Читать книгу Die Weihnachtskarawane - Franziska Wulf - Страница 5
1.
ОглавлениеEs schneite. In dicken, nassen Flocken fiel der Schnee vom Hamburger Himmel und wehte gegen die Fensterscheiben des Operationssaals. Innerhalb kurzer Zeit war alles weiß: der Parkplatz vor dem Krankenhaus, die Wagen der Besucher, die Wege, die vom Parkplatz zur Klinik führten, die Bäume und Sträucher. Und es sah nicht so aus, als ob es bald aufhören würde zu schneien.
Dr. Petra Schmidt merkte vom Wetter draußen nichts. Sie stand im Operationssaal Nr. 3 und war damit beschäftigt, einer Patientin die Gallenblase zu entfernen. Hier, im Operationstrakt, herrschte stets die gleiche Temperatur, immer das gleiche Licht. Ganz gleich, ob es nun Sommer und dreißig Grad im Schatten war oder ein feucht-kalter Dezembertag mit Schnee und Regen.
Es war die letzte Operation für heute, ein Routineeingriff, bei dem angesichts des Alters und Zustands der Patientin keine Komplikationen zu erwarten waren. Petra warf einen Blick auf die Uhr. Es war fünf Minuten nach drei. Wenn sie sich ein wenig beeilte, konnte sie es heute tatsächlich schaffen, um vier Uhr das Krankenhaus zu verlassen.
Die OP-Lampe über dem Tisch beleuchtete den geöffneten Bauch der Frau mit ihrem hellen, blendfreien Licht. Die Monitore der Anästhesisten hinter dem grünen Vorhang piepsten in regelmäßigen Abständen, die Beatmungsmaschine ließ ihr gleichmäßiges Fauchen und Klicken ertönen. Im Hintergrund erklang leise klassische Musik, während die Chirurgin Blutgefäße unterband und die Gallenblase freilegte. Alles lief nach Plan. Es war für sie beinahe eine meditative Übung. Selbst ihr Kollege gegenüber am OP-Tisch, Weiterbildungsassistent im ersten Jahr, hatte bereits so oft an einer Gallenblasen-Operation teilgenommen, daß er nicht mehr neugierig auf ihre Hände starrte oder ihr Löcher in den Bauch fragte. Routiniert und fehlerlos versah er seine Aufgabe und unterhielt sich nebenbei mit der OP-Schwester über einen Kinofilm.
Petra hörte nicht zu. Ob sie es wohl schaffen konnte, um halb fünf zu Hause zu sein? Lena, ihre fünfjährige Tochter, war krank. Seit einigen Wochen bekam das Kind immer wieder, scheinbar wie aus heiterem Himmel, Fieberattacken bis über vierzig Grad. Das Fieber hielt über mehrere Stunden an und verschwand dann fast ebenso schnell, wie es gekommen war. Dabei gab es bisher keinerlei Hinweise für eine Krankheit. In den vergangenen Wochen hatte Petra ihre Freizeit damit verbracht, Lena von Ärzten fast aller Fachrichtungen untersuchen zu lassen. Auch Petras Mann, der als Hausarzt eine eigene Praxis führte, hatte sich bei Kollegen umgehört. Doch alle waren ratlos. Offenbar war Lena so gesund, wie ein fünfjähriges Kind nur sein konnte. Und das einzige, was die Kollegen Petra mit auf den Weg gaben, war neben einem ratlosen Schulterzucken ein Rezept für fiebersenkende Zäpfchen.
Erst gestern hatten sie Lena wieder aus dem Kindergarten holen müssen, weil sie dort Fieber bekommen hatte. Zum Glück sprang Petras Schwiegermutter in solchen Notfällen ein und paßte auf Lena und ihre große Schwester Theresa auf. Mittlerweile war das fast ein Dauerzustand, der für keinen der Beteiligten besonders erfreulich war.
Wenn das so weitergeht, dachte Petra und ließ sich einen Faden geben, um den Gallenblasengang zu unterbinden, werde ich am Ende sogar noch einen Heilpraktiker aufsuchen.
