Читать книгу Die Weihnachtskarawane - Franziska Wulf - Страница 6
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ОглавлениеAm nächsten Morgen ging es Lena gut. Sie hatte kein Fieber und sogar wieder ein wenig Farbe im Gesicht, so daß Petra kein schlechtes Gewissen hatte, als sie der Kleinen auf ihr inständiges Betteln hin erlaubte, in den Kindergarten zu gehen.
»Bist du wirklich der Meinung, daß sie in den Kindergarten gehen sollte?« fragte Martin, als er den letzten Schluck Kaffee am Frühstückstisch trank.
Petra zuckte mit den Schultern. »Sie möchte so gern. Heute gehen die Kinder doch zum Marionettentheater. Außerdem scheint es ihr wirklich besser zu gehen. Sie hat die ganze Nacht ruhig geschlafen. Und das Fieber ist weg.«
»Jetzt«, sagte Martin düster. »Aber in einer Stunde kann das schon wieder ganz anders …«
»Anneliese hat meine Handynummer. Wenn Lena wieder Fieber bekommen sollte, bin ich in wenigen Minuten aus der Stadt im Kindergarten und hole sie ab.« Anneliese war eine der Erzieherinnen; eine von den Frauen, denen man die eigenen Kinder ohne Bedenken anvertrauen konnte. »Außerdem wüßte ich nicht, wann wir sonst noch die restlichen Weihnachtsgeschenke besorgen sollen. So wie es aussieht, müssen wir zur Zeit von Stunde zu Stunde denken.«
Martin seufzte und schüttelte den Kopf. »Du hast ja recht«, sagte er. »Aber diese Ungewißheit macht mich noch verrückt. Wollen wir uns nicht doch an diesen Kinderpsychologen wenden, den dir Beatrice und Thomas empfohlen haben? Sie waren doch bei ihm, nachdem Michelle im Koma gelegen hatte. Die beiden klangen ganz zufrieden.«
»Ich habe auch schon daran gedacht«, erwiderte Petra und begann, das Geschirr abzuräumen. »Ich glaube, er hat seine Praxis irgendwo in der Nähe vom Jungfernstieg. Wenn ich nachher in der Innenstadt bin, gehe ich dort vorbei und lasse mir einen Termin geben.«
»Nimmst du den Wagen?«
Petra schüttelte den Kopf. »Nein, auf den Streß mit dem Verkehr und der elenden Parkplatzsucherei verzichte ich lieber. Was gestern auf den Straßen los war, reicht mir für die nächsten Tage. Ich fahre mit der U-Bahn. Wahrscheinlich bin ich sogar schneller.«
Tatsächlich brauchte Petra nur zwanzig Minuten mit der U-Bahn in die Hamburger Innenstadt. Ein gemütlicher Einkaufsbummel wurde es trotzdem nicht. Das Wetter war eine Katastrophe. Es war kalt und regnete, und der schneidende Wind sorgte dafür, daß Schirme nutzlos waren und man selbst unter Vordächern und zwischen den zahlreichen Buden naß wurde.
In anderen Städten gab es einen Weihnachtsmarkt. In Hamburg hingegen war die ganze Innenstadt ein einziger Weihnachtsmarkt. Überall entlang der Einkaufsstraßen, auf den Plätzen, um die Kirchen herum und auf dem Rathausmarkt standen Buden, die Christbaumschmuck, Kerzen, Kunsthandwerk, Blumen, Süßigkeiten oder Bratwürste anboten. Und obgleich die Geschäfte erst seit wenigen Minuten geöffnet waren, war die Innenstadt bereits voll mit Kauflustigen. Besonders die Punsch- und Glühweinstände erfreuten sich trotz der frühen Stunde großer Beliebtheit, was angesichts des Wetters allerdings auch kein Wunder war.
Mit hastigen Schritten bahnte Petra sich ihren Weg durch die Menschenmenge. In ihrer Manteltasche steckte eine lange Liste von Dingen, die sie kaufen wollte oder mußte – angefangen von Geschenken für die Kinder, für Martin, ihren Vater und die Schwiegereltern, Kerzen für die Weihnachtspyramide, eine Tannenbaumspitze, bis hin zu den ausgefallenen Gewürzen, die sie für das Weihnachtsessen brauchen würde.
