertanen, wir sind gescheit, die sind dumm…
Für uns Kinder war das im Grunde entlastend. Wenn man einmal herausgefunden hatte, was richtig oder falsch war, dann brauchte man das nur zu befolgen. Ganz besonders galt das natürlich für die Kirche.
Die Welt rund um mich war de facto ziemlich katholisch. Ich besuchte eine katholische Privatschule, man ging nicht nur sonntags zum Gottesdienst und die Meinung des Pfarrers war wichtig. Gleichzeitig war die Einstellung meiner Eltern, die Kirche betreffend, äußerst inkohärent. Mein atheistischer Vater hegte in Wirklichkeit einen verborgenen Hass auf alles Katholische, während meine Mutter unreflektiert bigott in die Kirche lief. Und obwohl ich darüber hinaus das Gefühl hatte, dass auch das Katholische irgendwie in konservativ und progressiv gespalten war, so war es doch, neben unserer internen patriarchalen Struktur, die einzig wahre Lebensform, der sich meine Eltern zuwandten, denn, noch schlimmer schien es, evangelisch zu sein.
Die Evangelischen waren zwar anerkannt, aber trotzdem diejenigen, die leider den falschen Glauben gewählt hatten und deswegen nie wirklich glücklich werden würden. Mir taten sie richtig leid. Ich fragte mich, warum ihnen noch keiner gesagt hatte, dass doch eigentlich unser Bekenntnis das Bessere war, denn dann würden doch alle sofort katholisch werden wollen.
Wenn meine Großeltern dieses Thema ansprachen, hatte ich den Eindruck, dass ihre Seele zu Höllenqualen verdammt sei, sollten sie es wagen, sich außerhalb der katholischen Kirche zu bewegen. Dieser Wahrheitsanspruch, dass die katholische Kirche die einzig Heilbringende sei, gründete auf eine Art Ausschließungsmechanismus gegen andere Konfessionen, der in unseren Familiendiskussionen immer wieder durchleuchtete.
„Ich habe das irgendwo von meinen Eltern mitgekriegt“, verteidigte sich Oma Emma immer, die in meinen Augen die katholischste aller Familienangehörigen war, wenn sie von meinem Großonkel auf die Sonntagspflicht angesprochen wurde. Für Großonkel Hans war die Sonntagspflicht eine reine Machtdemonstration der Kirche. Mein ältester Cousin bekam in solchen Momenten immer ein boshaftes Grinsen in den Augen.
„Ich überlege jetzt, evangelisch zu werden“, sagte er dann provokant.
„Na, bist deppert“, rief Tante Fini entsetzt, um dann gleich wieder zurück zu rudern. „Ich sag jetzt nicht, dass katholisch das Bessere ist, ich anerkenne die Evangelischen genauso. Aber ganz ehrlich, dieses neumodische Zeugs von den Evangelischen, die kommen immer weiter weg vom Glauben. Und eine Moral haben die, die lassen sich scheiden und dann heiraten sie wieder und lassen sich scheiden…“
„Geh, die sind wenigstens modern“, warf mein Cousin dazwischen.
Meine Großmutter väterlicherseits war da moderater.
„Na ja, ist uns halt so beigebracht worden“, versuchte sie einzulenken, „man hat ja in eine evangelische Kirche nicht mal hineinschauen dürfen. Das war alles so streng. Man hat das sogar gebeichtet.“
Und dann gab es noch unsere kirchenkritische Tante Burgi, die nicht müde wurde dieses und jenes an der katholischen Kirche zu kritisieren. Eines Sonntags fragte ich sie, warum sie denn nicht evangelisch geworden sei, wenn die Katholiken so falsch lägen.
„Evangelisch?“, rief sie ganz entsetzt, „Ich habe ja nichts angestellt? Warum sollte ich jetzt evangelisch werden?“
Evangelisch zu werden war offensichtlich eine Strafe, stellte ich fest. Zumindest für Tante Burgi war es so. Die Konfession zu wechseln kam einer Strafversetzung gleich. Man hatte evangelischen Kontakt nur, wenn es nötig war. Ich erinnerte mich an die Erzählung unserer Mesnerin, die gerne in der Kirche Orgel spielte.
