Читать книгу Old Shatterhand, das bin ich - Frederik Hetmann - Страница 7
Prolog
Оглавление»Im Bett zu liegen, krank zu sein, nicht in die Schule zu gehen und Karl May lesen zu dürfen hat ja stets seine trostreichen Reize in diesem Leben gehabt.«
Hermann Broch
Es ist um diesen Mann Karl May ein Geheimnis. Ernst Bloch, der Philosoph der Hoffnung und Utopie, nennt ihn einen der besten deutschen Erzähler.1 Für Hermann Hesse ist Karl May »der glanzvollste Vertreter eines Typs von Dichtung, [...] die man etwa Dichtung der Wunscherfüllung nennen könnte«.2
Es gibt auch andere Stimmen: Max Brod beispielsweise hat Karl Mays Bücher bedeutungslos und fad gefunden.
Klaus Mann schreibt die Tatsache, dass Adolf Hitler Karl May gelesen hat, dass ihm sogar Einzelheiten aus dessen Leben vertraut gewesen sind, den rassistischen, nationalistischen und sadistischen Tendenzen bei May zu und findet, das Dritte Reich sei Mays »äußerster Triumph, die schaurige Verwirklichung seiner Träume gewesen«.3
Einige Nationalsozialisten hingegen hielten Karl May für einen Marxisten, Pazifisten und Befürworter jeder Rassenmischung.
Lange hält sich in der Öffentlichkeit der Vorwurf des »Schundautors«, des »Verführers der Jugend«, des Schriftstellers, der ein Verbrecher war.
Von Arno Schmidt wird in Sitara und der Weg dorthin Mays ganzes Werk vorwiegend unter dem Gesichtspunkt der erotischen Verdrängungen eines Homosexuellen entziffert.
Bis schließlich 1965 Hans Wollschläger durch einen psychoanalytischen Ansatz der komplexen Persönlichkeit Karl Mays verständnisvoll, aber ohne Beschönigung gerecht zu werden versucht.
Allein schon diese Auswahl teils empfehlender, teils abwertender Beurteilungen, in denen auch eine gewisse Überschätzung des Phänomens Karl May klar zu erkennen ist, macht neugierig und regt dazu an, sich näher mit Karl May zu beschäftigen, um sich eine eigene Meinung zu bilden.
Das vorliegende Buch ist für jugendliche Leser gedacht, jedoch soll es auch der erwachsene Leser, der mit dem Leben und Werk Karl Mays nicht fachmännisch vertraut ist, als eine Art Einführung zur Hand nehmen können.
Als Kind bin ich selbst ein eifriger Karl-May-Leser gewesen. Was mich damals für seine Romane einnahm, war nicht so sehr die Vermittlung von geographischem Wissen, das ihm selbst - jedenfalls in seinen so genannten »Reiseerzählungen« – sehr wichtig war. Vielmehr war es der traumhafte Zustand, in den diese Geschichten, nicht zuletzt durch die Fähigkeit des Autors, in ihnen Spannung zu erzeugen, den Elf- oder Zwölfjährigen versetzten. Bestimmt hat mir aber auch ihre moralische Eindeutigkeit, der immer gewährleistete Sieg des Guten über das Böse, gefallen.
Die Perspektive, unter der ich mich nun fünfzig Jahre später der Person und dem Werk von Karl May annähere, ist eine völlig andere.
Sie ergibt sich aus einem Erlebnis 1968, das vielfältige Nachwirkungen auf meine Tätigkeit als Autor hatte. Damals bereiste ich mit einem Stipendium die USA. Ich recherchierte für eine Sozialgeschichte des Schwarzen Amerika4 bei den Bürgerrechtsorganisationen und in den Gettos der Afro-Amerikaner. In Washington meinten meine amerikanischen Gastgeber, ich solle nun auch einmal das Bild des anderen, »sauberen«, eindrucksvoll-schönen Amerika zu Gesicht bekommen, wohin ich denn wolle? Dabei dachten sie wohl an touristische Attraktionen wie die Niagarafälle, Hollywood oder Disneyland. Ich aber sagte, ich wolle zu den Indianern.