Sie eilte von Geschäft zu Geschäft und hakte einen Punkt auf ihrer Liste nach dem anderen ab, während sie in ständiger Angst auf das Klingelzeichen ihres Handys lauschte. Zum Glück blieb es stumm. In einem Geschäft für Haushaltswaren suchte sie für ihren Schwiegervater, einen leidenschaftlichen Sammler, einen Zinnkrug aus und für ihre Schwiegermutter einen kleinen Hasen aus Swarowski-Kristall. Während sie darauf wartete, daß die Verkäuferin beides weihnachtlich verpackte, schaute sie nervös auf die Uhr. Es war bereits zwölf. Um ein Uhr mußte sie Lena aus dem Kindergarten abholen. Und immer noch fehlten ihr ein paar Kleinigkeiten. Sie bedankte sich bei der freundlichen Verkäuferin und trat wieder auf die Straße.
In der Zwischenzeit hatte sich der Regen in ein Schneetreiben verwandelt. Dicke Flocken wurden vom Wind in heftigen Böen über die Straße gepeitscht. Die Menschen hasteten geduckt aneinander vorbei, manche kämpften verzweifelt mit ihren Schirmen, an denen der Wind herumriß wie ein spielender Hund. Jeder war froh, der sich in den Schutz und die Wärme eines Kaufhauses flüchten konnte. Petra schlug ihren Mantelkragen hoch, wickelte sich den Schal fester um den Hals und lief quer über die Straße zum nächsten Kaufhaus.
Unter dem Vordach des Kaufhauses blieb sie erst einmal stehen, schüttelte sich den Schnee aus den Haaren und sortierte ihre zahlreichen Einkaufstüten. Da sah sie einen dunkelhäutigen Mann und einen Jungen, die frierend dicht beieinander standen und ein Dromedar an einem Strick festhielten. Sie standen so unter dem Dach, daß der Schnee sie nicht mehr erreichen konnte. Dennoch pfiff ihnen der Wind um die Ohren und ließ ihre Haare flattern. Ihre farbenfrohe, folkloristische Kleidung machte den Eindruck, als wäre sie für die Wüste gedacht und keineswegs geeignet, vor der Kälte eines nassen Hamburger Dezembertages zu schützen.
Im Gegensatz zu seinen menschlichen Begleitern schien sich das Dromedar durch das Wetter nicht stören zu lassen. Es lag auf einer schmuddeligen, graubraunen Decke, kaute in aller Seelenruhe auf einem Strohbündel herum und sah den vorüberhastenden Menschen mit einem derart verwunderten Blick nach, als hätte es sie am liebsten gefragt, weshalb sie sich denn so beeilten.
Wahrscheinlich Zirkusleute, die für Tierfutter oder das Winterquartier Geld sammeln, dachte Petra. Doch wenn der Mann zu seinem knöchellangen Gewand auch noch einen Turban mit Krone getragen hätte, hätte man ihn ebensogut für einen der drei Weisen aus dem Morgenland halten können.
Da sie ohnehin gerade eine freie Hand hatte, begann sie in ihrer Manteltasche nach einem Geldstück zu suchen, das sie den beiden geben konnte. Sie fand einen Euro und ging ein paar Schritte näher. Doch sie konnte keine Schachtel, keinen Korb oder Teller für Münzen, nicht einmal ein Schild mit der Aufschrift »Unsere Tiere haben Hunger« entdecken.
