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2IM ELTERNHAUS

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Zuvor haben Sie über die Reichenberger Großeltern erzählt. Von Ihren Eltern war bislang noch nicht so viel die Rede. Wie waren Ihre Mutter, Ihr Vater? Und wie erlebten Sie Ihre Kindheit im Hause Meissner zunächst in Linz und dann in Wien, wo Sie in den 1930er Jahren gelebt haben?


Meine Mutter, »Mimikatz« von Stiepel

Meine Mutter kam aus diesem Reichenberger bürgerlichen Milieu. Ich habe schon erzählt, dass meine Großmutter eigentlich meine Stiefgroßmutter war. Denn die Mutter meiner Mutter ist an Krebs gestorben, als meine Mutter drei Jahre alt war. Dann hat mein Großvater für die Mimikatz, wie meine Mutter genannt wurde, eine zweite Mutter gesucht und ist bei einer Rechtsanwaltsfamilie in Wien gelandet. Das ist sicher eine arrangierte Sache gewesen. Meine Stiefgroßmutter hat fünf weitere Kinder gekriegt, das waren die Halbgeschwister meiner Mutter und die Tanten und Onkel, von denen ich bereits erzählt habe.


Sie war eine leidenschaftliche Alpinistin.

Meine Mutter hing enorm an ihrem Vater. Der hatte ihr die Welt geöffnet, er ist mit ihr nach Südtirol gefahren, nach Meran, und hat ihr die Dolomiten gezeigt. So ist sie zu einer leidenschaftlichen Alpinistin geworden. Dann hat sie einige Jahre in England verbracht, »finishing school« hieß das damals, wo sie auf ein bürgerliches Leben vorbereitet wurde. Ansonsten hat sie noch mit Privatlehrern studiert, sie durfte in kein Knabengymnasium gehen, das war noch ein Tabu. Sie war wahnsinnig ehrgeizig und hat dann jährlich die Prüfungen vor den Professoren in der Bubenschule mit Auszeichnung gemacht. Sie konnte Altgriechisch und fing alles Mögliche an, interessierte sich für Archäologie und studierte schließlich Kunstgeschichte.

Ihr vieles Lernen war aber auch Kompensation. Denn für meine Mutter wird’s nicht lustig gewesen sein. Ihre leibliche Mutter hatte sie kaum gekannt. Sie hat sie nur als Sterbende in einem dunklen Zimmer gesehen, in das sie von der Gouvernante einmal in der Woche geführt wurde. Sie hat sie nie umarmt, da stand das kleine Mädchen und wurde wieder rausgeführt. Und dann bekam sie eine Stiefmutter, diese strenge Frau, die fünf eigene Kinder bekam, und sie als Große wurde kaum beachtet. Mutterliebe hat meine Mutter nie gekannt. Und wenn man Mutterliebe nicht empfangen hat, kann man sie auch nicht geben. Das ist unmöglich. Da bin ich aber erst später als Erwachsene in meiner Psychoanalyse draufgekommen. Ich habe innerlich immer etwas von ihr sehnsüchtig gefordert, was sie ratlos machte, und ich wusste nicht genau, was das ist, was ich erwarte. Das blieb als Spannung zwischen uns bis in ihr Alter.


Mein Vater, Ferry von Meissner

Und was meinen Vater betrifft: Dem war ich eigentlich tief verbunden. Ich habe ihn sehr verehrt, bewundert und hätte nur eines gewollt: dass er mich beachtet und dass ich Anerkennung von ihm bekomme. Aber mein Herr Papa war immer viel zu sehr mit sich befasst. Stets war er weg, war fast nie zu Hause. Eine Tante in Linz hat gesagt: »Den Ferry, den trifft man nur am Bahnhof, entweder fährt er in die Berge oder er kommt vom Gebirge.« Durch meine Mutter war er nämlich vom Alpinismus angesteckt worden. Und als er wieder einmal übersiedeln und irgendetwas anderes machen wollte, sagte meine Mutter: »Ferry, so denk doch an die Kinder!« Er hat angeblich geantwortet: »Die Kinder können mir jetzt nichts bedeuten.« Mein Vater war eigentlich immer auf der Flucht, meist wohl vor sich selbst. Ich bin ja später auch zu einer Flüchtenden geworden.

Aus welchem Milieu kam denn Ihr Vater?

