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I. Meinungen einiger Schriftsteller über die Natur der arithmetischen Sätze
Sind die Gesetze der Arithmetik synthetisch apriori oder analytisch?

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§ 12. Wenn man den Gegensatz von analytisch und synthetisch hinzunimmt, ergeben sich vier Combinationen, von denen jedoch eine, nämlich

analytisch aposteriori

ausfällt. Wenn man sich mit Mill für aposteriori entschieden hat, bleibt also keine Wahl, sodass für uns nur noch die Möglichkeiten

synthetisch apriori

und

analytisch

zu erwägen bleiben. Für die erstere entscheidet sich Kant. In diesem Falle bleibt wohl nichts übrig, als eine reine Anschauung als letzten Erkenntnissgrund anzurufen, obwohl hier schwer zu sagen ist, ob es eine räumliche oder zeitliche ist, oder welche es sonst sein mag. Baumann22 stimmt Kant, wenngleich mit etwas anderer Begründung, bei. Auch nach Lipschitz23 fliessen die Sätze, welche die Unabhängigkeit der Anzahl von der Art des Zählens und die Vertauschbarkeit und Gruppirbarkeit der Summanden behaupten, aus der inneren Anschauung. Hankel24 gründet die Lehre von den reellen Zahlen auf drei Grundsätze, denen er den Charakter der notiones communes zuschreibt: »Sie werden durch Explication vollkommen evident, gelten für alle Grössengebiete nach der reinen Anschauung der Grösse und können, ohne ihren Charakter einzubüssen, in Definitionen verwandelt werden, indem man sagt: Unter der Addition von Grössen versteht man eine Operation, welche diesen Sätzen genügt.« In der letzten Behauptung liegt eine Unklarheit. Vielleicht kann man die Definition machen; aber sie kann keinen Ersatz für jene Grundsätze bilden; denn bei der Anwendung würde es sich immer darum handeln: sind die Anzahlen Grössen, und ist das, was man Addition der Anzahlen zu nennen pflegt, Addition im Sinne dieser Definition? Und zur Beantwortung müsste man jene Sätze von den Anzahlen schon kennen. Ferner erregt der Ausdruck »reine Anschauung der Grösse« Anstoss. Wenn man erwägt, was alles Grösse genannt wird: Anzahlen, Längen, Flächeninhalte, Volumina, Winkel, Krümmungen, Massen, Geschwindigkeiten, Kräfte, Lichtstärken, galvanische Stromstärken u. s. f., so ist wohl zu verstehen, wie man dies einem Grössenbegriffe unterordnen kann; aber der Ausdruck »Anschauung der Grösse« und gar »reine Anschauung der Grösse« kann nicht als zutreffend anerkannt werden. Ich kann nicht einmal eine Anschauung von 100000 zugeben, noch viel weniger von Zahl im Allgemeinen oder gar von Grösse im Allgemeinen. Man beruft sich zu leicht auf innere Anschauung, wenn man keinen andern Grund anzugeben vermag. Aber man sollte dabei den Sinn des Wortes »Anschauung« doch nicht ganz aus dem Auge verlieren.

Kant definirt in der Logik (ed. Hartenstein, VIII, S. 88):

»Die Anschauung ist eine einzelne Vorstellung (repraesentatio singularis), der Begriff eine allgemeine (repraesentatio per notas communes) oder reflectirte Vorstellung (repraesentatio discursiva).«

Hier kommt die Beziehung zur Sinnlichkeit gar nicht zum Ausdrucke, die doch in der transcendentalen Aesthetik hinzugedacht wird, und ohne welche die Anschauung nicht als Erkenntnissprincip für die synthetischen Urtheile apriori dienen kann. In der Kr. d. r. V. (ed. Hartenstein III, S. 55) heisst es:

»Vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände gegeben und sie allein liefert uns Anschauungen.«

Der Sinn unseres Wortes in der Logik ist demnach ein weiterer als in der trancendentalen Aesthetik. Im logischen Sinne könnte man vielleicht 100000 eine Anschauung nennen; denn ein allgemeiner Begriff ist es nicht. Aber in diesem Sinne genommen, kann die Anschauung nicht zur Begründung der arithmetischen Gesetze dienen.

