Читать книгу als die wahrheit noch männlich und katholisch war - Franziska Maria Papst - Страница 8

Оглавление

2. LEBEN UND LEBEN LASSEN

Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt, zum Propheten für die Völker habe ich dich bestimmt. (Jer 1,5)

großtante maria

Jedes Jahr im Sommer tauchte ich in eine andere Welt. Meine Eltern schickten uns Kinder zu Großtante Maria aufs Land. Ich liebte meine Tante. Sie war unverheiratet und hatte keine eigenen Kinder. Ihr gehörte das Lebensmittelgeschäft im Ort. Dort gab es alles zu kaufen. Es war wie im Paradies. Ich liebte es dort zu sitzen und die vollen Regale zu bestaunen. Ich fühlte so etwas wie Ehrfurcht vor den Sachen. Sie hatten den Duft meiner Tante – feucht, frisch und irgendwie heilig. Nach meiner Tante zu riechen, war etwas Besonderes. Es wäre mir nie eingefallen irgendetwas davon ungefragt auch nur in die Hand zu nehmen. Ähnliches fühlte ich im Haus von Tante Maria.

Das alte Handwerkerhaus mit seinen zwei Stockwerken lag im Schatten direkt unter einem Berghang und hatte trotz seiner modrigen Feuchte etwas Heimeliges und gleichzeitig Ehrfürchtiges. Wir Kinder hatten unser eigenes Reich, direkt unter dem Dach. Es war mehr als nur ein Schlafzimmer. Es war ein eigenes Reich mit Dachbodentüren, alten Möbeln und Winkeln, in denen man sich wunderbar verstecken und über das Leben nachsinnen konnte. Es gab ein Zimmer voller Bücher und einen Fernseher. Ich sah mir im Fernsehen alles an, was ich durfte. (Das war damals noch nicht viel. Es gab ja nur zwei Programme und die nur am späten Nachmittag und am Abend).

Doch da waren die Bücher. Zwei riesengroße prallgefüllte Wandregale voll. Eine richtige Bibliothek. Von Goethes Faust bis zu Johannes Maria Simmel las ich der Reihe nach was mir unter die Finger kam und so hatte ich bald ein ziemlich umfangreiches Wissen über Literatur und Kunst. Wenn ich abends im Bett lag, machte ich Weltreisen im Kopf. Tante Marias Haus erschien mir wie ein Flugticket in die große, weite Welt.

Das Dorf meiner Tante war ein abgelegenes, architektonisch unscheinbares Dorf in den Bergen, das wenig Sonnenschein und viel Regen abbekam. Aus irgendeinem Grund gab es dort ein Luxushotel, das sich auf Kurgäste mit Atembeschwerden spezialisiert hatte. So frisch und klar und unverbraucht sei die Luft, schwärmten die Besucher. So kam es, dass dort immer wieder die schrägsten Vögel abstiegen, die dann in den Sommermonaten das bescheidene Dorf bevölkerten. Ich liebte es, um das Hotel herumzuschleichen und die verschiedensten Leute zu beobachten.

Diese fremde Welt faszinierte mich jedes Mal aufs Neue. Sie lag außerhalb meines bisherigen Erfahrungshorizontes und machte mich neugierig. Was gab es nicht alles zu entdecken! Stundenlang konnte ich auf dem kleinen Abhang sitzen, der dem Haupteingang schräg gegenüberlag. Still und ruhig saß ich im Schatten eines Busches und bemühte mich nicht aufzufallen. Wenn ich das Luxushotel auch nur von außen betrachten konnte, so inspirierten mich schon alleine die Düfte fremder Menschen, die wie Mücken eines heißen Sommertages über meinen Kopf schwirrten. Ich fragte mich, womit die Menschen ihr Geld verdienten, was sie dachten und was sie glaubten. Schon bald hatte ich zu jedem Besucher eine Geschichte erfunden. Ich glaubte zu wissen woher er kam und was er am liebsten tat.

Trotz der Ferien war die Zeit bei unserer Tante ganz normaler Alltag. Die Tagesstruktur erschien uns selbstverständlich und doch war es anders. Wir verbrachten unsere Zeit mit Spielen oder Lesen, trafen uns mit den Kindern aus dem Ort und halfen mit, wo wir konnten. Vor dem Essen wurde ein Tischgebet gesprochen und es wurde darauf geachtet, dass wir uns sauber anzogen, uns ordentlich benahmen und Danke und Bitte sagten. Es war streng. Aber es war nicht verdreht. Es war eine Welt voller Riten und nicht voller Regeln. Das, was wir zu tun hatten, machte Sinn. Ich denke, es war authentisch und nicht aufgesetzt. Tante Maria sagte und lebte was sie dachte.

Die Zeit bei Tante Maria inspirierte mich und machte mich neugierig auf etwas, das ich von daheim nicht kannte. Es war die Frage nach dem Sinn von Wissen und die Sehnsucht nach Freiheit im Denken. Ich eignete mir bei meiner Tante eine große Allgemeinbildung an und entwickelte ein Gefühl für Authentizität, was mir jedoch später zum Problem werden sollte. Denn was Authentizität im Kontext von Gehorsam bedeutet, habe ich erst viel später verstanden. Anfangs hatte ich nur ein diffuses Gefühl, dass mit meinem Wissen etwas nicht stimmte.

Im Allgemeinen kam meine Bildung gut an. Wenn ich bei Familienfeiern mit meinen literarischen Kenntnissen protzte, gab es wohlwollende Ermunterungen von diversen Onkeln und Tanten. Doch obwohl ich mit meinem Wissen beeindrucken konnte, hatte ich selbst immer das Gefühl, dass es irgendwie nicht echt war. Unechtes Wissen? Wie sollte ich das verstehen?

Es war wie in der Schule. Es war Wissen, gut und schön, aber ich wurde das Empfinden nicht los, dass all diese Bildung in der Luft zu hängen schien. Es waren Worte, die, wie losgerissene Papierdrachen im Herbstwind, ziellos durch die Luft torkelten, um schließlich geknickt in irgendeiner Baumkrone zu landen. Mein Wissen fühlte sich wie ein reines Anhäufen von Fakten und Daten an, die in meinem Gehirn schwirrten und keine Logik hatten. Mein Kopf war Tag und Nacht beschäftigt. Er arbeitete wie eine Registrierkasse, die Daten und Zahlen speicherte und abrechnete. Doch es war trügerisches, wertloses Wissen, ohne Sinn und ohne Ziel. Trotz aller Sachkenntnis war es, als ob ich vor einer riesengroßen Mauer stehen würde, die bunt mit vielen gescheiten Dingen zugeklebt war. Jedoch war es streng verboten, hinter die Mauer zu schauen.

Es war im Grunde die gleiche Mauer, wie die, die ich aus meiner Kindheit kannte, in die ich hineinkriechen konnte und die Geschichten erzählte. Aber als ich nicht hinein in die Löcher der Phantasiewelt, sondern darüber hinaus in die Realität schauen wollte, wollte es mir nicht gelingen. Meine Sehnsucht nach dem, was ich hinter diesen Steinblöcken vermutete, wuchs.

Rückblickend weiß ich, dass dieses Mauer-Gefühl besonders stark war, wenn ich nach den Ferien wieder nach Hause zurückkehrte. Das mochte wohl an der Freiheit liegen, die ich bei Tante Maria erfahren konnte. Ich erlebte bei ihr eine Weite im Denken, die daheim nicht erlaubt war.

Im unscheinbaren Dorf meiner Tante schnupperte ich den Duft der großen fernen Welt. Wenn ich an so manchen Sommertagen neugierig auf der Straße zum Hotel saß, sah ich mir die Männer an und beschloss, sobald ich erwachsen wäre, einen davon zu heiraten. Er würde mir ferne Länder zeigen und mich fremde Kulturen lehren. In diesen kurzen Momenten der Freiheit ahnte ich, dass es da etwas geben musste, das mich einsperrte. Allerdings, kaum war ich zurück in der Stadt und von festen Familienstrukturen umgeben, war ich wieder kuschelig in meinen Glaubenssätzen eingemauert.

Tante Maria hatte eine besondere Eigenschaft. Sie konnte reden. Aber sie plapperte nicht irgendetwas, sondern sie hatte die Fähigkeit Dinge auf eine ganz spezielle Art zu hinterfragen. Sie konnte Tatsachen in einem anderen Licht darstellen. Sie motivierte mich Schlechtes (zumindest das, was in meinen Augen schlecht war) erst einmal von einer anderen Seite zu sehen und Gutes kritisch zu durchleuchten. Sie analysierte die Schwierigkeiten des Lebens mit einer Leichtigkeit, die mir auf einmal erlaubte die Proletentussi vom Nachbarhaus nicht zu verurteilen. In meinen Augen war Tante Maria darüber hinaus supermodern. Sie beobachtete Veränderungen und Neues aufmerksam, interessierte sich für Weltpolitik und hatte einen besonderen Blick für den gesellschaftlichen Wandel.

„Ach, wie hat sich doch die Welt für Frauen in den letzten Jahrzehnten verändert“, hörte ich sie seufzen. „Heutzutage kann jede alles werden.“

Sie erzählte gerne von ihren Freundinnen, ihrer Mutter oder auch von ihrer Schwester, die schon verstorben war und die so gerne studiert hätte.

„Bankhausbesitzerin, das wäre meine Mutter gerne geworden“, erzählte Großtante Maria. Ich musste lachen. Bankhausbesitzerin war ein interessantes Wort. Ich fragte mich, welche Vorstellung sich dahinter verbarg. Tante Maria bemerkte mein Amüsement und meinte verständnisvoll:

„Ja, das kannst du dir schwer vorstellen, aber damals durfte eine verheiratete Frau ohne die Zustimmung ihres Mannes weder einem Broterwerb nachgehen, noch über ihr Geld verfügen, noch ihren Wohnort bestimmen. Aber meine Mutter hatte ein Händchen für Finanzen. Sie erlebte die Blütezeit des Aktienwesens und fieberte mit den Börsenkursen mit. Sie war eine von denen, die sich in der Habsburgermonarchie im Rahmen der bürgerlichen Frauenbewegung engagierten und Forderungen nach einem Wahlrecht für Frauen stellte.“ Tante Maria blickte mich stolz an.

