Читать книгу Toni der Hüttenwirt Staffel 15 – Heimatroman - Friederike von Buchner - Страница 6

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Bürgermeister Fritz Fellbacher saß hinter seinem Schreibtisch. Er trank eine Tasse Kaffee und las die Zeitung. Die Tür zum Vorzimmer stand offen.

Er hörte, dass jemand kam.

»Grüß Gott, Gina!«

»Ein herzliches Grüß Gott, Moni! Bist du wieder aus dem Urlaub zurück?«

Moni wohnte in Ginas Nachbarschaft.

»Ja, ich bin gestern Abend spät angekommen.«

»Was kann ich für dich tun?«, fragte die Gemeindesekretärin.

»Ich möchte mich in Waldkogel abmelden. Ich ziehe zu meinen Verwandten nach Franken. Hier ist die neue Adresse.«

Bürgermeister Fritz Fellbacher ließ die Zeitung sinken. Er stand auf und verließ sein Amtszimmer.

»Grüß dich, Moni! Was habe ich eben gehört? Du willst fort aus unserem schönen Waldkogel? Gefällt es dir hier nimmer?«

»Grüß Gott, Herr Bürgermeister! Das hat nix mit Waldkogel zu tun. Ich bin und bleibe ein Waldkogeler Madl«, sagte Moni mit hochrotem Kopf.

»Bist auch ein fesches Madl, wenn ich dich so ansehe. Es wäre ein großer Verlust für die Burschen, wenn du nimmer hier bist. Oder hast dich am Ende in Franken verliebt?«

»Naa, darum geht es net! Es ist etwas anderes!«

Fritz Fellbacher sah, wie verlegen Moni war.

»Soso! Willst dich ein bisserl um deine Verwandte kümmern in Franken? Ziehst wegen deiner alten Großeltern dahin?«

»Naa, darum geht es auch net.«

Bürgermeister Fellbacher musterte Moni genau. Sie trug ein knöchellanges, hellgelbes Dirndl mit dunklerem Mieder und einer weißen Schürze. Ihre schwarzen langen Haare waren geflochten und lagen wie ein Kranz um ihren Kopf. Er lächelte sie an.

»Es ist schon ein Verlust, dass du uns verlassen willst, Madl. Wenn so ein liebes Madl geht, dann bin ich schon betroffen. Des musst mir glauben. Schade ist es schon.« Er seufzte. »Festhalten kann ich dich net, aufhalten wohl auch net, wie?«

Sie lächelte verlegen.

»Bürgermeister, es ist net für lange. Nur für ein paar Wochen gehe ich nach Franken zu den Großeltern, der Tante und dem Onkel. Dann komme ich wieder. Ich verspreche es.«

»Dann musst dich doch hier net abmelden. Du kannst deinen ersten Wohnsitz gern hier lassen.«

Moni schüttelte den Kopf.

»Naa, das kann ich net. Darum geht es doch! Für des, was ich machen will, muss ich mit dem ersten Wohnsitz in Franken gemeldet sein. Des ist eine Bedingung.«

Bürgermeister Fellbacher rieb sich das Kinn. Er und Gina warfen sich Blicke zu.

»Das scheint ja ein wirklich geheimnisvoller Grund zu sein, dass du uns so den Rücken kehrst«, bemerkte Gina.

Sie tippte auf der Tastatur des PCs herum. Fellbacher zuckte mit den Schultern. Er drehte sich grußlos um und ging wieder zu seinem Schreibtisch.

»Jetzt ist er sauer. Das wollte ich nicht, Gina«, flüsterte Moni.

Gina neigte sich über den Schreibtisch.

»So ist er nun mal, unser guter Fellbacher. Er nimmt alles sehr persönlich, wenn jemand fortzieht. Es trifft ihn sehr.«

Gina druckte die Formulare aus und legte sie Moni zur Unterschrift vor.

»So, das wäre es also! Dann wünsche ich dir viel Glück in deiner neuen Heimat.«

»Gina, rede keinen Schmarrn! Waldkogel ist meine Heimat und wird es immer bleiben. Ich gehe auch nur für ein paar Wochen fort. Es ist nur vorübergehend.«

Mit festen Schritten kam Bürgermeister Fellbacher zurück. Er blieb im Türrahmen stehen.

»Egal wie, Moni, du hast dich abgemeldet und des betrübt mich. Denkst du net, ich habe als Bürgermeister ein Recht zu wissen, warum du Waldkogel den Rücken kehrst? Auf der einen Seite beteuerst du, dass unser schönes, idyllisches Waldkogel deine Heimat ist, dass du wiederkommen willst. Auf der anderen Seite meldest du dich ab, auch wenn es angeblich nur für ein paar Wochen ist. So ein Schmarrn! Des verstehe, wer will, ich net und die Gina sicherlich auch net.« Er seufzte hörbar. »Wenn du in irgendwelchen Schwierigkeiten bist, dann red’, Madl! Für jeden Kummer gibt es eine Lösung. Du weißt doch, dass wir hier zusammenhalten wie Pech und Schwefel.«

»Ich bin net in irgendwelchen Schwierigkeiten«, sagte sie leise. »Ich will nur Karriere machen. Des ist alles!«

»So, Karriere? Die kannst du hier net machen? Dann hörst auch auf, in Kirchwalden zu arbeiten?«

»Naa, mit meiner Arbeit hat des nix zu tun.«

Sie seufzte tief und errötete erneut.

»Also gut, Herr Fellbacher! Dann will ich es Ihnen sagen. Es gibt in Franken einen Wettbewerb. Teilnehmen kann man nur, wenn man dort ansässig ist. Deshalb muss ich mich ummelden. Meine Großeltern, meine Tante und mein Onkel, die meinen auch, dass ich gute Chancen habe.«

»So? Um was geht es dabei?«

»Es ist so eine Art Schönheitswettbewerb. Gesucht wird das ›Frankenmadl‹. So, jetzt wissen Sie es. Des ist alles. Ich will teilnehmen. Und danach melde ich mich wieder um. Meinen Sie net, dass ich gute Chancen habe?«

Moni drehte sich im Kreis.

»Bist ein fesches Madl, des kann jeder sehen. Na ja, wenn die Franken keine schönen Madln haben, dann muss ich wohl zustimmen, dich zu exportieren. Aber danach kommst wieder, versprochen?«

»Versprochen, Bürgermeister! Und halten Sie mir die Daumen.«

Moni nahm die Abmeldung, verabschiedete sich und verließ das Rathaus.

Bürgermeister Fellbacher wartete, bis sie gegangen war, dann machte er seinem Ärger Luft.

»Gina, du findest alles über diesen Schönheitswettbewerb heraus! Ich will alles darüber wissen. Da machen die also in Franken einen Schönheitswettbewerb, obwohl sie scheinbar keine feschen Madln haben. Deshalb müssen sie die Moni importieren.«

Gina schmunzelte. Sie wusste, wenn Fellbacher sich ärgerte, übertrieb er gerne.

Während Gina im Internet recherchierte und die Informationen ausdruckte, ging Bürgermeister Fritz Fellbacher unruhig und vor sich hin schimpfend in seinem Amtszimmer auf und ab.

»Die Moni ist ein fesches Madl. Würde mich nicht wundern, wenn sie gewinnt. Was ist dann? Dann findet sie bestimmt einen Burschen, heiratet nach Franken, sie bekommt Kinder und trägt damit zur dortigen Bevölkerungsstatistik bei. Dort kommt eine Familie dazu und hier nimmt die Bevölkerung ab. Wenn das alle jungen Madln machen, dann sind wir hier bald nur noch ein Dorf von alten Leuten. Es ist ohnehin schwierig, die jungen Leute auf dem Land zu halten, seit die Landwirtschaft zurückgeht. Alle suchen Arbeit in den Städten und wollen dort Karriere machen. Der Himmel stehe uns bei! Wohin soll das noch führen?«

Bürgermeister Fritz Fellbacher machte mit den Armen eine hilflose, verzweifelte Geste und schaute zur Zimmerdecke, meinte aber den Himmel.

Gina schmunzelte im Stillen über die Übertreibungen ihres Chefs.

»Herr Bürgermeister, wenn Sie Angst vor einer Überalterung Waldkogels haben, dann müssen sie politisch gegensteuern.«

Fellbacher blieb stehen.

»Tue ich das net, Gina? Lege ich vielleicht meine Hände in den Schoß? Naa, des tue ich net«, brüllte er laut.

Gina wusste, dass der Vorwurf sich nicht gegen sie richtete. Sie kannte sein hitziges Temperament. Am bes­ten, man ließ ihn poltern, bis sein Groll verraucht war. Widerspruch würde ihn nur noch mehr aufbringen, auch Zustimmung. Wenn Fellbacher so ärgerlich war, dann ließ Gina ihn in Ruhe.

Fritz Fellbacher schenkte sich einen Obstler ein und trank. Dann nahm er die Unterlagen und ging hinüber zum Pfarrhaus. Er brauchte jemanden, mit dem er offen und ehrlich über seine Sorgen reden konnte. Da gab es nur einen, seinen Freund Pfarrer Heiner Zandler.

Der Pfarrer saß in seiner Studierstube und arbeitete an der Sonntagspredigt. Helene Träutlein brachte Kaffee und Kuchen und ließ die beiden Männer allein.

Fritz Fellbacher erzählte Zandler von dem Schönheitswettbewerb und zeigte ihm die Unterlagen.

»Heiner, was ist, wenn so etwas öfter geschieht? Die Madln sind heute alle doch ganz narrisch, wenn sie hören, es gibt irgendwo einen Schönheitswettbewerb. Du, Heiner, wenn sich des herumspricht, dass sich des Madl deswegen hier abgemeldet hat, dann sinkt die Einwohnerzahl von Waldkogel. So etwas kann rasend schnell gehen wie bei einer Epidemie.«

Pfarrer Heiner Zandler lachte laut.

»Mei, Fritz, jetzt hörst auf, zu übertreiben. Des ist ja lächerlich.«

»Des ist net lächerlich. Ich bin eben besorgt. Wenn dir Schäfchen davonlaufen, bist auch auf einhundertachtzig.«

»Na, ganz so ist es net. Doch nun zu dir. Es gibt eine einfache Lösung. Du musst eben in Waldkogel auch so einen Wettbewerb veranstalten. Des wirst doch fertigbringen, oder?«

Fellbacher schaute Zandler überrascht an.

»Das sagst du? Des wundert mich jetzt doch, Heiner, dass du mir des vorschlagen tust. Also wirklich, des hätte ich net von dir erwartet. So etwas ist doch eine Fleischschau! Mei, ich kann die Madln doch net auffordern, sich so zur Schau zu stellen, halb nackt.«

Pfarrer Heiner Zandler schmunzelte.

»Nun hab’ dich net so, Fritz! Bist ja nur auf die Franken sauer.«

Bürgermeister Fellbacher trank einen Schluck Kaffee und aß von dem gedeckten Apfelkuchen. Er schmeckte ausgezeichnet. Fellbacher schwieg und hörte seinem Freund zu. Pfarrer Zandler gab Verschiedenes zu bedenken. Er sagte, dass es nur auf die Bedingungen ankäme.

Außerdem liefen die Madln im Sommer im Bikini am Bergsee herum und sonnten sich.

»Net, dass ich so viel Freizügigkeit rundherum gutheiße, Fritz. Aber niemand kann die Zeit zurückdrehen. Wir können nur steuernd eingreifen. Also, lass dir die Sache in Ruhe durch den Kopf gehen. Es kommt auf die Jury an, Fritz. Es müssen ja net nur Burschen zur Jury gehören. Ich will dir etwas sagen, die Frauen können ein anderes Madl noch besser beurteilen, als es jedes Mannsbild kann.«

Bürgermeister Fellbacher sah Pfarrer Zandler zuerst überrascht an, dann nickte er.

»Damit hast net so Unrecht, Heiner. Scheinst dich doch bei den Weibern auszukennen, auch wenn du Geistlicher bist.«

Sie schmunzelten beide. Zandler schenkte dem Freund Kaffee nach. Sie redeten noch eine Weile über Gründe, die dafür oder dagegen sprachen.

»Also, jetzt lässt du dir die Sache in Ruhe durch den Kopf gehen. Denke eine Weile darüber nach. ›Gut Ding will Weile haben‹, sagt man. Danach reden wir noch einmal.«

Pfarrer Zandler brachte seinen Freund zur Tür. Er gab ihm noch einige Anregungen und Ratschläge mit auf den Weg.

*

Frank fuhr langsam die Landstraße entlang in Richtung Waldkogel. Als hinter ihm ein Auto hupte, hielt er auf der Grasnarbe neben der Fahrbahn an. Ein Wagen hielt neben ihm.

»Grüß dich, Frank! Ich dachte, bei der Wiener Autonummer, des kannst nur du sein. Wie geht es dir?«

»Grüß Gott! Danke der Nachfrage, gut geht es mir, Hannes.«

»Besuchst mal wieder deine Heimat?«

»Ja, die Eltern haben mich gedrängt. Ich muss mich mal wieder blicken lassen.«

»Sie vermissen dich eben, Frank. Es ist wirklich schade, dass du so weit fort bist.«

»Jetzt übertreibst du! Nach Wien ist’s gar net weit.«

»Hast du denn hier gar keine Arbeit gefunden? Des waren noch Zeiten, als du hier gewesen bist. Mei, des war doch immer schön!«

»Ja, des war es. Aber die Zeiten

ändern sich. Ich bleibe einige Tage und melde mich bei dir.«

»Des ist schön, Frank. Dann organisiere ich gleich mal die Jahrgangsburschen. Wir machen uns einen schönen Abend am Bergsee wie in alten Zeiten, mit viel Bier und einem Spanferkel am Spieß.«

»Des hört sich gut an! Pfüat di, Hannes!«

»Pfüat di, Frank!«

Frank war froh, dass Hannes weiterfahren musste, weil er die Fahrbahn blockierte. Franks Gesichtszüge verhärteten sich. Am liebsten wäre er umgekehrt. So gern er in Waldkogel war, so schlimm war es auch für ihn. Er seufzte. Es gab niemanden, mit dem er über den wirklichen Grund seines Fortgehens reden konnte. Zehn Jahre war es jetzt her, dass er sich gezwungen sah, diese Entscheidung zu treffen. Damals war er zwanzig gewesen und seine Ausbildung als Hotelfachmann im Hotel ›Zum Ochsen‹ war zu Ende. Er argumentierte damals, dass es nur gut wäre, wenn er in anderen Hotels arbeiten würde. Obwohl seine Eltern betrübt waren und seine um zwei Jahre jüngere Schwester, die damals noch zur Schule ging, bittere Tränen vergoss, verließ er Waldkogel. Frank wusste, dass es wieder zu einem Thema werden würde, wann er der Fremde endlich den Rücken kehren wollte. Franks Herz krampfte sich zusammen, wenn er an die Lügen dachte, die gezwungenermaßen vorbringen musste. Aber was sind schon Lügen im Vergleich mit einer schlimmen Wahrheit? Diese Wahrheit würde die Eltern tief verletzen und es käme sicher zum Bruch mit seiner Familie. Es verging kein Tag, an dem er nicht an diese Lebenslüge dachte. Sie begleitete ihn Tag und Nacht. Er wusste, dass es nichts gab, was er anders tun konnte, als den Schmerz in seinem Herzen zu ertragen.

Frank seufzte tief. Er ließ den Motor wieder an und fuhr langsam weiter.

Als er am ehemaligen Schwanniger Hof vorbeikam, sah er, wie seine jüngere Schwester auf den Hof radelte und ihr Fahrrad in den Fahrradständer vor Doktor Martin Englers Praxis abstellte.

Ist Heidi krank, schoss es ihm durch den Kopf? Er dachte nicht nach. Es war wie ein Automatismus, und sein Herz schlug schneller. Er setzte den Blinker und fuhr auf den Hof. Heidi drehte sich um und sah ihn.

Mit weit ausgebreiteten Armen rannte sie auf das Auto zu. Frank schaffte es gerade noch auszusteigen, dann fiel ihm Heidi um den Hals.

»Frank, liebster Frank! Du bist schon hier? Wir haben dich erst morgen erwartet!«

Heidi drückte ihren Bruder fest und gab ihm einen herzlichen Kuss auf die Wange.

»Ich freue mich so! Wie war die Fahrt?«

»Gut war sie! Aber jetzt lass mich los, Heidi!«

»Mei, hab’ dich doch net so. Was ist dabei, wenn ich mich so freue? Bist ja schließlich kein fremder Bursche, dem ich mich an den Hals werfe, sondern mein lieber Bruder, den ich so vermisst habe.«

»Schon gut, das weiß ich. Jetzt bin ich ja hier.«

»Wie lange bleibst du?«

»Eine ganze Woche!«

»Nur eine Woche, schade!«

»Ich kann auch gleich wieder fahren, du undankbare Göre!«

»Nenn mich nie wieder Göre, Frank. Sonst kündige ich dir die Freundschaft.«

Frank schloss die Autotür.

»Was machst du hier beim Martin? Bist du krank oder ist etwas mit den Eltern?«

Heidi schüttelte den Kopf.

»Ganz der besorgte, fürsorgliche große Bruder! Du müsstest mal jetzt dein Gesicht sehen.«

»Mei, ich mache mir eben Sorgen. Es ist schon spät. Um diese Uhrzeit geht niemand zum Doktor, der net muss.«

»Sei unbesorgt, ich bin nicht krank und die Eltern sind auch gesund. Martin hat so späte Termine vergeben, wegen der Spende.«

»Willst Blut spenden?«

»Naa, es geht um ein Kind, das im Kirchwaldener Krankenhaus liegt und Leukämie hat. Für das Madl wird ein Stammzellenspender gesucht. Die Zeitung hat darüber berichtet. Martin hilft auch mit bei der Suche. Vielleicht kann dem Madl eine Stammzellentransplantation helfen.«

»Das arme Kind! Hoffentlich wird jemand gefunden.«

»Je mehr Leute sich testen lassen, desto größer sind die Chancen.«

»Ich verstehe. Was muss man machen?«

»Nicht viel, man füllt einen Zettel aus. Martin nimmt jedem Freiwilligen Blut ab, das wird im Labor erst einmal getestet. Für einen selbst ist das auch ein Vorteil. Das Blut wird gründlich untersucht und man bekommt einen Blutgruppenausweis. Lass dich doch auch testen, oder willst du nicht helfen? Ist dir dein Blut zu kostbar?«

»Du bist immer noch so provokant wie eh und je, meine kleine Schwes­ter!«

»Lebenserfahrung! Ich weiß doch, wie die Burschen sind. Nach außen hin geben sie sich stark, können aber kein Blut sehen und haben Angst vor so einem kleinen Piks. Alles Feiglinge! Da bist du keine Ausnahme. Mutter sagt, wenn die Burschen die Kinder bekommen müssten, wäre die Menschheit ausgestorben.«

»Das ist eine unverschämte Übertreibung. Na, dann werde ich dir das Gegenteil beweisen. Aufi, lass uns gehen! Ich habe heute noch keine gute Tat vollbracht.«

Sie gingen in die Praxis und warteten, bis sie an der Reihe waren. Heidi wollte ganz sicher gehen, dass ihr Bruder keinen Rückzieher machte und drängte darauf, dass er sich zuerst piksen ließ.

Sie waren die Letzten an diesem Tag. Routiniert nahm ihnen Martin Blut ab und seine Frau Karla erledigte den Papierkram.

»Ihr könnt euren Blutgruppenausweis in zwei Wochen abholen«, sagte Martin. »Es dauerte etwas länger, bis die Laborergebnisse da sind. Ich mache in meinem kleinen Labor zwar einen Schnelltest, aber morgen früh werden alle Blutproben abgeholt und in einem Fachlabor untersucht.«

Die Geschwister verabschiedeten sich. Frank lud Heidis Fahrrad in den Kofferraum seines Autos und sie fuhren heim.

Erich und Rosi Seidler freuten sich, ihren Buben in die Arme schließen zu können. Die Augen seiner Mutter leuchteten.

»Schön, dass du endlich mal länger bleiben kannst, Frank.«

»Mutter, du weißt doch, wie das ist. Ich bin eben ehrgeizig und will vorankommen. Da stellt man sein Privatleben hinten an. Es geht net überall so beschaulich zu wie in unserem schönen Waldkogel. Es ist hart draußen in der Welt. Ich habe eine große Karriere gemacht. Das wird mir oft geneidet, von Kollegen, die mit mir angefangen haben. Deshalb mache ich nicht gern länger Urlaub. Diese Neidhammel könnten die Zeit nutzen, um an meinem Stuhl zu sägen. Mei, ich habe mir vorgenommen, einmal ein ganz großes Hotel zu leiten. Das will ich erreichen, bis ich Mitte dreißig bin, spätestens mit Vierzig. So etwas fällt einem nicht in den Schoß. Da muss ich schon Flagge zeigen.«

»Das heißt, du kommst nicht mehr nach Waldkogel zurück?«

Frank seufzte leise.

»Mutter, was soll ich hier? Das einzige Hotel, das vielleicht in Frage käme, ist des Hotel ›Zum Ochsen‹. Des ist in Familienbesitz und wird es auch bleiben. Außerdem steht mir der Sinn nach der großen weiten Welt.«

»Ach, Bub, des ist doch kein erfülltes Leben«, sagte Erich Seidler. »Dir entgeht so viel.«

»Was soll mir entgehen? Ich bin glücklich.«

»Rede nicht so einen Schmarrn, Bub! Jetzt mag dir das alles noch erstrebenswert sein, aber du wirst irgendwann auch mal alt werden. Dann wirst allein sein und einsam. Die Karriere kann die Leere in deinem Herzen nicht ausfüllen. Such dir ein liebes Madl und gründe eine Familie! Dann wirst du eine Zufriedenheit erfahren, die dir kein Job geben kann. Willst du uns keine Enkelkinder schenken?«

»Ich bin nicht gegen eine Familie. Aber bis jetzt ist mir noch kein Madl begegnet, des mir gefallen hat und des zu haben war. Aber wahrscheinlich kann man die Liebe auch net planen. Sie kommt oder sie kommt nicht. Heute heiraten die jungen Leute ohnehin später. Außerdem, was ist mit Heidi?«

Frank schaute seine Schwester an. Heidi lachte.

»Frank, ich warne dich! Stell dich nicht auf die Seite der Eltern. Sie wollen mich unbedingt unter die Haube bringen. Ich kann doch nicht irgendjemand nehmen.«

»Frank, deine Schwester ist sehr wählerisch. An jedem Burschen hat sie etwas auszusetzen. Manchmal glaube ich, sie sucht bewusst nach Schönheitsfehlern.«

»Pah, was redest du daher, Vater? Auf die Schönheit kommt es erst in zweiter Linie an. Der Charakter ist wichtig. Ich gebe mich eben nicht mit halben Sachen zufrieden. Schließlich will ich einmal Kinder von dem Burschen, für den ich mich entscheide. Er muss in meinen Augen perfekt sein. Ich mache eben keine Kompromisse. Bei aller Liebe muss man doch seinen Verstand behalten. Ich bin nicht der Meinung, dass der Spatz in der Hand besser ist als die Taube auf dem Dach. Eine Ehe ist eine Gemeinschaft für das ganze Leben. Da bin ich lieber vorsichtig. Wenn man irgendwo eine neue Arbeit annimmt, dann hat man eine Probezeit, außerdem kann man, wenn es später mal nimmer harmoniert, kündigen. Bei einer Ehe ist des net so einfach. Viele lassen sich zwar scheiden, aber für mich kommt so etwas niemals in Frage. Wenn schon, denn schon, sage ich mir. Ihr seid ungerecht! Solltet ihr nicht froh sein, dass ich so kritisch bin und mir den Vater meiner Kinder und den Vater eurer Enkelkinder genau ansehe? Einem Burschen sein Jawort zu geben, des ist doch die allerwichtigste Entscheidung, die ein Madl in seinem Leben treffen muss. Hört bitte auf, mich ständig so unter Druck zu setzen! Ich halte das bald nicht mehr aus. Wenn ich verheiratet wäre und es ständig Streit gäbe und die Kinder, die ich vielleicht dann hätte, darunter litten, dann wäre euch des auch net recht. Also gebt endlich Ruhe! Ich will nichts mehr hören! Wenn ich den richtigen Burschen gefunden habe, dann sage ich es euch schon. Und wenn ich keinen finde, dann müsst ihr auch damit leben«, sagte Heidi. Während ihrer kleinen Rede schwoll ihre Stimme immer mehr an, denn sie regte sich mächtig auf.

Erich und Resi warfen sich einen Blick zu.

»Resi, ich glaube, wir haben bei der Erziehung unserer Kinder etwas falsch gemacht. Wenn sie so weitermachen, werden wir nie Großeltern.«

Resi Seidler stand auf. Sie räumte den Tisch ab. Heidi half der Mutter. Frank ging zum Auto und holte sein Gepäck. Er trug es hinauf in sein altes Zimmer, das immer noch unverändert war. Er packte seine Sachen aus. Dann trat er auf den Balkon und rauchte eine Zigarette.