Er war der jüngere von zwei Söhnen eines k. u. k. Obersten, dann Generals im Ersten Weltkrieg, und der sogenannten Güldenen Mitzerl, die dieses »epitheton ornans« in der Armee bekam, weil sie so wunderhübsch gewesen sein soll. Der erste Sohn, mein Onkel Rudi, war ein sehr sanftes, liebes Kind, der zweite, der Ferry, also mein Vater, war ein aufbegehrendes Kind und wurde später rebellisch, unendlich attraktiv, interessant, klug, eigentlich mit viel zu viel Hirn. Er wurde für mich unbewusst damals zum Sinnbild des Mannes.


V. l. n. r.: Großmama Meissner und ihre Söhne Rudi und Ferry


Die Prager Großeltern Maria und Rudolf von Meissner von Hohenmeiss

Meine Mutter und er hatten sich beim Studium der Kunstgeschichte in Prag kennen- und einander lieben gelernt. Prag war eine aufregende Stadt damals, kurz vor dem Ersten Weltkrieg, es gab viele künstlerische und avantgardistische Strömungen, Freundschaften mit Schriftstellern und Komponisten, für meine späteren Eltern eröffnete sich die große Welt. So ist meine Mutter in den Semesterferien bei ihren Eltern in Reichenberg angerückt und hat ihnen erklärt, dass sie sich mit dem Ferry von Meissner verloben möchte. »Kommt nicht infrage! Nie erlauben wir eine derartige Mesalliance!«, war die barsche Antwort. Aber siehe da, meine brave, wohlerzogene Mutter hat anders entschieden. Zurück in Prag sorgte sie höchst entschlossen für eine Schwangerschaft und kehrte nach Hause zurück, um zu erklären: »Jetzt muss ich heiraten!« Worauf die ach so kultivierte Mutter zornig befand: »Wenn du einen Funken Ehre hättest, gingest du mit deiner Schande ins Wasser!« Ein liebevoller Rat, den Mami klugerweise nicht befolgte. Auch war gerade der Erste Weltkrieg ausgebrochen, und sofort gab es Schwierigkeiten, denn mein Vater rückte als Einjährig-Freiwilliger ein. Doch der Kaiser hatte schon ein Dekret herausgegeben, welches jungen Offizieren die Ehe verbot: Er brauchte sie ja als Kanonenfutter. Jetzt herrschte bei meinen Großeltern große Aufregung, und Großmutter nützte die Bekanntschaft ihrer Wiener Familie mit Frau Schratt, der Hofschauspielerin und Gefährtin des Kaisers. Sie bat sie inständig, beim Kaiser einen Heiratsdispens für meinen Vater zu erwirken, was auch geschah. Es war angeblich eine besonders bescheidene und stille Hochzeit. Später kam Vater an die italienische Isonzofront, die er mehrere Jahre durchlitt. Die »Schande«, in der Person meiner Schwester Marianne, hat 1915 in Oberdrauburg in Kärnten das Licht der Welt erblickt.

Mein Bruder Peter kam 1920 in Leipzig, wo unser Vater Nationalökonomie studierte und 1926 promovierte, auf die damals auch recht unruhige Welt; meine Schwester Doris schließlich 1925 in Prag. Mit ihr hätte die Familie komplett sein sollen. Doch als Papa seine erste Stelle in Dresden bei General Motors (!) annahm, war meine Mutter ein viertes Mal schwanger. Mein Vater fand, dieses Kind sollte nicht geboren werden. So hat es mir jedenfalls meine Mutter später erzählt – verbunden mit einer ziemlich drastischen Beschreibung, wie sehr sie sich bemühte, mich abzutreiben. Ich war in diesem sehr frühen Stadium offensichtlich schon rebellisch genug, mich dem Willen der Eltern nicht zu fügen: Ich blieb frech vorhanden. Schließlich kam auch ich zur Welt, das war im März 1927, und enttäuschte meine Eltern gleich ein zweites Mal: Ich war nicht der – zumindest – erwartete Bub, der Thomas hätte heißen sollen, sondern ein dünnes, rothäutiges Mädchen mit Haarbüscheln auf den Ohren. »Das ist doch kein Kind«, soll meine verehrte Erzeugerin gesagt haben, »das ist ja ein abgehäuteter Hase«! Die Freude war also nicht überwältigend. Aber der Mensch ist doch ein Wesen der Möglichkeiten und alles fließt: Noch bevor ich erwachsen werden sollte, sagte meine Mutter mir, wie herzinniglich froh sie sei, dass es mich gibt.