„Sie war eine sehr bemerkenswerte Frau, aber“, seufzte sie, „sie ist an der Enge der Rolle der Frau gescheitert.“ Meine Tante schwieg eine Weile und fuhr dann gedankenverloren fort: „Ich denke, sie konnte sich nie damit abfinden, dass sie in ihren Entscheidungen an meinen Vater gebunden war.“

Bei solchen Gelegenheiten erwähnte Tante Maria auch oft ihre Schwester Felicitas. Ich kannte sie nur aus Erzählungen. Sie war um einige Jahre älter als Maria und schon vor meiner Geburt gestorben. Tante Maria beschrieb sie allerdings so ausführlich, dass sie für mich lebendig wurde. Fräulein Feli hieß sie. Sie war Lehrerin. Es war ihr Traumberuf.

„Die Kinder liebten sie,“ schwärmte die Tante. Feli hätte gerne geheiratet. Aber weibliche Berufstätigkeit und Ehe waren damals unvereinbar und sie konnte sich nie dazu durchringen, ihren Beruf der Ehe zuliebe aufzugeben.

„Verehrer hätte es damals genug gegeben“, meinte Tante Maria mit Wehmut, „was muss das wohl für eine schwere Entscheidung gewesen sein!“

Ich denke meine Tante Maria hätte gerne einen anderen Beruf gewählt. Manchmal hatte ich den Eindruck sie wäre gerne Autorennfahrerin geworden, zumindest hatte sie eine Vorliebe für schräge Autos. Und sie hätte mit Sicherheit gerne studiert. Am liebsten etwas Technisches. Aber für eine Dame ihrer Generation undenkbar. Ein Studium zu absolvieren war schon sehr ungewöhnlich für Frauen, geschweige denn eines in einer absoluten Männerdomäne. In meinen Augen hätte sie leicht eine Frau Diplomingenieur werden können. Aber das Leben war anders. Sie hatte früh geheiratet und ihren Mann im Krieg verloren. Ohne Ausbildung und als Witwe schaffte sie es jedoch eine Anstellung in einem Lebensmittelgeschäft zu finden. Zehn Jahre später hatte sie ihr eigenes Geschäft. Sie erzählte oft über ihr Leben, über die Zeit im Krieg und danach und auch über ihre Wünsche und Träume, die sie nie verwirklichen konnte. Das Faszinierende an meiner Tante war allerdings, dass sie zwar bedauerte, dies oder das nicht gemacht zu haben, aber sie ertrank nicht in Selbstmitleid. Im Gegenteil, sie nahm das Leben mit einer gewissen Gelassenheit und sie wurde nicht müde, junge Leute in ihren Zukunftsplänen zu stärken.

Bei meiner Tante spürte ich etwas, das ich daheim so nie kennengelernt hatte. Es war eine Gelassenheit, die mir Sicherheit gab. Es gab eine geheimnisvolle Kraft, die meine Tante trug und stärkte. In ihrer Gegenwart fühlte ich diese Sehnsucht nach etwas, was jenseits meiner Welt lag und eine unendliche und friedliche Ruhe ausstrahlte, die ich sonst nur von Friedhöfen kannte.

kirchenparadies

Es war Tante Maria, die mir diese spezielle Selbstverständlichkeit der Verbundenheit von Himmel und Erde vermittelte. Bei ihr wurde Kirche in einer Weise lebendig, die mir sprichwörtlich unter die Haut ging.

Messbesuch war für meine Tante Pflicht. Somit war sie auch für uns Kinder selbstverständlich. Die Messe erlebte ich dort in einer Art und Weise, die mich geheimnisvoll anlockte. Der Rosenkranz vor dem Gottesdienst, den vorwiegend alte Frauen monoton vor sich hin beteten, hatte eine ganz eigene mystische Ausstrahlung, die mich in ihren Bann zog. Gleichzeitig hatte ich ein gespaltenes Verhältnis zum Rosenkranzgebet, vor allem wegen der zynischen Bemerkungen, die mein Vater für gewöhnlich fallen ließ und mit denen er meine Tante als bigott und weltfremd verurteilte.

„Immer diese Madonnen-Frömmelei der alten Weiber“, fauchte er, wenn die Rede auf Rosenkranz oder andere Andachten kam. Mein Vater betrachtete den sonntäglichen Kirchgang sehr nüchtern. Er kam für ihn einer Schulstunde oder einer Nachrichtensendung gleich. Er schätzte gute Musik im Gottesdienst. Gebet oder gar ein meditativer oder künstlerischer Zugang waren ihm hingegen fremd. Wenn meine Mutter meinte, ihn an seine kirchlich-religiösen Pflichten erinnern zu müssen, und sei es nur ein einfaches Tischgebet, dann wich er gerne aus, vergrub sich hinter irgendwelchen Schreibarbeiten und wollte nicht gestört werden. Aber es war sowieso niemandem von uns ein Bedürfnis ihn zu stören.

Bei meiner Tante erlebte ich das anders. Ihr machte es Spaß in die Kirche zu gehen. Sie war engagiert und gleichzeitig fromm. Sie betete gerne und versuchte allen möglichen neumodischen Schnickschnack, wie sie so schön sagte, in der Kirche umzusetzen. Die Arbeit in der Pfarrgemeinde eröffnete ihr ein Betätigungsfeld. Sie ging auf die Suche nach besinnlichen Texten, kaufte Schallplatten mit christlicher Musik und versuchte vergeblich, den Pfarrer zu modernen Gottesdiensten zu überreden. Am meisten Spaß hatte sie nach der Messe, wenn sie mit ihren Freundinnen die Predigt des Pfarrers zerpflückte.

„Na, wie der über die Befreiungstheologie geredet hat…“ schüttelte dann die eine den Kopf, „Ist der Leonardo Boff wirklich so schlimm?“

„Dem haben sie jetzt Redeverbot erteilt.“ flüsterte die andere verschwörerisch.

„Also, ich habe ihn so verstanden, dass er eine lebendige Kirche der Armen haben möchte…“, mischte sich Tante Maria selbstbewusst ein.

Schon liefen die Gespräche über Für und Wider in der Kirchenpolitik, über ein zweites Vatikanum, das wohl hoffentlich bald auch bei den Bischöfen ankommen würde und darüber, wer am nächsten Sonntag gleich eine provokante Fürbitte einbauen sollte.

Für die Frauen blieb der Pfarrer trotz aller Kritik eine Autoritätsperson. Sie verehrten ihn, putzten ihm die Kirche, wuschen ihm die Wäsche und waren stolz, wenn sich Herr Hochwürden zum Mittagessen anmeldete. Tante Maria balancierte dann manchmal zwischen Selbstzynismus und Ehrerbieten und sagte zu den anderen:

„Na, heute werden wir wieder einmal unserer Frauenrolle gerecht. Die Mägde des Herrn Klerikers sorgen hingebungsvoll für sein Wohlbefinden.“ Aber sie freute sich trotzdem, wenn sie vom Pfarrer „meine große Stütze“ genannt wurde. Er konnte ja doch nicht ohne sie.

Eines Tages hatte Tante Maria mich gebeten, ihr in der Kirche zu helfen. Die kleine ursprünglich gotische Kirche des Dorfes stand an der Hauptstraße. In der Barockzeit modernisiert, quetschte sich ein riesiger, goldbemalter Hochaltar in die Apsis und ließ wenig Platz für andere Gestaltungselemente. Auch wenn die Hauptstraße nicht sehr befahren war, so hatten doch die Lastwägen, die sich des Öfteren die Bergstraße hinauf schlängelten, das Mauerwerk erschüttert und kleine Risse krochen in der Kirchenwand aufwärts zum barock bemalten Gewölbe. Jemand hatte kleine Fäden über die Risse gespannt, um zu beobachten, ob die Kirche auseinanderbrach. Aber die Risse blieben wie sie waren und das gebrochene Mauerwerk strahlte eine Ruhe und Gelassenheit aus, wie man es nur von alten, geweihten Gemäuern kennt, die allein durch das Gebet getragen scheinen. Das kleine Harmonium an der rechten Seite vermittelte den Versuch, hochwertigeren Gesang in die Gottesdienste zu bringen. Doch die modernen Lobpreisbücher waren mehr staubig als zerlesen und sprachen eine andere Sprache.

Es war ein Spätsommertag und das Sonnenlicht fiel, durch die bunten Kirchenfenster gebrochen, in langen Streifen in das Mittelschiff. Der goldene Hochaltar war in sanftes Licht getaucht und Tante Maria stand auf der untersten Stufe zum Altar und hantierte mit Silberleuchtern. Im Halbdunkel sah sie wie eine lebendige Statue aus, die gerade von der Balustrade gestiegen war und die sonst einsame Kirche mit einem fast unwirklichen Leben erfüllte. Es war gerade so, als ob die Heilige Katharina lebendig geworden wäre.

Tante Maria war immer elegant angezogen, auch wenn sie arbeitete, wenngleich sie mit ihrem schlichten blauen Rock und mit ihrer bunten Bluse mehr dem Bild einer Lehrerin, als der Heiligen Katharina entsprach. Sie summte leise eines dieser Kirchenlieder vor sich hin, die sie aus ihrer Kindheit kannte und ich spürte eine Riesensehnsucht in meinem Herzen. Ich hätte am liebsten das Rad der Zeit angehalten und ewig Tante Maria zugeschaut. Als sie mich kommen hörte, drehte sie sich um und lächelte mich an. Sie nickte und flüsterte mir leise, als ob sie die Stille der Kirche nicht durchbrechen wollte, zu:

„Babette, schau doch gleich mal beim Marienaltar nach, ob abgebrannte Kerzen zum Wegräumen sind.“ Ich schwebte fast ins andere Eck der Kirche. Unter einer großen Madonnenstatue stapelten sich Heiligenbildchen, Fotos, Andenken, kleine Kunstwerke und viele Dankesbriefe an die Muttergottes, die Menschen in ihrer Not geholfen hatte. Auf einem Ständer davor konnte man Kerzen anzünden. Ich näherte mich mit großer Ehrfurcht der Statue. Die Wünsche, die die Menschen vor die Muttergottes gebracht hatten, schienen in diesem Eck lebendig zu werden, und ich wollte sie nicht zerstören. Vorsichtig zog ich ein paar abgebrannte Kerzen aus ihrer Halterung und kratzte ein bisschen Wachs vom Metallständer. Um auch die hinteren Stellen zu erreichen, kniete ich mich nieder und beugte mich vor. Auf einmal war es, als ob mich die Muttergottes berühren würde.