Er seufzte. Schon die erste Stunde mit seiner Familie war genauso verlaufen, wie er es befürchtet hatte. Er bereute, dass er eine Woche bleiben wollte. Er überlegte sogar, sich von Kollegen anrufen zu lassen, damit er sofort nach Wien zurückfahren konnte.

Wie soll ich das eine Woche lang aushalten?, dachte er.

Es war ein einziger Albtraum, das stand für ihn fest. Er ging zurück und schloss die Balkontür. Lange stand er unschlüssig mitten im Zimmer und starrte auf sein Handy. Die Versuchung, Gründe für eine sofortige Abreise vorzutäuschen, war groß. Doch auch Heidi wäre enttäuscht, wenn ich abreise. Er konnte sich ihre großen traurigen Augen gut vorstellen. Wie es auch werden würde, wie es auch um ihn stand, Frank nahm sich vor, die Woche durchzustehen. Es sind ja nur die Abende, an denen Heidi daheim ist. Tagsüber geht sie arbeiten und ich werde Wanderungen machen. Dann war auch noch das Treffen am See, das Hannes organisieren wollte. Niemand kann verlangen, dass ich die ganze Woche daheim herumhänge. Ich bin ja kein Kind mehr. Frank überlegte, was er alles unternehmen könnte. Er wollte seine ehemaligen Kollegen im Hotel ›Zum Ochsen‹ besuchen und einen Tag in Kirchwalden verbringen. Wenn das Wetter schön ist, steige ich auf den Gipfel des ›Engelssteigs‹, und einen Tag werde ich die alte Ella Waldner besuchen.

Als Frank an die alte Frau dachte, lächelte er. Er hatte sie schon immer gemocht. Schon als kleiner Bub hatte es ihn zu ihr in den Wald gezogen. Es war seltsam, nur dort fühlte er sich frei und es war ihm, als sei er von einer unsichtbaren Last befreit. Ella Waldner war für ihn immer mehr zur Vertrauten geworden. Er wusste, dass die alte Frau verschwiegen war und er ihr alles anvertrauen konnte. Was ihn wirklich bewegte, war ihm auch ihr gegenüber niemals über die Lippen gekommen. Trotzdem war er sich sicher, dass die alte Frau, die gut seine Großmutter, wenn nicht sogar vom Alter her, seine Urgroßmutter hätte sein können, mehr wusste, als sie sagte. Im Laufe der Jahre, so nach der Pubertät, war ein Vertrauensverhältnis zwischen den beiden entstanden, das in ihm die Gewissheit gab, dass sie wusste, welcher Schmerz sein Herz belastete.

Frank nahm sich vor, gleich in den nächsten Tagen der alten Ella einen Besuch abzustatten.

*

Zur gleichen Zeit saß Doktor Martin Engler in seinem Behandlungszimmer hinter dem Schreibtisch und starrte auf vier Karteikarten, die nebeneinander auf seinem Schreibtisch lagen. Er las sie immer wieder. Mit einem dicken roten Stift umkringelte er die Blutgruppenzugehörigkeit.

Er stand auf und ging im Raum auf und ab und rieb sich die Stirn. Kurzerhand lief er noch einmal in sein Labor, suchte die Blutproben heraus und machte noch einmal einen Schnelltest.

Es war das gleiche Ergebnis.

»Vielleicht stimmt etwas mit den Untersuchungsmitteln nicht«, sprach er leise vor sich hin.

Dabei wusste er genau, dass er nur nach einem Ausweg suchte. Doktor Martin Engler war eigentlich ein sehr geduldiger Mensch, doch jetzt ergriff ihn eine Ungeduld, die ihm Kopfschmerzen bereitete.

Karla kam herein.

»Martin, es ist schon spät. Arbeitest du noch lange?«

Martin schaute seine Frau an.

»Es ist wegen der Blutproben. Das lässt mir keine Ruhe.«

»Hast du einen möglichen Spender gefunden?«

Martin zuckte mit den Schultern. Er rieb sich das Kinn. Auch seiner Frau gegenüber hielt er sich immer an seine Schweigepflicht.

»Ich bin bei meinem Schnelltest auf etwas gestoßen, was mich sehr wundert. Du weißt, dass mich Blutgruppen schon immer interessiert haben und die Blutgruppenzugehörigkeitsmerkmale bei meiner Doktorarbeit eine Rolle spielten.«

Karla nickte.

»Was ist dir aufgefallen? Du kannst es mir erzählen, du musst dabei ja keinen Namen nennen. Du weißt doch, dass du mir vertrauen kannst.«

Martin stand auf und nahm seine Frau in die Arme. Er lehnte den Kopf an ihren Kopf.

»Ja, ich weiß, dass ich dir vertrauen kann. Aber ich muss mir erst selbst über diese Sache klarwerden. Vielleicht mache ich ja die Pferde scheu. Jedem kann mal ein Fehler unterlaufen.«

Karla lächelte ihn an.

»Du bist fehlerlos, mein lieber, lieber Martin. Jetzt schläfst du erst mal eine Nacht, morgen sieht alles besser aus. Du bist müde. In den letzten Nächten konntest du nicht durchschlafen, weil du angerufen wurdest und zu Hausbesuchen unterwegs warst.«

Doktor Martin Engler schüttelte den Kopf.

»Karla, das, was ich herausgefunden habe, betrifft keine Erkrankung oder so. Es ist nur völlig überraschend. Ich kann nicht warten, bis die Ergebnisse aus dem Labor da sind. Ich packe die Proben ein und fahre zu Bertram ins Krankenhaus.«

Doktor Bertram Schüler war ein Studienkollege Martins und guter Freund.

»Tue, was du nicht lassen kannst, Martin. Wenn es dir hilft, dann musst du es tun. Kann ich etwas für dich tun?«

»Du tust alles für mich.«

»Ich liebe dich, Martin!«

»Und ich liebe dich!«

In der offenen Tür saß Mira, Martins Hündin. Sie gab Laut. Sie wusste, dass sie nicht ins Labor durfte und langweilte sich.

»Ich mache mit Mira noch eine Runde über die Felder, bevor es völlig dunkel wird, Martin. Sage Bertram, er soll uns mal wieder besuchen.«

»Das werde ich tun.«

Karla ging in den Wohntrakt des ehemaligen Schwanninger Hofs. Sie warf sich eine Strickjacke um die Schulter und griff nach Miras Leine. Dann verließ sie durch die Tür zum Garten das Haus. Martin packte die Blutproben in die Kühlbox und steckte die Unterlagen ein. Er rief seinen Freund an. Bertram war daheim. Er schilderte ihm kurz seine Beobachtung und bat ihn um Hilfe. Sie verabredeten sich im Krankenhaus.

Es war schon Mitternacht, als die beiden Freunde sich aus dem Automaten in der Cafeteria des Krankenhauses, einen Kaffee holten und sich an einen Tisch setzten. Zu dieser nächtlichen Stunde waren sie die einzigen Gäste.

»Martin, wir können die Tests die ganze Nacht wiederholen. Aber du weißt, und ich weiß es, wir werden immer das gleiche Ergebnis bekommen. Mei, Martin, ich verstehe, dass du dir Gedanken machst, aber es fällt nicht in deine Verantwortung. Der Befund ist ja nicht krankhaft.«

»Nur sehr selten! Außerdem passen die Blutgruppen der vier nicht zusammen. Du weißt, was das heißt, Bertram.«

»Sicher weiß ich das. Aber, ich sa­ge es noch einmal, es fällt nicht in deinen Aufgabenbereich.«

»Streng genommen nicht, Bertram. Aber ich bin Hausarzt und mir liegt das Wohlergehen meiner Patienten am Herzen.«

»Das versteht jeder, der Arzt ist. Aber es sind nicht deine Patienten, Martin. Niemand ist krank.«

»Richtig! Aber es könnte jemand krank werden. Nehmen wir einmal an, jemand hätte einen Unfall, bräuchte ein Spenderorgan oder Blut, dann käme es heraus und dann wäre die Situation gewiss dramatisch.«

»Ich verstehe, welches Szenario dir durch den Kopf geht. Der Himmel möge die vier davor bewahren.«

»Bertram, muss ich sie als Arzt, als ihr Hausarzt, nicht davor bewahren? Ist es nicht besser, jetzt mit ihnen zu sprechen? Sollten sie es nicht wissen? Ist es nicht ein Gebot der Fairness und der Mitmenschlichkeit, sie darauf aufmerksam zu machen? Sie wollen vielleicht die Gründe wissen, warum es so ist, wie es ist. Normal ist es jedenfalls nicht. Ich frage mich, was dahintersteckt.«

Die Freunde schauten sich an.

»Vielleicht kommen sie selbst darauf, Martin. Wenn du ihnen die Blutgruppenausweise aushändigst, dann können sie es lesen und dann fragen sie dich – vielleicht. Dann kannst du reden. Ich rate dir, warte erst einmal ab.«

»Bertram, ich denke nicht, dass sie fragen werden. Nur jemandem, der im medizinischen Bereich tätig ist, wird es auffallen.«

»Du kannst ihnen ja einen Hinweis geben. Sage etwas wie: ich bin über die unterschiedlichen Blutgruppen verwundert, wenn ihr mal Zeit habt, dann solltet ihr der Sache nachgehen. Du betonst, dass es nicht krankhaft sei. Dann wirst du sehen, wie sie reagieren. Vielleicht gibt es dafür eine einfache Erklärung?«

Martin trank den Rest seines Kaffees aus. Er stand auf.

»Danke, Bertram, danke, für alles! Ich fahre jetzt heim und lasse mir alles durch den Kopf gehen. Sicherlich ist es gut, wenn ich ruhig bleibe und erst einmal warte, bis sie in die Praxis kommen und die Blutgruppenausweise abholen.«

Bertram ging mit Martin zum Parkplatz neben dem Krankenhaus und wartete, bis er davonfuhr. Dann stieg er in seinen Wagen und fuhr ebenfalls heim. Er dachte nach und war froh, nicht in Martins Haut zu stecken. Er verstand, dass der Freund sich Gedanken machte. Auch wenn es kein Befund war, so konnte das Testergebnis möglicherweise eines Tages sehr bedeutend sein.

Es stellte sich die Frage, wo die Verantwortung eines Arztes anfing und wo sie endete?

Genau diese Frage beschäftigte Doktor Martin Engler auf dem Rückweg von Kirchwalden. Er hielt unterwegs an und stieg aus dem Auto. Die Sterne und der Mond standen über dem Tal. Die Berge zeichneten sich gegen den Nachthimmel ab. Nur das große Metallkreuz auf dem Gipfel des ›Engelsteigs‹ leuchtete im Mondlicht.

Martin lehnte lange an seinem Auto, die Hände in den Hosentaschen und schaute hinauf zum Gipfel. Dann stieg er ein und fuhr heim.

*

Die Patienten, die am nächsten Morgen zu Doktor Engler in die Praxis kamen, sahen, dass ihr Doktor in der Nacht wenig geschlafen hatte, das ließen die tiefen Ringe unter den Augen vermuten.

Martin war froh, als die Vormittagssprechstunde zu Ende war. Er machte schnell noch einige Hausbesuche.

»So, das wäre geschafft, Karla«, sagte er und setzte sich zu seiner Frau in die Küche.

Die alte Wally war aus ihrem Altenteil herübergekommen und betrachtete Martin.

Sie schätzte ihn wie einen eigenen Sohn, der ihr nicht vergönnt gewesen war. Deshalb hatte sie Martin den Hof übereignet.

»Martin, mein lieber Bub, du schaust net gut aus«, sagte sie leise. Ihre Stimme war fast zärtlich. »Deine Karla hat mir erzählt, dass es etwas gibt, was dir Kopfweh macht.«

»Des stimmt, Wally! Aber des muss ich wohl aushalten.«

Die alte Waltraud Schwanninger, die von allen nur Wally gerufen wurde, lächelte.

»Du bist zwar der Doktor, aber jetzt verordne ich dir mal etwas. Jetzt machst des, was du deinen Patienten oft raten tust. Du verordnest ihnen frische Luft und die Ruhe und Einsamkeit der Berge. Du packst jetzt deinen Rucksack und machst eine schöne Wanderung. Deine Karla und ich, wir halten die Stellung. Sollte jemand schwer krank werden, dann schicken wir ihn ins Krankenhaus.«

Martin wollte etwas einwenden. Aber Wally schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab.

»Martin, ich dulde jetzt keinen Widerspruch. Du brauchst wenigstens einen Tag Urlaub, besser zwei Tage. Die Welt wird nicht untergehen, wenn du mal ausspannst. Du bist völlig überarbeitet und da kann man nimmer denken und sieht nur noch Schwierigkeiten. Des weiß jeder. Du müsstest des am besten wissen. Aber naa, der Herr Doktor ist der absoluten Überzeugung, er sei Superman. So ein Schmarrn! Du musst jetzt ein bisserl an dich denken und auftanken. Man kann net immer nur geben und sich um andere sorgen. Wo soll die Kraft herkommen, wenn du nicht mit deinen Kräften haushalten tust? Wenn ich mich so verhalten würde, dann würdest du mich ins Bett tragen und dort festhalten, bis ich ausgeruht bin. Leider kann ich des mit dir net machen, deshalb gehst jetzt. Ich dulde keinen Widerspruch. Auf deine Karla tust net hören. Deshalb nehme ich jetzt des Zepter in die Hand.«

Martin warf seiner Frau einen Blick zu. Karla lächelte Martin an.

»Martin, wenn es für dich dann leichter ist, dann sieh es so: Erstens hast du dem Toni schon lange versprochen, ihn zu besuchen. Zweitens solltest du beim alten Alois mal wieder einen Hausbesuch machen. Du weißt doch, dass er den Sommer über nicht ins Tal kommt.«

Martin überlegte eine Weile und rieb sich das Kinn.

»Des stimmt, ich müsste mal nach dem alten Alois sehen. Aber wenn es etwas Dringendes gibt, dann rufst mich an, Karla, hörst du!«

Karla und Wally schmunzelten. Karla versprach Martin, ihn anzurufen.

»Deinen Rucksack habe ich schon gepackt. Nimmst die Mira mit?«

»Ja, ich werde die Mira mitnehmen. Der Bello wird sich freuen, wenn sie kommt, Basti und Franzi auch. Na ja, denn gehe ich sofort, bevor du mich hinauswirfst, Karla. Aber, dass du deinen lieben Mann so fortschickst, das ist nicht recht von dir.«

»Unsinn, jede Frau weiß, was für ihren Mann gut ist. Und du musst mal raus. Dich muss ich zu deinem Glück zwingen.«

»Willst nicht mit mir kommen? Die Wally ist bestimmt so lieb und macht Telefondienst.«

»Naa, des kommt nicht in Frage«, rief Wally. »Die Karla bleibt hier. Sie muss mir im Garten helfen. Außerdem ist es eine Zumutung von dir, den ganzen Tag mit so einem grüblerischen Gesicht herumzulaufen. Da wird ja die Milch vorzeitig sauer. Schau, dass du wieder in Ordnung kommst, Bub!«

»Mei, was bist du so grantig, Wally!«, beschwerte sich Martin.

»Ich kann noch viel grantiger werden, Martin, wenn du jetzt nicht verschwindest.«

Martin schmunzelte. Er stand auf, umarmte seine Karla.

»Ihr seid mir schon zwei verschworene Weiber«, schimpfte er im Spaß.

Aber im Grunde war es ihm ganz recht, sich einen oder zwei Tage in den Bergen herumzutreiben. Vielleicht kann ich Toni überreden, dass wir zusammen auf den Gipfel des ›Engelssteigs‹ klettern, überlegte er.

Mira saß erwartungsvoll neben Martins Rucksack. Die Hündin freute sich und war vor ihrem Herrchen beim Auto.

Doktor Martin Engler parkte auf der Wiese hinter der Almhütte der Oberländer Alm. Mira sprang aus dem Auto und rannte los. Als Martin kam, saß Mira brav vor Hilda und ließ sich von ihr mit Käsestückchen füttern.

»Grüß dich, Hilda!«

»Grüß Gott, Martin!«

»Was verwöhnst du die Mira wieder? Gib ihr bitte net so viel Käse.«

»Es wird sie net umbringen, Martin. Ich hab’ nix anderes für sie, keine Hundeleckerli. Von unserem Schinken will ich ihr nix geben, der ist viel zu salzig. Wie ist es mit dir, Martin, magst ein Glas frische Milch?«

»Da lehne ich net ab!«

Der alte Wenzel kam aus der Almhütte und brachte Martin ein großes Glas Milch. Sie begrüßten sich. Martin trank.

»Mei, schmeckt das gut! Wie geht es euch?«

»Wie immer, Martin! Wir halten uns tapfer. Gegen die Zipperlein des Alters kannst du auch nix machen. Am besten ist, man beachtet sie nicht«, sagte Hildegard Oberländer, die Hilda gerufen wurde. »An manchen Tagen spürt man es in den Knochen, wenn das Wetter umschlägt. Da schaffen wir ein bisserl langsamer. Solange wir noch so arbeiten können, sind wir zufrieden. Arbeit ist die beste Medizin, sagt man doch und es heißt auch, wer rastet der rostet. Wir fühlen uns ganz gut.«

»Des höre ich gern. Ihr wisst ja, dass ich immer für euch da bin.«

»Des wissen wir, Martin. Lieb von dir, dass du einen Hausbesuch machst.«

»Mei, ein richtiger Hausbesuch ist des net. Ich bin auf dem Weg zur Berghütte, will mal ein bisserl ausspannen.«

»Des muss auch mal sein, Martin. Bist ja Tag und Nacht auf den Beinen, wenn du gebraucht wirst. Ich habe gerade in den letzten Tagen viel an dich denken müssen. In der Zeitung haben sie geschrieben, dass es auf dem Land immer weniger Ärzte gibt. Was können wir froh sein, dass wir dich haben!«

»Ja, das ist schon ein Elend, dass die Kollegen keine Landarztpraxis mehr wollen. Dabei wissen sie nicht, was ihnen entgeht.«

»Des ist nur wegen dem Geld«, warf Wenzel ein. »›Geld regiert die Welt‹. Des ist so, und des war schon immer so.«

Doktor Martin Engler nickte.

»Des stimmt schon, Wenzel. Die Menschen rennen hinter dem Geld her wie der Teufel hinter einer armen Seele und vergessen dabei alles, bis es zu spät ist. Aber daran können du und ich nix ändern. Aber darüber will ich mich jetzt nicht auslassen. Ich mache, dass ich weiterkomme.«

Martin trank seine Milch aus. Er schulterte den Rucksack und verabschiedete sich. Mira lief den Pfad voraus, der hinauf zur Berghütte führt. Martin sah sie bald nicht mehr.

»Da bist du ja, Martin! Deine Mira war schneller«, begrüßte ihn Toni.

»Grüß Gott, dass die Mira schneller ist, wundert mich net. Sie hat vier Pfoten und ich nur zwei Füße und einen sehr schweren Rucksack. Weiß der Kuckuck, was mir die Karla und die Wally da alles hineingepackt haben.«

Toni grinste über das ganze Gesicht.

»Scheinst ja gleich von zwei Weibern verwöhnt zu werden, die dir alles machen, sogar deinen Rucksack packen oder soll ich sagen, dass sie dich ein bisserl bevormunden?«

»Ganz so schlimm ist es nicht, gelegentlich darf ich noch selbst entscheiden«, antwortete Martin lachend. »Außerdem, gib es zu, es gibt doch nichts Schöneres als ein Madl daheim, des dich verwöhnt.«

Martin seufzte. Toni beäugte ihn kritisch.

»Hast was? Siehst net gerade begeistert aus. Dir ist doch eine Laus über die Leber gelaufen, wie?«

»Weißt, Toni, dass Karla so eine gute und liebe Ehefrau ist, ist gut. Aber ein bisserl bevormundet sie mich manchmal schon. Es kommt mir vor, als könnte ich nix mehr entscheiden. Und wenn sich die Karla mit der Wally zusammentut, dann stehe ich ohnehin auf verlorenem Posten.«

»Da hast dir gedacht, ich besuche meinen Freund Toni und rede mit ihm über alte Zeiten.«

»Ganz so war es nicht. Die Karla hat mich dazu richtig gedrängt, fast könnte man sagen, sie hat mich rausgeworfen. Du, mein Rucksack war schon gepackt gewesen.«

»Mei, bei dir daheim müssen ja Sitten herrschen!«, bemerkte Toni. »Stehst unterm Pantoffel? Mei, jetzt komm mit rein! Wir trinken ein Bier zusammen. Im Augenblick ist es ein bisserl ruhig.«

Toni brachte Martins Rucksack ins Wohnzimmer, weil alle Kammern belegt waren und er dem Freund nicht zumuten wollte, auf dem Matratzenlager auf dem Hüttenboden zu nächtigen.

Toni zapfte zwei Bier. Sie setzten sich an den Kamin. Der alte Alois kam und setzte sich dazu.

Sie prosteten sich zu.

Der alte Alois musterte Martin, den er kannte, seit er ein kleiner Bub war.

»Schaust net gut aus, Martin. Also, wenn du selbst kein Doktor wärst, dann würde ich dir raten, zu einem zu gehen.«

Martin schmunzelte.

»Wie geht es dir, Alois?«

»Gut geht es mir. Lenk net ab, Martin. Du hast ja Ringe unter den Augen.«

Martin trank einen Schluck Bier. Er wischte sich den Schaum von der Oberlippe.

»Ich habe heute Nacht kaum geschlafen. Bis nach Mitternacht war ich im Krankenhaus in Kirchwalden und danach hab’ ich mich nur unruhig im Bett herumgewälzt.«

»Wen hast eingeliefert?«, fragte Toni.

»Niemand, ich war mit Bertram im Labor. Du kennst Bertram, er war mein Trauzeuge.«

Toni nickte.

Martin trank wieder einen Schluck Bier. Er lehnte sich auf dem Schaukelstuhl zurück und schloss für einen Augenblick die Augen.

»Toni, Alois! Ich bin da auf etwas gestoßen, was mir Kopfschmerzen verursacht. Es war Zufall. Es ist auch nix Schlimmes. Ich meine, es ist keine ernsthafte Krankheit, ja, noch net einmal eine Krankheit.«

»Und was beunruhigt dich dann an der Sache?«, fragte Toni.

Martin rieb sich das Kinn. Er trank wieder einen Schluck Bier.

»Ich bin hin- und hergerissen, ob ich den Betroffenen davon erzählen soll. Es könnte ja sein, dass sie in ihrem Leben mal in eine Situation kommen, in denen es ein schwerer Schock für sie werden könnte.«

Martin seufzte.

»Wenn nichts passiert, dann erfahren sie es nie. Wenn aber etwas geschieht, dann müssen sie es wissen.«

Martin trank wieder einen Schluck Bier.

»Karla meinte, ich sollte ein oder zwei Tage in die Berge gehen und in Ruhe darüber nachdenken. Es ist eben die Frage, ob ich etwas sage oder nicht.«

»Was sagt der Bertram? Er kann dir als Kollege bestimmt besser raten?«

»Mei, der Bertram ist ein lieber Bursche und ein echter Freund. Aber er arbeitet im Krankenhaus. Er behandelt, was zu behandeln ist. Er ist eben kein Hausarzt, so wie ich, der die Leut’ alle näher kennt.«

Der alte Alois stand auf.

Er holte eine Flasche von seinem selbstgebrannten Obstler und schenkte ein.

»Hier, trink einen Schluck, Martin! Der wird dir gut tun.«

Sie prosteten sich zu und tranken.

»Magst noch einen Obstler?«, fragte der alte Alois.

Martin lehnte dankend ab.

»Aber mit euch reden würde ich gerne, natürlich ohne Namen zu nennen.«

Toni und der alte Alois nickten ihm zu. Martin senkte die Stimme. Er sprach leise, als er erzählte.

»Es geht um die Stammzellenspende. Ihr wisst schon, der Aufruf in der Zeitung. Die meisten meiner Patienten haben sich von mir Blut abnehmen lassen. Ganze Familien sind zusammen in die Praxis gekommen.«

»Des ist doch schön, dass die Waldkogeler helfen wollen«, sagte Toni.

Martin nickte. Er deutete auf die Flasche mit dem Obstler. Der alte Alois schenkte Martin noch einmal das Glas voll. Er trank.

»Also, ich will euch jetzt etwas sagen, ohne Namen zu nennen. Es gibt in Waldkogel eine Familie, Eltern und zwei Kinder. Der Bub ist der Erstgeborene und das Madl ist ein Jahr jünger.«

Martin atmete tief durch. Toni und Alois sahen ihm an, wie viel Überwindung es ihn kostete, darüber zu sprechen. Aber auf der anderen Seite wussten sie beide, dass es Dinge gibt, die werden klarer, wenn man sie Dritten erzählt, einfach, weil man den Sachverhalt objektiv berichten muss.