»Hallo«, sagte Petra und nickte dem Mann zu, der aus der Nähe betrachtet irgendwie staubig aussah, so als hätte er einen langen Ritt durch die Wüste hinter sich. »Wo ist denn eure Sammelbüchse?«
»Salam, gute Frau«, erwiderte der Mann mit einem starken Akzent und verneigte sich auf eine höfliche, etwas altmodische Art. Irgendwo im Orient auf einem Basar hätte Petra sich über diese Begrüßung bestimmt nicht gewundert, aber hier, mitten in der Hamburger Innenstadt in der Vorweihnachtszeit kam es ihr doch ein wenig merkwürdig vor, so angesprochen zu werden. »Wovon sprecht Ihr?«
»Na, ihr sammelt doch bestimmt Geld für eure Tiere«, erwiderte Petra und deutete auf das Dromedar. Dabei kam sie sich ein wenig dumm vor und fragte sich, warum sie die beiden überhaupt angesprochen hatte. »Für Futter.«
Der Mann und der Junge sahen sich an. Dann streckte der Junge ein wenig zögernd die Hand aus. Er betrachtete das Geldstück auf seiner Handfläche so neugierig, als würde er zum ersten Mal in seinem Leben einen Euro sehen.
»Wir danken Euch von ganzem Herzen, gute Frau«, sagte der Mann und verbeugte sich wieder. »Doch wir möchten nichts nehmen, ohne auch etwas dafür zu geben.« Er sagte etwas in einer orientalisch klingenden Sprache zu dem Jungen, der daraufhin ein paar Datteln aus einem alten, zerrupften Korb nahm, in einen staubigen Jutebeutel steckte und mit einem schüchternen Lächeln Petra reichte.
Sie bedankte sich und steckte den Beutel in eine ihrer Einkaufstüten, obwohl sie Datteln nicht besonders mochte. Niemand in ihrer Familie mochte Datteln. Sie waren ihnen nicht saftig genug und viel zu süß. Aber sie wollte die beiden Zirkusleute nicht verletzen.
»Lebt wohl, gute Frau«, sagte der Mann und verneigte sich wieder. »Möge der Segen des allmächtigen Gottes auf Euch ruhen und Sein Licht Euch den Weg weisen.«
»Danke«, erwiderte Petra etwas unsicher. »Auf Wiedersehen. Und frohe Weihnachten.«
Sie nahm ihre Tüten und eilte in das Kaufhaus. Als sie die Rolltreppe in die Schreibwarenabteilung hochfuhr, mußte sie unwillkürlich lächeln. Das war wohl das ungewöhnlichste Grußwort, das sie jemals erhalten hatte. Aber irgendwie klang es schön.
Petra kaufte noch einen Aquarell-Kasten für Theresa und Ölkreiden für Lena, dann mußte sie sich auch schon wieder auf den Rückweg machen. Während sie in der U-Bahn saß und die Tunnelwände an ihr vorüberzogen, dachte sie daran, was sie heute noch erledigen wollte. Sie mußte Wäsche waschen, bügeln, die Küche putzen, das Weihnachtsessen planen. Wenn ihr dann noch Zeit bleiben sollte, könnte sie schon ein paar Geschenke einpacken – vorausgesetzt, daß nichts dazwischen kam. Anneliese hatte sich nicht gemeldet. Also schien Lena wenigstens den Vormittag fieberfrei überstanden zu haben.
Zu Hause erlaubte Petra sich nur einen kurzen Zwischenstopp. Sie stellte die Tüten in die Küche und versteckte hastig jene in ihrem Kleiderschrank, deren Inhalt weder die Kinder noch Martin zu sehen bekommen sollten. Dann ging es auch schon weiter. Es war eine Minute vor ein Uhr. Lena mochte es nicht, als letzte abgeholt zu werden. Also lief Petra zum Kindergarten. Sie hatte Glück. Als sie schwer atmend dort ankam, waren noch etliche Kinder da, die alle um Anneliese herum auf dem Boden saßen und eine Geschichte vorgelesen bekamen. Petra hatte kaum den Raum betreten, als Lena auch schon aufsprang und in ihre ausgebreiteten Arme lief.
»Na, meine Kleine, hast du einen schönen Tag gehabt?«
»Ja.« Lena nickte eifrig.
»Dann zieh dich schnell an, damit wir gleich nach Hause können und Theresa nicht vor der Tür auf uns warten muß.«
Während Lena zur Garderobe lief und sich umzog, ging Petra zu Anneliese.
»Wie war es denn?« fragte sie und merkte, daß ihr Herz heftig zu klopfen begann. Seit Lena an ihren Fieberschüben litt, war jeder Tag zu einem dauerhaften Balanceakt zwischen Hoffnung und Angst geworden.