„Danke, Babette“, flüsterte sie mir zu. Ich errötete und beeilte mich aufzustehen. Aus lauter Respekt murmelte ich ein Ave Maria - ich konnte nicht anders -, packte die Kerzenreste und schlüpfte aus der Kirche in das helle Sonnenlicht. Froh etwas Banales zu tun zu haben, steuerte ich den Mülleimer an, um die Kerzenreste wegzuwerfen.

die sache mit der verantwortung

Als ich wieder in die Kirche kam, war Tante Maria mittlerweile mit den Vorbereitungen für den Abendgottesdienst beschäfigt. Sie hielt das schwere Lektionar aufgeschlagen in ihrer Hand und war in das Evangelium vom Tag vertieft. Ich hörte, wie sie leise vor sich hinmurmelte.

„Was gibt’s Tante Maria“, fragte ich.

„Ach“, lachte sie auf, „sieh nur, das ist die Stelle von der Brotvermehrung. Na, wenn das keine Aufforderung ist. Wir sollten wirklich mehr selbst tun und Verantwortung übernehmen, und nicht immer wie Schafe hinterherlaufen und warten.“

Ich verstand nicht. Selbst tun? Schafe? Ich musste Tante Maria ziemlich verständnislos angeblickt haben, denn sie schmunzelte und schob mir das Lektionar zu. Ich warf einen kurzen Blick auf die Überschrift: Die Speisung der Fünftausend.4

„Die Geschichte kenne ich“, meinte ich gelangweilt. „Das ist die wunderbare Brotvermehrung. Die haben wir schon in der Volksschule gelernt. Da wird aus fünf Broten und zwei Fischen g a a a n z viel Essen.“ Bei ganz viel holte ich mit meinen Armen weit aus, wie um zu beweisen, dass ich die Geschichte schon kannte.

„Ach, so?“ schaute mich Tante Maria mit einem spitzbübischen Blick an. Ich spürte, dass sie eigentlich auf etwas Anderes hinauswollte. Also lehnte ich mich zu ihr hinüber, legte meinen Kopf auf ihren Unterarm und schielte auf den Bibeltext. Tante Maria freute sich über mein Interesse und holte tief Luft.

„Na, wir hatten doch letztens die Diskussion über Leonardo Boff“, sagte sie.

Ich erinnerte mich natürlich nicht, nickte aber wissend.

„Daraufhin habe ich mich gefragt, was eigentlich das Geheimnis der Bibelauslegung für die Armen ist. Was haben Gutierrez, Romero, Camera, Boff und all die anderen gemeint, als sie die Option für die Armen propagierten? Ich meine, Jesus hat doch immer schon die Armen und die Ausgegrenzten geliebt. Aber erst seit ich mich damit beschäftigt habe, wie das unterdrückte lateinamerikanische Volk die Bibel liest, habe ich verstanden, was für ein unheimlich sozialkritisches Potenzial in Jesus steckt.“

Tante Maria machte eine kurze Pause. Ich schaute sie ehrfürchtig an. Damals kannte ich all diese Namen nicht und wusste schon gar nicht was sie mit sozialkritischem Potenzial meinte, aber ich fühlte, dass sie recht hatte.

„Jesus macht es sich ganz schön bequem“, zwinkerte sie mir dann zu und grinste. „Er vollbringt gar kein magisches Wunder.“

„Nicht?“ fragte ich erstaunt.

„Nein, schau mal. Er sagt zu den Jüngern: Gebt ihr ihnen zu essen. Verstehst du? Jesus fordert ein. Er ist nicht der überfürsorgliche Papa, der sein Volk verwöhnt. Er fordert. Strengt Euch an! Tut! Gebt ihr ihnen zu essen. Denkt nach! Macht! Organisiert Euch! Sehen. Urteilen. Handeln. Das war schon für die christlich-soziale Arbeiterbewegung wichtig.“

Ich wurde neugierig und blickte genauer auf den Text.

„Die Jünger sorgen sich um das leibliche Wohl der Leute“, fuhr Tante Maria fort. „Unser tägliches Brot. Es geht um die Erfüllung der Grundbedürfnisse. Die Option für die Armen bedeutet, dass wir auf die Armen schauen sollen und ihre Bedürfnisse wahrnehmen sollen.“ Dann begann sie laut zu lesen:

„Die Apostel versammelten sich wieder bei Jesus und berichteten ihm alles, was sie getan und gelehrt hatten. Da sagte er zu ihnen: Kommt mit an einen einsamen Ort, wo wir allein sind, und ruht ein wenig aus. Denn sie fanden nicht einmal Zeit zum Essen, so zahlreich waren die Leute, die kamen und gingen. Sie fuhren also mit dem Boot in eine einsame Gegend, um allein zu sein. Aber man sah sie abfahren und viele erfuhren davon; sie liefen zu Fuß aus allen Städten dorthin und kamen noch vor ihnen an. Als er ausstieg und die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen; denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben.“

Und schon war ich in meinen Gedanken an einem einsamen Ort. Wie es dort wohl ausgesehen haben mag? Am anderen Ufer des Sees erstreckte sich eine weite Steinwüste. Im Schatten einiger großer Felsen wuchsen ein paar einsame dürre Büsche. Ein Schaf hatte sich verlaufen und knabberte gierig an den Blättern. Ich kniff die Augen vor dem gleißenden Sonnenlicht zusammen und sah noch weitere Schafe, die herbei getrottet kamen, um im Schatten der Steine vor der Sonne Schutz zu suchen. Das knabbernde Schaf hielt inne und blickte die anderen Schafe freundlich an. Ich musste lachen. Da waren sie, die Schafe, von denen Tante Maria gesprochen hatte.

„Mäh“ sagte ich leise, doch meine Tante schien mich nicht zu hören. Sie war in den Text vertieft und las laut vor:

„Und er lehrte sie lange. Gegen Abend kamen seine Jünger zu ihm und sagten: Der Ort ist abgelegen und es ist schon spät.“

„Oh jeee“, stellte ich fest. Ich konnte mit diesen hungrigen Menschenschafen mitfühlen. Sie waren, ohne zu denken, Jesus nachgelaufen. Und jetzt wurde es dunkel und sie bekamen Hunger. Mein eigener Bauch fing an zu knurren. Wenn ich hungrig war, wurde ich grantig. Vielleicht waren diese Menschen ja Hunger gewöhnt, aber mit leerem Bauch konnte man nicht denken, das wusste ich.

„Oh je“, seufzte ich noch einmal. „Das ist ein Problem.“

„Genau“, nickte Tante Maria.

„Lies du weiter“, forderte sie mich auf. Ich zog das Buch zu mir herüber:

„Schick sie weg, damit sie in die umliegenden Gehöfte und Dörfer gehen und sich etwas zu essen kaufen können. Er erwiderte: Gebt ihr ihnen zu essen!“ Ich blickte auf. „Na, das ist aber gar nicht nett von Jesus. Die Jünger hoffen, dass Jesus etwas macht. Sie erwarten ja richtiggehend ein Wunder. Und was macht er? Woher sollen denn die Jünger etwas zum Essen nehmen?“

Tante Maria grinste.

„Jesus spielt den Ball zurück“, schmunzelte sie. „Nicht er, sondern die Jünger sollen selbst etwas tun. Sie sollen Verantwortung übernehmen.“

Verantwortung. So hatte ich das noch nie gesehen. Bis jetzt hatte ich mir Jesus eher als einen Wunderzauberer vorgestellt. Wenn ein wirkliches Problem auftauchte, dann konnte er Wunder wirken. Aber Tante Maria hatte mir in diesem Moment eine ganz andere Sicht eröffnet. Jesus sprach davon, Verantwortung zu übernehmen. Galt das auch für uns? Und wenn ja, wie sollte das gehen?

Ich las weiter:

„Sie sagten zu ihm: Sollen wir weggehen, für zweihundert Denare Brot kaufen und es ihnen geben, damit sie zu essen haben?“ Ich frage mich, ob die Jünger damals überhaupt so viel Geld gehabt hätten, um für alle Menschen Essen zu kaufen. Sie waren arme Wanderprediger. Ich denke, sie waren genauso ratlos, wie ich mich in diesem Moment fühlte.

„Die Jünger wissen eigentlich nicht genau, was sie tun sollen…“, begann ich vorsichtig.

„Richtig“, bestätigte Tante Maria, „aber Jesus hilft ihnen auf die Sprünge. Jetzt kommt dieser Dreischritt ins Spiel: Sehen. Urteilen. Handeln. Pass gut auf!“ Und sie las weiter:

„Er sagte zu ihnen: Wie viele Brote habt ihr? Geht und seht nach!“

„Sehen!“, rief ich begeistert. Tante Maria nickte.

„Sie sahen nach und berichteten: Fünf Brote und außerdem zwei Fische.“

„Urteilen?“, fragte ich zögerlich.

„Ja“, bestätigte Tante Maria, „sie schauen genau nach. Manchmal muss man sich ein realistisches und vor allem genaues Bild von der Situation machen.“ Ich nickte andächtig. Das schien mir sehr wichtig. Damals ahnte ich noch nicht, dass die Auseinandersetzung mit der Realität einen anderen Menschen aus mir machen würde.

„Dann befahl er ihnen, den Leuten zu sagen, sie sollten sich in Gruppen ins grüne Gras setzen“, las Tante Maria weiter.

„Handeln“, stellte ich trocken fest.

„Und Jesus erklärt sogar wie“, führte sie weiter aus, „nämlich durch Selbstorganisation. Das erklärt seinen Befehl an die Menge, sich in Gruppen zu organisieren. Und sie setzten sich in Gruppen zu hundert und zu fünfzig.“

Jetzt hatte ich verstanden. Ich war fasziniert. Ich freute mich. Sie handeln, sie tun etwas und dann … dann kann Gott wirken. So einfach war das. Ich las den Schluss des Textes laut vor, während meine Stimme selbstsicher in der Kirche widerhallte:

„Darauf nahm er die fünf Brote und die zwei Fische, blickte zum Himmel auf, sprach den Lobpreis brach die Brote und gab sie den Jüngern, damit sie sie an die Leute austeilten. Auch die zwei Fische ließ er unter allen verteilen. Und alle aßen und wurden satt. Als die Jünger die Reste der Brote und auch der Fische einsammelten, wurden zwölf Körbe voll. Es waren fünftausend Männer, die von den Broten gegessen hatten.“

Als mir Tante Maria damals die Geschichte von der Brotvermehrung erklärte, spürte ich, dass da mehr war. Ich wusste nun, warum man die Bibel Heilige Schrift nannte. Sie war kein simples Buch, das Geschichten von Gott erzählte, sondern die Bibel war ein Buch, das eine ganz eigene Weisheit offenbarte, wenn man es genauer las. Es waren nicht einfach nur Geschichten über Gott und die Menschen, sondern es war Leben in seiner ganzen Tiefe.