Mit meiner Mutter und meinen Geschwistern, Weihnachten 1927, v. l. n. r.: Doris, Marianne, Freda, Mimikatz, Peter

Mein Vater war übrigens auch Journalist und hat geschriftstellert; er engagierte sich vor allem für die Rechte von Minderheiten. Das Geld hatte die Mami. Sie kam aus einer sehr wohlhabenden Industriellenfamilie in Nordböhmen, und er war der Sohn einer k. u. k. Offiziersfamilie, die nach dem Ende der Monarchie nichts mehr hatte. Er suchte permanent seine Bestätigungen in der Welt und führte ein Leben als Mann wie als Intellektueller, der jede Gesellschaft bezaubern kann. Betrat er einen Raum, war er sofort der Mittelpunkt, da war viel Ausstrahlung und Witz, auch eine gerüttelte Portion Ironie.

Gibt es eine Geschichte dazu?

Ich kann mich an einen dieser Damentees meiner Mutter erinnern, die sie regelmäßig abhielt. Diese »jours«, wie das hieß, habe ich gehasst. Wir Kinder mussten dort reingehen und Knickschen machen und »Küss die Hand!« sagen. Dann kamen von den Damen immer diese dummen Fragen: »Ist der Herr Lehrer brav?« Ich hatte eine widerwärtige Frau Lehrerin, was soll ein Kind da sagen? Dann sind wir wieder abgezogen und haben neidisch auf die delikaten Brötchen geschaut und geflüstert: »Hoffentlich bleiben welche übrig.« Einmal kam auch mein Vater herein. Die Damen werden plötzlich alle ganz still und der Papa hat seine Vorführung. Dann geht er wieder weg, und da höre ich, wie eine sagt – bitte, ich muss damals gerade einmal sechs Jahre alt gewesen sein: »Ein dämonischer Intellekt!« Ich wusste natürlich weder was ein Intellekt noch was dämonisch ist, aber ich habe mir das bis heute gemerkt. Nachher habe ich gespürt, wie sich die Atmosphäre schlagartig veränderte, da gab es dann plötzlich wieder das Damentee-Geplaudere. Aber vorher diese Stille, nachdem der Papa reingekommen war … Damit hat er mir eigentlich immer noch mehr imponiert, aber mich auch ein wenig erschreckt.


Mit meinen Geschwistern Marianne, Peter und Doris, 1931 in Linz (Freda 2. v. l.)

Meine Mutter hat eigentlich überhaupt nicht zu ihm gepasst. Der brauchte eine schicke, mondäne Frau, nicht eine so bescheidene, denn meine Mutter war unerhört bescheiden, eher frugal und nicht auftrumpfend. Das alles war ihr völlig fremd, das gehörte sich auch nicht. »It was not done«, das war wirklich so, man hat das nicht getan. In der Kunstgeschichte und im Alpinismus, ja, da haben sich die beiden sicher verstanden, aber sonst hatten sie kaum Gemeinsamkeiten.

Obwohl: Beide waren sehr anglophil und sehr gebildet. Sie haben vieles gekannt und gelesen, auch den Freud haben sie gelesen, nur haben sie in keiner Weise vom Gelesenen Gebrauch gemacht. Ich kann mich an die Gespräche und Situationen bei Tisch erinnern, bei denen wir Kinder natürlich nicht sprechen durften, da haben wir einfach zugehört. Da ging’s die ganze Zeit um die Ereignisse und Großen dieser Welt, was die so alles geschrieben haben. Und wenn sich die Eltern stritten, sprachen sie immer englisch, damit wir sie nicht verstehen. Genau dadurch lernte ich schnell Englisch, weil ich wissen wollte, was sie sagen. Früher oder später fing meine Mutter bei Tisch zu weinen an. Sie war ein bissel neurotisch und instabil, sie hat auch immer Schlafmittel genommen. Dann hat sie uns erpresst, zum Beispiel: »Wer mich lieb hat, holt mir ein Glas Wasser.« Meine drei Geschwister sind gesessen und haben gegrinst, aber ich bin gerannt, immer! Sie wussten ja, die Freda, die rennt. Und wenn sie unglücklich war, sorgte ich mich: »Mami, was hast du denn?« Ich wollte sie trösten. In ihrer Art hat meine Mutter mich ja geliebt, aber es war eben nicht das, was ich gesucht habe, dieses Bedingungslose, sondern es hieß immer »wenn – dann«: »Wenn du das machst, dann bist du lieb.« Ich bin immer gerannt, habe mir ihre Liebe erarbeiten wollen und fühlte mich immer verantwortlich für sie, als sei ich ihre Mutter.