»Blutgruppen sagen etwas über die Verwandtschaft von Menschen aus. In dem Fall ist das so, dass die sowohl Eltern, als auch die beiden inzwischen erwachsenen Kinder so unterschiedliche Blutgruppen haben, dass nichts passt. Wisst ihr, die verschiedenen Blutgruppen treten in unterschiedlicher Häufigkeit auf. Zwei der meistverbreiteten Blutgruppen machen fast neunzig Prozent aus. Der Rest, die zehn Prozent, fallen auf seltenere Blutgruppen. Doch auch unter diesen zehn Prozent gibt es Blutgruppen, die auf mehr Menschen zutreffen und andere Blutgruppen, die nur ganz wenige Menschen haben. Sagen wir mal, rein theoretisch, um euch eine Zahl zu nennen. Nur ein Prozent aller Menschen in Deutschland besitzt die Blutgruppe Null negativ. Das sind mal gerade achthunderttausend Einwohner. Die Blutgruppe B macht ungefähr fünf Prozent aus, was etwas über drei Millionen Menschen betrifft.«

Toni und der alte Alois lauschten angespannt.

»Jedenfalls gab es bisher in Waldkogel niemanden, jedenfalls niemand von dem ich wüsste, dass er unter diese Minderheit fällt.«

»Welche Blutgruppen-Minderheit?«, fragte Toni nach.

»Beide, die der Gruppe Null und die andere Gruppe, mit den fünf Prozent. Dass ihr mich richtig versteht, als ich das Ergebnis sah, war ich natürlich erstaunt und suchte die Karteikarten der Eltern heraus. Damit wurde die Sache aber nicht klarer, sondern unklarer.«

Toni sah Martin ernst an.

»Des heißt doch, dass die …, ich will es mal vorsichtig ausdrücken, dass die Verwandtschaftsbeziehung in der Familie net so ist, wie man es allgemein annimmt, Martin?«

»Ja, so ist es. Ich weiß nicht, ob das in der Familie bekannt ist. Jedenfalls macht mir das Sorgen. Nehmen wir mal an, es passiert etwas und Vater oder Mutter wollen für die Kinder Blut oder sogar ein Organ spenden oder umgekehrt. Dann kommt heraus, dass das unmöglich ist. Also, das wird ein Schock für sie. Bei einer solchen Nachricht wird sich jeder fühlen, als ziehe ihm jemand den Boden unter den Füßen fort.«

»Vielleicht sind die Kinder angenommen, wie bei uns. Wir haben Franzi und Basti adoptiert«, sagte Toni.

»Ihr geht damit aber offen um. Bei dieser Familie ist es nicht so, denke ich mir. Ich konnte jedenfalls auch in den Krankenakten meines Vorgängers keinen Hinweis finden.«

Martin ließ sich vom Alois noch einen Obstler einschenken und trank.

Martin erzählte, dass er sehr beunruhigt war und eine Fehlerquelle vermutete. Er hatte nicht auf die Labor­ergebnisse warten wollen und deshalb selbst mit Bertram Untersuchungen durchgeführt.

»Aber das Ergebnis ist eindeutig. Jetzt frage ich mich, ob ich etwas sagen soll. Soll ich mit der Familie reden? Ich könnte mit allen allein sprechen, zuerst mit der Mutter, dann mit dem Vater und danach mit den Kindern. Aber ich kann dadurch womöglich auch eine Familie zerstören. Anders gesehen, ist es vielleicht besser, dass sie es so erfahren und nicht erst in einer Krisensituation. Es heißt zwar, dass Blut dicker sei als Wasser. Ihr wisst, was damit gemeint ist. Aber bei dir, Toni und Anna und Basti und Franzi, denkt man, dass das Wasser genauso dick wie Blut ist.«

»Du meinst, die wissen nichts?«

»Davon bin ich überzeugt. Sie hätten bestimmt Angst gehabt, dass es ans Tageslicht kommt«, sagte Martin.

Toni überlegte.

»Es kann auch sein, dass sie es wissen und sich nichts daraus machen. Welche Gründe es auch gibt für diese mögliche Patchwork-Familie, vielleicht sind sie sich einig. Wer weiß?«

Der alte Alois schenkte sich jetzt auch einen weiteren Obstler ein.

»Ich verstehe dich, Martin. Da ist guter Rat teuer. Ich kann verstehen, dass du an die ärztliche Schweigepflicht gebunden bist und deshalb nicht deutlicher werden kannst. Selbst wenn du es tätest, könnte ich dir nicht sagen, ob ich dir helfen kann. Es gibt viele Geschichten, die alle kennen. Jeder weiß es, aber man redet net drüber. Da wird der Mantel des Schweigens drübergelegt.«

Martin sah den alten Alois an.

»Du meinst, es könnte sein, dass ein Kind untergeschoben wurde? Früher kam das schon einmal vor.«

»Das meine ich, Martin. Aber eines sage ich dir, des war net immer so, dass der Bauer nix davon wusste. Es musste ein Erbe her, so war das damals. Die Medizin war noch nicht so weit wie heute. Da behalf man sich eben auf andere Weise. Da wurden beide Augen zugedrückt. Ich könnte dir einige Namen nennen. Aber die alte Ella Waldner, die weiß da noch besser Bescheid. Sie kennt viele Geschichten. Ihr haben sich viele anvertraut, da bin ich mir sicher. Es gab junge Madln mit Kindl und auch die Ehefrauen, die einfach net schwanger wurden und verzweifelt waren. Es ging häufig um den lang ersehnten Hoferben. Aber manchmal lagen ja auch die Probleme beim Mann.«

Toni und Martin nickten.

»Also, am besten du redest mal mit der alten Ella, Martin. Sie wird dir schon den richtigen Rat geben oder kann mit den Betroffenen reden, falls es nötig ist. Die Ella weiß mehr als du glaubst. Jedes Geheimnis ist bei ihr gut aufgehoben.«

Der alte Alois schlug sich mit den Händen auf die Oberschenkel.

»So, und jetzt genieß deine Zeit hier und entspannst dich. Sag mal, was gibt es sonst Neues zu erzählen? Hast net ein bisserl Klatsch und Tratsch?«

Martin schmunzelte, er tat als überlegte er.

»Der Frank Seidler macht endlich mal wieder Urlaub daheim. Seine Schwester Heidi ist vor Freude ganz aus dem Häusl. Als Kind waren die Geschwister ja unzertrennlich.«

»Der Frank arbeitet doch in Wien«, sagte Toni. »Er ging schon vor langer Zeit nach Österreich.«

»Schon vor vielen Jahren, Toni!«, sagte Martin. »Damals hat es seiner Mutter fast das Herz gebrochen. Die Resi hatte über Monate Herzrhythmusstörungen. Ich erinnere mich genau. Es war damals, als ich die Praxis übernommen habe. Sie litt sehr darunter, dass ihr Bub in die Fremde gegangen ist. Und die Heidi wäre beinahe durch das Abitur gefallen, so schwer traf sie der Verlust ihres Bruders. Die beiden hingen eben eng zusammen.«

»Wie schaut der Frank aus? Hast du ihn schon gesehen? Geht es ihm gut?«

»Gut schaut er aus, Alois. Er war mit der Heidi in der Praxis und hat sich auch Blut abnehmen lassen. Er hatte keine andere Wahl, die Heidi hat ihn ganz schön traktiert«, lachte Martin. »Mich wunderte es, dass er es sich so von ihr gefallen ließ.«

Der alte Alois warf Martin einen sonderbaren Blick zu. Plötzlich kam Martin ein Verdacht. Er behielt ihn aber für sich. Stattdessen trank er sein Bier aus und stand auf.

»Toni, ich muss noch mal runter nach Waldkogel. Ich komme wieder, aber es kann spät werden. Meinen Rucksack lasse ich hier.«

Toni schaute Martin überrascht an.

»Muss ich des jetzt verstehen?«

»Na, des musst du net, Toni. Lass den Martin gehen«, sagte der alte Alois. Er stand auf und klopfte Martin auf die Schulter. »Du wirst die Sache schon klären. Und falls du den Frank siehst, dann richte ihm aus, dass ich mich über einen Besuch von ihm freuen würde.«

»Wir machen morgen Abend einen Hüttenabend«, sagte Toni. »Überbringe auch meine herzliche Ein­ladung. Seine Schwester, die Heidi, lässt keinen Hüttenabend mit Tanz auf der Berghütte aus, aber der Frank kam nie, auch schon damals nicht, als er noch in Waldkogel war.«

»Sag ihm, dass ich net weiß, wie lange ich noch lebe. Ich hoffe zwar, der Herrgott kann noch eine Weile auf mich verzichten. Aber wissen kann des ja keiner. Sage ihm, dass ich ihn gern noch mal gesehen hätte«, sagte der alte Alois mit Nachdruck.

Dann stand er auf und ging in sein Zimmer. Toni schaute ihm nach.

»Manchmal ist der Alois ein bisserl sonderbar, Martin. Anna und ich, wir machen uns Sorgen. Er redet uns gelegentlich zu viel vom Herrgott und der Zeit, die er noch hat.«

»Der Alois ist zwar abgearbeitet, von den Knochen her, aber er hat ein gesundes, starkes Herz. Mach dir keine Sorgen, Toni! Weißt, die alten Leute, die reden gern von ihrem Ableben. Damit setzen sie die Jungen unter Druck oder versuchen es wenigstens. Des ist ein Spiel, wenn auch gelegentlich ein sehr fieses Spiel. Sie versuchen sich damit in den Mittelpunkt zu stellen und wollen Aufmerksamkeit und ihren Willen durchsetzen. Wer weiß, was für Spielchen wir machen werden, wenn wir mal alt sind, Toni?«

»Wahrscheinlich hast du recht, Martin«, sagte Toni leise.

*

Martin fuhr bis ans Ende des Waldweges. Jetzt musste er zu Fuß weiter. Er stieg aus und öffnete die Heckklappe seines Geländewagens, Mira sprang heraus.

»Na, lauf schon! Du kennst den Weg!«

Mira wedelte kurz, dann raste sie los, den kleinen Waldpfad entlang.

Martin steckte die Hände in die Hosentasche seiner Leinenhose und schlenderte den Pfad entlang. Er genoss das Plätschern des kleinen Baches. Es roch nach Tannen und feuchtem Moos. Trockene Zweige und Zapfen knackten unter seinen Füßen. Kindheitserinnerungen stiegen in ihm auf.

Als er bei Ella Waldner ankam, saß Mira neben Ella vor dem Haus und ließ sich kraulen.

»Da bist du ja, Martin! Hast dir Zeit gelassen! Setz dich!«

»Grüß Gott, Ella!«

Ella Waldner nickte Martin zu und schenkte ihm kalten Kräutertee ein.

»Was bringt dich zu mir, so spät am Abend? Wolltest mal sehen, wie es mir geht?«

Sie schaute ihn an und schmunzelte.

»Also, wenn ich dich so ansehe, dann kommt es mir fast so vor, als sei ich noch besser beisammen als du, Martin. Machst keinen guten Eindruck. So bist du ein elendes Aushängeschild für die gesamte medizinische Zunft. Brauchst ein Kraut von mir?«

»Ach, Ella, was soll ich dir vormachen. Mir geht es wirklich net gut. Ich bin net krank, mir bereitet nur etwas ziemliches Kopfzerbrechen. Ich denke, dagegen hast du auch kein Kraut.«

»Ja, ja, es gibt eben Sachen, gegen die ist kein Kraut gewachsen.«

Martin trank einen Schluck.

»Ich weiß auch net, warum mich die Angelegenheit so beschäftigt. Sie wirft mich aus der Bahn. Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Es ist nix passiert, noch net, Ella. Aber was wird, wenn etwas passiert und es dann herauskommt? Weißt, während des Medizinstudiums wird man mit Fakten vollgestopft. Da kommt man sich vor wie eine Gans, die gemästet wird. Aber es gibt Situationen, wenn die dann in der Praxis auf einen zukommen, dann steht man da wie der Ochs vor dem Berg.«

»So hab’ ich dich noch nie jammern gehört, Martin. Dir muss ja etwas ganz schön schwer auf der Seele liegen.«

»Das tut es, Ella, das tut es!«

Martin trank das Glas kalten Kräutertee aus. Ella schenkte ihm nach.

»Weißt, Ella, manchmal ist es sehr schwer, etwas zu beurteilen. Der Mensch besteht net nur aus dem was in seiner Akte steht. Alles, was er erlebt, was ihm passiert, hat Einfluss. Wenn ich jemanden untersuche, dann bin ich immer froh, wenn ich viel über ihn weiß. Aber ich weiß eben net alles. So kommt es vor, dass ich nur raten kann, was hinter einer Krankheit steckt. In dem Fall, der mich so beschäftigt, ist es keine Krankheit, sondern eine Auffälligkeit. Aber sie raubt mir den Schlaf. Es könnte für die Betroffenen eines Tages wichtig sein, falls mal jemand in der Familie krank wird und, sagen wir mal, eine Organspende bräuchte oder so. Möge der Himmel sie davor bewahren! Aber ich mache mir eben so meine Gedanken.«

»Dass du ein gewissenhafter Doktor bist, der sich so gut um die Leut’ kümmert, das spricht für dich. Aber du bist net der Herrgott, auch wenn man über Ärzte sagt, sie wären Götter in Weiß.«

Martin rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her.

»Mei, Martin, jetzt schleich net wie die Katze um den heißen Brei. Du wolltest doch mit mir reden, oder? Wenn du etwas wissen willst, dann musst fragen.«

Martin streichelte Mira und dachte nach.

»Ella, wie kann es sein, dass es in Waldkogel eine Familie gibt, die untereinander net verwandt ist? Die Kinder haben solch seltene Blutgruppen. Sie können net die Kinder des Paares sein. Dazu kommt, dass die Geschwister auch noch unterschiedliche Blutgruppen haben, so dass rein gar nichts zusammenpasst. Aber so weit ich weiß, sind es auch keine Adoptivkinder. Jedenfalls beschäftigt mich das. Die Geschwister waren bei mir in der Praxis und haben sich Blut abnehmen lassen, weil sie sich testen lassen wollten, ob sie dem an Leukämie erkrankten kleinen Madl helfen können. Du weißt schon.«

Ella Waldner nickte.

»Dabei bin ich eben draufgestoßen. Ich frage mich, ob sie es wissen. Sie verstehen sich mehr als gut. So herzliche Geschwisterliebe findet man selten. Es wäre ein Schock, wenn sie eines Tages erfahren, dass sie keine Geschwister sind, höchstens Halbgeschwister, aber auch das halte ich eigentlich für unmöglich. Die Blutgruppen sind so selten und passen auch net richtig zu den Blutgruppen der Eltern. Wie soll ich es dir nur erklären?«

»Ich verstehe dich schon, Martin. Du kannst ja auch net die Schwei­gepflicht verletzen. Aber vielleicht kann ich dir helfen. Ich werde dir jetzt einmal etwas erzählen, so ganz allgemein.«

Ella Waldner strich die Schürze glatt.

»Du irrst dich, wenn du denkst, es ginge immer so gradlinig mit den Höfen vom Vater auf den Sohn und dann auf den Enkel über. Die Höfe waren immer wichtiger als die Menschen, denn früher ernährten nur die Höfe die Leut’. Also musste es immer weitergehen. Der älteste Bub erbte. Er ging damit die Verpflichtung ein, für seine alten Eltern zu sorgen und für eine weitere Generation. Wenn es keinen Buben gab, dann wurde sehr darauf geachtet, wer des Madl heiratet. Auch hier ging es nur ums Zupacken und darum, dass Kinder kamen. Zum Glück ist das heute besser. Der Druck ist nimmer so stark. Auch in der Medizin wurden Fortschritte gemacht. Heute kann man nachhelfen, wenn sich kein Nachwuchs einstellt. Früher machte man das anders. Ich will deutlich werden. Wenn man dachte, dass der Hoferbe keine Kinder zeugen kann, dann war des eine Schande. Man suchte eine junge Frau, ein lediges Madl, des in anderen Umständen war und die wurde dann Jungbäuerin. Des war gut für beide Seiten. Du verstehst. Es ist noch gar net so lange her, dass des so gemacht wurde. Ich weiß das von einigen Familien, da war des so.«

Ella Waldner schaute Martin in die Augen. Dieser nickte. Er verstand.

»Aber wenn es mehrere Kinder gab?«

Ella Waldner zuckte mit den Achseln.

»Über solche Sachen wurde geschwiegen, Martin«, sagte sie leise. »Ich bin froh, dass wir heute in modernen Zeiten leben, in denen offen mit Zeugung und Geburt umgegangen wird. Da wird viel Leid verhindert.«

»In dem Fall, der mir im Kopf herumgeht, ist alles rätselhaft«, sagte Martin. »Die Sache ist so, dass sie auch keine Halbgeschwister sein können. Sie müssen verschiedene Väter haben und der Vater in der Familie kann net der leibliche Vater sein. Es ist sogar wahrscheinlich, dass sie nicht einmal die gleiche Mutter haben.«

Ella Waldner schmunzelte.

»Du drückst dich sehr vorsichtig aus, Martin. Aber die Botschaft ist bei mir angekommen. Jetzt fragst du dich, was du machen sollst? Sagst du nichts, dann kann es eines Tages ein böses Erwachen geben. Sagst du etwas, wirst du den Familienfrieden stören.«

Martin nickte.

Ella Waldner lächelte.

»Martin, es gibt noch eine weitere Möglichkeit.«

Martin sah Ella mit großen verwunderten Augen an. Sie schmunzelte und schwieg einen Augenblick. Dann brachte sie Martin mit vorsichtigen Worten nahe, dass es sein könnte, dass die Geschwister etwas ahnten und seine Offenheit möglicherweise eine Erlösung wäre.

»Du denkst dabei an eine ganz bestimmte Familie, Ella? Du weißt doch alles, jedenfalls viel mehr als ich, richtig?«

Sie nickte. Dann ging sie ins Haus und holte einen weiteren Krug mit Kräutertee.

Martin schwieg eine Weile. Mira saß neben ihm. Ihr Kopf ruhte auf seinem Oberschenkel. Er streichelte sie.

»Ella, du hast mir eine Menge Denk­anstöße gegeben. Ich danke dir. Ich werde mir die Sache in Ruhe durch den Kopf gehen lassen und überlegen, was ich mache, vor allem, wie ich es mache. Ich muss die Worte sorgfältig abwägen.«

»Das musst du! Du kannst dir ja auch Hilfe holen, Martin. Sprich mit Pfarrer Zandler. Vielleicht kann er dabei sein, wenn du die Sache ansprichst.«

»Gute Idee! Du hast mir wirklich sehr geholfen, Ella.«

»Du klammerst dich an die Möglichkeit, dass du etwas dazu beitragen kannst, dass eine merkwürdige Ahnung, die zwei Menschen tief in ihrem Herzen beschäftigt, vielmehr ein unerklärliche Sehnsucht, die sie befallen hat…, dass sie dafür endlich eine Erklärung haben und sich alles zum Guten wendet, richtig?«

»Ja!«, sagte Martin leise und fügte hinzu. »Ich danke dir für das offene Gespräch, auch wenn wir beide nicht deutlicher werden konnten. Kann ich etwas für dich tun?«

»Das kannst du. Warte!«

Ella ging ins Haus und kam mit zwei Gläsern voll Marmelade heraus und einem Löffel.

»Hier, das Glas ist für dich. Mach es auf und koste!«

Doktor Martin Engler nahm einen Löffel davon und rollte die Augen.

»Mei, das ist eine wirkliche Delikatesse! Danke! Was ist da drin?«

»Waldheidelbeeren, Walderdbeeren und zum Abschmecken koche ich einige Kräuter mit.«

Ella Waldner schob das zweite Schraubglas über den Tisch.

»Kannst du das Glas ausliefern, wenn du auf deiner Tour, wenn du Hausbesuche machst, in die Nähe kommst? Dieses Glas ist für Frank Seidler. Gib es seiner Mutter, der Resi. Sie schickt dem Buben jeden Monat ein Paket. Leider ist er so weit fort. Der Frank hat mir schon als kleiner Bub geholfen, diese Marmelade zu kochen. Er hatte mir immer die Beeren im Wald gesucht.«

»Der Frank macht Urlaub in Waldkogel«, sagte Martin. »Er war mit seiner Schwester bei mir in der Praxis zum Blutabnehmen.«

Sie schauten sich an und verstanden sich.

»Des ist gut«, sagte Ella Waldner knapp.

Sie griff nach dem Glas und stellte es ans andere Tischende.

»Dann kannst ihm ausrichten, dass er sich seine Marmelade selbst abholen soll. Hast des verstanden, Martin?«

Sie schauten sich ernst an.

»Ich habe dich genau verstanden, Ella!«

»Dann ist es ja gut. Jetzt machst dich wieder auf den Heimweg und schaust zu, dass der Frank mich bald besucht. Hörst du?«

»Ja, das mache ich. Danke für die Marmelade!«

Martin verabschiedete sich. Ella blieb noch eine Weile vor ihrer Kate im Wald sitzen und dachte nach.

Doktor Martin Engler ging zu seinem Auto. Er ließ Mira einsteigen und fuhr heim.

Karla kam aus dem Haus, als sie den Wagen hörte. Drüben auf dem Altenteil ging die Tür auf und die alte Wally kam heraus. Beide Frauen stemmten die Hände in die Seite und schauten ihn überrascht an.

»Was tust du schon wieder hier?«, rief die alte Wally.

»Du warst nicht auf der Berghütte, oder?«, fragte Karla, als Martin an ihr vorbeiging.

Er gab ihr einen schnellen Kuss.

»Doch, das war ich. Alles bestens! Ich verschwinde auch wieder. Ich brauche nur noch eine Telefonnummer, dann bin ich auch schon wieder fort.«

»Warum hast du nicht angerufen? Ich hätte sie dir doch herausgesucht«, bemerkte Karla. »Wozu hast du mich denn?«

»Zum Lieben!«, lachte Martin. »Auf dem Beifahrersitz liegt ein Glas Marmelade. Kannst du es holen?«

Martin eilte in sein Behandlungszimmer und notierte sich Franks Handynummer. Er steckte den Zettel ein und ging zu Karla in die Küche. Sie kostete die Marmelade.

»Mei, schmeckt die gut! Wo hast du sie her?«

»Die ist von der Ella Waldner. Das ist eine längere Geschichte. Ella will jemanden sprechen. Deshalb muss ich dort anrufen.«

»Soso!«

»Ja, soso!« Martin grinste. »Und das war es jetzt! Ich muss jetzt gehen. Toni wartet auf mich. Ich will ihn überreden, dass wir morgen zusammen auf den Gipfel des ›Engelssteigs‹ klettern. Pfüat di, Karla!«

Er nahm sie fest in den Arm und küsste sie. Dann stieg er wieder ins Auto. Mira blieb neben Karla stehen. Martin fuhr ohne seine Hündin los.

*

Es war früh am Morgen, kurz nach sechs Uhr, als Franks Handy klingelte. Er war sofort hellwach.

»Seidler!«, meldete er sich.

»Grüß Gott, Frank. Ich bin es, der Martin. Wenn ich dich geweckt habe, dann entschuldige bitte. Ich bin auf der Berghütte und will mit Toni wandern gehen. Ich dachte, ich rufe dich an, bevor wir losgehen. Es gibt so viele Funklöcher in den Bergen.«

»Was gibt es?«, fragte Frank.

Martin hörte die Verwunderung über seinen Anruf heraus.

»Beruhige dich, es ist nix Schlimmes. Ich muss dir nur zwei wichtige Einladungen überbringen. Erstens macht der Toni einen Hüttenabend, und der alte Alois erwartet, dass du kommst.«

»Ich gehe nie zu einem Hüttenabend«, war Franks prompte Antwort. Sie klang sehr barsch und Martin hörte heraus, dass Frank ärgerlich war. Er ließ sich aber davon nicht beeindrucken.