Das Hüsteln des Anästhesisten ließ Petra aufschauen. Sie sah in seine großen, entsetzten Augen und runzelte unwillig die Stirn. Dann blickte sie auf das Operationsfeld und erschrak. Das, was sie gerade unterbinden wollte, war keineswegs der Gallenblasengang. Die Schlinge lag um den Gang, der die in der Leber gebildete Galle in den Darm transportierte. Ihn zu durchtrennen wäre ein Kunstfehler, ein unverzeihlicher Irrtum, vor dem bereits die Medizinstudenten in der Anatomievorlesung gewarnt wurden. Es führte zu Komplikationen, die neben erheblichen, unter Umständen lebenslangen Beschwerden sogar zum Tod des Patienten führen konnten.
Petra warf dem Anästhesisten rasch einen dankbaren Blick zu. Er zwinkerte ihr erleichtert zu. Ihr Assistent und die OP-Schwester hatten von der drohenden Katastrophe anscheinend nichts mitbekommen. Petra atmete tief durch. Sie mußte sich zusammenreißen, sich konzentrieren. So ein Fehler durfte einem Chirurgen einfach nicht passieren. Und ihr, die ständig den jungen Kollegen predigte, selbst das Nähen einer Platzwunde nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, schon gar nicht. Dabei war es noch nicht einmal der drohende Verlust der Approbation oder ein Verfahren wegen Fahrlässigkeit, das sie schreckte, sondern vor allem der Gedanke, einem Menschen durch bloße Zerstreutheit Schaden zugefügt zu haben, der sich möglicherweise nie wieder gutmachen ließ.
Diese OP bringst du noch zu Ende, dachte Petra, während ihre Hände wieder mechanisch ihre Arbeit taten. Und dann bittest du um zwei Tage Urlaub. Dann hast du Zeit, dich um Lena zu kümmern, ein paar notwendige Dinge zu erledigen und deinen Kopf wieder frei zu kriegen.
Keine halbe Stunde später schienen sich Petras Hoffnungen auf zwei freie Tage in Luft aufzulösen. Sie saß im Arztzimmer der chirurgischen Intensivstation. Die harte Pritsche, auf der sich die Ärzte während der Nachtdienste hinlegen konnten, fühlte sich eher an wie ein Becken voller glühender Kohlen. Die Uhr tickte, es war fünf Minuten nach vier. Sie wollte nach Hause, zu ihrer Tochter. Statt dessen saß sie hier und sah zu, wie ihr Oberarzt, der für die Dienstpläne zuständig war, die Labordaten von Patienten studierte.
»Nein«, sagte er, während er sein Zeichen unter einen Laborbogen setzte und ihn in den Ablagekorb legte. »Zwei Tage? Ich glaube, du spinnst.«
»Volker, ich bitte dich darum. Ich brauche die beiden Tage.«
Er sah kurz auf und lachte. »Da bist du bestimmt nicht die einzige. In sieben Tagen ist Heiligabend. Jeder hat wohl noch Weihnachtseinkäufe zu erledigen. Wenn es danach geht, stehe ich morgen allein hier. Nein …« Er schüttelte den Kopf.
»Du weißt ganz genau, daß ich keinen Bummel über den Weihnachtsmarkt machen will«, erwiderte Petra aufgebracht. »Meine Tochter ist krank. Sie muß wenigstens zwei Tage zu Hause bleiben können, um sich ein bißchen zu erholen. Und das geht nun einmal nicht, wenn ihre Mutter arbeitet.«
»Ach ja, die lieben Kleinen. Immer sind sie krank, immer muß man auf sie aufpassen.« Er schüttelte verständnislos den Kopf, während er sich dem nächsten Laborbogen widmete. »Manchmal frage ich mich, warum Leute es überhaupt noch wagen, Kinder in die Welt zu setzen. Die Erde erstickt ohnehin schon fast unter der Überbevölkerung.«
»Damit Egoisten wie du auch noch als Rentner zum Skifahren nach Davos fahren können und nicht auf die Sozialhilfe angewiesen sind«, entgegnete sie giftig. »Abgesehen davon bin ich zur Zeit nicht einsatzfähig. Mir schwirrt so viel im Kopf herum – die ganzen Arztbesuche, die ständigen Sorgen um Lena, niemand weiß, was das Kind hat. Ich bin einfach nicht mehr bei der Sache. Eben hätte ich sogar bei einer Gallenblase um ein Haar den Gallengang durchtrennt.«
Der Oberarzt blickte auf, lehnte sich im Stuhl zurück und sah sie spöttisch an. »Hast du oder hättest du?« fragte er.