Nein, es war keine harmonische Familie: ein Vater, der sich für uns eigentlich nicht interessiert hat; und die Mutter, die ihre Emotionen nicht in der Hand hatte, die immer aus ihr ausbrachen, ohne zu bedenken, was das für uns Kinder hieß, wenn sie zum Beispiel sagte: »Euer Vater, der Schuft, hat uns verlassen!« Ja, 1939 verließ er uns ja wirklich und endgültig, und ich war traurig. Aber dass er dazu auch noch ein Schuft war, das fand ich schrecklich.

Natürlich gab es auch schöne Momente. An manchen Abenden sind wir zusammengesessen und haben gespielt: Mikado, Dame, Domino oder Quartett. Diese seltenen Momente habe ich sehr genossen. Sonst gab es kaum Familienleben. Ich habe zum Beispiel meine Eltern kaum jemals mit ihren Händen arbeiten gesehen, jeder war in seinem Zimmer auf seiner geistigen Ebene. Wie hat das später meine Tochter Aleksandra genannt? »Ihr mit eurer Kopflastigkeit!« Ich hatte ihr, die ja bereits mit sechzehn Jahren maturierte, gesagt: »Du kannst mit zwanzig dein Doktorat haben.« Und da sagt sie: »Ich denke nicht dran, dass ich eure Hirnwichserei mitmache!«

Diese »Hirnwichserei« – jetzt müssen wir beide lachen: Wie hat sich die in Ihrem Elternhaus geäußert?

Ich muss vielleicht acht oder neun Jahre alt gewesen sein, als mir meine Eltern den »Simplicius Simplicissimus« und Lyrik von Eichendorff und Brentano zu lesen gegeben haben. Ich hab’s brav gelesen, aber natürlich ohne großes Verständnis für den Inhalt. Außerdem wurden wir Kinder immerzu gefragt, wir wurden dauernd geprüft – und zwar vom Vater. Wir sind zum Beispiel im Zug gefahren, um zu irgendeiner Skihütte zu kommen. Er schaut aus dem Fenster und fragt – da war ich keine sechs Jahre alt: »Was ist das für ein Fluss?« Keine Ahnung! Aber ich möchte es so gern wissen, um ihm die richtige Antwort geben zu können. Er sagt: »Das ist die Enns. Weißt du das nicht?« Dann fragt er weiter: »Wo entspringt die Enns? Wo mündet die Enns? Das musst du doch wissen, wo die mündet!« Ich habe immer etwas Falsches gesagt, einfach geraten, ich hätte so gerne richtig geraten. Ist mir aber nicht gelungen. Und dann meinte er einmal: »Wie komm ich zu so dummen Kindern?« Das hat mich getroffen. Damals hab ich mir noch gedacht: »Der Arme, der hat’s nicht schön mit so dummen Kindern!« Hab ich ihn noch bemitleidet, und gleichzeitig habe ich mich sehr gekränkt. Ich bin nichts und weiß nichts!


Mit meinen Geschwistern, im Jänner 1935

Und dann war mein Vater so unglaublich unberechenbar. Man wusste nie, wie man mit ihm dran ist, er war nicht kalkulierbar. An dem einen Tag – das war selten genug, dass er da war – konnte er mit uns herumspielen und blödeln. Wir waren ja vier Geschwister: Peter und Marianne waren die älteren, Doris und ich die beiden jüngeren. Und wenn er gut aufgelegt war, war für ihn die Doris, die so possierlich, komisch, lustig und auch dick und rund war, der Herr Bär. Und ich war das Rhesusäffchen: lange Beine, lange Arme und frech. Er hat mich manchmal herumgeschleudert und hat mir angeblich, als ich noch sehr klein war, die Schultern ausgekugelt. Ich hab mir das alles genussvoll gefallen lassen, wenn er mich nur beachtet hat. Aber am nächsten Tag bin ich dann wieder auf Zehenspitzen durch das sogenannte Herrenzimmer gegangen, wenn er am Schreibtisch saß, und habe ein Donnerwetter bekommen, einfach für meine Präsenz.

Wissen Sie, ich bin in meiner Kindheit nie draufgekommen, wie man so etwas wie einen eigenen Willen durchsetzen kann. Als wir in Linz wohnten, war zum Beispiel völlig klar: Sonntags gehen wir in den Kürnberger Wald, der im Westen von Linz liegt und der seit Urzeiten besiedelt gewesen ist. Mein Vater hatte damals einen Kelten-Tick. So mussten wir mit Schaufeln diese verdammten Scherben von den Kelten ausgraben. Jeden Sonntag! Ich habe das gehasst. Wir gingen Stunden um Stunden, und dann gab’s zu Mittag als Picknick zerquetschte Tomaten und harte Eier aus einer Aluminiumbüchse. Der einzige Lichtblick war, dass wir auf dem Heimweg ein Orangen- oder Waldmeisterkracherl gekriegt haben. Ich wäre so gern zu Hause geblieben, hätte lieber gelesen, aber es wär mir nicht eingefallen, das auch zu sagen. Es wurde bestimmt, wir gehen in den Kürnberger Wald – aus. Einen eigenen Willen wahrzunehmen und zu formen – das habe ich erst sehr viel später gelernt.