»Schmarrn! Dieses Mal gehst du! Sonst komme ich, setze dich unter Narkose und schleppe dich hinauf«, drohte Martin scherzhaft. »Darüber gibt es keine Diskussion. Der Alois ist ein alter Mann und wer weiß…, du weißt schon, wie ich das meine. Ich habe ihm erzählt, dass du Urlaub machst. Er will dich sehen. Basta!«

Frank brummte einen Fluch in den Hörer, den Martin nicht genau verstand. Dann fragte er grimmig:

»Was noch? Du hast von zwei Nachrichten gesprochen.«

»Ja! Die zweite Einladung ist von der Ella Waldner. Ich war bei ihr. Sie wollte mir Marmelade mitgeben. Als sie aber hörte, dass du hier bist, weigerte sie sich. Du sollst dir das Glas selbst bei ihr abholen. Ich glaube, sie erwartet dich schon heute. Ich denke, da ist noch etwas anderes, was sie mit dir bereden will, Frank. Aber du kennst ja die Ella. Sie ist sehr diskret.«

»Ja, das ist sie. Danke, Martin! Ich wollte die Ella ohnehin die Tage besuchen. Dann gehe ich schon heute.«

»Was ist mit dem Hüttenabend? Ich bin auch dort. Du kommst, das musst du mir versprechen.«

»Mei, Martin, steckt da wirklich der alte Alois dahinter oder lag dir Heidi in den Ohren?«

»Wieso die Heidi?«

»Weil sie auch schon versucht hat, mich zu überreden. Sie lässt kein Hüttenfest mit Tanz aus.«

»Naa, Heidi steckt nicht dahinter. Warum willst net gehen? Die Heidi wird traurig sein, dass nicht mitkommst.«

»Daran kann ich nix ändern.«

»Der alte Alois spielt auf und es kann getanzt werden. Magst net gern das Tanzbein schwingen?«

»Doch schon, nur net so.«

»Himmelherrschaftszeiten, Frank, aus dir wird man net schlau. Fast könnte ich denken, die Madln hier in Waldkogel sind dir net gut genug. Vielleicht hast in Wien deine Ansprüche hochgeschraubt.«

»Des kommt fast einer Beleidigung gleich, Martin.«

»Naa, des ist keine Beleidigung. Ich verstehe dich nur net, dass du dich so zierst. Die Heidi hängt an dir. Weißt du eigentlich, wie sehr das Madl damals gelitten hast, als du fortgingst?«

»Mei, was hätte ich machen sollen, Martin? Die Heidi ist eben so. Sie hängt wie eine Klette an mir. Des ist net gut.«

Der letzte Satz war Frank so herausgerutscht. Selbst durch das Telefon erkannte Martin, dass da mehr dahintersteckte. Er sah ein, dass es besser war, das Gespräch zu beenden.

»Also, ich habe meine Mission erfüllt, Frank. Ich gehe jetzt wandern. Pfüat di!«

»Pfüat di, Martin!«

Doktor Martin Engler räusperte sich.

»Gibt es noch etwas?«, fragte Frank.

»Ja schon, aber das hat Zeit. Ich hätte dich gerne mal unter vier Augen gesprochen, bevor du wieder nach Wien zurückfährst. Ich möchte etwas von Mann zu Mann mit dir bereden. Vielleicht können wir mal zusammen in einen Biergarten in Kirchwalden gehen und in Ruhe reden?«

»Klingt, als hättest du Probleme. Ich weiß zwar nicht, wie ich dir helfen könnte, aber gut. Für wann wollen wir uns verabreden?«

»Wir telefonieren. Jetzt muss ich Schluss machen. Der Toni wartet.«

»Ich wünsche dir einen schönen Tag!«

»Dir auch und grüß mir die Ella. Sag ihr, die Karla ist von ihrer Marmelade begeistert und will das Rezept.«

Sie legten auf.

Frank ließ sich wieder in die Kissen sinken. Sein Herz klopfte. Er ärgerte sich, dass ihm so ein verbaler Ausrutscher passiert war. Aber es war nicht zu ändern. Geschehenes konnte man nicht ungeschehen machen. Frank nahm sich vor, auf der Hut zu sein. Angst kroch in ihm hoch. Er stand auf. Er beschloss, Ella Waldner zu besuchen und dann vielleicht doch vorzeitig seinen Urlaub zu beenden. Frank zog sich an und verließ leise sein Elternhaus. Er stieg in sein Auto und fuhr los.

Als er die kleine Kate im Wald erreichte, saß Ella Waldner vor dem Haus und frühstückte. Als sie Frank sah, stand sie auf und ging ihm entgegen.

»Da bist du ja«, sagte sie leise und schloss ihn in die Arme.

Sie nahm seine Hand und zog ihn hinter sich her. Frank schmunzelte.

»So, jetzt setzt dich hin! Sicherlich hattest du noch kein Frühstück.«

Ella wartete Franks Antwort nicht ab. Sie ging ins Haus, holte ein kleines hölzernes Frühstücksbrettchen und einen Emailbecher. Sie schenkte ihm Kaffee ein.

»Greif zu!«

»Danke«, sagte Frank und lächelte sie an.

»Dann hat dich der Martin gestern Abend noch erreicht?«

»Naa, er hat heute Morgen angerufen und mich aus dem Schlaf geholt.«

»Hauptsache, du bist hier! Jetzt erzähle einmal. Wie geht es dir?«

»Gut geht es mir«, sagte er leise.

»Bub, lüg mich net an!«, schimpfte Ella.

»Wie kommst du darauf?«

»Weil ich dir ansehen kann, dass du dich über etwa geärgert hast. Außerdem kenne ich dich. Es wird schon seine Gründe habe, dass du gleich nach Martins Anruf los bist.«

»Ich habe mich gestern Abend noch spät mit Heidi gestritten. Der Toni macht einen Hüttenabend, so ein richtiges Hüttenfest. Heidi will, dass ich sie begleite. Mir war der Anruf vom Martin ganz gelegen gekommen, auch wenn er mich aus dem Schlaf geholt hat. Ich bin gleich los und gehe somit der Heidi aus dem Weg. Ich muss erst meine innere Ruhe wieder finden, wenn das mir überhaupt gelingt.«

»Warum willst du nicht zum Hüttenabend, wenn du schon mal hier bist?«

»Ich will nicht. Die Heidi soll sich endlich einen Burschen suchen. Wie sieht des aus, wenn wir gehen? Ich kenne die Heidi. Sie würde nur mit mir tanzen wollen.«

»Des willst du net?«

»Naa, des will ich net. Mei, Ella«, stöhnte er, »lass uns von etwas anderem reden.«

Ella Waldner sah Frank in die Augen.

»Deshalb bist du damals fort, richtig?«

»Ich verstehe nicht. Ich bin fort, weil ich Karriere machen will.«

»Lügner! Du lügst dir doch selbst etwas vor. Du bist vor der Heidi davongelaufen.«

Frank lief tief rot an. Kleine Schweißperlen traten auf seine Stirn. Seine Hände zitterten leicht.

Ella Waldner, die auf der Bank hinter dem Tisch saß, rutschte ein Stück zur Seite und klopfte mit der flachen Hand auf den freien Platz neben sich.

»So, Frank! Setz dich hier neben mich! Ich muss dir etwas sagen. Ges­tern war der Martin bei mir. Er hat auch Sorgen, die lasten schwer auf seiner Seele. Dass du mich richtig verstehst. Der Doktor hat keine Namen genannt. Das würde Martin nie tun. Er hält sich immer an die Schweigepflicht. Es war auch nicht nötig, ich wusste auch so, von wem er sprach.«

Frank schaute Ella Waldner mit großen Augen an.

»Schau nicht so! Du und die Heidi, ihr macht dem Martin großes Kopfzerbrechen. Ich habe beschlossen, mit dir zu reden. Wir hatten doch immer ein gutes Verhältnis, Frank, nicht wahr?«

»Ja, Ella! Ich hatte immer das Gefühl, dass du mich besser verstehst als alle anderen.«

Ella Waldner griff nach Franks Hand und zog ihn neben sich. Sie schob den Arm unter seinen und hielt seine Hand fest, dass er ihr nicht entkommen konnte.

»So, Frank! Ich rede jetzt. Ganz gleich, was ich sage, du tust mich nicht unterbrechen. Erst zum Schluss kannst du reden. Aber auch net gleich. Denke erst über alles nach.«

Franks Herz klopfte. Er nickte. Ein Kloß war in seinem Hals.

Ella wartete einen Augenblick. Dann fing sie ruhig an, zu sprechen. Sie sagte Frank auf den Kopf zu, dass er seit der Pubertät in seine Schwes­ter Heidi verliebt sei.

Frank stöhnte. Tränen quollen aus seinen Augen und rollten über die Wangen. Ella Waldner reichte ihm ihr Taschentuch.

»Frank, deswegen muss du net weinen. Du darfst die Heidi lieben. Die Heidi ist nicht deine Schwester!«

Frank schaute Ella an. Seine Augen verrieten gleichzeitig Erleichterung und Zweifel. Ella tätschelte ihm die Hand.

»Ja, genauso ist es! Ich weiß es. Hör mir jetzt zu. Das war so. Du weißt, dass Erich …, sagen wir einfach weiterhin dein Vater, über zehn Jahre älter als seine … Frau ist. Die Frau, zu der du Mutter sagst, ist nicht deine Mutter, Frank. Sie ist nur die Mutter von der Heidi. Ich weiß jetzt genau, was du denkst, nämlich, dass ihr Halbgeschwister sein könntet. Das seid ihr aber auch nicht. Deine Mutter war bereits schwanger von einem anderen, als sie Erich Seidler heiratete, hochschwanger war sie, um genau zu sein. Nach vier Wochen bist du gekommen und sie verstarb im Kindbett. Bald danach heiratete Erich Seidler die Resi. Sie war bereits ebenfalls von einem anderen Mann in Umständen und bekam die Heidi.«

Ella Waldner schwieg eine Weile, bis sie spürte, dass sie weitersprechen konnte und Frank das Gesagte etwas verarbeitet hatte.

»Du und die Heidi, ihr seid beide in München geboren. Dein Vater ging damals, angeblich zum Arbeiten, einige Jahre nach München. Du warst vier Jahre alt und die Heidi war drei, als ihr hergezogen seid auf den Hof. Deine Großmutter, Erichs Mutter und ihre Mutter, also Erichs Großmutter, die damals beide noch lebten, hatten das alles so eingefädelt. Sie waren Witwen. Alles, was ihnen geblieben war, war dein Vater, Erich, den sie vergötterten. Doch nach einem tragischen Motorradunfall mit schweren Verletzungen war klar, dass er niemals eigene Kinder haben konnte. Ich hatte zu der Zeit eine Freundin in München, sie war Köchin in einem Haus, in dem man sich um ›gefallene Mädchen‹ kümmerte, wie man damals sagte. Damals war es schlimm, wenn ein Madl schwanger wurde, jedenfalls noch in weiten Teilen auf dem Land, in der Stadt weniger. Deine Großmutter und deine Urgroßmutter überredeten deinen Vater, so ein Madl zu heiraten. Sie fädelten alles ein. Das Madl bekam von seinen Eltern eine große Mitgift, denn die waren froh, dass es für das Problem eine Lösung gab. Deine Mutter war eine Schönheit und sehr klug. Ich habe sie kennengelernt. Erich mochte sie sehr. Doch der Himmel hatte es anders gewollt. Sie starb. Sie hatte ein schwaches Herz. Erich stand also wieder ohne Frau da. Er musste arbeiten und brauchte jemand für dich. Also kam es zu einer Wiederholung. Erich nahm eine junge Frau auf, die schwanger war. Sie kümmerte sich sehr liebevoll um dich. Nach einigen Wochen heirateten sie. Dann wurde Heidi geboren, die, genau wie du, von Erich den Namen und die Anerkennung bekam.«

Jetzt hielt es Frank nicht mehr aus.

»Aber die Eltern …« Er räusperte sich. »… ich meine Erich und Resi …, sie lieben sich.«

»Das eine schließt das andere doch nicht aus! Die beiden wuchsen zusammen. Was als Schicksalsgemeinschaft anfing, wurde schließlich Liebe.«

»Sie haben nie etwas gesagt, nie etwas angedeutet. Ich wusste nicht einmal, dass Vater …, ich meine Erich …, schon einmal verheiratet war.«

Franks Gesicht war so blass und weiß wie der Schnee auf den Bergen. Ella Waldner schenkte ihm Kaffee nach und ermunterte ihn, zu trinken. Sie ging ins Haus und holte einen Kräuterschnaps.

Erst danach kehrte etwas Farbe in Franks Wangen zurück. Er hielt sich die Hände vor das Gesicht.

»Ich dachte, es ist eine Sünde, dass ich Heidi liebe«, stöhnte er. »Ich habe mich so gegen die Gefühle gewehrt.«

Ella Waldner setzte sich wieder neben ihn.

»Erinnerst du dich, Frank. Damals, als du herkamst, um dich von mir zu verabschieden, da fragte ich dich mehrmals nach den wahren Gründen, warum du wirklich Waldkogel verlassen wolltest.«

»Ich erinnere mich.«

»Du hast dich gewunden wie ein Aal auf dem Trockenen. Wenn du mir damals deine Gefühle für Heidi gestanden hättest, dann wäre es mir damals schon möglich gewesen, mit dir darüber zu sprechen. Jetzt ist es ebenso nötig geworden.«

Ella Waldner trank einen Schluck Kaffee. Sie erzählte von Martin und dessen Feststellung.

»Du und Heidi, ihr habt unterschiedliche, sehr seltene Blutgruppen. Das fiel Martin auf. Er schaute in der Kartei nach, wer euch die Blutgruppe vererbt hat, Erich oder Resi. Aber dann entdeckte er, dass es keiner der beiden sein konnte. Wie das mit den Blutgruppen ist, das tust den Martin selbst noch mal fragen. Jedenfalls machte er sich Gedanken, dass es eines Tages herauskommen könnte, in einer Lage, die an sich schon schlimm sein könnte.«

Ella Waldner redete leise und mit fast zärtlicher Stimme auf Frank ein, der immer noch erschüttert war.

»Mei, Frank, du kannst dich doch jetzt freuen. Jetzt kannst du dich zu deiner Liebe bekennen und musst nimmer so leiden.«

Frank schwieg eine ganze Weile. Er setzte sich wieder auf den Stuhl und frühstückte weiter. Ella ließ ihm Zeit.

Endlich sagte er:

»Ella, ich fühle mich so leer, so verwundet. Warum haben sie es verschwiegen?«

Ella Waldner schüttelte den Kopf.

»Mei, Bub, kannst du dir nicht selbst darauf einen Reim machen?«

»Schuldgefühle, Minderwertigkeit, Scham?«

Ella Waldner nickte.

»Wie soll es jetzt weitergehen?«, fragte Frank ganz leise, fast tonlos.

Die Frage stellte er weniger an Ella, als an sich selbst. Er liebte die beiden, die er sein ganzes Leben lang für seine Eltern gehalten hatte. Er liebte sie wirklich. Frank blieb auf der Bank sitzen, als Ella den Tisch abräumte und drinnen das Geschirr spülte.

Dann kam sie zu ihm, setzte sich an den Tisch und putzte Kräuter, die sie am Tage zuvor im Wald gesammelt hatte. Sie schwieg und überließ Frank seinen Gedanken.

Er überdachte seine Kindheit. Sie waren so liebevolle Eltern gewesen, so fürsorglich, geduldig und voller Güte, wie man sie sich nur wünschen konnte. Sie nahmen sich viel Zeit. Es fehlte ihm und Heidi an nichts. Frank erinnerte sich an die Wanderungen mit Erich in den Bergen und wie Resi an seinem Bett wachte, wenn er krank war.

Jetzt, nachdem ihm Ella alles gesagt hatte, kam es Frank vor, als wären sie immer sehr bemüht gewesen, die Familie zusammenzu­schweißen und zu bewahren. Frank erinnerte sich an viele Situationen, die er jetzt in neuem Licht sah. Unbewusst muss ich gespürt haben, dass es etwas gab, das wie eine Bedrohung über allem lag. Frank seufzte. Es war, als hinge über allem eine unsichtbare schwarze Wolke, die ihm Angst machte.

Frank, der wie jeder Bub in Waldkogel die Geschichten vom ›Engelssteig‹ und dem ›Höllentor‹ erzählt bekam, erinnerte sich, wie ängstlich Resi jedes Mal war, wenn über dem Gipfel des ›Höllentors‹ eine schwarze Wolke sichtbar wurde.

»Es geschieht ein Unheil, ein schreckliches Unglück«, rief sie immer aus. »Wir müssen zu den Engel vom ›Engelssteig‹ beten, dass sie uns beschützen.«

Als ganz kleine Kinder hatten Frank und Heidi Resis Ängste geteilt. Als sie größer waren, schmunzelten sie heimlich darüber. Sie fanden, dass sie übertrieb. Jetzt verstand Frank, wovor sich Resi fürchtete. Sie und Erich hatten einen ganz persönlichen Grund. Die Angst, dass Heidi und Frank es erfahren könnten, und die Familie auseinanderfallen würde. Jetzt verstand Frank, warum Resi damals so litt und lange Monate sich mit schweren Herzrhythmusstörungen plagte. Sie muss angenommen haben, ich sei dahintergekommen und bin deshalb fortgegangen. Sie muss es heute noch glauben und nimmt sicherlich an, dass ich deshalb so selten zu Besuch kam, dachte Frank.

Er seufzte hörbar. Es war mehr ein Aufstöhnen.

Ella Waldner warf ihm einen Blick zu.

»Hast nachgedacht, was du tun willst?«

Ella wartete seine Antwort nicht ab. Sie zählte ihm auf:

»Du hast verschiedene Möglichkeiten. Du machst so weiter, obwohl du es weißt und redest mit Martin, dass auch er schweigt. Du weißt, dass das bedeutet, dass du auf Heidi verzichten musst. Oder du redest mit ihr und mit deinen Eltern. Egal wie, sie sind eure Eltern.«

Frank schluckte.

»Ella, das war alles etwas viel. Ich komme mir vor, als sei ich gestorben und im gleichen Augenblick neu geboren. Nichts ist mehr wie es war. Alles ist neu und anders.«

»Das verstehe ich und ich hadere mit dem dort oben, dass er dir und Heidi so viel aufgebürdet hat. Warum? Darauf werden wir Menschen keine Antwort finden. Jedem auf Erden bleibt nur übrig, das anzunehmen, was ihm zugeteilt wird und das Beste daraus zu machen. Es ist doch nicht immer so, dass etwas, das schlimm ausschaut, wirklich böse ist. Weißt du, Frank, mit dem Leben und dem Schicksal ist es oft so wie bei den Wurzeln, die ich ausgrabe. Die hässlichsten, die mit der zerklüfteten Oberfläche, die mir beim Putzen so viel Arbeit machen, die sind am Wirkungsvollsten und helfen gegen so viele Zipperlein. Bei den Kräutern ist es genauso. Die Unscheinbaren, diejenigen, die wie traurige Mauerblümchen aussehen, die haben eine Kraft in sich, die so viel Gutes bewirken kann.«

Über Franks Gesicht huschte ein kleines Lächeln.

»Ach, Ella, du hast eine wunderbare Gabe, das Leben zu erklären und Trost zu spenden. Das habe ich schon immer an dir geschätzt. Ich danke dir jedenfalls aus tiefstem Herzen, dass du mir alles gesagt hast.«

»Schön, dass du es so aufnimmst! Mir ist auch ein Stein vom Herzen gefallen, Frank. Wirst schon das Richtige tun und, wenn es darauf ankommt, die richtigen Worte finden. Blicke nicht so viel zurück! Schaue nach vorne! Frage dich nicht, warum etwas geschehen ist, sondern, was du jetzt daraus machen kannst. Und du musst ja nichts überstürzen. Auf einen Tag kommt es jetzt auch nicht mehr an.«

Frank stand auf.

»Ich werde gehen. Danke noch­mals! Ach, und wo ist meine Marmelade?«

»Mei, die hätte ich fast vergessen.«

Ella Waldner stand auf und ging hinein. Als sie zurückkam, hielt sie ein großes Marmeladenglas in den Händen.

»Wie lange bleibst du in Waldkogel? Willst vielleicht noch einmal mit der Heidi vorbeikommen? Dann kannst des Glas hierlassen. Vielleicht brauchst einen Grund, um mit ihr herzukommen.«

»Du hast doch noch mehr Marmelade, oder?«

»Die ganze Kammer ist voll. Soviel kannst du gar net essen.«

Frank lachte.

»Ursprünglich wollte ich eine Woche bleiben. Heute Morgen wollte ich dich nur noch besuchen und dann abreisen. Jetzt hat sich alles geändert. Ich muss sehen, wie es weitergeht.«

»Ich wünsche dir alles, alles Gute, Frank!«

Sie gaben sich die Hand. Frank schloss die alte Ella in seine Arme. Dann ging er. Ella sah ihm nach und winkte ihm zu, als er sich noch einmal umdrehte.

*

Die Sonne stand tief. Förster Lorenz Hofer war im grünen Jeep der Försterei unterwegs. Er hatte ein Waldstück am Hang in Augenschein genommen. Er wollte gerade ins Auto steigen, als er in der Ferne einen Baum sah, der irgendwie sehr schief hing. Er nahm das Fernglas und schaute durch.

»Himmel, ist des …?«, rief er laut.

Er sprang in das Auto und fuhr los. Es waren nur einige hundert Meter. Als er ankam, sah er das Auto mit dem Wiener Kennzeichen, das vom Waldweg abgerutscht und den Hang hinuntergeschlittert war. Erst der Baum hatte es zum Stehen gebracht. Der Förster arbeitete sich durch das umgeknickte Unterholz, bis zu dem verunglückten Wagen.

»He, hören Sie mich? Können Sie mich hören?«, rief er dem Fahrer zu, der über dem Lenkrad hing.

Der Angesprochene hob den Kopf. Er schaute ihn mit großen Augen an.

»Mei, du bist doch der Frank Seidler, richtig?«

»Frank ja, Seidler vielleicht«, sagte Frank mit fast tonloser Stimme.

»Tut dir etwas weh? Wie lange sitzt du schon in dem Auto? Soll ich die Bergwacht anrufen?«

»Naa, es ist alles in Ordnung. Mir fehlt nix!«

Frank stieg aus dem Auto, dessen Vorderteil eingedrückt war. Er schwankte etwas. Lorenz griff zu und half Frank den Hang hinauf.

»Hast einen Obstler?«, fragte Frank.

Lorenz Hofer rieb sich das Kinn.

»Mei, ich weiß nicht, ob Alkohol jetzt das Richtige für dich ist?«

»Hast oder hast keinen?«, fragte Frank ungeduldig.

Wortlos reichte Lorenz ihm seinen Flachmann. Frank trank.

»Danke«, sagte er leise.

»Steig ein, ich fahre dich heim!«

»Naa! Besser net!«

»Sei vernünftig! Seit wann bist du übrigens hier?«

»Noch net lang. Danke, Lorenz, ich komme schon klar. Des mit dem beschädigten Baum tut mir leid. Ich komme für den Schaden auf.«

»Darum geht es net, Frank. Du stehst unter Schock, soweit ich des beurteilen kann. Kommst mir ein bisserl verwirrt vor. Was willst du hier alleine machen? Lass dich heimfahren oder ich bringe dich zum Martin in die Praxis. Am Ende hast du eine Gehirnerschütterung. Du, damit ist nicht zu spaßen!«

»Schmarrn! Lass mich in Ruhe! Ich will allein sein!«

Lorenz Hofer wusste nicht, was er tun sollte. Frank, den er schon seit einigen Jahren nicht mehr gesehen hatte, war in einem bedenklichen Zustand, soweit er es beurteilen konnte.

»Soll ich daheim bei dir anrufen, damit jemand dich holt?«

»Hör mir auf mit daheim! Wo, wo bin ich daheim? Nirgends bin ich daheim«, brüllte Frank.

Dann schossen ihm die Tränen in die Augen.

Lorenz Hofer packte ihn und setzte ihn ins Auto. Frank saß einfach still da. Die Tränen rannen über seine Wangen.

Lorenz Hofer zückte sein Handy und wählte die Handy-Nummer von Doktor Martin Engler.

Der saß auf der Terrasse der Berghütte und sonnte sich. Er schaute auf das Display und erkannte Lorenz’ Nummer.

»Martin hier, was gibt es, Lorenz?«

»Martin, ich bin auf dem Pilgerweg, ungefähr einen Kilometer vor der Abzweigung zum ›Erkerchen‹. Erinnerst du dich an den Frank Seidler?«

»Ja, red’, was ist mit ihm?«

»Den hab’ ich hier gefunden. Er ist mit seinem Auto den Hang runtergerutscht. Zum Glück hat ein Baum Schlimmeres verhindert. Er hat einen kleinen Kratzer an der Stirn. Er ist zwar bei Bewusstsein, redet aber nach meiner Meinung nur Blödsinn zusammen. Er will net heim, die Bergwacht soll ich net holen, seine Familie nicht anrufen …«

»Schon gut, Lorenz, ich habe verstanden. Fahr mit ihm weiter bis zum ›Erkerchen‹. Ich mache mich gleich auf den Weg. Am besten du gibst ihm mir mal.«

Lorenz reichte Frank das Handy.

»Martin, mir geht es gut. Ich habe eine kleine Beule am Kopf, aber das ist alles. Ich war schon heute Morgen mit dem Auto abgerutscht. Es ist nix Schlimmes passiert. Ich habe die Ella Waldner besucht und bin dann ein bisserl ziellos herumgefahren. Ich musste nachdenken.«

»Ich verstehe! Hat die Ella mit dir geredet?«

»Ja, das hat sie!«

»Dann hast du wohl unter Schock gestanden, denke ich mir so, richtig?«

»Schock, so kannst du es auch nennen. Das ist noch eine milde Untertreibung.«

Martin überlegte kurz.