Später erinnerte ich mich noch oft an dieses Erlebnis und verstand, dass dieser Zauber von der Bibel selbst ausging. Damals war ich einfach nur fasziniert und schrieb all diese Weisheit Tante Maria zu. Wie man sich nur so schnell nebenbei Gedanken über die Bibel und ihre Wunder machen konnte, staunte ich. In meiner Phantasie sah ich Tante Maria auf der Kanzel stehen und dem staunenden Volk die Bibel auslegen.

„Sag mal Tante, wärst du gerne Priesterin geworden?“, fragte ich sie spontan. „Dann könntest d u heute die Messe feiern. Deine Predigt wäre sicher sehr interessant. Jesus hätte das sicher gefallen.“ Ob sie denn nie Lust dazu gehabt hätte, löcherte ich sie weiter mit meinen Fragen. Zu meinem Erstaunen war sie sichtlich emotional bewegt und nahm das Thema überhaupt nicht auf die leichte Schulter.

„Na, ja weißt du Babette“, seufzte sie und wischte sich mit ihrem bunten Ärmel über die Augen. „Ich hätte wohl so vieles gerne gemacht, aber das Leben kommt manchmal anders. Ich bin eben eine Frau und da hat man andere Aufgaben in der Gesellschaft. Man kann nicht immer das machen, was man möchte.“

Ich verstand sie damals nicht. Ich fand, meine Tante wäre die perfekte Pfarrerin geworden. In meinen Augen war sie philosophisch, spirituell und vor allem auch praktisch veranlagt. Und: sie verstand etwas von der Bibel. Ich beschloss mit meiner Fragerei nicht so schnell aufzugeben.

„Was gefällt dir denn so an der Kirche?“ fragte ich weiter und schon begannen ihre Augen zu funkeln.

„Ich bin immer schon gerne in die Kirche gegangen“, erklärte sie mir. „Besonders in die Messe. Das habe ich von meiner Großmutter gelernt. Als ich ein Kind war, gingen wir noch jeden Tag zur Frühmesse. Das gab mir Kraft. Es ist überhaupt so, dass mir der Glaube auch in schwierigen Situationen weitergeholfen hat. Damals, als wir im Krieg ausgebombt worden sind oder als mein Verlobter gestorben ist. Das war sehr schlimm. Aber ich habe immer gewusst, da ist noch jemand, der mich trägt: Gott.“

Tante Maria lächelte und blickte gedankenverloren in den Kirchenraum, der inzwischen dunkel geworden war.

„Komm gehen wir heim“, sagte sie und nahm meine Hand. Schweigend marschierten wir nach Hause, während die Dämmerung einen kühlen Wind mit sich brachte. Nicht nur Tante Maria, sondern auch ich hing meinen Gedanken nach. Wie selbstsicher sie war, wenn sie von ihrem Glauben erzählte und wie begeistert sie für die Bibel oder Liturgie sein konnte. Doch wie anders verhielt sie sich, wenn ein offizieller Kirchenvertreter nahte. Dann verfiel sie ihm gegenüber in eine devote Haltung. Wenn sie unseren Pfarrer auch nur aus der Ferne sah, rutschten ihre Schultern leicht vornüber und ein freudiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. Und schon suchte sie die Konversation:

„Grüß Gott, Herr Pfarrer. Na, waren wir zum Frühstück bei Frau Müller? Wie geht es ihr denn, ich habe gehört, sie muss demnächst eine größere Operation machen…“ Und dann ging das Gespräch über die Leiden der Schäfchen und über die knapp bemessene Zeit, die der Herr Pfarrer zwischen all den Bedürfnissen, die an ihn herangetragen wurden, aufteilen musste. Das Begräbnis vom Herrn Lutz sei wirklich wunderschön gewesen, bestätigte dann Tante Maria und die Predigt sei eines Toten würdig gewesen.

Ich war irritiert. Meine Tante sparte nicht unbedingt mit Kritik am Pfarrer, aber wenn sie dann in seiner Nähe stand, schien alles vergessen und sie sonnte sich in seiner Aura der Heiligkeit, die sie sich selbst aufgebaut hatte. Der Pfarrer nickte verständnisvoll, genoss die lobenden Worte und beeilte sich dann zu sagen, dass er weiter müsse, da er noch ein Taufgespräch hätte und über die morgige Predigt nachdenken müsse. Aber er würde gerne wieder einmal zum Essen kommen.

Ich musste grinsen. Tante Maria liebte und verwöhnte ihren Pfarrer.

Verwöhnen? Das konnte Jesus wohl nicht gemeint haben, als er damals die Jünger motivierte Verantwortung zu übernehmen. Was wollte uns der Jesus von damals mitteilen? Sollten wir, so wie die Jünger, Verantwortung für seine Kirche übernehmen?

Ich auch?

bunte wolken

Meine Kirchengeschichte mit Tante Maria lehrte mich Selbst- und Gottvertrauen. Denn durch sie wurde mir irgendwann klar, dass meine Kleinmädchenvorstellungen keine Phantasiegeschichten, sondern Transzendenzerfahrungen waren.

„Die Grenze zwischen Transzendenz und Phantasie ist fließend“, sagte Tante Maria eines Tages und obwohl ich die Worte nicht verstand, wusste ich, dass das die Erklärung war, nach der ich gesucht hatte.

„Wie sollen wir Gottes Gegenwart und das, was nicht in Worte fassbar ist, ausdrücken, wenn nicht in Kreativität, Phantasie, Musik oder jeder Form von Kunst“, philosophierte sie weiter. „Welche Worte oder Bilder gibt es für jenseitige Erfahrungen? Wie können wir eine große Liebe, die über diese Welt hinausgeht und die Unsterblichkeit hinterlässt, sonst ausdrücken, wenn nicht in Religion?“

Wenn meine Tante so redete war sie ruhig, gelassen und strahlte die ihr typische Selbstsicherheit aus. Sie unterschied im Übrigen sehr klar zwischen psychischen Krankheiten wie schizophrenen Anfälle oder Wahnvorstellungen, die Menschen nichts Gutes brachten und der Transzendenz, die sich in dieser Welt Ausdruck zu verschaffen suchte. Ich überlegte, ob ich ihr vom Rhinozeros meiner Kindheit erzählen sollte, aber unterließ es dann doch. Was wäre wenn meine Geschichte doch keine Bedeutung hätte? Wenn das schreckliche Tier und die Muttergottes kein wirkliches Erlebnis, sondern pure Einbildung gewesen wären? Dann hätte ich diese Erfahrung, die mir so wichtig war, für immer verloren.

Und doch motivierten mich die Aussagen meiner Tante die Welt genauer zu beobachten und zu spüren. Ich versuchte zwischen Wirklichkeit und Phantasie zu unterscheiden und orientierte mich dabei an Tante Maria, da diese offenbar genau wusste was Gott, was Realität oder was Illusion war. Es war, als ob sie eine Wolke der Ehrfurcht umgab, die sie schützte und stärkte.

Ich nahm mir fest vor, dass ich, wenn ich einmal groß wäre, auch so eine Wolke um mich haben würde. Diese Wolke wäre wie feiner Wasserdampf und würde, je nach Stimmung, die Farbe wechseln. Ich wusste auch genau, was die Farben bedeuteten. Die grüne oder gelbe Wolke zeigte mir, dass ich glücklich war und sie würde sich rot färben, wenn ich wütend wäre. Eine blaue Wolke würde bedeuten, dass ich meine Ruhe haben wolle und feurig orange-lila hieße, dass es mir schlecht ginge und ich getröstet werden wolle. Emotionale Kommunikation ohne Missverständnisse. So einfach stellte ich mir das vor.

Mit der Zeit gelang mir das. Ich begann bei meiner Tante Farben zu sehen. Wenn ihre Wolke grün war, dann kuschelte ich mich ganz nah an sie heran, um möglichst viel von ihrer Freude mitzunehmen. Wenn sie rot umwölkt war, dann suchte ich lieber das Weite. Wenn allerdings das Rot in Orange wechselte, dann blieb ich, weil ich wusste, dass sie eigentlich traurig war.

Ich perfektionierte dieses kindliche Spiel. Eigentlich sah ich diese Farben gar nicht. Ich spürte sie. Und: Ich spürte diese Farben nicht nur bei Tante Maria, sondern auch bei anderen Menschen. Ich fühlte, wie es diesen Menschen ging, ob sie glücklich oder unglücklich waren und begann Gefühle in Farben zu packen. Die Farben halfen mir, mich richtig zu verhalten. Das kam mir auch bald bei meinen Eltern zu Gute. Ich sah sofort, wenn mein Vater drauf und dran war wütend zu werden und suchte das Weite. Ich spürte, wenn es meiner Mutter schlecht ging und war ganz still in ihrer Nähe.

Bald merkte ich, dass ich so viel leichter lebte. Wenn jemand etwas brauchte, konnte ich sofort helfen, oder zumindest Verständnis zeigen. Das war anstrengend, aber es war gleichzeitig eine wunderbare Erfahrung. Ich fühlte mich sicher und als ein nützliches Mitglied der Gesellschaft, ja mehr noch, quasi unersetzlich, denn, wenn ich in der Nähe war, dann lief für meine Mitmenschen alles leichter ab, denn ich wusste, was sie brauchten. Was ich nicht merkte war, dass es genau die Rolle war, die sich mein patriarchaler Vater für eine Frau wünschte: Unsichtbar und dienend da zu sein, wie ein Engel, um dem Patriarchen das Leben zu erleichtern.

Irgendwann hatte ich erreicht, dass meine Eltern gar nicht mehr merkten, ob ich in der Nähe war oder nicht. Ich konnte mich praktisch unsichtbar machen. Ich konnte zaubern. Ich konnte mich in eine angenehme Person verwandeln. Die Farben halfen mir dabei. Meine Welt wurde immer bunter. Jedem, der mir wichtig war, verpasste ich einen Farbklecks. Diese Farbkleckse ließ ich dann Geschichten erzählen und entdeckte, dass meine enge Stadtwelt erträglicher wurde.

Als ich älter wurde, achtete ich immer weniger auf die Farben. Ich war mit mir und mit anderen Dingen beschäftigt, wie Teenagerfreundschaften oder Mädchenproblemen. Die Farben wurden blasser und ich vergaß beinahe, dass es sie gab. Was trotz allem blieb, war ein Gespür für den Seelenzustand anderer Menschen. Ich spürte und reagierte. Ganz automatisch.

back to the roots

Als ich sechzehn war, starb meine Tante. Ihr Haus und ihr Geschäft vererbte Tante Maria meinem Vater, der, ob der Tatsache, dass er damit nichts anfangen konnte, die Häuser verkaufte und das Geld anderweitig investierte. Mit ihrem Tod und dem Verkauf der Häuser fiel jedoch für mich eine Tür ins Schloss. Es war die Türe zu einer Welt, die ich vorher als selbstverständlich erlebt hatte und deren Fehlen ich erst jetzt bemerkte.