»Ich hätte – beinahe«, gab sie zu und rang nervös die Hände. »Zum Glück habe ich es noch rechtzeitig bemerkt.«
»Reife Leistung«, sagte er in einem so unverschämten Tonfall, daß Petra wütend wurde. »Bei einer OP, für die kaum mehr als der Hirnstamm erforderlich ist, einen Fehler zu machen – ich glaube, du brauchst keinen Urlaub. Wenn die Arbeit in der Chirurgie dich zu sehr belastet, solltest du dich nach einem ruhigeren Job umsehen. Im Gesundheitsamt, zum Beispiel. Dort gibt es sogar Halbtagsstellen für Mütter. Da kannst du dir so oft frei nehmen wie du willst.«
Petra wurde eiskalt vor Wut. Vor einiger Zeit hatte Volker einen schweren Autounfall gehabt. Ein halbes Jahr lang hatte sie seine Dienste kommentarlos übernommen. Als er dann wieder mit der Arbeit begonnen hatte, hatte er noch oft zur Physiotherapie gehen müssen. Petra hatte, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, dafür gesorgt, daß er regelmäßig früher gehen konnte. Offenbar hatte er das bereits vergessen.
»Es scheint dir wieder sehr gutzugehen, Volker«, sagte sie kühl. »Oder brauchst du immer noch Physiotherapie, Massagen und Krankengymnastik?«
Ihre Worte verfehlten ihre Wirkung nicht, denn Volkers Ohren begannen zu glühen.
»Wenn du meinst, daß du eine Sonderbehandlung verdient hast, nur weil du mir ein Mal einen Gefallen getan hast, so irrst du dich.«
Ein Mal? Petra hätte ihm am liebsten eine Ohrfeige gegeben.
»Oh, natürlich erwarte ich weder Blumen noch Pralinen von dir, Volker. Ich hoffe nicht einmal auf ein Dankeschön.« Sie stand auf. »Alles, was ich will, ist das gleiche Verständnis für einen Kollegen in Not, das dir vor gar nicht so langer Zeit entgegengebracht wurde. Keinesfalls allein von mir, sondern von jedem in unserer Abteilung. Jetzt erwarte ich von dir nicht mehr, aber auch nicht weniger.«
Volkers Ohren glühten immer noch. Er schien es nicht zu wagen, sie anzusehen.
»Also gut, du bekommst deine beiden Tage«, sagte er schließlich, griff nach einem Zettel und schrieb etwas darauf. »Aber daß mir das nicht einreißt. Nur weil du für mich …«
»Ich sprach von zwei Tagen, Volker. Nicht von zwei Wochen. Trotzdem Danke.«
Draußen vor der Tür holte sie erst einmal tief Luft und warf einen Blick auf die Wanduhr, die im Gang hing. Viertel nach Vier. Das Gespräch hatte sie viel Zeit gekostet. Nun mußte sie sich wirklich beeilen.
Der Weg nach Hause war die reinste Folter. Es war etwas wärmer geworden, und der Schnee auf den Straßen hatte sich in schmutzigbraunen Matsch verwandelt, der von den Reifen der Autos hochgeschleudert wurde und in häßlichen Placken gegen die Windschutzscheibe spritzte. Außerdem schienen alle Hamburger zur gleichen Zeit Feierabend zu haben. Gereizt schaltete Petra das Radio ab. Was nützte ihr eine ellenlange Durchsage, wo in der Stadt mit Stau oder stockendem Verkehr wegen Baustellen gerechnet werden mußte? Sollten sie doch lieber die Straßen nennen, auf denen man noch ungehindert vorankam.
Als Petra endlich in ihre Straße einbog, war es bereits dunkel. Sie war mit ihren Nerven am Ende. Sie parkte den Wagen in der Garage vor dem Haus und klingelte an der Haustür.
»Oh, hallo«, sagte ihre Schwiegermutter mit einem Lächeln, das eher dem Zähnefletschen eines wütenden Schäferhundes ähnelte. »Lena hat schon ein paar Mal nach dir gefragt. Ich habe ihr gesagt, daß du wahrscheinlich heute wieder länger arbeiten mußt.«
Wie schön, daß Petra immer genügend Leute in der Nähe hatte, die nur darauf zu warten schienen, ihr ein schlechtes Gewissen machen zu können.