»Du, Frank ich muss dir etwas sagen. Deine Schwester sucht dich.«

»Dass des net sein kann, das weißt du. Sie ist nicht meine ..., du weißt schon.«

»Ja, Herrschaftszeiten, Frank, leg’ nicht jedes Wort auf die Goldwaage! Also, die Heidi sucht dich. Sie hat dich am Morgen davonfahren gesehen. Weil du dein Gepäck daheim gelassen hast, sucht sie dich. Sie hat ganz Waldkogel verrückt gemacht. Sie denkt, dass du fort bist, weil ihr euch gestern Abend gestritten habt, wegen dem Hüttenfest, zu dem sie dich überreden wollte. Soll ich ihr sagen, wo du bist?«

Frank überlegte kurz. »Ja, kannst daheim vorbeifahren und mit ihr reden, Martin. Aber mache es so, dass die …« Er zögerte, denn das Wort Eltern ging ihm schwer über die Zunge. »Rede alleine mit ihr.«

Martin sagte Frank, dass er nicht in Waldkogel sei, sondern auf der Berghütte.

»Aber wenn du willst, dann rufe ich Heidi an. Sie kann zum ›Erkerchen‹ kommen. Dort seid ihr ungestört. Wenn du Hilfe brauchst, dann bin ich auf der Berghütte, nicht weit von euch entfernt.«

»Gut, meinetwegen, Martin«, brummte Frank.

Martin wollte noch einmal mit Lorenz sprechen. Sie redeten nur kurz miteinander. Dann fuhr Lorenz Frank das Stück weiter den Bergpfad hinauf und ging mit ihm bis zum ›Erkerchen‹. Dort setzte sich Frank hin und wartete.

»Danke, Lorenz! Des mag dir alles etwas sonderbar vorkommen. Ich kann es dir nicht erklären, jedenfalls nicht heute.«

»Schon gut, der Martin hat ein gutes Wort für dich eingelegt. Ich schaue auch drüber weg, dass du mit deinem Auto auf gesperrten Wegen unterwegs warst. Über den beschädigten Baum wird auch kein Wort verloren. Morgen lass ich dein Auto bergen. Du kannst es dir dann im Forsthaus abholen.«

Frank nickte und Lorenz ging davon.

Zur gleichen Zeit ging Heidi nervös in der großen Küche auf und ab.

»Heidi, du machst mich nervös. Setz dich bitte hin! Er wird bald kommen. Du kennst doch deinen Bruder. Er hat sich schon immer zurückgezogen, wenn ihm etwas nicht passte. Er wird irgendwo sein, im Wald, am Bergsee, an einem seiner Lieblingsplätze. Wirst sehen, er kommt bald.«

»Ich war an all seinen Lieblingsplätzen, Mutter. Frank hätte doch einen Zettel hinlegen können. Ach, es tut mir so leid! Ich war so barsch zu ihm gestern Abend. Ich hatte es mir so schön vorgestellt, mit ihm auf das Hüttenfest zu gehen. Ich habe ihn ganz ordentlich gefragt. Da ist er hochgegangen wie eine Rakete. Da bin ich auch etwas sauer geworden. Ein Wort hat das andere ergeben. Ich warf ihm Sachen an den Kopf, die ich besser hätte nicht sagen sollen. Es tut mir so leid.«

»Des wird schon wieder, Madl!«, versuchte Erich, sie zu trösten. »Martin ist net nachtragend, des weißt du. Er ist ein Einzelgänger. Er hat sich noch nie etwas aus Geselligkeit gemacht.«

Heidi setzte sich auf die Eckbank hinter dem großen Küchentisch.

»Das verstehe ich nicht. Ich bat ihn, mir das zu erklären. Ich weiß, er geht nie aus, schon damals nicht. Er war auf keinem Schützenfest, keiner Kirmes, nirgends. Dabei wäre es so schön gewesen, wenn er dabei gewesen wäre. Sagt selbst, normal ist das nicht, oder?«

Heidi blickte zwischen Resi und Erich hin und her. Diese zuckten mit den Schultern.

Da läutete das Telefon. Heidi raste zum Hörer und meldete sich. Dann überzog ein Lächeln ihr Gesicht.

»Wirklich? Das kann ich nicht glauben.«

Heidi lachte.

»So ein Feigling! Du kannst ihm ruhig sagen, dass er ein Feigling ist. Aber ich verzeihe ihm großzügig und komme. Sag ihm, ich beeile mich. Pfüat di!«

Heidi klatschte in die Hände.

»Das war Toni! Martin ist bei Toni auf der Berghütte. Martin weiß von Karla, dass ich Frank suche. Frank ist auch droben. Unser Streit tut ihm leid. Er will, dass ich komme.«

Erich und Resi schauten sich an. Sie wollten Heidi noch etwas fragen, aber die war schon aus der Küche gerannt. Sie schrie auf halber Treppe:

»Mutter, mach mir etwas Proviant zurecht. Ich ziehe mich nur schnell um.«

»Mei, des ist net normal, Erich, wie die beiden aneinanderhängen! Des macht mir Angst.«

Erich Seidler ging auf seine Frau zu. Sie nahmen sich in den Arm und hielten sich ganz fest. Es bedurfte keiner Worte. Einer verstand den anderen und wusste, was er fühlte.

Es dauerte nicht lange, dann kam Heidi in Kniebundhosen und Wanderschuhen die Treppe herunter. Ihre Mutter hielt ihr den kleinen Rucksack hin.

»Sag Frank Grüße von uns und wir wünschen euch eine schöne Zeit.«

»Die werden wir haben. Es ist ewig her, dass Frank und ich zusammen in den Bergen waren. Mei, wie ich mich freue!«

Heidi umarmte zuerst Resi, dann Erich. Sie rannte hinaus und sprang in ihr Auto. Der Motor heulte auf, als sie davonfuhr.

*

Als Heidi auf die Berghütte kam, standen Toni, Martin, Anna und der alte Alois zusammen auf der Terrasse. Sebastian und Franziska spielten mit Bello, oberhalb der Berghütte am Gebirgsbach.

»Grüß Gott, ihr Lieben«, rief Heidi fröhlich.

»Da bist du ja schon. Mei, hast du dich beeilt. Willkommen auf der Berghütte!«, sagte Toni.

»Und wo steckt mein Bruderherz? Wo hat sich der Feigling versteckt?«, lachte Heidi.

Ihr Lachen erstarb langsam auf ihrem Gesicht, als sie die Blicke sah, die sich Toni, Martin, Anna und der alte Alois zuwarfen.

Martin stellte seinen Rucksack ab. Er nahm Heidi bei den Schultern und schob sie in den Wirtsraum der Berghütte. Dort waren keine anderen Hüttengäste.

»Was ist?«, fragte Heidi mit fast tonloser Stimme.

Martin hielt Heidi an den Schultern fest.

»Erstens, der Martin ist drüben beim ›Erkerchen‹. Es geht ihm gut, nur sein Auto hat eine Delle.«

Heidi schrie kurz auf.

»Ganz ruhig! Er wird dir alles erklären«, Martin atmete tief durch und sprach weiter. »Ich bin nicht ganz unschuldig daran, dass er so durcheinander war. Jedenfalls hat es nichts mit eurem Streit zu tun. Am besten ihr redet ganz offen und ehrlich. Ich würde euch wirklich gern beistehen, weil ich das Ganze ins Rollen gebracht habe, Heidi. Ich bin den Engeln vom ›Engelssteig‹, dankbar, dass sie Frank beschützt haben.«

»Ich verstehe nicht, was du meinst«, unterbrach ihn Heidi.

»Du wirst es bald verstehen, Heidi. Leider kann ich bei der Aussprache zwischen dir und deinem …, ich meine zwischen dir und Frank nicht dabei sein. Ich muss sofort in die Praxis und anschließend ins Krankenhaus nach Kirchwalden. Sie haben angerufen. Die Suche war erfolgreich. Einer meiner Patienten kommt als Spender in die engere Wahl.«

»Wie wunderbar! Gott sei Dank, dann wird das Kind wieder gesund«, freute sich Heidi.

»Das hoffe ich auch«, sagte Martin. »Aber das ist nicht alles, was durch die Bluttestreihe herausgefunden wurde.«

Martin sah sehr ernst aus.

»Was ist? Du schaust mich so seltsam an?«

Martin dachte, das ist wieder einmal eine Situation, auf die man an der Universität nicht vorbereitet wurde. Er atmete tief durch.

»Weißt du, so eine Suche, bei der das Blut von so vielen Leuten untersucht wird, kann noch mehr Ergebnisse bringen und die können sehr überraschend sein.«

Heidi schaute Martin mit großen Augen an.

»Ja, so ist es. Jedenfalls ist es so, dass ich bei dem Blut von dir und Martin etwas festgestellt habe, was mich stutzen ließ.«

»Was ist mit Martin? Ist er krank? Was hat er?«

»Ruhig, Heidi! Weder du noch Martin ist krank. Es ist etwas anderes.«

Martins Handy läutete. Er musste das Gespräch annehmen. Es war das Krankenhaus in Kirchwalden.

»Ja, ich komme!«, sagte Martin.

Dann stieß er einen Fluch aus.

»Es kommt immer alles zusammen. Ich hätte so gerne mit dir in aller Ruhe gesprochen, Heidi. Entschuldige! Aber ich muss fort. Ich will – muss – kann dir nur schnell sagen, um was es geht. Am besten du redest mit Frank und ihr kommt beide morgen früh zusammen zu mir in die Praxis.«

»Was ist? Sage schon, Martin!«

»Ihr seid keine Geschwister!«, sagte Martin leise. »Die Blutgruppen beweisen es.«

Heidi runzelte die Stirn.

»Du spinnst! Natürlich ist Frank mein Bruder.«

Martin seufzte.

»Er ist es und er ist auch nicht! Er ist auf dem Papier dein Bruder. Aber sonst ist er nicht dein Bruder. Heidi, ich kann dir das jetzt wirklich nicht näher ausführen, ich muss dringend ins Krankenhaus.«

»Martin, gehe ruhig! Ich rede mit dem Madl!«, sagte der alte Alois mit ruhiger Stimme.

Martin nickte allen zu und rannte davon.

Toni nahm Heidi den Rucksack ab. Sie ließ es willenlos geschehen. Sie war wie gelähmt.

Was hatte Martin eben gesagt?

Wie war das?

Frank soll nicht mein Bruder sein?

Ich bin nicht Franks Schwester?

Was hat das alles zu bedeuten?

Der alte Alois nahm Heidi bei der Hand und ging mit ihr hinter die Berghütte. Dort drückte er sie auf einen Holzklotz und lehnte sich an den Sägebock. Er betrachtete sie. Das Madl sah blass aus. Er sah, wie sie angestrengt nachdachte und versuchte, die eben gehörten Worte zu begreifen.

»Heidi, du bist doch ein starkes Madl. Überhaupt sind die Madln viel stärker als die Mannsbilder. Des rede ich net nur so daher, des ist Lebens­erfahrung. Also, ich stelle dir jetzt einige Fragen und du gibst mir ehrliche Antworten.«

Heidi nickte.

»Hast du deine Mutter lieb?«

»Sicher! Warum?«

»Hast du deinen Vater lieb?«

»Natürlich! Warum?«

»Hast du Frank lieb?«

»Ja, ja!«

»Glaubst du, dass die Resi und der Erich euch beide lieb haben?«

»Sicher!«

»Meinst, dass sie gute Eltern sind?«

»Aber ja! Was wollte mir Martin sagen? Das muss doch alles ein Irrtum sein.«

»Heidi, man sagt, dass Blut dicker als Wasser ist. Das mag aus naturwissenschaftlicher Sicht so sein. Aber es gibt etwas, was noch dicker, noch viel, viel dicker als Blut ist, das ist Liebe. Die Liebe, die Menschen verbindet, wie es bei Liebespaaren ist und wie es zum Beispiel bei Toni und Anna ist. Die beiden lieben Franzi und Basti und die Kinder lieben sie. Die vier sind eine Familie, obwohl sie nur durch die Adoption verwandt sind.«

»Willst du damit sagen, dass ich und Frank genauso adoptiert wurden und die Eltern Angst hatten, uns das zu sagen?«

Über Heidis Gesicht huschte ein sonniges, hoffnungsvolles Lächeln. Der alte Alois rieb sich das Kinn.

»Mm, wenn ich mir die Sache durch den Kopf gehen lasse, Heidi, könnte man es teilweise so auslegen, wenn auch net im streng juristischen Sinn. Da wurde ein bisserl getrickst und ich kann es auch verstehen. Es ist nicht einfach mit Adoptionen, heute nicht und früher war es auch nicht einfach.«

»Himmelsakrament! Alois, red endlich!«

Der alte Alois räusperte sich.

»Der Erich war zweimal verheiratet.«

»Das wusste ich nicht.«

»Doch so war es. Frank stammt aus der Zeit der ersten Ehe. Seine Mutter starb bald nach der Geburt. Danach hat der Erich die Resi geheiratet und dann bist du auf die Welt gekommen.«

Heidi legte die Stirn in Falten.

»Der Frank und ich sind in zwei verschiedenen Jahren geboren, aber wir sind nur etwas mehr als sieben Monate auseinander.«

»Des kommt daher, dass die Resi schon mit dir schwanger war, als sie den Erich geheiratet hat.«

Heidi schüttelte den Kopf.

»Dann hat der Vater, aber nicht lange getrauert … Nein, noch schlimmer, er hat vielleicht schon etwas mit meiner Mutter gehabt, als ….«

Heidi vollendete den Satz nicht, als sie sah, dass der alte Alois den Kopf schüttelte.

»Du bist nicht des Kindl vom

Erich. Dein Vater ist ein anderer Mann.«

Heidi starrte Alois mit großen entsetzten Augen an.

Sie schluckte.

»Dann hat mich meine Mutter ihm untergeschoben? Sie hat mich belogen. Mutter sagte immer, ich wäre ein Frühchen. Da bin ich gar kein Frühchen gewesen.«

»Untergeschoben bist du nicht! Der Erich wusste, dass deine Mutter etwas Kleines unter dem Herzen trug, als er sie heiratete, und dass er net der Vater war.«

»Warum hat er sie geheiratet?«

»Weil er sie lieb gehabt hat, denke ich, und weil er ein alleinstehender Witwer war, mit dem kleinen Frank.«

Alois räusperte sich verlegen.

»Es gab noch einen anderen Grund. Aber darüber sollte der Erich selbst mit dir reden.«

»Woher weißt du das alles?«

»Ach, Madl, die Berge, die lösen vieles in den Herzen der Menschen aus. Dann reden sie über Dinge, über die sie im Tal zu niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen verlieren würden. Als Hüttenwirt bekommt man vieles erzählt und behält es für sich. Man kann sich nicht immer auf alles gleich einen Reim machen. Manchmal dauert es lange, bis sich alles zusammenfügt. Als der Martin kam und ganz verzweifelt war, weil er euer Blut untersucht, und das mit euren Eltern verglichen hatte – lassen wir es bei der Bezeichnung Eltern – da habe ich mich erinnert und konnte mir einen Reim darauf machen. Vor vielen Jahren hat der Erich mir gegenüber Andeutungen gemacht. Dann hat der Lorenz Hofer angerufen und geschildert, dass Frank unter Schock steht. Lorenz dachte, des kommt davon, dass Frank in den Graben gefahren ist, so will ich es mal sagen. Er rief Martin an, der hier auf der Berghütte war. Toni, Anna und ich hörten, wie

er mit Frank am Telefon sprach. Da zählte ich eins und eins zusammen und sagte es Martin. Den Frank muss es ganz schön mitgenommen haben, als er es erfuhr.«

»Das wird schon wieder! Ich werde ihn trösten. Im Grunde ist er besser dran als ich. Er weiß, wer sein Vater ist, und dass seine Mutter gestorben ist. Aber er war ein Baby und kann sich an sie nicht erinnern. Meine Mutter war immer eine gute Mutter für ihn.«

»Heidi, Madl! Ganz so ist es nicht! Es ist nicht nur so, dass dem Frank seine Mutter gestorben ist. Der Frank hat auch keinen Vater.«

»Wieso?«, fragte Heidi mit großen Augen.

»Weil Erich Seidler nicht Franks Vater ist. Wer sein Vater ist, das Geheimnis hat seine Mutter mit ins Grab genommen.«

Heidi klimperte ungläubig mit den Wimpern.

»Mei, was für ein Durcheinander! Also, dann hat mein Vater – mein, ich meine den, den ich bisher für meinen Vater hielt, zweimal eine Frau geheiratet, die ein Kind von einem anderen Mann bekam? Warum? Des verstehe, wer will. Es sei denn…«, Heidis Stimme wurde leiser. »Es sei denn, er wollte es so, weil er keine eigenen Kinder zeugen konnte.«

»Das musst du ihn selbst fragen oder besser nicht, Heidi. Einem Mann tut so etwas weh. Rede mit deiner Mutter! Erich war euch beiden ein guter Vater. Du kannst deine Dankbarkeit beweisen, indem du nicht in der Wunde herumstocherst, verstehst?«

»Erich Seidler ist ein lieber, ruhiger, verständnisvoller, gütiger Vater gewesen. Wer weiß, ob mein leiblicher Vater so gewesen wäre. Ich kenne ihn nicht und wie du vorhin gesagt hast, Liebe kann noch dicker als Blut sein.«

»Bist ein kluges Madl, Heidi! Deine Mutter kann stolz auf dich sein.«

Heidi griff nach einem Stück Holz und pulte mit den Fingernägeln die Rinde ab. Sie schwieg. Der alte Alois sah ihr dabei zu. Sie dachte nach. So wie sie Stück für Stück die Rinde abschälte, so verarbeitete sie die eben erfahrene Wahrheit, bis ihr Leben nackt war, wie das Innere des geschälten Holzes.

Sie blickte auf.

»Alois, so seltsam das auch klingt. Irgendwie überrascht es mich nicht. Wenn ich ehrlich bin, empfand ich immer, dass es etwas gab, was ich nicht greifen konnte. Es muss schwer gewesen sein, Frank und mich mit diesen Geheimnissen großzuziehen. Egal wie! Ich weiß nicht, wie es anders gewesen wäre und mich interessiert es auch nicht. Wir wurden erzogen, immer nach vorn zu blicken, gut, lieb und anständig zu sein und über niemanden vorschnell zu urteilen. Das war gut so. Nur so ist diese Wahrheit zu ertragen.«

Heidi legte das Holzstück zur Seite.

Sie verschränkte die Arme und schaute hinauf in den sich langsam verfärbenden Nachthimmel.

»Was denkst du, Heidi?«

»Ich überlege, ob es Frank nicht schon länger wusste. Vielleicht wusste er es und hat nur geschwiegen. Das ist doch gut möglich, oder? Frank wollte sich nie Blut abnehmen lassen. Ich habe ihn beim Martin dazu drängen müssen, erst dann hat er sich breitschlagen lassen. Könnte doch so gewesen sein? Vielleicht hat er gehofft, es kommt nicht heraus?«

»Das kann dir nur Frank beantworten. Hör auf zu spekulieren, Heidi. Gehe zu ihm! Er wartet auf dich. Martin hat Proviant zum ›Erkerchen‹ gebracht. Bleibt, so lange ihr wollt und redet miteinander. Toni gab auch zwei Decken mit, falls es kühl wird.«

»Alois, ich habe nie verstanden, warum Frank damals unbedingt nach Wien wollte. Er hatte auch Angebote aus München und sogar aus Kirchwalden. Er wurde richtig böse, als ich es ihm ausreden wollte. Für mich gibt es aus heutiger Sicht nur eine Erklärung. Frank wusste alles und wollte fort, weit fort, damit er sich nicht verplappert.«

»Vielleicht ist es so, vielleicht auch nicht. Ich denke, er wusste es nicht. Es gab einen anderen Grund, warum er weit, weit fort wollte und auch so selten zu Besuch kam, Heidi.«

»Was denkst du, war der Grund?«

Der alte Alois sah Heidi lange an. Dann schüttelte er den Kopf.

»Ich bilde mir ein, eine sehr gute Menschenkenntnis zu besitzen und denke mir meinen Teil, Heidi. Kann sein, dass ich mit meiner Vermutung richtig liege. Aber ich kann mich auch irren. Rede mit Frank! Du musst Geduld haben und viel Verständnis. Er hat es nicht so einfach aufgenommen wie du. Wenn Ruhe in sein Herz eingekehrt ist, dann wird er es dir vielleicht erzählen, warum er damals so weit fort ging.«

Heidi stand auf. Sie ging auf den alten Alois zu.

»Danke, du bist ein so lieber Mensch! Darf ich dich umarmen?«

»Davon halte ich dich nicht ab. Bin schon lange nimmer von so einem feschen Madl umarmt worden.«

Heidi drückte den alten Alois kurz.

»Sag mal, wie ist es bei dir mit den Burschen?«

»Schwierig! Daheim sagen sie, ich sei zu wählerisch. Vielleicht bin ich es ja auch. Bei dem Vorbild!«

»Ja, der Erich ist schon ein besonderer Mensch. Töchter, auch wenn du nicht seine richtige Tochter bist, Töchter sagt man, suchen sich einen Mann, der so ist wie ihr Vater oder das genaue Gegenteil.«

»Das Gegenteil suche ich bestimmt nicht. Weißt du, ich habe schon im Vorfeld das Madl immer beneidet, das einmal meinen Bruder …«

Heidi brach den Satz ab und lief tiefdunkelrot an. Sie schloss die Augen, griff sich an die Brust und schwankte. Der alte Alois hielt sie fest, bis sie wieder die Augen öffnete.

»Heiliges Kanonenrohr! Jesses Maria und Josef! Mei, ihr Heiligen und alle Engel, steht mir bei«, flüsterte Heidi fast tonlos.

Der alte Alois sah Heidi voller Güte an. Er blinzelte ihr zu.

»Lauf, Heidi! Lauf!«

Sie zögerte einen Augenblick. Sie lächelte und rannte los.

Der alte Alois blieb noch eine Weile sitzen. Toni kam.

»Was ist mit der Heidi los? Die ist über das Geröllfeld den Hang hinaufgefegt, als hätte sie die Leiter der Engel auf dem ›Engelssteig‹ entdeckt und wollte den Himmel stürmen, bevor die Leiter eingezogen wird.«

Der alte Alois lächelte.

»So ähnlich könnte man es beschreiben, Toni. Komm, lass uns reingehen! Ich habe mir jetzt einen großen Obstler verdient.«

Toni war klar, dass Alois nichts weiter verraten würde. Also gingen sie zusammen hinein.

»Auf was wollen wir trinken, Alois?«, fragte Toni.

»Ach, machen wir uns es einfach, Toni. Trinken wir auf die Liebe. Auf die Liebe zu trinken, das passt immer! Prosit!«

Sie leerten die Gläser auf einen Zug aus. Dann verschwand der alte Alois in seiner Kammer.

*

Heidi rannte und rannte den ganzen Weg bis zum ›Erkerchen‹. Atemlos und mit hochrotem Kopf ließ sie sich auf die Bank fallen. Sie rang nach Atem. Sie war völlig ausgepumpt. Ihr Herz raste. Dabei wusste sie nicht genau, ob die Anstrengung des Sprints die Ursache war oder die plötzliche Erkenntnis, die ihr ganzes Herz ausfüllte. Das Pochen in ihren Schläfen ließ langsam nach. Sie versuchte, langsamer zu atmen. Doch es dauerte einige Minuten, bis sie sich gefasst hatte.

Die ganze Zeit saß Frank am anderen Ende der Sitzbank, die Hände tief in die Taschen vergraben, den Blick weit über das Tal gerichtet.

Er stand auf und trat ans Geländer. Heidi beobachtete ihn, wie er regungslos dort stand.

Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und trat neben ihn, hielt aber Abstand.

»Hallo, Frank!«

Er erwiderte ihren Gruß mit einem Nicken, ohne sie anzusehen.

»Bin froh, dass dir nicht mehr passiert ist«, sagte sie leise. »Lässt sich dein Auto wieder reparieren?«

»Denke schon!«

»Fein, reden kannst also noch, stelle ich fest, auch wenn du mir ziemlich wortkarg vorkommst. Hast du Kopfschmerzen?«

Frank schüttelte den Kopf.

»Du willst aber nicht reden, vermute ich?«

Frank wandte den Kopf und schaute Heidi an. Sie sah in seinen Augen Unsicherheit und Angst.

Er seufzte tief.

»Du weißt es?«, fragte er leise.

Seine Stimme klang sehr gequält.

»Ja, ich weiß es.«

Er nickte einige Male mit dem Kopf und blickte wieder über das Tal.