§ 13. Ueberhaupt wird es gut sein, die Verwandtschaft mit der Geometrie nicht zu überschätzen. Ich habe schon eine leibnizische Stelle dagegen angeführt. Ein geometrischer Punkt für sich betrachtet, ist von irgendeinem andern gar nicht zu unterscheiden; dasselbe gilt von Geraden und Ebenen. Erst wenn mehre Punkte, Gerade, Ebenen in einer Anschauung gleichzeitig aufgefasst werden, unterscheidet man sie. Wenn in der Geometrie allgemeine Sätze aus der Anschauung gewonnen werden, so ist das daraus erklärlich, dass die angeschauten Punkte, Geraden, Ebenen eigentlich gar keine besondern sind und daher als Vertreter ihrer ganzen Gattung gelten können. Anders liegt die Sache bei den Zahlen: jede hat ihre Eigenthümlichkeit. Inwiefern eine bestimmte Zahl alle andern vertreten kann, und wo ihre Besonderheit sich geltend macht, ist ohne Weiteres nicht zu sagen.

§ 14. Auch die Vergleichung der Wahrheiten in Bezug auf das von ihnen beherrschte Gebiet spricht gegen die empirische und synthetische Natur der arithmetischen Gesetze.

Die Erfahrungssätze gelten für die physische oder psychologische Wirklichkeit, die geometrischen Wahrheiten beherrschen das Gebiet des räumlich Anschaulichen, mag es nun Wirklichkeit oder Erzeugniss der Einbildungskraft sein. Die tollsten Fieberphantasien, die kühnsten Erfindungen der Sage und der Dichter, welche Thiere reden, Gestirne stille stehen lassen, aus Steinen Menschen und aus Menschen Bäume machen, und lehren, wie man sich am eignen Schopfe aus dem Sumpfe zieht, sie sind doch, sofern sie anschaulich bleiben, an die Axiome der Geometrie gebunden. Von diesen kann nur das begriffliche Denken in gewisser Weise loskommen, wenn es etwa einen Raum von vier Dimensionen oder von positivem Krümmungsmaasse annimmt. Solche Betrachtungen sind durchaus nicht unnütz; aber sie verlassen ganz den Boden der Anschauung. Wenn man diese auch dabei zu Hilfe nimmt, so ist es doch immer die Anschauung des euklidischen Raumes, des einzigen, von dessen Gebilden wir eine haben. Sie wird dann nur nicht so, wie sie ist, sondern symbolisch für etwas anderes genommen; man nennt z. B. gerade oder eben, was man doch als Krummes anschaut. Für das begriffliche Denken kann man immerhin von diesem oder jenem geometrischen Axiome das Gegentheil annehmen, ohne dass man in Widersprüche mit sich selbst verwickelt wird, wenn man Schlussfolgerungen aus solchen der Anschauung widerstreitenden Annahmen zieht. Diese Möglichkeit zeigt, dass die geometrischen Axiome von einander und von den logischen Urgesetzen unabhängig, also synthetisch sind. Kann man dasselbe von den Grundsätzen der Zahlenwissenschaft sagen? Stürzt nicht alles in Verwirrung, wenn man einen von diesen leugnen wollte? Wäre dann noch Denken möglich? Liegt nicht der Grund der Arithmetik tiefer als der alles Erfahrungswissens, tiefer selbst als der der Geometrie? Die arithmetischen Wahrheiten beherrschen das Gebiet des Zählbaren. Dies ist das umfassendste; denn nicht nur das Wirkliche, nicht nur das Anschauliche gehört ihm an, sondern alles Denkbare. Sollten also nicht die Gesetze der Zahlen mit denen des Denkens in der innigsten Verbindung stehen?

§ 15. Dass Leibnizens Aussprüche sich nur zu Gunsten der analytischen Natur der Zahlgesetze deuten lassen, ist vorauszusehen, da für ihn das Apriori mit dem Analytischen zusammenfällt. So sagt er25, dass die Algebra ihre Vortheile einer viel höhern Kunst, nämlich der wahren Logik entlehne. An einer andern Stelle26 vergleicht er die nothwendigen und zufälligen Wahrheiten mit den commensurabeln und incommensurabeln Grössen und meint, dass bei nothwendigen Wahrheiten ein Beweis oder eine Zurückführung auf Identitäten möglich sei. Doch diese Aeusserungen verlieren dadurch an Gewicht, dass Leibniz dazu neigt, alle Wahrheiten als beweisbar anzusehen27: »… dass jede Wahrheit ihren apriorischen, aus dem Begriff der Termini gezogenen Beweis hat, wiewohl es nicht immer in unserer Macht steht, zu dieser Analyse zu kommen.« Der Vergleich mit der Commensurabilität und Incommensurabilität richtet freilich doch wieder eine für uns wenigstens unüberschreitbare Schranke zwischen zufälligen und nothwendigen Wahrheiten auf.