»Es ging sehr gut. Heute hatten wir überhaupt keine Probleme. Sie war fast wie sonst.«
Petra atmete auf. Immer wieder gab es solche Tage, Tage an denen Lena fröhlich und fieberfrei war. Jedes Mal dachten sie und Martin, daß ihre kleine Tochter es endlich überstanden hatte, daß das Fieber ein für alle Mal verschwunden sei. Und jedes Mal wurden ihre Hoffnungen durch einen neuen Fieberanfall wieder zunichte gemacht. Trotzdem hatten sie begonnen, sich über diese Tage zu freuen.
Lena kam, fertig angezogen mit warmer Jacke, Schal und Mütze, in den Raum zurück.
»Tschüs, Anneliese«, sagte Petra und nahm Lenas kleine Hand. »Schönen Nachmittag.«
Vom Kindergarten nach Hause waren es kaum mehr als zweihundert Meter. Auf dieser kurzen Strecke erfuhr Petra alles über das Stück, das die Kinder im Marionettentheater gesehen hatten. Lena war begeistert. Eine Prinzessin hatte wohl ein besonders schönes Kleid mit vielen glitzernden Perlen getragen, und sie beschloß kurzerhand, daß sie genau so ein Kleid haben wollte. Am liebsten schon zu Weihnachten. Petra lächelte.
Während sie das Mittagessen kochte, hörte sie oben in den Kinderzimmern ihre beiden Töchter rumoren. Theresa, die wie jeden Tag mit dem Schulbus nach Hause gefahren wurde, und Lena spielten zusammen. Dem Geheul nach zu urteilen, waren sie wieder einmal eine Hundefamilie auf der Suche nach einem warmen, trockenen Zuhause – eines von Lenas Lieblingsspielen. Alles klang so normal, so fröhlich, wie Petra es gewohnt war. Wie sehr sehnte sie sich nach dieser Zeit zurück! Und schon in diesem Augenblick merkte sie, welche Angst sie bereits wieder vor Lenas nächster Fieberattacke hatte. Eine lähmende Angst, der sie hilflos ausgeliefert war.
Als sie eine halbe Stunde später gemeinsam am Tisch saßen, wurden Petras Befürchtungen bestätigt. Lena begann, lustlos die Spaghetti von einer Seite des Tellers zur anderen zu schieben. Schließlich legte sie die Gabel zur Seite und stützte ihren Kopf auf die Ellenbogen.
»Lena, was ist los?« fragte Petra unruhig. Ihr Herz schlug so heftig, daß sie ihren Pulsschlag am Hals spüren konnte.
Statt einer Antwort füllten sich die Augen der Kleinen mit Tränen. Dann tauchten auch schon wieder die roten Flecken auf ihren blassen Wangen auf. Alles zusammen war ein untrügliches Zeichen: Das Fieber war zurückgekehrt.
»Schatz, soll ich dich ins Bett bringen?« fragte Petra. Sie streichelte sanft über das blonde Haar und mußte sich sehr anstrengen, um nicht selbst zu weinen.
Lena nickte und versuchte, ihren Stuhl zurückzuschieben, doch sie hatte nicht mehr genug Kraft. Petra hob sie auf ihren Arm und trug sie die Treppen hoch. Der kleine Körper war bereits glühend heiß. Nur die Füße waren eiskalt. Aber so war es immer. Das Fieber kam plötzlich und stieg innerhalb weniger Minuten an.
Petra legte Lena auf ihr Bett und half ihr beim Ausziehen. Das Kind weinte stumm, während Petra ihr den Pyjama anzog und sie schließlich zudeckte.
»Ich bringe dir ein Zäpfchen und eine Wärmflasche für die Füße«, sagte Petra und schwankte mal wieder zwischen Wut und Verzweiflung. In der Medizin wurden Lebern und Herzen transplantiert. Man trennte siamesische Zwillinge mit Erfolg und stand kurz vor dem Durchbruch für einen Impfstoff gegen AIDS. Und sie stand hier und konnte ihrer Kleinen nichts anderes anbieten als Zäpfchen und eine Wärmflasche. Und zu allem Überfluß hatte sie auch noch vergessen, sich einen Termin bei dem Kinderpsychologen zu holen. Es war zum Verrücktwerden.