„Ja, es war ja damals schlimm genug, dass ich einen Antrag stellen musste, dass ich in der evangelischen Kirche Orgelunterricht nehmen darf“, erzählte sie eines Tages nach einer Messe, als ich mit meiner Mutter vor der Kirche stand und diese die Mesnerin begeistert auf ihr Orgelspiel angesprochen hatte.
„Die allergrößte Bedrohung dieser Zeit kommt allerdings von außen“, raunte sie mir mit geheimnisvoller Stimme zu und beugte sich zu mir. „Es ist der Atheismus, der sich mit rasanter Geschwindigkeit in den kommunistischen Ländern Osteuropas ausbreitet. Nimm dich in Acht vor den Gottlosen, Babette“, warnte sie mich und erhob ihren Zeigefinger.
Es gab also etwas, was noch frevelhafter war, als evangelisch zu sein: Der Atheismus.
Der Atheismus unterdrückte im Kommunismus die armen Menschen jenseits der Mauer, wo sich das wüste Niemandsland erstreckte. Ich sah den Atheismus wie einen riesengroßen, metallenen, rostigen Roboter an der Grenze zur damaligen Tschechoslowakei stehen. Es war die einzige Grenze die ich kannte. Also stellte ich mir alle Grenzen gleich vor. Der Roboter rollte mit seinen furchterregenden Augen und schaute mit bösem Blick zu uns katholischen Österreichern herüber. Dann hob er seinen Arm, fuhr diesen wie ein Staubsaugerrohr aus und begann auf unserer Seite der Grenze alles Katholische weg zu saugen. Ich fürchtete mich, machte die Augen zu und flüchtete mich in die heile Welt meiner Familie. Denn, dass der Atheismus einmal bei uns ankommen könnte, wurde in unserer Familie als hoffentlich-niebei-uns ignoriert.
Nichtsdestotrotz fiel die erfolgreiche Polarisierung zwischen evangelisch und katholisch bei mir auf fruchtbaren Boden. Extra ecclesiam nulla salus – Außerhalb der Kirche kein Heil. Heute erscheint mir diese Definition wie aus dem tiefstem Mittelalter. Aber damals, ganz tief in meinem Inneren, gefiel es mir. Es gab mir Sicherheit. Extra ecclesiam war eine Vorstellung, die noch die Generation meiner Eltern in ihrem Denken und Handeln geprägt hatte. Mittlerweile, durch das Zweite Vatikanum revidiert, lässt sie Vertreter dieser Haltung als ultrakonservativ und intolerant erscheinen. Aber es war eine Definition, die sich nicht einfach aus den Köpfen streichen ließ. Die katholische Kirche definierte sich selbst als das Richtige und das evangelische Bekenntnis als das Falsche. Ob es wirklich richtig war, konnte ich aus meiner damaligen Perspektive nicht beurteilen. Ich war schließlich katholisch. Und ich empfand es für richtig. Mehr noch, es fühlte sich gut an. Ich gehörte dazu. Es gab mir Selbstbewusstsein und Identität. Meine Familie und mein katholisches Umfeld boten mir einen Platz in dieser großen weiten Welt.
„Du gehörst zu den Besseren, zu den Richtigen“, da war sie wieder, diese Stimme, die mir in zweifelhaften Momenten Sicherheit einflüsterte und schon ging es mir besser. Dazuzugehören. Welchem Mädchen in meinem Alter wäre das nicht wichtig gewesen?
kleinkariert und lila wolle
Auch eine katholische Klosterschule vereint Schüler mit den unterschiedlichsten Lebensentwürfen. Und so wurde ich in der Schule mit anderen Welten konfrontiert, die mir allerdings, im Vergleich zu meiner tollen Familienwelt, schäbig und kleinkariert erschienen. Schnell verurteilte ich andere als minderwertig, ohne zu hinterfragen, ob es nicht möglicherweise i c h war, die da eine zu enge Sicht besaß.