Sehr entschieden im Sinne der analytischen Natur der Zahlgesetze spricht sich W. Stanley Jevons aus28: »Zahl ist nur logische Unterscheidung und Algebra eine hoch entwickelte Logik.«

§ 16. Aber auch diese Ansicht hat ihre Schwierigkeiten. Soll dieser hochragende, weitverzweigte und immer noch wachsende Baum der Zahlenwissenschaft in blossen Identitäten wurzeln? Und wie kommen die leeren Formen der Logik dazu, aus sich heraus solchen Inhalt zu gewinnen?

Mill meint: »Die Lehre, dass wir durch kunstfertiges Handhaben der Sprache Thatsachen entdecken, die verborgene Naturprocesse enthüllen können, ist dem gesunden Menschenverstande so entgegen, dass es schon einen Fortschritt in der Philosophie verlangt, um sie zu glauben«.

Gewiss dann, wenn man sich bei dem kunstfertigen Handhaben nichts denkt. Mill wendet sich hier gegen einen Formalismus, der kaum von irgendwem vertreten wird. Jeder, der Worte oder mathematische Zeichen gebraucht, macht den Anspruch, dass sie etwas bedeuten, und niemand wird erwarten, dass aus leeren Zeichen etwas Sinnvolles hervorgehe. Aber es ist möglich, dass ein Mathematiker längere Rechnungen vollführt, ohne unter seinen Zeichen etwas sinnlich Wahrnehmbares, Anschauliches zu verstehen. Darum sind diese Zeichen noch nicht sinnlos; man unterscheidet dennoch ihren Inhalt von ihnen selbst, wenn dieser auch vielleicht nur mittels der Zeichen fassbar wird. Man ist sich bewusst, dass andere Zeichen für Dasselbe hätten festgesetzt werden können. Es genügt zu wissen, wie der in den Zeichen versinnlichte Inhalt logisch zu behandeln ist, und wenn man Anwendungen auf die Physik machen will, wie der Uebergang zu den Erscheinungen geschehen muss. Aber in einer solchen Anwendung ist nicht der eigentliche Sinn der Sätze zu sehen. Dabei geht immer ein grosser Theil der Allgemeinheit verloren, und es kommt etwas Besonderes hinein, das bei andern Anwendungen durch Anderes ersetzt wird.

§ 17. Man kann trotz aller Herabsetzung der Deduction doch nicht leugnen, dass die durch Induction begründeten Gesetze nicht genügen. Aus ihnen müssen neue Sätze abgeleitet werden, die in keinem einzelnen von jenen enthalten sind. Dass sie in allen zusammen schon in gewisser Weise stecken, entbindet nicht von der Arbeit, sie daraus zu entwickeln und für sich herauszustellen. Damit eröffnet sich folgende Möglichkeit. Statt eine Schlussreihe unmittelbar an eine Thatsache anzuknüpfen, kann man, diese dahingestellt sein lassend, ihren Inhalt als Bedingung mitführen. Indem man so alle Thatsachen in einer Gedankenreihe durch Bedingungen ersetzt, wird man das Ergebniss in der Form erhalten, dass von einer Reihe von Bedingungen ein Erfolg abhängig gemacht ist. Diese Wahrheit wäre durch Denken allein, oder, um mit Mill

22

A. a. O. Bd. II., S. 669.

23

Lehrbuch der Analysis, Bd. I., S. 1.

24

Theorie der complexen Zahlensysteme, S. 54 u. 55.

25

Baumann a. a. O. Bd. II., S. 56; Erdm. S. 424.

26

Baumann a. a. O. Bd. II., S. 57; Erdm. S. 83.

27

Baumann a. a. O. Bd. II., S. 57; Pertz, II., S. 55.

28

The principles of science. London 1879. S. 156.

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