Diese Antwort versetzte meine Gastgeber in Verlegenheit. Offenbar interessierte sich damals in Regierungskreisen niemand besonders für die indianische Minderheit im Land, obwohl Anhänger der Red-Power-Bewegung gerade eben in Washington das Bureau of Indian Affairs, jene Abteilung des US-Innenministeriums, die für die Reservationen zuständig ist, besetzt hatten, um auf ihre Probleme hinzuweisen. Auch möglich, dass man einen Gast aus dem Ausland nicht gerade mit den Problemen der Native Americans konfrontieren wollte. »Warum denn ausgerechnet zu den Indianern?«, fragte man mich kopfschüttelnd.
Wahrscheinlich nur, weil mir keine andere Begründung einfiel, erzählte ich, dass in Deutschland die meisten Jugendlichen irgendwann einmal Karl Mays Romane gelesen haben, dass Karl May bekanntlich erst nach Abfassung seiner Romane in den USA gewesen und nie in den amerikanischen Westen gekommen sei. Ich wollte das anders angehen: Erst der Augenschein, dann das Schreiben.
Schließlich führte meine Bitte dazu, dass ich einem Arzt, der Navajo-Kinder gegen Tuberkulose zu impfen hatte, zugeteilt wurde. Mit ihm reiste ich zwei Wochen durch die größte Indianerreservation der USA, die der Navajo in Arizona und New Mexico. Meine Vorliebe für die archaische Bildwelt der indianischen Mythen und Märchen wurde dabei mit der indianischen Lebensweise im 20. Jahrhundert konfrontiert. Ich bin dann wiederholt im Südwesten und Mittelwesten in indianischen Reservationen gewesen, und es sind im Laufe der Jahre eine ganze Reihe von Sammlungen indianischer Mythen und Märchen entstanden, auch Erzählungen und Sachbücher für Jugendliche wie für Erwachsene.5
Ich teile also, wenn man so will, die Indianerbegeisterung Karl Mays.
Ein weiterer Ansatz ergibt sich aus meiner Lust und Neugier, das Wesen umstrittener Personen zu erkunden. Da blickt man bei Karl May, was die verschiedenen Rollen angeht, die er im Laufe seines Lebens verkörpert, auf ein weites Feld: Kind armer Leute, angehender Lehrer, Hochstapler, Zuchthäusler, Arbeitssklave eines Schundverlages, Großschriftsteller und Selbstdarsteller, betrogener Betrüger, Reisender und schließlich nach leidenschaftlich betriebener Sinnsuche: Weltbürger und Pazifist in Zeiten eines chauvinistischen Nationalismus und deutscher Großmannssucht.
Einer von Mays Biographen hat erklärt, seine Person sei für viele seiner Leser hinter den Millionenauflagen, den Gesammelten Werken, den Taschenbuchausgaben, hinter Festspielen und Filmen verschwunden.6 Deshalb scheint es mir wichtig, den »unbekannten« Karl May vorzustellen, und zwar in engem Bezug zu seinem Werk, denn in fast allen Texten Mays lassen sich verschlüsselte Darstellungen und Lösungsversuche seiner eigenen Lebensprobleme erkennen.
Würde mich jemand fragen, weshalb dies eine Geschichte ist, die junge Menschen heute angeht, so würde ich antworten: Weil man an ihr miterlebt, wie ein vom Schicksal benachteiligter und verletzter Mensch sich am Ende am eigenen Haarschopf aus dem Sumpf, in den er durch seine Torheiten hineingerät und zu versinken droht, herausarbeitet, sich einen Beruf wählt und Erfolg hat. Wie also dieser kriminell gewordene junge Mann zu einer sinnvollen Lebensaufgabe gelangt, jener nämlich, andere Menschen zu unterhalten, indem er Geschichten erzählt. Schon das allein, denke ich, wäre Grund genug, um Leben und Werk dieses rätselhaften Menschen, über den die Urteile seiner Zeitgenossen und der Nachwelt so weit und schroff auseinandergehen, genau zu betrachten und sein faszinierendes Schicksal zu rekonstruieren.