In den Ferien, bevor das Haus verkauft wurde, fuhr ich noch einmal in den Ort meiner Tante. Ich atmete den Duft ihrer alles-in-Frage-stellenden, philosophischen Gedankengänge ein und versuchte mir vorzustellen, wie sie weiterhin durch die Kirche schwebte und die Dinge an ihren Platz rückte. Tatsächlich schien mir jedoch der sakrale Raum ohne meine Tante weniger zugänglich. Ich merkte zwar, dass ich dort einen Platz zum Beten gefunden hatte, aber Tante Marias Wärme und Engagement fehlten. Mit wem sollte ich dort reden?

Ich schlenderte in diesen Tagen immer wieder zum Kurhotel am Berg hinauf. Auch dort war alles wie immer, aber nun schien es mir fremd. Es war wie ein Film, dessen Zuschauerin ich war. Ich versuchte mir das Gefühl der Freiheit und Neugier, das ich hier immer empfunden hatte, in Erinnerung zu rufen. Hatte i c h mich verändert oder war es die Welt, die nicht mehr so war wie früher?

Es war wohl beides. Am meisten ist mir in Erinnerung, wie souverän und autonom die Frauen, die im Kurhotel weilten, auf mich plötzlich wirkten. Während in dem kleinen Ort immer noch der Pfarrer und der Bürgermeister das Sagen hatten, merkte man an den Weltbürgern im Hotel, dass sich die Gesellschaft verändert haben musste. Nur wenige fanden sonntags den Weg in die kleine Kirche. Elegante Frauen bewegten sich selbstbewusst an der Seite von erfolgreichen Männern, von denen sie sich scheiden ließen, wenn es ihnen nicht mehr passte. Es waren Frauen, die eine Form von Freiheit lebten, die Selbständigkeit versprach. Auch die Leitung des Kurhotels war mittlerweile in die Hände einer Frau übergegangen. Diese weiblich-emanzipierte Selbstbestimmung berührte mich besonders. Ich merkte, dass sich Frauen in Berufen breitmachten, die davor Männerdomänen gewesen waren. Sie wollten mitbestimmen und gestalten. Sie interessierten sich für Politik und Wirtschaft und sie nützten die Möglichkeit zur Bildung. Keiner konnte ahnen, dass es ein Vierteljahrhundert danach mehr Frauen als Männer mit Universitätsabschlüssen geben würde.

Ich schmiedete große Pläne. Ich spürte eine unstillbare Sehnsucht nach Leben und Entfaltung. Ich wollte mich verändern, reisen, etwas aus meinem Leben machen. Ich wollte Politikerin werden oder als Managerin in einer großen Firma arbeiten. Es war eine ganz eigene Energie, die ich spürte, wenn ich an meine Zukunft dachte. Es war eine Kraft, die Neugier in mir weckte und sich anfühlte wie eine der berühmten verbotenen Früchte auf dem Baum der Erkenntnis. War es dieselbe Sehnsucht, die einst Eva dazu verführte in den Apfel zu beißen?

Nachdem das Haus verkauft worden war, fand ich keinen wirklichen Anlass mehr, um in das Dorf meiner Tante zurückzukehren. Trotzdem wollte ich mir die unscheinbaren aber freiheitsversprechenden Hintertürchen offenlassen, die eng mit Tante Maria verbunden gewesen waren und versuchte in kleinen Erinnerungen den Duft der großen Welt in mein enges Zuhause zu retten. Wenn ich an einer alten Kirche vorbeikam, stieß ich die Kirchentüre auf und steckte meine Nase hinein. Meist kam mir der Geruch von modrigen, feuchten Räumen entgegen, der sich mit dem Duft von Kerzenwachs vermischte. Ich holte tief Luft und merkte, dass mir die Kirchenatmosphäre guttat.

Ich fing an mit meiner Tante zu reden. Ich erzählte ihr von meinen Zukunftsplänen und davon, dass ich ein tolles Leben führen würde. Aber bald wurde ihre Stimme leiser und es kamen immer mehr andere Stimmen dazu. Ich versuchte mit Gott zu reden, so wie ich es als Kind getan hatte, aber auch das wollte nicht richtig klappen. Was wollte das Leben von mir?

Wie so viele junge Menschen in diesem Alter wurde ich zur Suchenden. Wie ein Trüffelschwein im Wald, begann ich nach verborgenen Schätzen in der Welt zu suchen. Aber ich fand keine. Ich war unentschlossen, o b und wenn ja, w a s ich studieren sollte, probierte so einiges aus, sei es als Nebenjob oder einfach aus Lust und Laune, aber eine Antwort auf die Sehnsucht, wie ich sie bei Tante Maria gefunden hatte, konnte ich nirgends entdecken.

In meinem Innersten hatte ich fest daran geglaubt eines Tages den Apfel der Erkenntnis der Eva zu finden, oder zumindest etwas, was dem entsprach. Damals wusste ich nur: Ich suchte etwas. Aber es war diffus, ungreifbar und definitiv außerhalb meiner damaligen Lebenswelt. Ich suchte etwas, von dem ich nicht wusste, was es war. Irgendwann fand ich mich damit ab und meine Neugier auf die große weite Welt und einer wirklich erfüllenden Tätigkeit, begann langsam wieder zu schwinden.

Zeitgleich mit dieser Resignation kam ein unbestimmbares Gefühl, eingesperrt zu sein. Es war allerdings kein unangenehmes Eingesperrtsein. Ich fühlte mich wohl damit. Es hatte etwas Vertrautes, Heimeliges und es gab mir Sicherheit. Die Orientierung an einer selbstverständlichen, patriarchalen Welt mit einer subtil unhinterfragbaren Autorität, welche ich dereinst von meinen Eltern und meinem Umfeld aufgesaugt hatte, tat mir gut. Mehr noch. Ich begann mich nach einer eigenen Familie zu sehnen.

Mit Tante Marias Tod, war die Sicherheit einer andersdenkenden Welt weggefallen. Wie verlockend war da die Orientierung am Selbstverständlichen.

heimat

War es Zufall oder Schicksal, dass mich eine meiner Freundinnen zu einem lustigen Abend in die Pfarre mitnahm? Gott war mir immer wichtig und vertraut gewesen, aber, abgesehen von einer losen Bindung zu der Kirchengemeinde bei Tante Maria, hatte ich mich nie besonders mit einer Pfarre identifiziert. An diesem Abend fühlte ich mich sofort wohl.

In den darauffolgenden Monaten machte ich nicht nur die Erfahrung einer eingeschworenen Gemeinschaft, sondern erlebte diese Zusammengehörigkeit eingebettet in den Gottesdienst. Ich entdeckte meine Liebe zur katholischen Liturgie, was mir später noch zum Verhängnis werden sollte. Damals war ich einfach nur begeistert.

Wir hatten einen sehr einfühlsamen Kaplan, der uns den nötigen liturgischen Freiraum zur Verfügung stellte. Im Prinzip war es sehr einfach. Der Dienstagabend gehörte uns. Für die Liederauswahl und die Musik waren w i r zuständig und wir fühlten uns wie die Großen. Meine spärlichen musikalischen Kenntnisse erfuhren auf einmal Entfaltung. Ich konnte meine Talente und Fähigkeiten einbringen. Ich wurde gebraucht. Es dauerte nicht lange und wir beherrschten die liturgischen Feinheiten einer Messe wie ein Priester. Nicht nur die Antworten, sondern auch die Gebete waren uns in Fleisch und Blut übergegangen. Wir wussten, wann wir welche Lieder singen konnten, wo frei oder streng nach Vorschrift gebetet wurde, wir hatten den Messablauf im kleinen Finger und die Leseordnung auf der Kühlschranktür hängen.

In Gemeinschaft geborgen blühte ich auf. Ich erlebte Gleichgesinnte und Zusammenhalt. Das war es, was ich mir immer gewünscht hatte. Sich entfalten. Sich einbringen. Musikalisch mitreden. Gemeinsam Kirche leben. Als energiegeladene Jugendliche wollten wir die Welt retten. Und es kam noch ein Zweites hinzu: Im Gegensatz zu meiner strengen patriarchalen Erziehung erschien mir Pfarre als Freiheit schlechthin.

Ich verliebte mich. In die Gemeinschaft in der Pfarre, in meine neuen Freunde und vor allem in den rotblonden Rebellen aus der anderen Jugendgruppe. Ich erlebte eine lebendige katholische Kirche, die noch dazu keineswegs eine Einheit war, sondern in der es interessante, progressive oder auch konservative Strömungen gab. Ich lernte, dass verschiedene Gruppen ihren ganz persönlichen Platz in der Kirche beanspruchten, und dass unterschiedliche Menschen eben höchst unterschiedliche Zugänge zu dem e i n e n Glauben der katholischen Kirche besitzen.

Da diese Platzkämpfe auch in unserer Pfarre ausgetragen wurden, rief Roman, besagter rotblonder Jugendlicher, dazu auf, den Rosenkranz zu boykottieren. Das wären alles „konservative, altmodische, engstirnige, lebensentsagende Menschen“. Ich protestierte mit und hatte bald die Aufmerksamkeit meines angebeteten Roman auf mich gezogen.

„Schreiben wir einen Brief an den Bischof“, rief uns Roman kämpferisch zu. Es sei schließlich eine Frechheit, wie Mädchen in der Kirche behandelt wurden.

„Warum dürfen Mädchen in der Kirche nicht ministrieren?“, fragte er provokant in die Runde und wir mussten ihm recht geben. Wir wussten es nicht. In Zeiten in denen man kaum Ministranten fand, war es ein Hohn, dass Mädchen dieser Dienst am Altar verweigert wurde. Aber die Forderungen unseres Rädelsführers gingen noch weiter: Priester sollten heiraten und Frauen Priester werden dürfen.

Ich fühlte mich als die Superrebellin. Was für unverfrorene Forderungen wir doch hatten: Frauen als Priesterinnen. Das wagte ich ja gar nicht zu denken. Doch dann wurde es ernst. Roman formulierte tatsächlich einen Brief, den er uns eines Freitags in unserer Jugendstunde herumreichte. Alle sollten unterschreiben. Ich schämte mich plötzlich. Würde ich wirklich die Kraft haben, so etwas zu unterschreiben? Mein Zögern hatte für mich enorme Auswirkungen, denn sofort war ich im Ansehen des rotblonden Jünglings gesunken.