Damals in Linz passierte noch etwas mir Unbegreifliches: Es war ja die Zeit des Austrofaschismus, und so mussten wir sonntags von der Schule aus immer in die Kirche gehen. Meine Eltern fanden das völlig unnötig und haben mir – das war ein langer Konflikt in mir, aber den habe ich auch nicht ausdrücken können – eine Entschuldigung geschrieben: »Die Freda hatte Fieber und Halsschmerzen und konnte deshalb nicht in die Kirche gehen.« Ich aber habe gerätselt. Es gab ja das Credo in der Familie: Man lügt nicht, man hat das nicht nötig. Ich habe mich gefragt: Das stimmt doch nicht, ich hatte doch kein Halsweh, warum lügen sie? Da es mir aber immer noch lieber war, in den Kürnberger Wald zu gehen als in die Kirche, habe ich nichts gesagt. Aber dass ich einmal gesagt hätte, ich möchte dieses oder jenes, das ist mir nicht eingefallen.

Im Nachhinein erinnert mich die Atmosphäre in unserem Elternhaus ein wenig an diesen großartigen Film von Michael Haneke: Das weiße Band – auch wenn es bei uns bei Weitem nicht so schlimm war. Wir sind nie geschlagen worden. Ja, wenn wir mit dreckigen Fingernägeln zu Tisch kamen, da haben wir schon mal eins auf die Hand bekommen, aber das war das Einzige, was wir physisch einstecken mussten.

Einmal jedoch musste ich scheitelknien, eine dieser absurden Strafen, die damals üblich waren. Aber ich muss vorausschicken: Mein Vater hat sehr sozial gedacht – im gesellschaftlichen Sinne. Das war eher selten in dieser Zeit, in der man entweder oben oder unten war, dazwischen gab’s nicht viel. Wir hatten zu Hause natürlich auch ein Stubenmädchen, die Resi, die ich sehr mochte. Wenn ich irgendwelche Stickereien für die Schule nicht zusammenbrachte, machte sie sie mir. Sie servierte immer die Mahlzeiten. Einmal legte sie mir etwas auf den Teller, das ich nicht mochte, und da sagte ich: »Du dumme Kuh!« Eigentlich ganz freundschaftlich gemeint, so eben auf unserer Ebene. Aber der Papa wurde zornig. Dass ich es wage, zum Dienstmädchen »dumme Kuh« zu sagen! Das war streng verpönt. Er sagte auch immer: »Dienstboten sind nicht für euch da. Eure Schuhe putzt ihr euch selbst!« Und am Sonntagnachmittag, wenn wir mal nicht im Kürnberger Wald waren, mussten wir Kinder abwaschen und abtrocknen, damit die Mädchen früher freihatten. Damals habe ich gefühlt, das ist schon irgendwie fair, was er von uns verlangt, auch wenn ich nicht gern die Schuhe geputzt habe. Und jetzt war er so böse auf mich und sagte: »Du entschuldigst dich sofort bei der Resi, hier und jetzt!« Die Resi hat noch versucht, zu gehen, ihr war das alles unangenehm, er aber sagt: »Sie bleiben hier, der Fratz hat sich bei Ihnen zu entschuldigen!« Aber ich war trotzig: »Nein!« Ich hatte es ja auch nicht böse gemeint, aber auch das wollte ich nicht sagen oder hab’s nicht gekonnt. Da befiehlt er: »Scheitlknien, bis du dich entschuldigst!« In der Ecke lagen Holzscheitln, und auf denen bin ich gekniet. Die haben ihr Dessert gegessen, das Essen war fertig, es wurde abgeräumt, ich knie und knie und bin nicht bereit, mich zu entschuldigen. Ich glaub, es war schon vier Uhr, da kam die Resi, die dann doch wieder in die Küche gegangen war, zurück und sah mich immer noch knien. Sie fing zu weinen an. Jetzt konnte ich sagen: »Resi, verzeih!« Aus war’s, da durfte ich aufstehen. Meine Knie waren wie Wellblech.

Sie haben Ihre Geschwister ja schon kurz erwähnt. Wie war denn die Beziehung Ihrer Geschwister zum Vater?

Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich glaube, die Doris hatte so gut wie gar keine Beziehung zu ihm, sie hatte auch keine Angst vor ihm – im Unterschied zu mir. Sie war für ihn das drollige Bärlein; sie hat sich wohl weniger Fragen gestellt. Der Peter, mein älterer Bruder, hat später nach dem Tod unseres Vaters eine Art Heldenverehrung betrieben, ihm hatte wohl auch der Vater gefehlt – er selbst spielte dann so quasi den Vater, der alles gewusst habe und der so wunderbar und so unglaublich gewesen sei. Das war aber unser Vater nicht, er war ein großes Mängelwesen. Und die Marianne, meine große Schwester, war im heftigen Zwist mit ihm.

Ich werde eine Szene meiner Kindheit nie vergessen – da ging es auch um physische Gewalt. Diese Szene ist mir so haften geblieben, weil sie mich tief erschüttert hat: Wir sitzen alle beim Mittagstisch. Die Mami sitzt am oberen Platz als Hausfrau, der Papa sitzt rechts von ihr, ich sitze links von ihr, neben mir die Marianne, neben Papa der Peter und dann die Doris. Es gibt Hascheeknödel, in denen Selchfleisch drin ist, mit Salat, das mochten wir sehr. Plötzlich schiebt die Marianne ihren Teller ein bisschen weg und sagt: »Da ist kein Knoblauch drinnen.« Vorwurfsvoll. Gehört rein, sie hatte recht, in der Zwischenzeit habe ich das gelernt. Worauf die Mami still sagt: »Mir kommt kein Knoblauch in die Küche.« Und die Marianne trumpft auf und sagt: »Es gehört aber Knoblauch in die Hascheeknödel!« Worauf der Vater aufsteht und – sie war damals sechzehn oder siebzehn – ihr so eine knallt, aber so eine Watschen, ich habe die rote Hand auf ihrem Gesicht gesehen. Die Marianne hat durchgedreht. Sie schmiss sich auf den Boden und schrie. Sie hat sich nicht nur erschreckt, sondern empört, sich so gedemütigt gefühlt. Das muss sie tief verletzt haben, Marianne war ja damals schon eine junge Frau. Sie kam danach in ein Pensionat nach Wien – abgeschoben! Das war das Verhältnis von den beiden.

Insofern unterschied sich ja Ihr Elternhaus vom Milieu Ihrer Reichenberger Großeltern, in dem gar keine Emotionen oder Affekte gezeigt wurden.

Das mag sein, ja, in meiner Familie war das nicht mehr so wie bei der Großelternfamilie. Auch bei uns wurde zwar nicht viel über Gefühle gesprochen, aber sie wurden manchmal ungeniert demonstriert. Diese völlig distanzierte Haltung ist in meiner Familie verloren gegangen; die Emotionen wurden losgelassen, manchmal in erschreckender Weise – wie bei der Hascheeknödel-Geschichte. Im Nachhinein habe ich den Eindruck, dass es ein Paket von Gefühlen gegeben haben muss, das zunächst unterdrückt gewesen und dann auf beiden Seiten explodiert ist.

Aber Sie selbst waren ja, so wie Sie sich bislang beschrieben haben, emotional auch eher zurückhaltend?

Ja, den Eltern gegenüber. Aber unter uns Geschwistern haben wir uns fest gestritten, nur war ich da als Jüngste jedes Mal die Unterlegene. Das hat mein Rebellieren wahrscheinlich verzögert. Und die Mami sagte immer, wenn wir uns gestritten haben: »Aber Kinder, ihr müsst euch doch lieb haben!« Aber ich hab die nicht lieb gehabt, weder die Doris noch den Peter, und zu Marianne hatte ich kaum Kontakt. Der Peter hatte ein teuflisches Vergnügen daran, mich zu quälen, er war um so viel stärker als ich. Wir durften ihn in der Öffentlichkeit auch nicht grüßen. Er schämte sich so, dass er zwei kleine Schwestern hat. Unter Androhungen der ärgsten Folter durften wir in der Straßenbahn nicht zeigen, dass wir ihn kennen. Mit meiner Schwester Doris war ich als Kind am engsten, aber zu ihr habe ich eigentlich erst viel später ein wirklich liebevolles Verhältnis entwickelt. Unsere gemeinsame Flucht nach dem Krieg hat uns sehr verbunden. Dadurch ist so viel Anteilnahme entstanden, die ich sonst in meiner Familie kaum kannte. Sie lebt ja schon seit vielen Jahrzehnten in den USA, aber bis heute telefonieren wir jeden Sonntagabend. Um acht Uhr am Sonntagabend muss ich zu Hause sein, da sage ich alles andere ab.