»Wo ist sie?«
»Oben in ihrem Zimmer. Aber es geht ihr schon viel besser. Sie hat zur Zeit kein Fieber mehr.«
»Ich habe doch gesagt, daß ich versuche, heute früher zu gehen«, entgegnete Petra und hängte ihren Mantel in der Garderobe auf. Dann umarmte sie Theresa, die ausgelassen die Treppe hinunter gehüpft kam. Hinter ihr, langsam, Schritt für Schritt und blaß wie ein kleines Gespenst, folgte Lena.
»Macht ja nichts«, rief ihre Schwiegermutter aus der Küche. »Ich habe die Zeit genutzt und unter der Vitrine Staub gewischt.«
»Unter der Vitrine?« fragte Petra ungläubig und strich ihrer Jüngsten das Haar aus dem kleinen, spitzen Gesicht. Die Stirn war zum Glück kühl. Aber wo waren ihre roten Wangen und das Leuchten in ihren Augen geblieben? »Warum denn ausgerechnet unter der Vitrine?« Es gab in diesem Haus wahrlich dringendere Arbeiten zu erledigen, als den Staub unter den Schränken zu entfernen. In der Küche stand zum Beispiel ein Korb mit Bügelwäsche.
»Da lag eine dicke Staubschicht.« Ihre Schwiegermutter kam aus der Küche zurück und zog sich ihre Pelzjacke an. »Petra, wenn du mit deiner Arbeit nicht zurechtkommst, helfe ich dir selbstverständlich gern. Zu Weihnachten soll doch alles schön im Haus sein.«
Petra biß sich auf die Lippe, um nichts zu sagen, was ihr hinterher leid tun konnte. Sie war schließlich auf ihre Schwiegermutter angewiesen. Es gab sonst niemanden, der die Kinder im Notfall betreuen konnte.
»Danke für deine Hilfe«, sagte sie daher, zwang sich zu einem Lächeln und öffnete die Haustür.
»Tschüs, Oma«, riefen die beiden Kinder und winkten. Dann schloß Petra die Tür und atmete tief durch. Sie wußte, daß ihre Schwiegermutter recht hatte. Sie hatte zwar einen Halbtagsjob ergattern können und deshalb sogar vor zwei Jahren das Krankenhaus gewechselt. Aber das hatte lediglich zur Folge, daß sie anstelle von etwa sechzig Wochenstunden nur dreißig bis fünfunddreißig Stunden arbeitete. Und wenn sie dann abends oder von einem Nachtdienst nach Hause zurückkehrte, kümmerte sie sich lieber um ihre Kinder, als mit dem Putzlappen oder Staubsauger durch das Haus zu laufen. Oder es fehlte ihr einfach die Kraft. Bereits im Flur sprangen Chaos und Schmutz jedem deutlich ins Auge. Die Teppiche mußten dringend ausgeklopft, und der Boden mußte gewischt werden. Die Garderobe hätte auch mal wieder eine Erneuerung verdient. An den übervollen Haken hingen vermutlich sogar noch Sommerjacken. Vielleicht sollte sie jetzt damit beginnen, danach die Küche wischen, und dann …
»Mama, können wir jetzt Plätzchen backen? Bitte! Du hast es uns versprochen.«
Tatsächlich, sie hatte es versprochen, gestern abend, als sie die Kinder ins Bett gebracht hatte. Doch was war dann mit der Garderobe, der Küche, der Bügelwäsche? Theresas Augen sahen sie jedoch so bittend an, daß sie aus Stahl hätte sein müssen, um nein zu sagen.
»In Ordnung«, sagte Petra und warf einen resignierten Blick auf einen Haufen schmutziger Schuhe, die kreuz und quer übereinander gestapelt hinter der Tür lagen und sehnsüchtig darauf warteten, endlich geputzt und wieder an ihren Platz in den Schrank gestellt zu werden. »Wir backen Kekse.«
Theresa riß jubelnd ihre Arme hoch und hüpfte ausgelassen in die Küche. Sogar Lena lächelte, und ihre Augen glänzten fast so wie sonst. Der Flur mußte warten, die Bügelwäsche mußte warten, die Schuhe mußten warten. Nun waren Lena und Theresa an der Reihe. Und sonst gar nichts.