Lena drehte sich still zur Seite, als Petra mit dem Fieberthermometer und dem Zäpfchen zurückkam. Sie hatte diese Prozedur in den vergangenen Wochen so oft erlebt, daß sie es mittlerweile aufgegeben hatte, sich dagegen zu wehren. Nach dem Fiebermessen blieb Petra noch eine Weile am Bett sitzen, bis sie an den schweren Atemzügen erkannte, daß Lena schlief.
Wahrscheinlich nicht lange. Meistens schreckte sie nach einer halben Stunde aus ihren Fieberträumen wieder hoch. Doch für den Augenblick schlummerte sie ruhig.
Leise ging Petra die Treppe wieder hinunter. Theresa saß am Eßtisch und schaute ihre Mutter mit großen Augen an.
»Ist Lena wieder krank?« fragte sie mit einem so ängstlichen Ausdruck im Gesicht, daß es Petra förmlich die Kehle zuschnürte.
»Ja, leider«, erwiderte sie leise. »Sie hat wieder Fieber.«
Theresa starrte auf ihren Teller.
»Mama, heute ist doch Dienstag. Ich habe doch heute Ballettunterricht…«
»O Schatz, es tut mir leid, aber ich kann dich unmöglich hinfahren. Ich muß bei Lena bleiben. Und Papa kommt erst spät aus der Praxis nach Hause.« Petra seufzte. Sie wußte, wie sehr Theresa ihre Ballettstunden liebte. Aber was nicht ging, ging eben nicht. So gern sie es auch ihrer älteren Tochter ermöglicht hätte, die in der letzten Zeit ohnehin oft genug zurückstecken mußte. Aber sie konnte sich schließlich nicht zerreißen. »Es tut mir leid. Heute muß dein Ballett wohl ausfallen.«
Theresas Kopf zuckte hoch. »Können wir nicht Oma und Opa anrufen? Vielleicht können sie …«
»Theresa, das können wir wirklich nicht machen. Oma und Opa waren in der letzten Zeit schon oft genug bei uns. Die beiden haben auch noch andere Dinge zu tun, als sich nur um uns zu kümmern.«
»Das ist gemein!« schrie Theresa und brach in Tränen aus. »Immer geht es um Lena! Du hast mich überhaupt nicht mehr lieb!«
Dann sprang sie auf und rannte in ihr Zimmer. Noch auf der Treppe war ihr lautes Schluchzen zu hören. Petra wollte ihr gerade nachlaufen, als das Telefon klingelte. Ihr Vater war am Apparat. Er hatte sich vor ein paar Tagen den Knöchel verstaucht und wollte nun von Petra wissen, wie lange die Heilung dauere, ob sie ihm den Röntgenbefund erklären könne und welche therapeutischen Möglichkeiten es gebe. Vor allem aber wollte er eines: Ihr von diesen furchtbaren Schmerzen erzählen; so furchtbar, wie sie es sich nicht vorstellen könne und wie er es nicht einmal seinem schlimmsten Feind wünsche. Die behandelnden Ärzte hätten alle einstimmig gesagt, so einen schweren Fall hätten sie noch nie gesehen. Am liebsten hätte Petra ihm erzählt, daß es bei ihr auch gerade in allen Ecken brannte und den Hörer aufgelegt, aber sie ließ es bleiben. Ihr Vater interessierte sich ohnehin nicht dafür. Er wußte, daß Lena krank war. Trotzdem fragte er nur selten nach seiner Enkelin.
Als ihr Vater endlich seine Leidensgeschichte in epischer Breite erzählt und aufgelegt hatte, sank Petra erschöpft auf das Sofa und stützte den Kopf in die Hände. Ihr war sterbenselend. Sie war müde und erschöpft. In der Küche stapelte sich die Arbeit, im Krankenhaus wußte sie kaum, wo ihr der Kopf stand, und oben in den beiden Kinderzimmern lagen ein krankes und ein zu recht todunglückliches Kind. Warum konnte sie sich nicht, wie viele andere Frauen auch, einfach damit zufrieden geben, Hausfrau und Mutter zu sein? Weshalb wollte sie immer alles auf einmal haben?