Mit meiner Schwester Doris telefonieren wir bis heute jeden Sonntagabend.

Aber von einer glücklichen Kindheit kann ich nicht unbedingt reden.

Was immer eine glückliche Kindheit sein mag …

Ich habe zumindest im Laufe der Zeit eine Vorstellung davon bekommen, was eine glückliche Kindheit sein könnte. Vielleicht romantisiere ich ein wenig, vielleicht projiziere ich da etwas hinein, aber mir fällt meine Freundin Gaigai ein – später werde ich noch mehr über sie erzählen. Gaigai kommt aus einem sehr glücklichen Elternhaus. Sie ist auf der Pfaueninsel in Berlin aufgewachsen, ihr Vater war dort Gartenarchitekt und dadurch viel präsent. Wunderschön! Sie hat mich einmal vor vielen Jahren mit hingenommen. Ihr Elternhaus muss unglaublich harmonisch und liebevoll gewesen sein, mit vielen Tieren, Lyrik und Natur.

Dazu fällt mir ein: Als wir in Wien in der Argentinierstraße gewohnt haben, musste ich als Zwölf- oder Dreizehnjährige, nachdem ich eine Rippenfellentzündung fast überstanden hatte, immer im Park beim Palais Schwarzenberg spazieren gehen, weil mein Mutter sagte: »Das Kind muss an die Luft.« So bin ich immer allein in den Park gegangen und habe mich gar nicht wohlgefühlt – und auf einmal war da doch tatsächlich ein Exhibitionist. Hinter der Hecke ist der mir nachgeschlichen. Ich hatte panische Angst. Aber glauben Sie, ich wäre auf die Idee gekommen, das meiner Mutter zu sagen? Das war völlig undenkbar. Also hatte ich immer Angst, wenn ich in den Park gegangen bin. Viele Jahre später gehe ich mit meiner Freundin Gaigai in Paris im Bois de Boulogne spazieren. Wir finden ein Wiesenstück mit Bäumen rundherum, setzen uns dort hin und essen eine Baguette. Dann sagt sie, sie war ja eine phantastische Zeichnerin: »Geh, lehn dich gegen den Baum, ich will dich zeichnen.« Die Zeichnung habe ich bis heute noch. Ich habe die Augen zugemacht, mich gegen den Baum gelehnt und geträumt, und sie hat gezeichnet. Und in einem Moment, als ich kurz die Augen aufmache, sehe ich einen Mann zwischen den Bäumen herumkriechen. Ich sehe heute noch, wie seine Glatze über den Sträuchern hopst. Und plötzlich steht er mit seiner ganzen Pracht, mit dem offenen Hosentürl vor uns. Und was macht die Gaigai? Die fängt zu lachen an. Sie lacht schallend und ruft: »Comme une baguette, comme une baguette!« Seine Pracht fiel sofort zusammen, und er war weg, denn Lächerlichkeit tötet.

Damals dachte ich: Schau mal an, sie ist als Kind in idealen Bedingungen aufgewachsen, mit liebevollen Eltern mitten in der Natur, mit einem Vater, der ihr Gedichte schon in der Wiege vorgesungen hat, ihr die Liebe zum Wort geschenkt hat, zur Dichtung, das Gespür dafür, die Mutter auch … Ein bissel Sehnsucht habe ich da bekommen, eine Art Nostalgie. Bei uns war’s nicht so. Da wurden Anforderungen gestellt, da gab’s kaum Widerrede. Uns Kindern haben die »Erzieherinnen« immer gedroht: »Wart nur, wenn der schwarze Mann kommt!« So hat mich die Angst vor dem Mann im Schwarzenbergpark lange verfolgt. Ein Kind wie die Gaigai dagegen, die konnte frei rauslachen und den Exhibitionisten lächerlich machen. Das hat mir zu denken gegeben, wie wichtig es ist, wie man mit Kindern umgeht.