»Ich weiß es vom Martin. Danach hat der alte Alois mit mir geredet«, fuhr Heidi fort. »Frank, wir können die Tatsachen nicht leugnen und nicht von uns schieben.«

Frank nickte.

»Frank, auch wenn wir nicht mehr verwandt sind und ich nicht weiß, ob ich jetzt noch das Recht habe, dir Fragen zu stellen, was dein Leben betrifft. Kann ich dir eine Frage stellen?«

»Fragen kann man immer. Es gibt nur nicht immer eine Antwort. Was willst du wissen?«

»Hast du es damals schon gewusst, als du nach Wien gingst?«

»Nein!«

»Gut, ich glaube dir. Du hast mich niemals belogen.«

Beide schwiegen eine Weile.

»Frank!«

»Ja, was ist?«

»Nehmen wir mal theoretisch an, du hättest es gewusst. Wärst du dann auch fortgegangen?«

Frank zuckte mit den Schultern.

»Schwer zu sagen, sehr schwer. Es sind so viele Fragen, die ich mir auch stelle, Heidi.«

»Jetzt nerve ich dich auch noch. Entschuldige!«

»Musst dich nicht entschuldigen. Wir sind beide betroffen und müssen Antworten finden auf all die Fragen. Ganz gleich, wie alt wir werden und wie auch unser Leben weitergeht, wir werden nicht alle Antworten finden.« Frank stöhnte. »Es ist alles so anders. Mir schwankt der Boden unter meinen Füßen. Dich scheint es nicht so zu treffen, oder?«

»Es hat mich getroffen, Frank. Nenne mir einen Menschen, den so etwas nicht treffen würde. ›In jeder Krise steckt ein Chance‹«, sagt man.

»Abgedroschene Phrase«, bemerkte Frank leise.

Er drehte sich um und lehnte sich jetzt mit dem Rücken an das Geländer. Heidi sah, wie blass er war. Er sah schlecht aus. Er seufzte.

»Seit ich es weiß, seit meinem Gespräch heute Morgen, grüble ich darüber, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn wir es gewusst hätten. Heidi, drei Jahrzehnte, das kann ein halbes Leben sein. Ich frage mich, was ich anderes gemacht hätte, wo ich heute wäre. Mir gehen so viele Bilder durch den Kopf. Erinnerungen von Augenblicken, die plötzlich einen anderen Stellenwert haben.«

»Ich verstehe dich, Frank. Es ist wie bei einem Puzzle. Alle Teile waren an ihrem Platz. Dann kam ein Sturm und fegte die Teile auseinander. Jetzt sollten wir versuchen, sie wieder zusammenzusetzen.«

Frank schüttelte den Kopf.

»Du willst nicht?«, bemerkte Heidi und kämpfte gegen ihr pochendes Herz an.

Mit unendlich traurigen Augen schaute Frank Heidi an.

»Heidi, es wird nie wieder so sein, wie es war.«

»Na und? Was soll es? Es wäre auch nicht gut, wenn es genauso weiterginge. Also, ehrlich gesagt, ist es mir so fast lieber!«

»Du überrascht mich! Dir scheint es wirklich nichts auszumachen.«

»Schmarrn! Fassen wir zusammen! Wir hatten eine glückliche Kindheit. Wir wuchsen in einer wunderbaren Familie auf. Sie gaben sich Mühe. Das kannst du doch nicht leugnen, oder? Antworte, Frank!«

Seine Augen blitzten.

»Heidi, sie haben uns belogen. Sie haben uns betrogen.«

»Im strenggenommenen Sinn könnte man es so auslegen. Ich deute es anders.«

»Himmel, was bist du für ein Gutmensch! Wie deutest du das?«

»Sie haben uns geliebt. Gerade Vater, ich meine Erich, er liebt uns sehr. Und meine Mutter liebt dich auch, Frank. Sie war völlig gebrochen, als du fort bist. Ich war richtig eifersüchtig auf dich, dass sie darunter litt und fragte mich, ob sie dich mehr liebt als mich. Heute habe ich einen anderen Verdacht. Ich vermute, dass sie dachte, dass du dahintergekommen bist und deshalb fortgingst. Frank, sie hat dir und mir all die Mutterliebe gegeben, zu der sie fähig war und es war eine wunderbare Liebe. Sie und Erich wollten, dass wir glücklich sind. Das ist ihnen gelungen. Das kannst du nicht leugnen. Wie wir auch zu ihnen stehen, es bleibt, dass sie uns gute Eltern waren. Und wir haben uns …«

Frank ging zurück zur Bank. Er setzte sich. Heidi setzte sich neben ihn. Sie sprach weiter:

»Wir haben einen Schatz guter Erinnerungen und blicken auf eine glückliche Kindheit zurück. Stimmst du mir zu?«

Frank räuspert sich.

»Heidi, ab irgendeinem Punkt, ich glaube, ich war vierzehn Jahre alt, da bekam ich das dunkle Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Ich wusste nicht, was es war, wo es herkam. Es war einfach da und die Angst war mein täglicher Begleiter.«

»Das war die Zeit, in der du begannst, dich abzusondern. Du wurdest immer mehr zum Einzelgänger und wurdest sehr ungesellig. Manchmal nahm es extreme Formen an. Ich erinnere mich genau. Alle in unserem Alter besuchten die Tanzschule in Kirchwalden. Du hast dich geweigert. Was war ich sauer auf dich! Ich verstand nicht, warum du nicht tanzen lernen wolltest und jedes Fest miedest.«

»Du kannst beruhigt sein. Ich kann jetzt tanzen. Ich habe in Wien einen Tanzkurs besucht.«

»Großartig, dann kannst du auf dem Hüttenfest mit mir tanzen.«

Frank sah Heidi an. »Ist das nicht zu peinlich? Wer weiß alles von der Sache, du weißt schon?«

»Martin, Anna, Toni, der alte Alois, wissen es. Ich denke nicht, dass sie es weitererzählen. Beim Martin fällt es ohnehin unter die Schweigepflicht und die anderen sind diskret, das weißt du. Nun sag schon ja, das bist du mir schuldig. Sonst denke ich für den Rest meines Lebens, dass du mich nicht leiden kannst.«

»Unsinn! Natürlich kann ich dich leiden!«

»Ich dich auch. Von allen Menschen, die ich kenne, bist du mir am nächsten. Nur wenn du in meiner Nähe warst, war ich wirklich glücklich. Du hast mich immer verstanden. Du warst mein großer starker Bruder, zu dem ich immer hingehen konnte. Du hattest immer ein offenes Ohr und hast mich getröstet.«

»Du warst sehr lebhaft und temperamentvoll und bist dabei oft über das Ziel hinausgeschossen. Dann hast du mit Worten um dich geschlagen, die nicht ohne waren.«

»Ich weiß. Es tut mir leid. Ich weiß heute auch, dass ich die Eltern oft verletzt habe. Ich konnte es doch nicht ahnen!«

»Nein, das konntest du nicht und ich auch nicht. Wahrscheinlich war auch etwas in dir, etwas wogegen du unbewusst rebelliertest.«

»Vielleicht. Ich weiß nur, dass ich gelegentlich von einer großen Traurigkeit erfasst wurde.«

»Dann hast du dich in die Gartenlaube geflüchtet.«

»Meistens dauerte es nicht lange, dann bist du gekommen. Du hast dich neben mich gesetzt und mich wortlos in den Arm genommen. Du hast mich festgehalten und bist einfach da gewesen. Dann war meine Welt wieder in Ordnung.«

Heidis Augen füllten sich mit Tränen. Sie klebten an ihren Wimpern und liefen die Wangen hinab. Sie suchte nach ihrem Taschentuch und fand es nicht. Frank gab ihr seines. Sie hielt es vor das Gesicht und schluchzte.

»Frank, bitte lege deinen Arm um mich, bitte. Nur noch einmal! Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Ist jetzt alles zu Ende?«

Frank rückte neben sie. Er legte den Arm um sie.

»Besser so?«, fragte er. »Ich verstehe dich. Ich weiß genau, wie du fühlst. Als Ella mich aufklärte, war ich erst einmal ganz ruhig. Dann kamen auch mir die Tränen. Mir war, als stürze alles um mich herum ein.«

Heidi antwortete nicht. Sie legte den Kopf an seine Schulter, schloss die Augen und blieb ganz ruhig sitzen. Sie schwiegen beide. Dabei waren sie tief bewegt.

So ruhig sie sich verhielten, so aufgeregt und unruhig waren sie innerlich. Ein Gedanke, bewegte beide, nur eine einzige Frage.

Wie wird aus einer Geschwisterliebe wahre Liebe?

Was sagt man in einer solchen Situation?

Was sind die richtigen Worte?

Ist es überhaupt richtig, jetzt davon zu reden?

Auf der anderen Seite, wann, wenn nicht jetzt?

Heidi wusste, warum sie bisher niemals Augen für einen anderen Burschen hatte. Sicher sah sie gelegentlich den oder den an, aber bei näherer Betrachtung hielt keiner ihren Ansprüchen stand. Keiner war so wie Frank. Er ist einfach wunderbar. Er ist einfühlsam. Er hat mich immer verstanden. Er ist zuverlässig. Er wird mir treu sein.

Doch kann aus einem Menschen, der bisher als mein Bruder galt, mein Bursche werden?

Kann es sein, dass er mich auslacht, wenn ich mit ihm darüber rede?

Ist es nicht verrückt, dass ich plötzlich weiß, auf wen ich immer gewartet habe?

Welch eine schicksalshafte Verwicklung!

Wir konnten immer offen und ehrlich über alles sprechen. Na ja, fast über alles.

Heidis Herz klopfte.

Soll ich ihm einfach sagen, he Frank, ich bin in dich verliebt? Es könnte ein Schock für ihn sein, oder? Es fühlt sich so wunderbar an in seinen Armen. Es ist anders als früher, ganz anders. Fühlt es sich so an, wenn ein Bursche sein Madl im Arm hält?

Heidi dachte eine Weile darüber nach.

Ja, so muss es sich anfühlen. Genau danach habe ich mich immer gesehnt. Wahrscheinlich wusste ich unbe­wusst, dass niemand mir diese Geborgenheit geben kann außer Frank.

Heidi drängte es danach, mit ihm zu sprechen. Aber wenn ich es tue, wird dieser Augenblick vorbei sein. Dann wird der Zauber zerstört.

Was ist, wenn er nicht so empfindet?

Was ist, wenn er weiterhin nur freundschaftliche Gefühle für mich hat?

Ihr Herz krampfte sich zusammen. Frank – Frank – mein Frank, flüsterte es mit jedem Herzschlag.

Ich will weiter träumen. Es ist wunderschön, einfach zu denken, dass wir ein Liebespaar sind und er mich in seinen Armen hält. Ach, könnte ich ihn doch küssen! Wie gern würde ich sein Gesicht zwischen meine Hände nehmen und es mit zärtlichen Küssen bedecken. Wie wunderbar wäre es, wenn meine Lippen mit der Wärme seiner Lippen verschmelzen würden.

Frank, o Frank, hörst du nicht, was mein Herz dir zuruft?

Wie ist es mit dir?

Kannst du den Schritt machen, mich so zu sehen, wie ich für dich sein will? Ab heute will ich dein dich liebendes Madl sein. Du musst es spüren. Man sagt, dass Liebende die Gedanken des anderen ahnen.

Heidi schwor, dass sie sich nie einem anderen Burschen zuwenden würde. Wenn Frank nicht ihr Bursche sein wollte, dann wollte sie alleine bleiben.

Frank betrachtete Heidis Haar. Er spürte ihre Wärme. Er fühlte, dass die Verbundenheit zwischen ihnen eine andere Stufe erreicht hatte. Es war eine andere Dimension.

Ob Heidi das auch so empfindet? Jetzt, da sie weiß, dass ich nicht ihr leiblicher Bruder bin, sondern uns nur ein Stück Papier verbindet, auf dem der gleiche Familienname steht, kann sie fühlen, dass ich mehr für sie empfinde? Ahnt sie vielleicht, dass ich schon seit langer Zeit so starke Gefühle in meinen Herzen trage? Welch grausame Verwicklung! Warum haben wir es nicht früher erfahren? So viele verlorene Jahre!

Franks Herz raste. Es drängte ihn, ihr endlich seine geheimsten Gedanken zu gestehen. Es waren nur drei kleine Worte, die er ihr zuflüstern könnte: Ich liebe dich. Drei Worte, die seine Welt veränderten. Auch wenn sie mich nicht liebt, weiß sie es wenigstens. Sie soll es wissen. Sie muss es wissen. Wer weiß, vielleicht hegt sie ähnliche Gefühle für mich?

Frank lächelte still vor sich hin, als er sich an die Begrüßung erinnerte. Hoffnung beschleunigte sein Herzschlag. Sie muss so viel für mich empfinden, dachte er. So viel mehr, als nur eine Schwester für ihren Bruder empfinden kann. Vielleicht war es ihr nicht bewusst, überlegte er. Dann erinnerte er sich an das Gespräch nach seiner Ankunft mit den Eltern. Heidi sei zu wählerisch, sie lege die Mess­latte zu hoch, wurde ihr vorgeworfen. Vielleicht traf das nicht so zu, wie es auf den ersten Blick erschien. Vielleicht war sie unbewusst auf der Suche nach mir? Oder ihr erging es wie mir?

Vielleicht war sie genauso in mich verliebt und sie litt darunter, dass es eine unmögliche Liebe war, eine Liebe, die nie gedeihen durfte. Aber diese Liebe erfüllte ihr Herz, wie sie mein Herz erfüllte. Deshalb hielt kein anderer Bursche ihren Anforderungen stand. Sie konnte sich nicht in einen anderen verlieben, weil ihr Herz nicht frei war. Es schlug für mich, nur für mich. Ich sah kein anderes Madl an, weil mein Herz ihr gehörte.

Plötzlich drehte der Wind und es wurde kühl. Heidi schlug die Augen auf.

»Ich glaube, es gibt einen Wettersturz«, sagte sie leise.

Beide schauten in den Himmel. Die Sonne stand tief.

»Dahinten ziehen dunkle Wolken auf. Das sieht nicht gut aus. Wenn wir nicht nass werden wollen, sollten wir auf der Berghütte Schutz suchen«, sagte Frank.

Sie schaute ihm in die Augen. Dann schüttelte sie den Kopf.

»Nein? Gut, wenn du Regen nicht fürchtest, dann bleiben wir hier«, sagte er. »Ganz wie du willst.«

Heidi senkte den Blick.

»Nass werden ist keine gute Idee. Aber ich will nicht zur Berghütte. Ich könnte die Blicke von Toni, Anna und dem alten Alois nicht ertragen.«

»Ich finde die Vorstellung auch nicht berauschend. Vielleicht haben wir Glück und es ist nur ein kurzer leichter Regen.«

»Das schaut mir nicht danach aus. Wir könnten in einer der Schutzhütten am ›Pilgerweg‹ unterkriechen.«

In diesem Augenblick hörten sie ein fernes Donnergrollen. Frank nickte Heidi zu. Sie standen auf. Frank hob den großen Rucksack auf die Schultern und Heidi griff nach den beiden Wolldecken. Sie liefen los.

Sie erreichten am ›Pilgerweg‹ die erste Schutzhütte, als das Donnergrollen näherkam und die ersten dicken Regentropfen fielen.

»Da hatten wir richtig Glück, findest du nicht auch?«, bemerkte Frank.

Er stellte den Rucksack ab.

»Das haben wir uns auch an einem Tag wie diesem verdient. Außerdem haben wir im übertragenen Sinn heute beide eine kalte Dusche bekommen, die nicht nur kalt, sondern eiskalt war. Aber zum Glück sind wir ganz schön wetterfest.«

»Meinst du?«, schmunzelte Frank.

»Mm, ich denke schon! Trotzdem könntest du Feuer im Ofen machen. Ich packe derweil den Rucksack aus.«

Die nächsten Minuten kniete Frank vor dem Ofen. Er zündete das Feuer an und wartete bei offenem Ofentürchen, bis die Flammen sich tief in das Anmachholz gefressen hatten.

Dann legte er zuerst kleine, dann größere Stücke des Brennholzes nach, das in einer Ecke der Schutzhütte gestapelt war. Anschließend nahm er die Blechkanne und ging Wasser holen aus der nahen Quelle. Er kam durchnässt zurück.

Heidi ging auf ihn zu und wischte ihm das Wasser aus den Haaren.

»Danke«, sagte er leise.

»Gern geschehen! Das Wasser brauchen wir erst später. Toni hat uns zwei Kannen heißen Kräutertee eingepackt.«

Frank schaute sich an, was auf dem Tisch lag.

»Damit können wir tagelang überleben. So viel Zeug!«

»Also, an mir soll es nicht liegen. Ich habe Urlaub und kann ihn gern mit dir hier verbringen, Frank, wenn du willst.«

Sie schauten sich an.

»Wäre vielleicht nicht schlecht, wenn wir ein paar Tage hierblieben. Wir könnten die Zeit nutzen, um uns über alles klarzuwerden.«

»Richtig, es hat sich alles geändert. Nichts ist mehr so, wie es war. Außerdem stellt sich die Frage, wie es in Zukunft wird, denn ewig können wir uns nicht verkriechen? Was meinst du?«

Frank zuckte mit den Schultern.

»Einfach wird es nicht sein«, sagte er leise. »Wir werden mit ihnen sprechen müssen, Heidi. Sie müssen erfahren, dass wir ihr Geheimnis kennen.«

»Frank, ich denke, es ist ungerecht, dass wir das Thema auf den Tisch bringen müssen. Sie müssten es tun. Sie hätten es längst tun müssen!«, schrie Heidi.

Frank lächelte sie an.

»Ich verstehe, dass du wütend bist. Schrei, wenn es dir hilft!«

»Es wird nichts nützen. Ich meinerseits weigere mich, sie darauf anzusprechen.«

»Heidi, willst du so weitermachen? Theater spielen, wie sie es gemacht haben?«

Heidi setzte sich und deutete auf den freien Stuhl auf der anderen Tischseite.

»Lass uns essen! Wir können dabei plaudern.«

Sie setzten sich. Heidi schenkte Tee ein. Sie begannen zu essen. Dabei warfen sie sich immer wieder Blicke zu.

Nach einer Weile begann Frank das Gespräch.

»Also, wie hast du dir die Zukunft gedacht? Für dich wird es schwieriger werden. Ich bin in Wien.«

»Richtig! Ich werde Waldkogel verlassen, so wie du Waldkogel verlassen hast. Ich gehe!«

»Wo willst du hin?«

»Nach Wien, das kannst du dir doch denken oder ist das für dich so überraschend?«

Frank errötete.

»Nein! Ganz im Gegenteil, ich freue mich. Ich habe in Wien eine sehr schöne große Altbauwohnung. Sie ist für mich allein eigentlich viel zu groß. Wenn du willst, dann ...«

»Klar, will ich! Sonnenklar, werde ich bei dir einziehen. Aber natürlich nur, wenn du untervermieten darfst an ein Madl.« Heidi kicherte. »Bedenke, ich bin nicht mehr deine Schwester. Vielleicht gibt es Gerede?«

Sie schauten sich in die Augen und lächelten beide.

»Sag mal, Frank, jetzt da wir wissen, dass wir nicht Bruder und Schwester sind, kannst du mir etwas sagen. Da du früher immer ehrlich gewesen bist, denke ich, hoffe ich, dass du es jetzt auch bist. Findest du mich fesch?«

Frank errötete tief. Heidi sah mit Freuden, wie er einen hochroten Kopf bekam und auch nach der Schrecksekunde seine Wangen nicht verblassten.

»Ich habe dich schon immer für ein sehr, sehr fesches Madl gehalten. Du bist überhaupt das fescheste Madl, das ich kenne.«

»Oh, danke für das Kompliment. Mach weiter! Ich könnte dir stundenlang zuhören. Mir fängt es an, sehr zu gefallen, dass du nicht mehr mein Bruder bist.« Heidi streckte die Arme weit nach oben und strahlte. »Es ist das Beste, was mir im Leben passiert ist. Ich gebe zu, dass ich immer mehr Freude daran finde und der Zustand mir sehr gefällt.«

Frank errötete wieder.

»Oh, mache ich dich verlegen?«, fragte Heidi.

Schnell schob sich Frank ein großes Stück Käse in den Mund, damit er nicht gleich antworten musste. Er kaute sehr sorgfältig, damit ihm genügend Zeit für eine Antwort blieb. Endlich schluckte er. Er seufzte hörbar.

»Nein, du machst mich nicht verlegen. Es ist etwas anderes.«

»So?«

»Ja, es ist…, es ist…, also…, hör mal…, ich muss dir etwas sagen.«

»Ich bitte darum!«

»Es gibt einen Grund, warum ich damals fort bin. Einen Grund über den ich mit niemandem reden konnte, bis heute Morgen. Die alte Ella hat es mir auf den Kopf zugesagt.«

»Ella ist eine kluge Frau. Sie ist direkt weise. Was hat sie dir auf den Kopf zugesagt?«

Frank seufzte tief.

»Heidi, es fällt mir sehr schwer, darüber zu sprechen. Es ist noch schwerer für mich, wenn du mich unterbrichst.«

»Entschuldige! Ich bin nur so schrecklich nervös. Du kennst mich doch, Frank. Wenn ich nervös bin, dann plappere ich. Aber jetzt bin ich still und halte mir den Mund zu, bis du fertig bist.«

Heidi stützte die Ellenbogen auf den Tisch und hielt sich die Hände vor den Mund.

»Du musst immer übertreiben! Also, ich bin damals fort wegen dir. Ich konnte es neben dir, in deiner Nähe, nicht mehr aushalten. Es war schlimm für mich. Du warst doch meine Schwester!«

Heidis Herz pochte so stark, dass es ihr vorkam, als wollte es sie zerreißen. Sie ließ die Hände sinken und starrte ihn an.

»So hast du mich gehasst?«

»Wie kommst du darauf? Habe ich mit einem Wort jemals erwähnt, dass ich dich nicht mag? Wie sollte ich dich hassen? Heidi, verstehst du nicht?«

»Oh, doch, ich verstehe. Ich kenne dich aber schon mein ganzes Leben und weiß, dass du auch feige sein kannst. Sprich es aus! Sage es endlich! Was hat dir Ella Waldner auf den Kopf zugesagt?«

»Sie …, sie sagte, dass ich fort sei, weil du mir zu sympathisch warst.«

»Sympathisch, sympathisch! Kein Mensch läuft fort, weil er Angst vor Gefühlen der Sympathie hat.«

Frank errötete tief. Heidi empfand Mitleid.

»Gut, ich will dich nicht weiter quälen. Ich will dir etwas sagen. Als ich mit Alois sprach und alles erfuhr, da wurde mir etwas klar. Die Erkenntnis war so plötzlich da, dass ich fast umgefallen wäre, hätte mich der alte Alois nicht festgehalten. Mir versagten vor Glück die Beine. Sie zitterten und meine Knie wurden weich. Es war die größte Erkenntnis meines Lebens. Frank, ich weiß jetzt endlich, warum ich mich nie verliebt habe. Ich suchte jemanden, der so war wie du. Ich verglich unbewusst jeden Burschen mit dir. Keiner kam an dich heran. So war es. Tief, ganz tief in meinen Herzen habe ich mich in dich verliebt, ohne dass es mir bewusst war. Ich konnte mich, wenn auch unbewusst, in dich verlieben, weil wir nicht Bruder und Schwester sind. Wir wussten es nicht, aber irgendwie muss ich es doch gewusst, geahnt, mir gewünscht haben. Verstehst du?«

Ganz ruhig stand Frank auf. Er ging um den Tisch herum und griff nach Heidis Hand. Langsam zog er sie vom Hocker auf die Beine. Er legte die Arme um ihre Taille. Sie spürte, wie er leicht zitterte. Wie in Zeitlupe legte ihm Heidi zuerst ganz sacht die Hände auf seine Schultern, dann schob sie sie nach hinten, um seinen Hals, wie bei einer Umarmung. Er spürte, wie auch sie bebte. Sie schauten sich in die Augen.

»Ella Waldner sagte mir auf den Kopf zu, dass ich mich schon als Fünfzehnjähriger in dich verliebt hatte. Ich stritt es ab. Sie nannte mich einen Lügner. Heidi, ich war auch ein Lügner. Ich habe gelogen, als ich sagte, dass ich wegen der Karriere fort wollte. Ich bin gegangen, weil ich so tief für dich empfunden habe und ich mich schämte. Ja, es war so und es ist immer noch so. Lass es mich dir sagen. Heidi, ich liebe dich!«

Bei diesen Worten bekamen Franks Augen einen feuchten Glanz. Heidi streichelte seine Wange.