„Na, wenn du meinst, dann unterschreib halt nicht. Ich schicke meinen Brief trotzdem ab“, sagte er und zog los, um sich andere Gleichgesinnte zu suchen. Ich war mir sicher, er war schwer enttäuscht, dass ich meine Unterschrift verweigerte.

Roman war für mich das Bild eines Traummannes. Gerade weil er älter war (vier Jahre!), verkörperte er für mich das, was ein Mann zu sein hatte: Er wusste wo es langging.

Ich beschloss mich zu informieren. Vielleicht hatte Roman ja doch recht. Mit einer großen Portion Überwindung und einem ratlosen Herzen machte ich mich auf den Weg zu unserem Pfarrer, um ihn um Rat zu bitten. War schon Roman die Verkörperung eines perfekten Mannes, so war es unser Pfarrer noch mehr. Er war für mich d i e Respektperson. Geweiht und nahezu heilig. Untadelig und unangreifbar.

An einem Tag, von dem ich wusste, dass der Pfarrer in der Kanzlei war, nahm ich meinen Mut zusammen und marschierte ins Pfarrhaus. Ich war ein schüchternes, dünnes Mädchen, sehr unauffällig und musste sogar vor mir selbst einen Vorwand finden, um nicht im Vorhaus stehenzubleiben, sondern die Tür zur Kanzlei aufzustoßen. Mit gesenktem Blick schlich ich in das durchaus geräumige Büro und sah den hochehrwürdigen Pfarrer am Schreibtisch sitzen. Ich umklammerte ein paar Liederblätter, schob mich selbst ins Zimmer hinein und murmelte ein leises:

„Entschuldigen Sie, ich muss was kopieren.“ Der Kopierer stand im hintersten Eck in der Pfarrkanzlei und so musste ich unweigerlich um den Schreibtisch des Priesters herumgehen. In diesem Moment erschien mir der Schreibtisch riesig. Ich tastete mich mit vorsichtigen Schritten langsam näher. Der Pfarrer saß mit dem Rücken zu mir und war in ein Schriftstück vertieft. Ich wusste nicht, ob ich etwas sagen konnte oder durfte und überlegte verzweifelt, wie ich denn auf mich aufmerksam machen sollte. Ich raschelte mit den Liederblättern, die ich in der Hand hatte. Plötzlich drehte sich der Pfarrer zu mir, sah mich an und fragte direkt:

„Na Babette, was hast du denn auf dem Herzen?“ Ich lief rot an. Hatte er mir angesehen, dass ich etwas wollte, oder hatte er einfach nur ein gutes Gespür? Ich druckste herum und brachte kein vernünftiges Wort heraus.

Unser Pfarrer war ein leutseliger und gutmütiger Mensch und wusste sehr wohl um meine Schüchternheit. Er machte den Anfang:

„Wo kann ich dir denn helfen? Ich sehe doch, dass da was ist.“

Ich schaute ihn nur mit großen Augen an. Er lächelte.

„Du kannst ruhig mit mir reden. Hat es was mit Roman zu tun?“

Ich war sprachlos. Entweder war er ein Hellseher, oder er kannte seine Pappenheimer. Ich entschied mich für ersteres und mein Respekt wurde noch größer. Dann platzte ich heraus:

„Herr Pfarrer, Roman möchte einen Brief an den Bischof schreiben, denn er findet, dass Pfarrer heiraten sollten und Frauen Priester werden.“

Ich lief noch knallröter an und hätte mich gerne versteckt. Aber jetzt war es heraußen.

„Und er hat mich gefragt, ob ich unterschreibe, und ich… ich… ich habe es nicht getan.“

Ich weiß nicht, ob ich mir erwartet hatte, dass der Pfarrer mir gratulierte, oder ob er Roman unterstützen würde. Er reagierte anders, als ich mir gedacht hatte. Er lachte. Nicht laut oder bösartig, sondern es war ein fröhliches, gutmütiges Lachen.

„So, hat er das?“, sagte er. „Na, das ist doch keine so schlechte Idee. Ich denke damit können wir leben. Was denkst du denn darüber, Babette?“

Ich war perplex. Was ich dachte? Ich wusste nicht was ich denken sollte. Das hatte mich noch niemand gefragt. Schon gar nicht zu diesem Thema. Ich begann zu überlegen, was ich darüber dachte. Gar nichts. Ich war immer so damit beschäftigt gewesen herauszufinden, was die anderen dachten und mir dann eine Meinung auszuwählen, dass ich nicht auf die Idee gekommen wäre mir selbst ein Urteil zu bilden. Ich schüttelte den Kopf, stammelte ein „Ich weiß nicht so recht…“ und verzog mich mit gemischten Gefühlen. Ich war peinlich berührt. Meine Frage kam mir im Nachhinein lächerlich vor. Gleichzeitig fühlte ich mich erleichtert. Ich konnte meinem angebeteten Roman sagen, dass ich nun doch unterschreiben würde.

Zwei Wochen später rief der Bischof höchstpersönlich an und beschwerte sich über Romans Brief. Das war es dann. Und irgendwann war wieder Gras über die Sache gewachsen. Passiert war gar nichts. Weder in die eine, noch in die andere Richtung. Das Zölibat blieb unantastbar.

Roman kämpfte weiter für eine Reform in der Kirche. Ich verstand diesen Eifer nicht ganz. Wozu denn? Die Kirche, die ich erlebte, war doch sehr schön. Ich genoss die Jugendgebete, das Lager, die gemeinsamen Ausflüge und die Diskussionen. Vor allem genoss ich es, eine Heimat gefunden zu haben. Ich war jemand. Ich war die von der Flo-Jugendgruppe und ich sang im Jugendchor. Innerlich hob ich vor lauter Begeisterung ab. Ich engagierte mich. Musikalisch. Inhaltlich. Ich lernte zu diskutieren und ich begann meine Schüchternheit zu überwinden.

noah und die flut

Ich muss ungefähr siebzehn gewesen sein, als eine Diskussion in unserer Jugendgruppe meinen Kinderglauben grundlegend ins Wanken brachte. Nun, er kam nicht wirklich ins Schwanken, denn insgeheim war es eine Bestätigung für etwas, was ich innerlich schon längst erahnt hatte.

In unserer Pfarre gab es zwei Jugendgruppen. Mit meinen siebzehn Jahren war ich noch bei den Jüngeren. Mein Angebeteter Roman war natürlich bei den Großen. Manchmal wurden wir Kleinen in die andere Jugendgruppe eingeladen. Da ging es dann meistens um biblische Themen, denn die Großen wollten uns Kleinen zeigen, was sie schon alles wussten und konnten. Sie liebten es, sich in unserer Bewunderung zu sonnen. Der Leiter der großen Jugendgruppe war Peter Priester. Im richtigen Leben hieß er Peter Klein und er war im Priesterseminar. Für uns war er Peter Priester, denn in unseren Augen war er schon am Weg zur absoluten Heiligkeit. Er war zu Höherem berufen und absolut untadelig.

An jenem besagten Abend hatten wir also die Ehre den Großen beizuwohnen. Zu den sechs Großen waren noch drei Kleine dazugekommen: Christian, Evelyn und ich. Unser Seminarist war spät dran, dafür umso motivierter. Er stürmte geradezu in den Jugendkeller.

„Heute werden wir uns mit Dubletten in der Bibel beschäftigen“, rief er enthusiastisch aus.

Dubletten? Wir waren ratlos. Und wie ein Meister, der seinen Jüngern ein großes Geheimnis offenbart, konfrontierte er uns mit einer Erzählung aus dem Alten Testament.

Es ging um die Rettung Noahs aus der Flut5. Gleich einem Quiz in einer Fernsehshow stellte Peter uns Fragen:

„Wie viele Tiere nahm Noah in seine Arche mit?“

Wir blätterten eifrig in unseren Büchern. Schnell fand ich die richtige Bibelstelle:

„Je e i n Paar - in die Arche“, rief ich stolz und las laut vor: „Von allem, was lebt, von allen Wesen aus Fleisch, führe je zwei in die Arche, je ein Männchen und ein Weibchen sollen es sein.6

„Blödsinn“, rief Christian, „sieben Paare von jeder Sorte! Da schau: Von allen reinen Tieren nimm dir je sieben Paare mit, Männchen und Weibchen, auch von den Vögeln des Himmels jeweils sieben, männlich und weiblich. Steht in Genesis 7,2.“

Wir blickten uns verdutzt an. Die Bibel war ja überhaupt nicht eindeutig. Doch bevor wir das ausdiskutieren konnten, stellte Peter die nächste Frage:

„Wie lange regnet es?“

Wir blätterten wieder eifrig.

„Ich hab‘s“, rief Christian, „vierzig! Dann lasse ich es vierzig Tage und vierzig Nächte lang auf die Erde regnen.“ 7

Evelyn widersprach: „Nein. Da steht: Das Wasser aber schwoll hundertfünfzig Tage lang auf der Erde an.8 Also gab es 150 Tage Regen.“

Einer der Größeren grinste und sagte:

„Beide falsch. Ihr könnt nicht rechnen. Es regnete mehr als ein Jahr. Hier steht es.“ Er bohrte seinen Finger auf die Seite, die er aufgeschlagen hatte und las mit lauter Stimme: „Im sechshundertsten Lebensjahr Noachs, am siebzehnten Tag des zweiten Monats, an diesem Tag brachen alle Quellen der gewaltigen Urflut auf und die Schleusen des Himmels öffneten sich.9 Und im nächsten Kapitel steht dann: Im sechshundertersten Jahr Noachs, am ersten Tag des ersten Monats, hatte sich das Wasser von der Erde verlaufen10.“

Wir waren ratlos. Hatten wir verschiedene Bücher, fragte ich mich. Ich schielte auf die Bibelausgaben, die auf den Knien der anderen lagen. Sie erschienen mir sehr gleich.

„Wen lässt Noah fliegen, um zu sehen, ob die Flut vorbei ist?“, war die nächste Frage von Peter Priester.

„Einen Raben!“

„Die Taube!“, platzten Evelyn und ich gleichzeitig heraus.

Wir schauten uns an und mussten lachen. Aber in Wirklichkeit war ich verunsichert. Verwirrt las ich die Stelle noch einmal.

„Also im Vers 7,7 fliegt ein Rabe und im Satz darauf die Taube, obwohl die Flut bereits vorbei war?“, fasste ich fragend zusammen. Wir sahen uns an und wussten nicht was wir denken sollten. Peter Priester lächelte überlegen.