Später habe ich es bei meinen Kindern zumindest versucht, aber ganz gelungen ist es mir auch nicht. Auch ich habe als Mutter zunächst noch geglaubt, das Beste für sie sei das, was ich als Mutter für das Beste halte. Na ja … Aber ich habe mich unendlich für meine Kinder interessiert. Später einmal hat mich meine Mami, als ich die Zwillinge hatte, in Wien besucht, und da sagte sie: »Du bist eine viel bessere Mutter als ich. Ich hab geglaubt, wenn man euch zu essen gibt und ein Dach überm Kopf, dann genügt das.« Na, Mami, das ist aber dürftig, dachte ich da. Als sie noch meinte: »Du hast ja Angst, dass die Seelen deiner Kinder zu viele blaue Flecken kriegen«, sagte ich: »Ja, das will ich nicht, das möchte ich verhindern, soweit ich’s verhindern kann.«


Drei Generationen: meine Mutter, Aleksandra, Freda

Erst als erwachsene Frau habe ich begriffen, dass meine Mutter gar nicht anders sein kann, dass sie eigentlich ein sehr verschlossener Mensch ist und selbst nie ein Aufgehoben-Sein gekannt hat, sondern immer nur Forderungen, die an sie gestellt worden sind. Dadurch, dass ich das verstanden habe, ist es in ihren letzten Lebensjahren zwischen uns eigentlich ungeheuer friedlich und liebevoll geworden. Nie werde ich vergessen, wie ich einmal zur Tür hereingekommen bin, und sie muss gefühlt haben, dass ich entspannt bin, dass ich nichts mehr suche, und sie sagt: »Da bist du ja, mein Dachs.« Freda, Fredachs, Dachs hat sie mich genannt. Sie war erleichtert, ich war erleichtert. Endlich waren wir auf einer Ebene, dass keine etwas von der anderen gefordert hätte.

Und ich habe sie auch in den Tod begleitet. Sie war 89 Jahre alt und gestürzt; ich war gerade zum ersten gesamteuropäischen Treffen der Grünen in Schweden gefahren. Die Ärzte meinten, sie müsse operiert werden, sonst bleibe nur mehr der Rollstuhl, und sie sagte: »Das muss meine Tochter entscheiden.« Ich habe ihr zur Operation geraten, die aber vermurkst worden ist. Danach ging es ihr ganz schlecht; sie lag im Spital im Sterben. Ich war bei ihr, meine Schwester Doris aus Amerika ist gekommen, auch meine Tochter Aleksandra kam noch rechtzeitig. Wir zündeten Kerzerln an, streichelten ihr die Hände, und sie hat gekämpft. »Mami, lass gehen, lass jetzt gehen«, sagte ich zu ihr. Dann atmete sie noch einmal durch … Wir drei Frauen haben sie da hineinbegleitet, das war wirklich bewegend, und ich war richtig froh über dieses Ende für sie.


Beim ersten gesamteuropäischen Treffen der Grünen in Stockholm 1987, v. l. n. r.: die vier Grünen-Gründerinnen Freda Meissner-Blau (A), Petra Kelly (BRD), Solange Fernex (F), Sarah Parkin (GB)

Also doch auch ein versöhnlicher Rückblick auf Ihre Mutter, überhaupt auf Ihre Eltern?

Auf jeden Fall! Ich möchte meine Eltern im Nachhinein weder verdammen noch be- und schon gar nicht verurteilen. Sie waren ja auch das Produkt ihrer Erziehung und ihrer Prägungen. Es ist nichts schwarz oder weiß. Ich habe ihnen auch vieles zu verdanken: ihr soziales Verantwortungsbewusstsein, viele intellektuelle Anregungen, die Wissbegierde, die Welt und deren Schönheiten auch als ein Abenteuer und Privileg zu sehen. In seiner bildungsbürgerlich-liberalen Einstellung war mein Vater in den 1930er Jahren politisch sehr kritisch gegen die Christlichsozialen, gegen den Ständestaat und später gegen die Nationalsozialisten. Klerikal-faschistisch hat er das System, das zwischen 1933 und 1938 in Österreich herrschte, schon damals genannt. Schließlich gaben mir meine Eltern das Interesse und die Freude an der Kunst mit, damals auch schon an der heute klassischen Moderne.

Auch sehe ich inzwischen eine bestimmte Form der damaligen Haltung meiner Eltern positiv – eine Haltung, die ich heute weitgehend vermisse: Meine Eltern sind zu ihren Überzeugungen gestanden, auch wenn sie unpopulär waren. Und es gab das, was man Konventionen nennt, zumindest ein Minimum an Konventionen, die das Leben so viel leichter, glatter machen, weil man nicht mit dieser Patzigkeit über andere drübergefahren ist, und, ja, weil dieser extreme Egoismus, über den wir heute überall stolpern, dieses »Was kümmert mich der Nächste? Hauptsache, mir geht’s gut!« dadurch in Schranken gehalten worden ist. Es gab auch damals genug schreiende Ungerechtigkeit, Missbrauch und Ausbeutung, aber auch mehr Verantwortung füreinander.

Die Frage bleibt

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