Sie gähnte, stand mühsam auf und begann, das Geschirr abzuräumen. Es hatte keinen Sinn, auf dem Sofa zu sitzen und zu grübeln. Das war nichts als sinnlose Verschwendung von Zeit und Lebensenergie. Und es half niemandem, weder ihr noch den Kindern. Petra räumte das gebrauchte Geschirr in den Geschirrspüler, wischte den Tisch ab und packte die Einkaufstüten aus. Zumindest einen Teil ihrer Aufgaben hatte sie erledigt. Das war doch schon etwas. Vielleicht konnte sie ja nachher die Weihnachtsdekoration aus dem Keller holen und gemeinsam mit Theresa mit dem Schmücken beginnen.
In der letzten Tüte fand Petra schließlich den Beutel mit den Datteln. Sie hatte ihn fast vergessen. Nachdenklich betrachtete sie den staubigen Stoff, der aussah, als hätten bereits die Motten darin gehaust. Sollte sie ihn gleich wegwerfen, so wie er war? Aber das brachte sie doch nicht über das Herz. Sie dachte an den dunkelhäutigen Mann und den Jungen. Sie konnte sich die Datteln wenigstens ansehen. Auch wenn sie eigentlich keine Datteln mochte.
Petra öffnete den Beutel, aus dem ihr der verlockende Duft orientalischer Süßigkeiten entgegenstieg. Es roch nicht nur nach Datteln, sondern nach Honig, nach Mandeln, nach Rosenwasser und Orangenblüten. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Und sie stellte fest, daß sie immer noch hungrig war, obwohl sie doch eben erst Mittag gegessen hatte. Ob sie doch eine Dattel probieren sollte? Vielleicht schmeckten diese ja ganz anders als jene, die man im Supermarkt kaufen konnte.
Langsam nahm sie eine, dann die nächste und gleich danach wieder eine. Die Datteln waren köstlich, und ehe sie sich versah, hatte sie alle aufgegessen.
So kann man sich täuschen, dachte sie, gähnte herzhaft und schaltete den Geschirrspüler ein. Warum nur hatte sie dem Mann und dem Jungen nicht gleich zwei Euro gegeben? Bestimmt hätte sie dann die doppelte Menge Datteln bekommen. Sie gähnte wieder und rieb sich die Augen. Die Müdigkeit kam so plötzlich und mit solch einer Macht über sie, daß sie sich kaum noch konzentrieren konnte. Eigentlich wollte sie die Töpfe mit den Nudel- und Soßenresten in den Kühlschrank stellen, das Spülbecken putzen und den Müll zur Mülltonne bringen. Es gab noch so viel zu tun. Sie gähnte wieder. Es fiel ihr immer schwerer, die Augen offen zu halten. Vielleicht sollte sie sich doch erst in den Sessel setzen und etwas ausruhen. Pausen förderten die Leistungsfähigkeit. Das hatten Wissenschaftler vor kurzem herausgefunden. Nur eine Viertelstunde. Danach würde ihr die Arbeit bestimmt viel leichter von der Hand gehen.
Mühsam schleppte Petra sich ins Wohnzimmer. Ihre Glieder waren schwer wie Blei. Gewiß hatte sie gerade in den letzten Wochen sehr viel gearbeitet. Vor Weihnachten war immer besonders viel zu tun. Viele Patienten wollten ihre geplanten Operationen unbedingt noch vor den Feiertagen hinter sich bringen, Kollegen machten ein paar Tage frei, und die Erkältungswelle hatte im Dezember und Januar stets ihren Höhepunkt. Aber weshalb kam diese Müdigkeit so plötzlich? Oder war den Datteln etwa ein Schlafmittel beigemischt?
Sie ließ sich in den Sessel fallen und lehnte ihren Kopf gegen das weiche Polster. Und noch bevor sie darüber nachdenken konnte, ob der Mann und der Junge in Wahrheit Gauner waren, fielen ihr auch schon die Augen zu.