»Jetzt hast du es ausgesprochen. Es ist wunderbar, dass du mich liebst. Ich liebe dich auch! Ich liebe dich, Frank! Deshalb bin ich den ganzen Weg zum ›Erkerchen‹ gerannt. Ich hätte die ganze Welt umarmen können. Doch dann wusste ich nicht, wie ich es dir sagen sollte.«

Sie schauten sich in die Augen. Langsam näherten sich ihre Lippen. Zuerst küssten sie sich zaghaft und ganz vorsichtig.

»Schon ungewohnt, wenn man sich plötzlich so küssen kann, Frank«, lachte Heidi. »Wir müssen noch mehr üben. Halte mich fest, halte mich ganz fest!«

Er zog sie fest an sich und hielt sie fest, wie nur ein verliebter Bursche ein Madl an sich drücken kann. Sie küssten sich. Ihre Küsse waren voller Leidenschaft, die sich steigerte, mehr und mehr. Es war, als wollten sie all die verlorene Zeit aufholen. Sie bedeckten einander die Gesichter mit Küssen und flüsterten immer wieder, dass sie sich liebten.

Es dauerte lange, bis der Rausch der ersten Annäherung abnahm.

»Mein Bursche! Mein lieber, lieber, mein wunderbarer Bursche«, jubelte Heidi.

»Mein Madl! Mein Madl! Du bist das einzige Madl, das ich je geliebt habe. Es ist ein Wunder!«

»Das Wunder der Liebe!«

»Ja, das Wunder der Liebe!«

Und wieder fanden sich ihre Lippen zu einem langen innigen Kuss. Ihre Herzen verschmolzen, wie es nur bei Liebespaaren geschieht.

»Ich bin so glücklich, Heidi!«

»Das kann ich dir ansehen! Du musst all die Jahre so gelitten haben. Denk nicht mehr daran! Es ist vorbei. Es beginnt eine neue Zeitrechnung.«

»Ja, so ist es! Tausendmal habe ich mir vorgestellt, wie ich dir einen Antrag machen würde, wenn du nicht meine Schwester wärst. Nun kann ich es nicht so durchführen. Trotzdem muss ich es tun, auch ohne Rosen und ohne einen Verlobungsring für dich.«

Frank ging vor Heidi in die Knie. Mit bebender Stimme, die er kaum im Griff hatte, sagte er:

»Liebe Heidi! Ich liebe dich! Willst du meine Frau werden?«

Heidi schluckte. Sie brachte kaum ein Wort hervor. Sie nickte eifrig und flüsterte dann leise: »Ja!«

Sie nahmen sich zärtlich in die Arme und küssten sich.

»Mein liebe, liebe Braut!«

»Mein über alles geliebter Bräutigam!«

»Wir fahren morgen nach Kirchwalden und kaufen dir einen wunderbaren Ring. Wir müssen aber dein Auto nehmen, meines hat eine Beule.«

»Ich will keinen Verlobungsring, Frank! Wir kaufen gleich Eheringe. Lass uns bald heiraten. Wir haben so viel Zeit verloren. Ich will so schnell wie möglich deine Frau werden.«

»Ich will alles tun, damit du glücklich wirst. Du musst es nur sagen.«

Heidi lächelte.

»Was geht dir durch den Kopf? Sag schon?«

Sie lächelte geheimnisvoll und sagte dann ganz leise:

»Ich denke, du wirst ein wunderbarer Vater sein. Ich will Kinder und ich will damit nicht lange warten.«

Sie blinzelte ihm zu, löste sich langsam mit einem verführerischen Blick aus seiner Umarmung. Sie ging zur Tür, schob innen den eisernen Riegel vor. Sie griff nach einer der beiden Decken und breitete sie auf dem Bett aus.

»So schnell? Willst du damit nicht bis nach der Hochzeit warten?«

Frank schaute sie ungläubig an. Heidi lachte übermütig und streichelte seine Wange.

»Also, in meiner Familie wartet man nicht unbedingt damit bis nach der Hochzeit und wenn ich mich recht erinnere, ist es in deiner Familie ähnlich. Habe ich Recht? Fast könnte man sagen, dass es Tradition ist.«

»Schon, aber …«

»Nichts aber«, unterbrach ihn Heidi. »Ich bin überzeugt, das, was auch immer geschehen ist, vielleicht werden wir es nie erfahren, sind wir doch beide Kinder der Liebe. Ich bin dem Schicksal dankbar, dass es so kam, wie es gekommen ist, sonst hätten wir uns nie gefunden. Habe keine Hemmungen, Frank!«

Er zögerte immer noch.

»Frank, sag einmal, bist du doch vielleicht so ein klitzekleines biss­chen feige?«

»Warte, du Biest, das werde ich dir beweisen!«

Heidi raste um den Tisch herum und ließ sich einfangen. Frank blies die Kerze auf dem Tisch aus.

Nur der Mond leuchtete durch das kleine Fenster auf ihr Glück.

*

Am nächsten Morgen weckte fröhliches Vogelgezwitscher die beiden Liebenden.

»Guten Morgen, Heidi!«

»Guten Morgen, Frank!«

»Bleib liegen, Heidi! Ich stehe auf und mache Frühstück.«

»Welch ein Service! Wir haben aber keinen Kaffee.«

»Stimmt! Soll ich zu Toni laufen und dir einen Kaffee holen?«

»Bist du lieb! Du bist der liebste Mensch auf Erden.«

Sie küssten sich.

»Wie spät ist es?«, fragte Heidi.

Frank schaute auf die Uhr. Es war fast neun Uhr.

»Lass uns zusammenpacken und auf der Berghütte frühstücken. Toni, Anna und der alte Alois melden uns sonst als vermisst und Toni ruft die Bergwacht an. Ich sehe schon die Schlagzeile in der Kirchwaldener Zeitung: Bergwacht findet verschollenes Liebespaar!«

Heidi kicherte.

Sie packten zusammen und wanderten Hand in Hand zurück zur Berghütte. Als sie oben am Pfad auf das Geröllfeld einbogen, kam ihnen Bello entgegengerannt.

»Welch eine Begrüßung!«

Heidi bückte sich und streichelte Bello.

»Ach, einen Hund will ich auch und eine Katze, mindestens. Vielleicht können wir außerhalb von Wien auf einen Bauernhof ziehen. Das würde mir gefallen.«

»Musst nicht weiterreden, Heidi. Ich weiß, was für eine Tiernärrin du bist.«

»Ja, das bin ich!«

Sie gingen weiter.

Toni und Anna saßen mit Alois am Tisch.

»Grüß Gott, ihr beide! Mei, schaut ihr gut aus! Habt ihr die dunklen Wolken vertrieben?«

»Ja, Alois! Das haben wir! Unser Himmel ist blau und rosarot und wird es immer bleiben«, sagte Frank.

Er legte den Arm um Heidi. Sie neigte den Kopf zu ihm.

»Ja, das haben wir, und uns bringt nichts mehr auseinander. Es sei denn, ich falle gleich um, weil ich keinen Kaffee bekomme«, ergänzte Heidi lachend.

Alois rutschte etwas zur Seite. Sie setzten sich dazu an den Tisch.

»Kaffee und ein kräftiges Frühstück kommt sofort! Wollt ihr Eier mit Speck?«, fragte Toni.

»Für mich nur Kaffee, Toni! Ich habe keinen Hunger. Du weißt doch, wer verliebt ist, braucht zum Leben nur Luft und Liebe.«

Frank wollte auch nur einen Kaffee.

Augenblicke später brachte Toni zwei Becher, eine große Thermoskanne mit extrastarkem Kaffee, einen Krug mit frischer Milch von der Oberländer Alm und Zucker. Toni, Anna und der alte Alois sahen die beiden neugierig an.

»Also, dann wollen wir die Katze aus dem Sack lassen. Wir heiraten. Frank Seidler heiratet Heidi Seidler, geborene Seidler!«

Mit strahlenden Augen nahmen Heidi und Frank die Glückwünsche entgegen. Frank rührte in seinem Kaffee.

»Allerdings stehen uns noch einige Hürden bevor. Heidi und ich haben uns ausführlich besprochen. Wir werden uns zuerst anwaltlich beraten lassen. Schließlich müssen wir nachweisen, dass wir nicht Bruder und Schwester sind, sondern nur Geschwister auf dem Papier. Wahrscheinlich gibt es noch einige juristische Hürden zu nehmen, aber das werden wir schon meistern.«

Dann wandte sich Frank an den alten Alois.

»Du könntest uns dabei helfen, Alois. Du könntest aufschreiben, was mein Vater, pardon, ich meine, was dir Erich Seidler damals erzählt hat, dass ich nicht sein Bub bin und so weiter.«

»Du meinst eine Art eidesstattliche Erklärung? Das kann ich machen. Meinst, des hilft?«

»Ja«, nickte Frank. »Zumindest hoffen wir es. Wir werden Ella Waldner auch bitten, ihr Wissen aufzuschreiben und werden mit Martin reden. Er muss bestätigen, dass wir auf Grund der Bluttests nicht verwandt sind. Nachdem wir mit dem Kaffee fertig sind, werden wir gleich beim Martin vorbeifahren und mit ihm reden. Dann kaufen wir in Kirchwalden die Ringe.«

Toni, Anna und der alte Alois warfen sich Blicke zu.

»Des kann eine komplizierte Angelegenheit werden, bis ihr das Aufgebot bestellen könnt. Wäre es nicht einfacher mit Erich und Resi zu reden?«, fragte Alois.

Frank und Heidi schüttelten die Köpfe.

»Naa, des ist es net, Alois«, sagte Frank. »Wir haben jedes Für und Wider abgewogen. Sie hatten Jahrzehnte Zeit, mit uns zu reden. Sie haben es nicht getan, aus welchen Gründen auch immer. Irgendwie fühlen wir uns betrogen.«

»Mei, Frank«, warf der alte Alois ein. »Es war ihnen peinlich. Sie haben sich vielleicht geschämt. Vielleicht wollten sie es euch sagen, wussten aber nicht, wie sie es anstellen sollten. Habt ein bisserl Mitleid.«

Frank schüttelte den Kopf.

»Mitleid? Was ist mit uns? Was ist mit mir? Ich habe gelitten wie ein Tier. Dachte, ich habe sündige Gedanken, weil ich in meine Schwester verliebt bin. Das sind Qualen, Höllenqualen, sage ich euch. Naa, ich will nicht! Ich kann nicht mit ihnen reden.«

Heidi streichelte Frank die Wange.

»Ich sehe es nicht ganz so hart, aber enttäuscht bin ich auch. Nicht wir sind an der Reihe, auf sie zuzugehen, sie hätten es längst tun sollen. Es ist Franks Wunsch, dass wir erst mal versuchen, so die Papiere zusammenzubekommen, damit wir heiraten können. Wenn nicht, dann soll sich unser Anwalt darum kümmern.«

Frank trank den Kaffee aus.

»Heidi, trink aus und lass uns gehen!«

Es war ganz still am Tisch. Heidi gab noch mehr kalte Milch in den Kaffee und trank den Becher aus. Sie stand auf.

»Toni, Anna, Alois! Vielen Dank für alles! Dir, Alois, danke ich besonders. Wir werden euch wissen lassen, wo und wann wir heiraten. Ihr seid herzlich eingeladen, die Kinder natürlich auch und bringt Bello mit.«

Sie gaben sich die Hände. Toni holte Heidis kleinen Rucksack.

»Oh, stimmt, den habe ich vergessen. Danke!«

Frank nahm ihn an sich. Er legte den Arm um Heidis Schulter. Das Lächeln der beiden war doch etwas gequält, als sie sich verabschiedeten. Dann gingen sie davon.

Schweigend setzten sich Toni, An­na und der alte Alois hin. Sie schauten sich an.

»Das ist ein Happy End ohne Happy End! Auf der einen Seite kann ich Heidi und Frank verstehen. Aber jetzt, wo alles herausgekommen ist und sie sich gefunden haben, müsste ihnen ihre Liebe zueinander nicht die Kraft geben, einen Schritt auf die Eltern zuzugehen?«, bemerkte Toni.

»Vielleicht ist es noch zu früh dazu, Toni«, sagte Anna. »Du musst dir einmal vergegenwärtigen, was die beiden seit gestern alles bewältigen mussten. Es ist verständlich, dass sie einen Groll hegen. Und das Wort ›Groll‹ ist noch sehr wohlwollend in dem Zusammenhang. Du hast doch selbst gehört, was Ella erzählt hat. Sie war auch besorgt gewesen, sonst wäre sie nicht so spät noch auf die Berghütte gekommen. Erstens, Frank hat erfahren, dass Erich nicht sein Vater ist und seine Mutter tot ist. Zweitens wird er nie erfahren, wer sein Vater ist, weil dieses Geheimnis seine Mutter mit ins Grab genommen hat. Er ist also quasi Vollwaise. Heidi hat erfahren, dass Erich nicht ihr Vater ist und ihre Mutter ihr ihren Vater verschwiegen hat. Das Gute ist, dass sich Heidi und Frank gefunden haben. Ich verstehe, dass sie sich aneinanderklammern und alles andere weit von sich schieben. Sie sind belogen worden und betrogen, was immer für edle Motive und beste Absichten auch die Gründe dafür waren. So etwas lässt sich nicht so leicht verzeihen. Jedenfalls nicht von jetzt auf gleich, meiner Meinung nach.«

»Mei, Anna, ich weiß, dass du recht hast. Aber des bringt doch alles nichts. Nach meiner Meinung müssen sie sich mit den Eltern aussprechen. Sie müssen ihnen die Chance geben, es zu erklären. Damit tun sich Frank und Heidi auch selbst einen Gefallen. Sie wollen heiraten und sollten sich dabei von Erich und Resi helfen lassen. Ich denke, die beiden würden sich sehr freuen, wenn sie sehen, wie glücklich die beiden sind.«

Tonis Handy klingelte. Er nahm das Gespräch an.

»Tonis Berghütte!«

»Grüß Gott, Toni! Hier ist der Seidler-Erich! Sag, sind die Kinder bei dir auf der Berghütte? Die Resi macht sich Sorgen. Im Dorf wird erzählt, der Frank sei mit dem Auto an einen Baum gefahren.«

»Ja, des stimmt. Aber es ist nix Schlimmes passiert, nur ein bisserl ein Blechschaden!«

»Mei, da fällt uns ein Stein vom Herzen. Da hatte unsere Heidi mal wieder Recht. Des Madl hat einen sechsten Sinn. Sie war gestern den ganzen Tag über so unruhig. Gibst du mir mal einen der beiden ans Telefon? Die Resi steht hier voller Sorge neben mir.«

»Des geht net, Seidler! Kommst um einen Augenblick zu spät. Die beiden sind gerade wieder aufgebrochen.«

»Des ist schade! Aber na ja, ich kann es verstehen. Wenn es Frank gutgeht, dann wird die Heidi darauf gedrängt haben, dass er mit ihr wandern geht.«

»Wandern sind sie nicht, Seidler. Ich glaube, sie wollen nach Kirchwalden zum Einkaufen.«

»So, nach Kirchwalden! Des ist auch gut. Früher waren die beiden oft auf einen Bummel in der Stadt. Dann werden sie später kommen. Entschuldige die Störung, Toni.«

»Du hast net gestört, Seidler! Sag der Resi, dass es den beiden gut geht, sehr gut!«

Erich Seidler lachte.

»Das werde ich, Toni, oder es zumindest versuchen. Aber du weißt doch, wie Mütter sind. Die Resi wird erst beruhigt sein, wenn sie selbst mit Frank gesprochen hat und sieht, dass er wirklich in Ordnung ist. Weißt, Toni, der Lorenz hat gesagt, der Frank sei ganz verwirrt gewesen und hätte einen Nervenzusammenbruch gehabt. Weißt du etwas? Stimmt des?«

»Schmarrn! Nervenzusammenbruch? Mei, dass der Frank nicht glücklich war, dass sein schönes Auto kaputt ist, des kannst dir ja vorstellen, aber Nervenzusammenbruch scheint mir eine Übertreibung zu sein. Da muss ich mal mit dem Lorenz reden, was der da für Sachen in die Welt setzt. Mei, es darf net wahr sein. Aber das werde ich klären. Ich muss ohnehin mit dem Lorenz reden, Seidler. Wenn ich es schaffe, komme ich anschließend bei euch vorbei.«

»Des ist gut, Toni! Dann schaffst du es vielleicht, die Resi zu beruhigen.«

»Bis dann, Seidler, und pfüat di!«

»Pfüat di, Toni!«

Toni schaltete das Handy aus und steckte es in die Tasche.

»Alois, einen Obstler bitte, einen großen, von deinem besten Selbstgebrannten«, stöhnte Toni.

Da Toni das Handy etwas von seinem Ohr weggehalten hatte, hatten Alois und Anna das ganze Gespräch mithören können. Der alte Alois brachte Toni einen Obstler.

»Fühlst dich jetzt besser?«

»Etwas, aber nur etwas! Ich nehme die Sache jetzt in die Hand. ›Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, dann muss der Berg zum Propheten gehen‹, sagt man. Also betätige ich mich als Spediteur und bringe die alten Seidlers zu den jungen Seidlers. Mei, des wird was Schönes geben!«, stöhnte Toni. »Aber nach dem Telefonat muss ich etwas tun, sonst würde ich mir des nie verzeihen.«

Anna gab Toni einen Kuss.

»Geh ruhig! Wirst es schon richtig machen.«

»Wohl ist mir net bei der Sach’. Aber jeder hat doch auch Verantwortung für das Glück seiner Mitmenschen und sollte dazu seinen Beitrag leisten, auch wenn eine Sache nicht angenehm ist. Kommst du mit, Anna?«

Anna zögerte.

»Anna, ziehe dich um«, sagte der alte Alois.

Anna überlegte.

»Toni, ich kann dir bei deiner Mission wenig helfen. Ruf Martin an. Er soll mit den beiden reden.«

»Bist ein Genie! Martin kann die Untersuchungsergebnisse zum Anlass nehmen, dass er Nachforschen will. Ich werde ihn sofort anrufen.«

Toni griff zum Handy.

Martin war in der Sprechstunde und hatte einen Patienten im Behandlungszimmer und konnte nicht viel sagen.

»Ja, ich habe verstanden, Toni. Danke für deinen Anruf. Ich versorge noch diesen Patienten, dann komme ich. Wir sehen uns dann. Pfüat di!«

Doktor Martin Engler beendete den Verband und gab ein Schmerzmittel mit.

»Falls es arg wehtut, dann nimmst du eine Pille und vor dem zu Bett gehen noch eine. Beim nächsten Mal passt du besser auf, wenn du mit solch gefährlichem Werkzeug hantierst. Ein paar Millimeter tiefer und die Sehne wäre durchgewesen.«

»Mei, Martin, schimpf net. Es ist eben passiert, dass mir des Messer ausgerutscht ist. Solche Teppichmesser sind nun mal verdammt scharf.«

»Damit schneidet man auch nur Teppiche und keine Gummireifen!«, tadelte ihn der Doktor.

Er legte die Hand in eine Schlinge und schickte den Patienten hinaus.

»Leute, es dauert noch! Ich muss auf Hausbesuch. Wartet oder kommt heute Nachmittag«, rief Doktor Martin Engler ins volle Wartezimmer.

Dann nahm er seine Arzttasche, sprang ins Auto und fuhr davon.

*

Bürgermeister Fellbacher war im Waldschlösschen beim Grafen Tassilo von Teufen-Thurmann zu Besuch. Sie saßen im Park und prosteten sich zu. Sie tranken.

»Mei, was ist das für ein Gebräu?«, stieß Fellbacher hervor. »Des ist aber kein Bier aus der Gegend.«

»Schmeckt es dir net?«, fragte der Graf.

»Was heißt schmecken? Ist eben anders und so dunkel. Hat aber einen milden Schaum, fast könnte man ihn sahnig nennen.«

»Des ist irisches Bier! Ich hatte eine irische Gesangsgruppe zu Gast, mit denen ich eine CD aufgenommen habe. Da musste ich dafür sorgen, dass sie in Stimmung kamen. Das waren die beiden letzten Flaschen.«

»Des ist gut! Dann trinkst aber wieder einheimisches Bier, Tassilo.«

»Mei, scheinst ja richtig empfindlich zu sein.«

»Man muss sich um die heimische Kultur kümmern. Sonst gehen wir unter. Leider gibt es immer weniger Heimatverbundenheit.«

»Was ist mit dir los? So hast du ja noch nie geredet«, wunderte sich der Graf.

»Ja, die Zeiten ändern sich. Jetzt hat sich schon ein Madl nach Franken abgemeldet, weil die dortige Kultur es anzieht, verstehst?«

»Naa, du musst schon deutlicher werden.«

»Die Moni hat sich abgemeldet. Sie ist jetzt bei ihren Verwandten in Franken angemeldet, damit sie dort an einem Schönheitswettbewerb teilnehmen kann. Gestern waren noch einige Madln auf dem Amt. Aber die Gi­na hat gesagt, der Computer sei defekt. Sie sollten nächste Woche wiederkommen. Ein Madl will nach Augsburg, die anderen nach Regensburg und eine nach Passau.«

Bürgermeister Fellbacher entnahm seiner Aktentasche einen dicken Ordner.

»Hier, da habe ich dir alles zusammenstellen lassen, was wir über diese Wettbewerbe finden konnten. Wenn wir net die schönsten jungen Madln verlieren wollen, dann muss etwas geschehen. Wir müssen auch einen Wettbewerb veranstalten. Ich habe es mir auch schon genau überlegt, ich meine die Bedingungen. Teilnehmen kann nur ein Madl, das seine Wurzeln in Waldkogel hat und hier ohne Unterbrechung ansässig ist. Ich dachte, wir suchen die ›Bergkönigin von Waldkogel‹ oder des ›Waldkogeler Bergmadl‹. Dich hätte ich gern als Schirmherr, Tassilo. Bist ein berühmter und bekannter Musikproduzent. Des macht sich gut, dein Name auf den Plakaten.«

Tassilo Graf von Teufen-Thurmann brach in lautes Lachen aus.

»Was lachst du? Lachst mich aus oder an?«

»Ein bisserl schon, Fritz! Ich verstehe dich ja. Du willst Reklame machen, für dein geliebtes Waldkogel. Du willst es den Franken zeigen, dass wir des hier auch können und schöne Madln haben.«

»Genau! Übrigens, ich habe schon mit Heiner gesprochen. Er ist dafür. Er hat sogar nix dagegen, wenn die Madln sich im Bikini zeigen.«

»Soso, was du nicht sagst? Na dann, wenn du sogar des Pfarrers Segen hast, kann ich ja nicht ablehnen. Aber ich muss mir darüber erst einige Gedanken machen. Es sollte schon ein bisserl anders sein und net so wie Schönheitswettbewerbe sonst so. Wenn du, ich meine wir, uns die Arbeit machen – und Kosten wird die Sache auch mit sich bringen, – dann muss alles drangesetzt werden, damit wir aus der Masse herausragen.«

»Genau! Das ist genau meine Linie, Tassilo. Du bist der richtige Mann dafür. Seien wir doch mal ehrlich. Im Grunde ist jedes Madl ein fesches Madl. Es kommt immer auf das Auge des Betrachters an. Dem einen Burschen gefällt das Madl und einem anderen ein anderes Madl. Beide sind fesch, aber vergleichen lassen sie sich nicht.«

»Stimmt! Aus wem soll die Jury bestehen?«

»Aus dir, mir, dem Zandler, einige Männer aus dem Gemeinderat, dann dachte ich, wir nehmen die jeweiligen Vorsitzenden der Vereine. Aber wir sollten auch einige Frauen dabei haben, meint Heiner.«

»Gute Idee, Fritz! Aber da fällt mir noch etwas ein. Wie wäre es, wenn wir es ganz anders machen?«

»Wie?«

»Augenblick, lass mich noch mal kurz nachdenken.«

Der Graf trank einen Schluck Bier.

»Also, Fritz! Wir bilden eine Arbeitsgruppe, die die Vorbereitungen trifft und alles in die Wege leitet. Dann laden wir zu einer Auftaktveranstaltung ein. Dazu biete ich dir hier den Park an. Ich wollte ohnehin mal wieder ein Sommerfest für die Waldkogeler machen. Wir geben die Bedingungen bekannt. Die Teilnehmerinnen müssen im Rathaus ein Foto von sich abgeben. Das wird aufgehängt und bekommt eine Nummer. Da alle Madln bekannt sind, muss es kein Schaulaufen geben. Jeder Erwachsene kann sich bei der Gina einen Stimmzettel holen und dem Madl seiner Wahl die Stimme geben. Am Tag X werde die Stimmen ausgezählt und die Siegerin gekürt.«

»Genial! Einfach genial, Tassilo! Und es ist demokratisch dazu. Es ist ganz objektiv. Auf der Jury lastet kein Druck. Es kann hinterher kein böses Blut geben, denn, was schön ist und was weniger fesch ist, ist immer Ansichtssache. Die einen mögen ganz schlanke Madln und die anderen wollen es etwas fülliger haben.«

»So ist es! Ich werde mir noch ein paar Gedanken machen und komme die Tage zu dir ins Rathaus.«

»Mach das! Bei mir bekommst du auch gutes, echtes Bier.«

Sie lachten, prosteten sich zu und tranken aus. Zufrieden und den Kopf voller Ideen und Anregungen machte sich Bürgermeister Fellbacher auf den Heimweg. Eine demokratische Schönheitswahl, bei der jeder seine Stimme abgeben konnte, das war doch eine sehr gute Idee und würde ein besonderes Licht auf Waldkogel werfen. Selbstverständlich würde auf Bürgermeister Fellbacher auch etwas Glanz abfallen.