An den meisten meiner Klassenkolleginnen gingen die Neuerungen der Zeit nicht spurlos vorüber. Fernsehen und Auslandsreisen brachten die Globalisierung und mit ihr die Forderung nach Toleranz und die Sehnsucht nach einem Leben jenseits von Ideologien. Im Vergleich zu meinen Kolleginnen hatte ich ein sehr konservativ zugespitztes Weltbild, das ich mit wenigen Verbündeten teilte. Aber auch hier funktionierte der Trick mit Ausgrenzung und Entwertung der Anderen. Wenn ich auf meiner Sichtweise beharrte und mich selbst darin bestärkte, dass ich nur wegen meiner Besonderheiten eine Außenseiterin wäre, fühlte sich das schon ganz anders an. Ich war besser als die Anderen. Dieses Argument des Auserwählt-Seins konnte vor allem eines: mein schwaches Selbstbewusstsein heben und mich die Dinge wieder in einem anderen Licht sehen lassen, meinen kariert-gestreiften altmodischen Kleidungsstil zum Beispiel.
Kleidung zählte daheim zu den praktischen und nicht zu den schönen Dingen des Lebens. Natürlich war es selbstverständlich sauber gekleidet zu sein, aber für bunten, modischen Schnickschnack hatte man kein Geld. Meine Mutter hatte auch kein Gefühl dafür, ob etwas modern war oder nicht. Jetzt im Nachhinein betrachtet, war es für eine Nachkriegsgeneration natürlich selbstverständlich in den notwendigen Dingen des Lebens den Nutzen und nicht unbedingt die Schönheit zu sehen. Kleider wurden über die ganze Verwandtschaft hinweg weiterverteilt und auf gut erhaltene Stücke hatte man aufzupassen, damit auch noch Geschwister oder jüngere Cousinen ihre Freude daran hatten. Aus Sparsamkeit konnte so manches Kleidungsstück schon über mehrere Kindergenerationen vererbt werden, wobei ich mit meinen Erbstücken in der Schule schon mal einen Lacherfolg erzielte. Gott sei Dank hatte ich doch einige Freundinnen deren Eltern ähnlich dachten und die somit ein vergleichbares Schicksal erlitten. An Ausgrenzung gewöhnt, drehten wir den Spieß einfach um und waren dann die Lässigen, im Gegensatz zu den Schönen.
Trotz allem ist es für ein zwölfjähriges Mädchen nicht unbedingt einfach zu denen zu gehören, deren Aussehen schlichtweg negativ kommentiert wurde. Eines Tages nahm mich Michaela zur Seite und sagte mir im Vertrauen:
„Weißt du eigentlich, dass ausgestellte Hosen überhaupt nicht mehr in sind. Kennst du nicht jemanden, der sie enger nähen könnte?“ Im ersten Augenblick war ich verletzt. Wie konnte sie es wagen mich zu kritisieren? Dann aber fühlte ich so etwas wie weibliche Verbundenheit und einen Anfall von Dankbarkeit. Sie versuchte mir die Augen zu öffnen. Ich begann die anderen Mädchen in der Schule zu beobachten. Tatsächlich. Keine der Schönen trug ausgestellte Hosen. Die waren etwas für die 1970er Jahre. Jetzt, in den 1980ern, waren hautenge Jeans angesagt. Je anliegender, desto besser. Es dauerte nicht lange und ich hatte mit Hilfe meiner Schwester meine Hosen enger genäht. Meine Mutter bemerkte das und war alles andere als begeistert. Aber anstatt mir eine Ohrfeige zu geben und mich zu fragen, wie ich es wagen könne meine Kleidung zu verunstalten, war sie seltsam freundlich.