„Seht ihr, einmal sind es diese Angaben, dann andere“, sprach er. „Die Bibel hat Fehler“, verkündete er theatralisch und baute sich vor uns auf.

Er war ein schmaler junger Mann, aber groß. Als er so auf uns herunterblickte und die Selbstsicherheit in seiner Stimme über unsere Köpfe hinweg schwebte, versanken wir Jugendliche noch mehr im Sofa. Wir schauten uns ratlos an und fühlten uns wie vor einem großen heiligen Geheimnis. Alex, einer von den Großen, begann zu grinsen.

„Wie cool, du hast recht, dann sollten wir uns das mit unserem Glauben noch einmal überlegen.“ Kaum hatte er die provokanten Sätze ausgesprochen, begann unter uns Jugendlichen eine Diskussion. Wie konnte das sein? Die Bibel hat Fehler?

Peter klärte uns auf. Es gab unterschiedliche Autoren. Es gab die Propheten, die Geschichtsschreiber oder auch schon fertige mündliche, überlieferte Texte, die in die Bibel aufgenommen wurden. Es gab Schreiber, die man nicht mehr identifizieren konnte und die man dann den Jahwist, der Gott immer als Jahwe bezeichnete, oder den Elohist, nach dem Gottesnamen Elohim, nannte. Die historisch-kritische Bibelauslegung lehrte uns, dass Texte eine lange, teils mündliche, teils schriftliche Vorgeschichte haben. Und es ist immer mit zu bedenken, dass es ein bestimmtes historisches und theologisches Umfeld des Autors gibt. Es kann also durchaus einen Unterschied zwischen den ursprünglichen Ereignissen und den biblischen Berichten geben. Das war für uns, die wir weder Hebräisch noch Griechisch konnten, nicht zu erkennen.

Ich saß mit großen Ohren und wahrscheinlich auch mit weit aufgerissenen Augen da und lauschte. Mir gefiel was ich hörte. Die Bibel zog mich in ihren Bann.

„Das“, rief Peter und hielt sein zerlesenes Bibelbuch in die Höhe, „ist eine ganze Bibliothek! Es ist die Geschichte Gottes mit den Menschen. Jeder von ihnen hat seine ureigenste Erfahrung mit ihm aufgeschrieben! Gott spricht zu uns. Und jeder hat das Recht es zu lesen.“

Mir wurde warm ums Herz. Das war allerdings weniger den historisch-kritischen Erkenntnissen geschuldet, die schienen mir damals zu wissenschaftlich, sondern es war die Art und Weise, wie Peter mit der Bibel umging. Es erinnerte mich an mein Erlebnis mit Tante Maria, als sie mir den Dreischritt des Sehens-Urteilens-Handelns erklärt hatte. In diesem Moment verstand ich, was damals die eigentliche Faszination in mir ausgelöst hatte: Es war der Umgang mit etwas, was eigentlich mystisch-fern und geheimnisvoll sein sollte. Tante Maria hatte einen selbstverständlichen Zugang zu den biblischen Texten und versuchte den daraus gewonnenen Glauben lebenspraktisch umzusetzen, ohne zu viel Schnickschnack und ohne blinden Gehorsam. Ich hatte diesen Zugang emotional in mich aufgesaugt, ohne zu wissen, was es bedeutete. Nun verstand ich, dass dieser intensive und praktische Umgang mit etwas Heiligem die Türe zu genau dieser Sehnsucht war, die ich immer gespürt, aber längst wieder verloren hatte. Jeder von uns hatte die Möglichkeit in die Geschichte Gottes einzutauchen. Es war die Banalität des für-jeden-Verfügbaren, das meine Seele berührte.

Heute ist das für mich selbstverständlich. Damals war es das nicht. Hatte man mir doch schon als Kind beigebracht, dass die Bibel äußerst kompliziert und schwer zu verstehen sei. Abgesehen von den paar Jesusgeschichten befanden sich in meinen Augen nur mühevolle Berichte über Vergangenes in der Bibel, die ich als langweilig abgestempelt hatte. Die Bibel in die Hand zu nehmen, zu lesen, direkt in einen Text einzutauchen und die Freiheit zu haben ihn so zu verstehen, wie ich ihn eben verstand, war nicht nur für mich etwas Neues. Jahrhundertelang war das Bibellesen Wissenschaftlern vorbehalten gewesen. Selbst lesen, auch nach der Erfindung des Buchdruckes, war und ist bis heute keine Selbstverständlichkeit.

Keiner von uns Jugendlichen hatte die Bibel wirklich gelesen. Nicht einmal in Auszügen. Geschweige denn im Originaltext. Darüber hinaus waren wir eine schulverwöhnte Jugend, die erwartete, dass man ihnen die Inhalte der Bibel, oder des Lebens im Allgemeinen, auf leicht verständliche Weise näherbringt. Ich hatte nie selbst in der Bibel nachgelesen, ob denn das dort auch so stand, wie man mir erzählte. In anderen Ländern mache man das, meinte Peter. Er erzählte uns von den südamerikanischen Basisgemeinden, die er letzten Sommer besucht hatte und erklärte uns die politische Funktion, die diese Basisgemeinden wahrnahmen. Die einfachen Menschen dort machten sich trotz, oder gerade wegen, einer relativ hohen Analphabetenrate ihre eigenen Gedanken zur Bibel.

Selbst Denken. Das konnte ich von ihnen lernen. Und so kämpfte ich mich als 17-Jährige mühsam durch die hochheiligen und nicht immer verständlichen Sätze der Heiligen Schrift. Die Konkordanz, eine Art Stichwortkatalog mit Bibelverweisen, gehörte bald zu meinen Standardnachschlagewerken. Mit heutigem Wissen scheint mir das eine lange, mühsame Ewigkeit her. Und trotzdem, auch wenn ich bis heute einige Stellen gar nicht und manche Stellen hundert Mal gelesen habe, es war die Zeit und die Energie, die ich investierte, die meine Liebe zu diesem Buch wachsen ließen.

Gegenwärtig muss man noch weniger selbst erarbeiten. Schnell mal gegoogelt, um zu wissen, was Sache ist. Damals konnte ich mir nicht vorstellen, dass die Bibel einmal digitalisiert werden würde. Allerdings - die Instagrambilder von heute waren im Mittelalter gemalte Bildzyklen und Fastentücher. Es waren Bilder, die die Lehre von Himmel und der Hölle lebendig werden ließen und sich dabei oft vom ursprünglichen Text entfernten. Es gab die biblia pauperum11, die dazu verführte vorgegebene Bilder zu verinnerlichen. Schnell verfügbares Wissen stellt uns heute vor die gleiche Frage wie damals. Wie können wir wissen welchen Wahrheitsgehalt die uns täglich durch Filme und Fernsehen vermittelten Bilder haben? Sind auch sie eine Form der biblia pauperum? Wer lehrt uns Fake von Wahrheit zu unterscheiden?

Damals war ich auf jeden Fall fasziniert, welch unterschiedliche Bilder über Gott in den biblischen Texten steckte und ich war überzeugt, dass wir gemeinsam mit Peter Priester einem großen Geheimnis auf der Spur waren. Ich lernte einen ganz anderen Gott kennen, als den, über den ich in meiner Kindheit erzählt bekommen hatte. Dieser Gott war wild, leidenschaftlich und manchmal gar nicht so nett.

Die Entmystifizierung der Bibel war die Eröffnung einer neuen Welt. Ich denke, den anderen Jugendlichen ist es damals genauso gegangen, denn wir kamen schnell ins Diskutieren. Es war spannend. Gott sprach zu uns. Jetzt und hier aus einem alten Buch. Von da an nahm ich mir die Freiheit die Bibel zu entdecken. Ohne Vorschrift. Ohne Theologie. Ich erlaubte es mir. Gott erlaubte es mir. Und je tiefer ich in die Gotteserfahrungen der Menschen von damals eintauchte, desto größer wurde meine spirituelle Sehnsucht. Wenn ich die biblischen Texte im Gottesdienst hörte, spürte ich eine unerklärliche Vertrautheit, die nicht nur von der Liturgie herrührte. Da war etwas, was mich mit den Menschen von damals in Verbindung brachte und bald wusste ich: So wie die Menschen in der Bibel, konnte auch ich direkt mit Gott in Kontakt treten.

Gott hatte mich berufen.

Bloß wozu?

lydia et al

Ich erlebte Kirche anders als der rotblonde Roman. Er wollte Reformen. Ich fand, dass die Kirche, so wie sie war, gut war. Er wollte eine junge, dynamische Gemeinschaft und er fand das Rosenkranzgebet ultrakonservativ.

„Kirche sollte auch etwas für Junge sein“, forderte er, „modern und schwungvoll“. Ich hörte ihm schweigend zu und lief rot an. Ich hatte nichts gegen das Rosenkranzgebet. Es war meditativ und ich kam dabei ins Nachdenken. In unserer Pfarre gab es jeden Abend Rosenkranzgebet. Meist wurde es vom Grafen vorgebetet. Der Graf war noch ein Relikt aus der Kaiserzeit. Er war damals in den 1970ern und 80ern schon weit jenseits der 70 Jahre. U r a l t kam er uns Jugendlichen vor. Er war ein Österreicher mit dem eigentümlichen deutschen Akzent der Ungarn, die sich selbst noch als adelige Nachkommen der Habsburger verstanden. Er war nett, zuvorkommend, unauffällig und betete den Rosenkranz. Jeden Abend. So wie auch der tägliche Messbesuch Ausdruck seiner Identität war. Kaiserlich-Katholisch.

Da der Rosenkranz unter uns Jugendlichen verpönt war, schlich ich mich eines Tages heimlich in die halbdunkle Kirche, um mich unauffällig in eine der letzten Bankreihen zu setzen. Der Graf begann mit seiner dünnen Stimme den Rosenkranz vorzubeten. In seinem Gebet war eine ganz eigene Intensität zu spüren. Es war eine Sehnsucht, die sich mit einer inneren Überzeugung vermischte, die ich beneidenswert fand. Noch heute ist dies ein Gefühl, das mich nicht unberührt lässt.

Damals musste ich innerlich lachen, da ich mich daran erinnerte, wie er uns Jugendliche eines Tages über die Erotik des Rosenkranzes aufgeklärt hatte. Maria sei eine wunderbare Frau, hatte er mit einem verzückten Lächeln geflüstert. Sie sei ihm wie eine Geliebte und er selbst fände den Rosenkranz sinnlich. Ich mochte mir lieber nicht vorstellen, wie der Graf Maria heißblütig umarmte, aber ich musste zugeben, dass der Ton in seiner Stimme und die Inbrunst mit der er vorbetete, den Rückschluss auf eine äußerst intime Beziehung zulassen konnten.