*

Martin hielt vor dem großen Gebäude des ehemaligen Seidler Hofes. Erich Seidler betrieb keine Landwirtschaft mehr. Schon vor Jahren ließ er Stallungen und Scheune zu Ferienwohnungen und Fremdenzimmer ausbauen.

Erich und Resi kamen heraus.

»Grüß Gott, Martin«, rief ihm Resi zu.

»Das ist ein seltener Besuch«, bemerkte Erich. »Bist wegen dem Frank hier? Wie geht es dem Bub? Wir machen uns solche Sorgen.«

Martin schaute die beiden ernst an, fast grimmig.

Er grüßte sie nicht freundlich, wie es sonst seine Art war, sondern gab sich sehr zugeknöpft.

»Ich muss mit euch reden. Können wir reingehen?«

Erich und Resi wurden blass. Erich legte den Arm um Resi und bat mit einer stummen Geste Doktor Martin Engler ins Haus. Drinnen sanken die beiden auf die Bank, hinter dem großen Tisch, in der Wohnküche. Mit ängstlichen Augen sahen sie Martin zu, wie er seine Arzttasche öffnete. Er legte einen Stauschlauch, mehrere Spritzen, Tupfer, Pflaster und Desinfektionsmittel auf den Tisch. Daneben breitete er vier Karteikarten aus.

»Ich will es kurz machen. Erstens, dem Martin geht es nach dem kleinen Unfall gut. Das ist das eine. Das andere ist nicht so gut. Ich muss euch Blut abnehmen und zur Analyse ins Labor schicken. Also macht mal den Arm frei! Mit dir, Seidler, fange ich an.«

»Warum? Wir sind nicht krank.«

»Des stimmt! Aber ihr habt sehr bedenkliche und höchst seltene Unregelmäßigkeiten, was des Blut betrifft in eurer Familie. Des habe ich festgestellt, nachdem ich des Blut von Heidi und Frank untersucht habe. Ihr wisst vielleicht nicht, dass die beiden Blut gespendet haben, weil sie sich testen lassen wollten, ob sie als Spender in Frage kommen, um dem schwerkranken kleinen Madl zu helfen.«

Martin sah, wie die beiden blass wurden.

»Was für Unregelmäßigkeiten?«, fragte Erich, aber seine Frage klang halbherzig.

Martin richtete sich auf. Er sah ihn an.

»Ich will nicht drum herumreden. Heidi und Frank haben nicht nur unterschiedliche Blutgruppen, sondern auch höchst seltene Blutgruppen. Nur ein Prozent der Bevölkerung hat zum Beispiel die Blutgruppe vom Frank und nur fünf Prozent dieselbe Blutgruppe wie die Heidi. Das hat meine Aufmerksamkeit erregt und ich habe mir eure Karten angesehen. Mein Vorgänger hat eure Blutgruppen notiert. Des passt alles net zusammen. Möglicherweise hat er einen Fehler gemacht. Es kann aber auch andere Gründe geben. Entweder gibt es eine höchst unwahrscheinliche Mutation innerhalb eurer Familie. Oder es ist damals bei der Entbindung im Krankenhaus ein Fehler passiert und es wurden Kinder vertauscht. Jedenfalls will ich des klären. Keine Angst, es geschieht nur aus Sorge, falls ihr euch untereinander mal Organe oder Blut spenden wolltet, wäre es ohnehin herausgekommen. Es ist besser, wir klären des im Vorfeld.«

Resi schossen die Tränen in die Augen. Sie zitterte. Erich hielt sie fest. Die beiden schauten sich an, nahmen sich in die Arme und hielten sich fest.

»Was ist jetzt?«, fragte Martin.

Erich Seidler räusperte sich.

»Resi, ich hole die Papiere«, sagte er leise.

Sie nickte ihm zu und wischte sich die Augen.

Nachdem Erich einen Ordner geholt hatte, bat er Martin, sich zu setzen. Stockend und mit hochrotem Kopf erzählten Erich und Resi abwechselnd, dass die Familienverhältnisse nicht so waren, wie es nach außen hin schien. Zur Untermauerung gab Erich dem Doktor Einblick in das Familienstammbuch und die Geburtsurkunden der Kinder.

»So, jetzt weißt du es!«, sagte Erich leise. Er räusperte sich. »Hast du mit Heidi und Frank gesprochen? Wissen sie Bescheid?«

Doktor Martin Engler blickte in ihre ängstlichen Augen.

»Ja, sie wissen Bescheid. Net direkt von mir, aber sie wissen es.«

»Der Himmel stehe uns bei!«, stöhnte Resi und kämpfte wieder mit den Tränen.

In diesem Augenblick hielt draußen Tonis Geländewagen. Er kam herein. Ein Blick genügte ihm.

»Die Katze ist aus dem Sack, Toni«, sagte Martin.

»Na endlich! Es wurde auch Zeit. Sagt mal, warum habt ihr net längst mit den beiden geredet? Wisst ihr, wie unglücklich sie waren? Der Frank ist wie ein Irrer durch den Wald gebrettert. Ihr müsst dem Herrgott danken, dass nicht mehr passiert ist.«

»Wir wollten all die Jahre mit ihnen sprechen. Aber wie sagt man seinen Kindern, dass sie nicht die eigenen sind?«

»Zumindest ist Heidi deine Tochter, Resi«, sagte Doktor Martin Engler.

»Wir werden mit ihnen reden, Martin. Das versprechen wir.«

»Dazu müssten die beiden bereit sein, das sind sie aber nicht. Sie sind stocksauer und sind fort«, sagte Toni.

»Wie, fort?«

»Mei, fort eben! Das konnte ich dir net am Telefon sagen, Seidler. Sie sind nach Kirchwalden. Ich vermute zum Anwalt.«

»Zum Anwalt? Ja, warum denn des?«

»Resi, kannst dir des net selbst ausrechnen? Sie wollen sich beraten lassen, was sie machen können, um auch juristisch nimmer als Geschwister dazustehen. Mit euch wollten sie nicht reden. Das kann ich auch verstehen.«

Doktor Martin Engler stimmte Toni zu.

»Fast dreißig Jahre habt ihr des Theater gespielt. Warum? Mei, ich verstehe es nicht. Wolltet ihr das Geheimnis nie preisgeben? Wisst ihr, was ihr damit besonders dem Frank angetan habt?«

Erich und Resi blickten verwundert zwischen Toni und Martin hin und her. Erich Seidel räusperte sich.

»Wir waren immer gut zu den Kindern. Ich habe mir immer große Mühe gegeben, habe sie behandelt, als wären sie mein eigenes Fleisch und Blut. Des müsst ihr uns glauben. Aber vielleicht war unsere Entscheidung wirklich falsch. Wir haben es nur gut gemeint.«

Martin packte die Sachen in die Arzttasche zurück und setzte sich. Toni nahm sich einen anderen Stuhl. Es war ganz still in der Küche. Nur das gleichmäßige Ticken der Uhr unterbrach die gespannte Stille.

»Wir werden den Kindern alles sagen, wenn sie kommen. Das versprechen wir, Martin.«

»Da könnt ihr lange warten«, sagte Toni. »Die beiden bekommt ihr so schnell nimmer zu sehen. Irgendwie kann ich auch verstehen, dass sie fortgehen.«

»Wir hatten schon länger den Verdacht, dass Frank dahintergekommen ist. Vielleicht hat der Bub mal in den Akten gestöbert? Wir dachten, dass er es weiß, nix sagen will und deshalb nach Wien ist«, bemerkte Resi Seidler.

»Naa, des ist es net, das kann ich euch versichern. Es ist etwas ganz anderes. Der Frank musste Höllenqualen ausstehen, nach einer ganz anderen Entdeckung.«

Toni und Martin warfen sich Blicke zu. Toni atmete tief durch. Es kostete ihn viel Überwindung, es auszusprechen.

»Also, ich will es euch sagen, dann müsst ihr entscheiden, was ihr tut. Schon in der Pubertät hat sich der Frank in die Heidi verliebt und bei dieser Liebe ist es auch geblieben. Versteht ihr?«

Erich und Resi wurden zuerst weiß wie eine frisch gekalkte Wand, dann färbten sich ihre Gesichter tiefrot. Sie schauten sich an. Martin und Toni sahen, dass es ihnen wie Schuppen von den Augen fiel.

»Erich, vielleicht war die Heidi auch in den Frank verliebt und hat deshalb nie einen anderen Burschen angeschaut?«, hauchte Resi fast tonlos.

Toni grinste.

»Endlich fangt ihr an zu denken! Ja, die Heidi ist in den Frank verliebt. Bewusst war ihr es nicht. Die Gefühle sind bei ihr erst hervorgebrochen, als sie erfuhr, dass der Frank nicht ihr Bruder ist. Die beiden waren die ganze Nacht fort, zuerst am ›Erkerchen‹, dann haben sie in einer Schutzhütte übernachtet. Ich weiß nicht, wie sie sich angenähert haben. Ich weiß nur, dass sie gestern noch wie Geschwister waren und heute Morgen auf einen Kaffee auf die Berghütte kamen. Dabei sahen sie wie ein Liebespaar aus, das sich endlich gefunden hat.«

Jetzt konnte Toni ein Lächeln nicht mehr unterdrücken.

Er seufzte.

»Also, jetzt wisst ihr alles! Die beiden kaufen in Kirchwalden Ringe und wollen alles tun, damit sie bald heiraten können.«

Erich und Resi sahen sich an.

»Erich, die beiden werden bestimmt glücklich. Sie hatten schon immer ein ganz besonders Verhältnis zueinander. Was meinst du?«

»Ja, das denke ich auch. Wir müssen sie erreichen und mit ihnen reden. Wir haben so viel gutzumachen! Wir können dazu beitragen, dass sie schnell heiraten können. Vielleicht können wir dadurch wieder etwas gutmachen?«

»Ob ihr den Riss in eurer Familie so schnell kitten könnt, das weiß ich net«, sagte Toni. »Aber ich kann euch einen Rat geben. Am besten redet ihr mal mit dem Fellbacher. Der kann euch vielleicht sagen, wie ihr die Papiere berichtigen könnt, beziehungsweise, was zu tun ist.«

»Dann gehen wir am besten sofort aufs Rathaus. Ein leichter Gang wird des net, aber ich kann hier nicht untätig rumsitzen, Resi.«

Sie nickte und stand auf. Resi legte ihr wollenes Umschlagtuch um die Schultern und reichte Erich seinen Hut mit dem Gamsbart.

»Vergesst die Papiere nicht«, ermahnte sie Toni.

Sie nickten.

Gemeinsam gingen alle hinaus. Draußen auf dem Hof schüttelten Erich und Resi Seidler Doktor Martin Engler und Toni die Hände. Dann stiegen sie ins Auto und fuhren los.

Toni und Martin sahen sich an.

»Martin, komm mit! Wir gehen jetzt erst mal zu meinen Eltern ins Wirtshaus und trinken ein Bier. Einen Obstler könnte ich auch vertragen, was meinst?«

»Wir sollten die beiden verständigen, Toni.«

»Wie?«

Doktor Martin Engler reichte Toni sein Handy.

»Hier! Franks Nummer ist gespeichert. Rufe du an! Sage, du hättest die Sache geregelt und sie sollten sofort aufs Rathaus kommen. Der Fellbacher wäre schon informiert. Mehr musst du nicht sagen.«

»Gute Idee, Martin!«

Toni rief an. Frank und Heidi saßen in einem Eiscafé in Kirchwalden, nachdem sie sich Ringe gekauft hatten.

»Mei, Toni! Bist ein echter Freund! Wir fahren sofort los. Pfüat di!«

»Was ist?«, fragte Heidi.

»Des wirst gleich erleben!«

Frank legte einen großen Geldschein auf den Tisch, nahm Heidi bei der Hand und zog sie fort. Unterwegs erzählte er ihr, dass Toni wohl mit Fellbacher geredet hätte und sie sofort kommen sollten.

*

Als Frank und Heidi eine halbe Stunde später das Vorzimmer von Bürgermeister Fellbacher betraten, begrüßte sie Gina herzlich.

»Was seid ihr für ein schönes Paar! Ihr könnt gleich durchgehen. Die Papiere sind schon alle fertig.«

Die Überraschung stand den beiden deutlich ins Gesicht geschrieben. Durch die offene Tür kam ihnen Bürgermeister Fellbacher entgegen.

»Nun schaut net so! Mei, ihr müss­tet euch im Spiegel sehen«, lachte er. »Aber eure Stimmung wird gleich weitersteigen.«

Er bot den beiden Plätze am Besprechungstisch an.

»So, dann schreiten wir zur Tat. Die Papiere sind fertig. Wenn ihr unterschreibt, kann ich euch jederzeit zu Mann und Frau erklären.«

»Wie? So einfach?«, rief Heidi aus.

»Müssen wir nicht erst nachweisen, dass wir keine Geschwister sind.«

»Naa, des ist bekannt, vielmehr aktenkundig.«

Erneut verschlug es den beiden die Sprache. Bürgermeister Fellbacher lächelte.

»Fangen wir mit dir an, Frank. Hier nimm und sieh selbst! Das ist eine Kopie aus dem Seidler Stammbuch. Das ist deine Geburtsurkunde und die dazu gehörenden Erklärung vom Erich. Deinen leiblichen Vater hat deine Mutter mit ›unbekannt‹ angegeben. Erich Seidler gab die schriftliche Erklärung ab, dass er dich als Kind annimmt. Damit wurdest du ehelich.«

Bürgermeister Fellbacher schaute jetzt Heidi an.

»Bei dir ist es ähnlich. Hier steht der Name deines Vaters. Du wurdest aber nach der Eheschließung der Resi mit dem Erich geboren. Der Erich hat dich anerkannt. Deshalb bist auch du ehelich und jedenfalls auf dem Papier sein Madl.«

Fellbacher gönnte den beiden einen Augenblick Zeit, um das Gehörte zu begreifen und zu verarbeiten.

»So, weiter! Ihr seht, so kompliziert, wie ihr angenommen habt, ist die Sache nicht. Ich kann euch trauen, zumindest standesamtlich. Aber ihr lasst euch doch sicher noch den Segen von Pfarrer Zandler geben, oder? Wann wollt ihr also heiraten?«

»An eine kirchliche Heirat haben wir erst gar nicht gedacht und wenn, dann sicherlich nicht hier in Waldkogel«, sagte Frank. Heidi stimmte zu.

Bürgermeister Fritz Fellbacher schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, dass es knallte.

»Himmelsakrament! Ihr seid zwar net die leiblichen Kinder, aber ihr steht mit eurem Verhalten Erich und Resi in nichts nach. Immer sich schön drücken, damit ist jetzt Schluss, ein für alle Mal! Ihr unterschreibt jetzt das Aufgebot, dann bringe ich euch persönlich rüber zum Pfarrer. Da lasse ich net mit mir reden. Ich hab’ Erich und Resi versprochen, dass ich vermittle und des mache ich auch. Es tut ihnen leid. Sie wollten es euch immer schon sagen, aber je länger sie damit gewartet haben, desto schwieriger wurde es für sie. Als du dann nach Wien bist und sie dachten, du seiest dahintergekommen und ihnen böse, hat sie der Mut ganz verlassen.«

»Was hätte ich tun sollen, Fellbacher?«

»Mei, ich sehe ein, dass des für dich net einfach war. Bist nicht auf die Idee gekommen, mit jemanden drüber zu reden? Vielleicht sogar mit dem Herrn Pfarrer? Ihr seid beide getauft und hier zur heiligen Kommunion gegangen. Des, was hier in dem Stammbuch steht, des steht auch in den Kirchenbüchern. Versteht ihr? Ich hab’ mit Zandler telefoniert. Er wuss­te, dass ihr keine Geschwister seid. Aber von sich aus konnte er nix sagen. Aber wenn ihr ihn angesprochen hättet, dann hätte er reden können.«

Frank und Heidi seufzen.

»Wollen wir?«, fragte Frank.

Statt einer Antwort griff Heidi nach dem Füllhalter und setzte ihren Namen auf das Papier, dann unterschrieb Frank.

»Wann soll der Termin sein?«

Frank und Heidi schauten sich an. Wie aus einem Mund sagten sie: »Sofort!«

»Schmarrn! Aber auf heute können wir uns einigen. Erst geht es rüber zum Pfarrhaus. Aufi!«

Bürgermeister Fritz Fellbacher ließ den beiden keine Wahl.

Minuten später schob er sie in das Studierzimmer des Geistlichen und schloss die Tür von außen. Fellbacher legte das Ohr an das Holz und lauschte. Es war nichts zu hören.

Drinnen trat Pfarrer Zandler zur Seite und sagte mit einem Schmunzeln:

»Die Herrschaften kennen sich ja bereits. Da kann ich mir die Vorstellung sparen.«

Erich und Resi hielten sich an den Händen und schauten Frank und Heidi an.

»Jetzt macht schon! Nehmt euch in die Arme! Wie lange soll des noch dauern?«, drängte der Pfarrer. »Ich sage euch, ich lasse euch alle erst wieder hier raus, wenn ihr euch versöhnt habt.«

Pfarrer Zandler schloss die Tür ab und steckte grinsend den Schlüssel ein.

»Das ist Freiheitsberaubung«, schimpfte Frank.

»Ich habe die Rückendeckung unseres Herrgotts. Außerdem ist des keine Freiheitsberaubung, sondern eine notwendige Maßnahme innerhalb einer Familienzusammenführung nach einem Zwist. Schließlich bin ich der Hirte von Waldkogel und für das Seelenheil und den Seelenfrieden meiner Schäfchen zuständig. Dass ich dabei auch mal zu drastischeren Maßnahmen greifen muss und sie mit dem Hirtenstab etwas unsanft zusammentreiben muss, damit kann ich leben. Es gibt immer mal wieder dumme Schafe und sture Böcke, bei denen ich gezwungen bin, härter durchzugreifen. Los jetzt!«

Nach Pfarrer Zandlers Worten mussten beide Paare lächeln. Das Eis brach. Sie gingen aufeinander zu und nahmen sich in die Arme.

Pfarrer Zandler faltete die Hände und flüsterte:

»Herr im Himmel, danke!«

Der Geistliche schloss wieder die Tür auf. Helene Träutlein brachte Kaffee und Kuchen und deckte den Tisch.

Die nächsten Stunden saßen Erich, Resi, Frank und Heidi zusammen und sprachen sich aus. Pfarrer Zandler wachte darüber und übernahm immer wieder die Rolle eines gütigen und schlichtenden Vermittlers.

Heidi erfuhr von ihrer Mutter, wer ihr Vater war und wie es dazu gekommen war, dass sie dann allein dastand. Der Grund war eine böse Intrige von Resis Eltern, die nicht wollten, dass sie mit dem Mann zusammenkam, der bei einem Zirkus in München arbeitete.

»Mein Vater war Tierpfleger? Jetzt verstehe ich auch, warum ich so tiernärrisch bin«, sagte Heidi.

Ihre Mutter erzählte ihr alles und sagte ihr, dass sie keine Einwände habe, falls Heidi ihren leiblichen Vater suchen wollte. Heidi verspürte aber dazu kein Bedürfnis.

Dann überreichte Erich Seidler Frank einen Briefumschlag. Das Papier war vergilbt, die Tinte fast verblasst.

»Für Frank, meinen Buben«, las Frank laut.

Der Brief war von Franks Mutter. Sie hatte ihn mit letzter Kraft im Kindbett geschrieben und Erich anvertraut, damit er ihn eines Tages Frank geben könnte, wenn er nach seiner Mutter fragen würde. Der Brief war zugeklebt.

»Du weißt nicht, was drin steht?«, fragte Frank.

»Nein!«

Pfarrer Zandler gab Frank einen Brieföffner. Er schnitt den Umschlag auf. Mit kraftloser Handschrift, was auf einen Blick erkennbar war, schrieb eine Mutter an ihr Kind. Frank traten die Tränen in die Augen, als er die Zeilen las. Seine Hände zitterten.

»Ich weiß jetzt, wer mein Vater ist!«, sagte Frank leise.

Er faltete den Brief zusammen und steckte ihn ein. Es war ihm anzusehen, wie ihn die Zeilen seiner Mutter mitgenommen hatten. Heidi streichelte seine Wange. Sie drängte ihn nicht, es ihr zu erzählen. Er wird schon reden, wenn er will und es ihm danach ist, dachte sie. Die Liebe hatte Heidis Verhalten verändert. Sie war nicht mehr die nörgelnde, drängende, neugierige, temperamentvolle kleine Schwester, sie war zur Frau geworden, mit Geduld und Verständnis.

»Ja, dann wollen wir heiraten«, sagte Frank. »Heidi und ich dachten an eine kleine diskrete Hochzeit. Ist das möglich, Herr Pfarrer Zandler?«

Der Geistliche hatte sich bereits Gedanken gemacht und wusste, dass es irgendwann zu Gerede in Waldkogel kommen würde. Das musste nicht einmal aus Boshaftigkeit geschehen, sondern aus Neugierde und Verwunderung.

Er machte dem Brautpaar deshalb einen Vorschlag. Frank und Heidi waren einverstanden.

Noch am gleichen Tag vollzog Bürgermeister Fritz Fellbacher auf dem Rathaus von Waldkogel die standesamtliche Trauung.

Zwei Tage später war Sonntag. Helene Träutlein hatte auf Wunsch des Pfarrers einige Andeutungen gemacht, dass es am Sonntag eine besondere Hochzeit geben würde und der Pfarrer ein großes Geheimnis daraus machte.

So war die Sonntagsmesse sehr gut besucht.

Die Messe an diesem Sonntag war sehr kurz und Pfarrer Zandlers Predigt knapp, wie sie knapper nicht sein konnte.

Nach dem Schlusssegen sagte er laut:

»Wenn jetzt einer die Kirche verlässt, werde ich ärgerlich. Ich bin noch nicht fertig. Ich traue noch ein Paar und ich will, dass ihr alle dabei seid und das junge Glück liebevoll und gütig in eurer Mitte aufnehmt.«

Dann erzählte Pfarrer Zandler auf sehr behutsame Weise, unter Weglassung einiger Details, die niemand etwas angingen, die Lebens- und Liebesgeschichte von zwei Paaren.

Er nannte dabei keine Namen.

Aber seine Worte trafen alle ins Herz.

Die Männer räusperten sich und gaben vor, Schnupfen zu haben. Die Frauen wischten sich die Tränen aus den Augen.

Schließlich gab Pfarrer Zandler dem Organisten ein Zeichen.

Unter den Klänge der Orgel schritt Frank Seidler am Arm von Resi durch den Mittelgang, gefolgt von Heidi an der Seite ihres Vater. Die Gemeinde erhob sich und klatschte spontan Beifall. Pfarrer Zandler lächelte erleichtert.

Die Schafherde hatte die geschundenen Lämmer in ihrer Mitte aufgenommen.

Vor dem Altar legten Resi und Erich die Hände ihrer Kinder ineinander.

Dann vollzog Pfarrer Zandler die Trauung und gab dem ganz besonderen Paar, das eine tiefe unbewusste Liebe schon lange verbunden hatte, seinen Segen.

Strahlend verließen Frank und Heidi die Kirche. Sie waren ein wunderschönes Paar, das schönste Hochzeitspaar, das Waldkogel seit langem gesehen hatte.

Das lag nicht an Franks feinem, dunklen Anzug und Heidis rosa Brautkleid im Landhausstil. Jeder sah, wie die beiden von innen heraus strahlten.

Erich und Resi luden jeden ein, der kommen wollte, die Hochzeit mit dem Paar zu feiern. Bis tief in die Nacht wurde auf dem Hof getanzt und gelacht.

Heidi zog mit Frank nach Wien. Erich und Resi verkauften den Hof in Waldkogel und erwarben außerhalb von Wien einen großen Bauernhof. Dort wohnten alle zusammen, die beiden Generationen, die eine so ungewöhnliche Geschichte verband. Frank und Resi bekamen in den folgenden Jahren mehrere Kinder und wurden sehr glücklich.

Der Kontakt zu Waldkogel brach nie ganz ab. Sie ließen ihre Kinder in Waldkogel taufen und verbrachten dort jeden Urlaub.

Toni der Hüttenwirt Staffel 15 – Heimatroman

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