„Warum hast du denn deine Hosen umgenäht?“, fragte sie mit liebevoller Stimme. Ich war überrascht über ihr Verständnis für meine Notlage und platzte heraus, dass ich in der Schule ausgelacht werden würde, weil ich so komisch angezogen sei.
„Aber Babette“, säuselte sie, „hör doch nicht auf das, was die anderen sagen. Du hast es doch nicht nötig mit der Mode zu gehen. Mode, das ist nur was für Angepasste, für Dumme, du bist doch etwas Besonderes.“
Es funktionierte. Meine Gedanken begannen zu kreisen. Ja richtig, ich brauchte mich nicht über Kleidung definieren. Ich gehörte schließlich zu den Besseren. Schönheit war nicht so wichtig. Und in meiner Naivität dachte ich, dass ich klug und intelligent sei. Die anderen, die sich modisch anzogen, waren dumm, denn sie hatten nichts im Kopf als Kleider. Dass Mode nicht mit klug oder dumm gleichgesetzt werden konnte, sondern auch ganz andere Aspekte des Lebens beinhaltete, kam mir damals nicht in den Sinn.
Trotzdem hatte Michaela etwas in mir ausgelöst. Sie hatte eine Sehnsucht in mir erweckt. Es war eine Sehnsucht nach Ästhetik. Ich begann zu spüren, dass es Dinge gab, die mir gefielen, einfach deshalb, weil sie mir gefielen, und nicht, weil jemand sagte: die sind schön oder die sind modern.
Ich begann, mir Gedanken zur Schönheit zu machen. Das erste Mal in meinem Leben war es mir möglich Kunst aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, nämlich mit der Frage in meinem Inneren, ob i c h es schön fand.
Von da an beurteilte ich Kunst nicht mehr danach, ob dies der eine oder der andere berühmte Künstler gemacht hatte. Ich verstand, dass Schönheit im Auge des Betrachters lag. Mit Michaela verband mich von dem Moment an so etwas wie Dankbarkeit. Sie hatte mir mit einer Direktheit gezeigt, dass man Dinge auch von außen sehen kann. So fand ich den Mut, mich vor den Spiegel zu stellen und mich mit einem kritischen Blick mit mir selbst auseinanderzusetzen.
Zumindest in Sachen Mode lernte ich Entscheidungen aus mir heraus zu treffen. Eines Tages stolperte ich über eine lilafarbene Wolljacke. Ich weiß nicht, ob sie modern oder unmodern war. Tatsache war: sie gefiel mir und ich fand, die Farbe passte zu mir. Ich kaufte sie und war stolz auf meine selbst getätigte Auswahl. In den Wochen darauf wurde die Jacke nicht nur zu meinem Lieblingsstück, sondern gleichzeitig zu einem Experiment. Die Reaktionen reichten von „wunderschöne Jacke“ bis zu „ist das ein hässlicher Fetzen“.
In der banalen Modewelt lernte ich: Schönheit und Wahrheit (Richtigkeit) sind relativ und Schönheit hat schon gar nichts mit gut oder Bessersein zu tun. Es war mein Umfeld, dass gleichzeitig etwas Schönes als gut suggerierte und etwas Hässliches zu einer negativen Eigenschaft machte. (Oder etwas Gutes als schön, und etwas Schlechtes als hässlich darstellte.) Aber kann eine lila Jacke schlecht sein? Sie kann bestenfalls hässlich sein.
Ausgrenzung mit gleichzeitig moralischer Bewertung sollte etwas sein, was ich erst sehr spät reflektierte und als gefährlich wahrnahm. Damals hat es mein Unterbewusstsein geprägt. Die Polarisierung der Katholischen gegen die Evangelischen hinterließ in mir ein moralisches Gefühl des Besser-Seins. Ausgrenzung durch moralische Bewertung erzeugt ein Wir-Gefühl. Das hat immer funktioniert und es funktionierte auch bei mir.
1 Vgl.1Kön 17,8-24
2 Vgl. Lk 19,1-10
3 Vgl. Mk 10,17-27