„Na, und wenn schon“, dachte ich mir. Ist ja nicht das Schlechteste. Ich schloss die Augen und ließ mich vom Gebet mitziehen.

Ich fragte mich, ob ich in 20 Jahren wohl noch hier sitzen und beten würde? Wenn der Graf nicht mehr wäre, dann könnte ja ich den Rosenkranz vorbeten. Ich musste lachen, nein, irgendwie war mir das zu langweilig. Meine Blicke schweiften zum Seitenaltar. Blumenschmuck? Nein, ich konnte mir beim besten Willen mein Leben nicht blumenschmückend vorstellen. Dann schon eher Ministrantin, aber dafür war ich schon zu erwachsen. Das war was für Kinder.

Pfarrerin - das würde mir gefallen, schoss es mir in den Kopf. Ich sah mich selbst, mit einer weißen Albe bekleidet, das Evangelium verkünden und spürte auf einmal wieder diese Türe aufgehen. Mein zukünftiges Leben zog wie ein Film an mir vorbei. Ich sah mich in der Nachfolge Jesu. Sowie Maria und Martha12. Und schon überlegte ich, ob ich wohl eher Maria oder Marthas Nachfolge antreten wollte. Die Szene in der Jesus den beiden einen Besuch abstattete, stand lebendig vor mir. Maria saß kontemplativ zu Jesu Füßen und nahm jedes Wort auf, das er sprach. Martha lief hin und her und sorgte dafür, dass es Jesus gut ging. Ich zögerte. Ich konnte mich mit keiner der beiden wirklich identifizieren. Mir lag beides und doch wollte ich mehr. Da hielt ich es schon eher mit Lydia, die Purpurhändlerin, von der die Apostelgeschichte erzählt:

Eine Frau namens Lydia, eine Purpurhändlerin aus der Stadt Thyatira, hörte zu; sie war eine Gottesfürchtige und der Herr öffnete ihr das Herz, sodass sie den Worten des Paulus aufmerksam lauschte. Als sie und alle, die zu ihrem Haus gehörten, getauft waren, bat sie: Wenn ihr wirklich meint, dass ich zum Glauben an den Herrn gefunden habe, kommt in mein Haus und bleibt da.13

Ich sah Lydia in ihrem großen Herrenhaus vor mir. In einer eleganten roten Tunika, schließlich war sie Purpurhändlerin, empfing sie die Apostel am Eingang ihres Hauses. Im Atrium hatte sich bereits eine Gruppe Männer und Frauen der griechischen Oberschicht eingefunden. Sie standen eine Weile beisammen und waren in philosophische Gespräche vertieft, bis Lydia die Christen einlud an einem großen Tisch im Oberstock des Hauses Platz zu nehmen. Brot und Wein standen auf dem Tisch. Einer der Apostel zog eine Knochenflöte aus der Tasche und die Musik, die er dieser Flöte entlockte, hallte durch den Raum. In Lydias Kopf klang die Melodie noch lange nach. Dann begannen sie zu beten. Ein anderer der Apostel trug mit seiner vollen, dunklen Stimme Texte der Propheten in einem orientalisch klingenden Singsang vor. Daneben saß eine verzückte Lydia, hielt das Brot in der Hand und wartete auf ihren Einsatz.

„Wir denken an Christus, der sich für uns hingegeben hat“, sagte sie, nachdem der Apostel seinen Gesang beendet hatte. Als Vorsteherin des Hauses war es Lydia vorbehalten das Brot zu brechen und die Herrenworte, die wir aus der Abendmahlüberlieferung kennen, zu sprechen.14

Sehnsucht ergriff mein Herz. Ich wäre gerne dabei gewesen. Ich fragte mich, ob es möglich wäre, auch heute so eine Art Volkskirche zu leben. Man könnte sich in Hausgemeinden zusammenfinden, miteinander Bibel lesen, singen, beten und Mahl halten. Dabei könnte man ohne große Formalitäten in die Fußstapfen Jesu treten, so wie es Lydia getan hatte. Ich sah sie vor mir, die modernen Apostel und Apostelinnen, die Frauen und Männer, die sonntags in einer der Wohnungen zusammenkamen und gemeinsam das Brot brachen. Eigentlich war es nicht viel anders als unsere Jugendstunden im Keller des Pfarrhauses. In unseren biblischen und tiefgründigen Diskussionen fühlte ich mich Gott besonders nahe. Vielleicht sollten wir anschließend gemeinsam das Brot brechen?

Ich stellte mir vor, wie wir auch später als Erwachsene gemeinsam die Bibel lesen und über unser Leben diskutieren würden. Im Grunde hatten die Menschen damals ähnliche Probleme, wie wir heute. Jesus kannte die Menschen gut. Es ging um Liebe und Hass, um Macht und Ohnmacht, um gelungenes und misslungenes Leben und die große Frage, was denn im Leben wirklich zählt und welche Rolle Gott dabei spielt. So eine Diskussion wäre anders als die sonntägliche Predigt. Es wäre, als ob Jesus wieder lebendig wäre, mitten unter uns. Es juckte richtiggehend in meinen Händen. Ich wollte Jesus berühren und wenn es nur im Brot wäre.

In diesem Moment spürte ich, was ich sonst nicht denken durfte. Ich wäre gerne mitten drinnen. Als Priesterin. Ich wollte als Priesterin dort sein, wo Menschen arbeiten, leben, leiden, sich freuen, ihre Familien haben, gesellschaftlich und politisch denken und sich engagieren. Ich wollte dabei sein, wenn sie ihr Leben in die Hände Gottes legten, sich taufen ließen, heirateten oder begraben wurden. Ich wollte für Menschen da sein, zuhören, Konflikte angehen, Gastfreundschaft üben oder auch Hoffnung schenken. Mit Gefühl und Empathie wollte ich Heilung und Trost bringen, Stille durchbrechen, Schmerz Raum geben und Kraft einfordern.

Dafür bräuchte es auch eine gute Liturgie, war ich überzeugt. Das musste nicht immer eine Messe mit Predigt, Wandlung und Kommunion sein. Obwohl ich mich Jesus im gewandelten Brot besonders nahe fühlte, war es für mich nicht die einzige Form ihm zu begegnen. Vielleicht gab es ja noch andere liturgische Formen? Vor allem Musik war mir wichtig. Ich träumte davon lässige Jugendlager zu organisieren, wo wir singen würden und viel zu lachen hätten.

Gott braucht Menschen. Warum nicht mich? Er braucht Priester und Priesterinnen, die für Menschen da sind und den Glauben in der Welt erfahrbar machen. Verantwortung. Ich wollte Verantwortung für die Kirche Gottes übernehmen. Könnte es sein, dass Jesus wollte, das ich als Priesterin V e r a n t w o r t u n g übernahm?

Ich saß still in der Kirchenbank und mit einem Mal flüsterte mir eine leise, himmlische Stimme ins Ohr:

„Babette, mach das!“

In diesem Moment wusste ich, was ich einmal werden wollte, ohne darüber nachzudenken, ob das überhaupt möglich war: Priesterin.

Meine Ansprüche an den Priesterberuf waren damals sehr hoch. Ich erwartete, dass ein Priester nicht nur theologisch gebildet war und klug und verantwortungsbewusst handelte, sondern er sollte auch eine große Portion an sozialer Kompetenz besitzen. Ich spürte, dass ich rot wurde und eine Art selbstkritische Unsicherheit meinen Körper durchströmte. An meiner sozialen Kompetenz musste ich noch arbeiten. Meine Persönlichkeit ließ durchaus zu wünschen übrig. Weniger schüchtern wollte ich werden und versuchen, das Gute in jedem Menschen zu erkennen und…

„Na Babette, schwebst du schon in höheren Sphären oder kann ich heute die Kirche noch absperren?“, hörte ich auf einmal eine Stimme hinter mir. „Wenn du so weiter machst, dann wirst du noch als Pfarrerin enden.“

Ich lief rot an. Ich fühlte mich ertappt. War das peinlich. Ich war so intensiv meinen Tagträumen nachgehangen, dass ich nicht gemerkt hatte, wie die kleine Gruppe der Rosenkranzbeter die Kirche verlassen hatte. Ausgerechnet Martha stand vor mir. Die Oberwichtig-Frau der Pfarre, vor deren spitzen Zunge niemand sicher war und die schnell einmal ihr ganz persönliches Urteil über einen Menschen verbreitete. Aber sie war in der Pfarre unverzichtbar. Sie hatte Zeit, wusste viel und stellte eine Menge auf die Beine. Eine richtige Martha. So salopp ihre Pfarrerin-Aussage auch dahingesagt war, es wäre mir doch sehr unangenehm gewesen, wenn sie herumerzählen würde, dass ich - vor lauter Beten - vergessen hatte nach Hause zu gehen. Aber was sie nicht wusste: Ich hatte nicht wirklich gebetet, sondern geträumt.

Den Träumen sollten Taten folgen. Durch meine Anerkennung in der Pfarre motiviert, begann ich Theologie zu studieren, noch mit der vagen Aussicht eines Tages doch Priesterin werden zu können. In meinem Kopf war das Zweite Vatikanum noch lange nicht vorbei, denn seine Umsetzung hatte gerade erst begonnen. So hoffte ich, dass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis Frauen geweiht werden würden und Priester heiraten dürften. Ich genoss das Studentenleben, denn es bedeutete, mich mit dem auseinanderzusetzen, was meiner innersten Begabung entsprach: Der Theologie und einer Zukunft in der katholischen Kirche.

Aber im Sommer nach meinem ersten Studienjahr, begegnete ich Lucien, der mein Leben verändern sollte. Die Begegnung mit Lucien war gleichzeitig eine Begegnung mit einer Kirche, die ich als solches bisher nie wahrgenommen hatte und die mir doch im Blut steckte.

4 Vgl. Mk 6,30-44

5 Vgl. Gen 6,5-17

6 Gen 6,19

7 Gen 7,4

8 Gen 7,25

9 Gen 7,11

10 Gen 8,13

11 Eine preiswertere mittelalterliche reich bebilderte Sammlung von Szenen und Texten aus dem Alten und Neuen Testament.

12Lk 10,38-42

13Apg 16,14-15

14Vgl. Mt 26, 26-28 und Parallelstellen

als die wahrheit noch männlich und katholisch war

Подняться наверх