Читать книгу Toni der Hüttenwirt Staffel 15 – Heimatroman - Friederike von Buchner - Страница 9

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Der Himmel wölbte sich strahlendblau über Waldkogel. Die Sonne schien. Es war ein sehr warmer Sonnentag. An der Haustür des Pfarrhauses hing ein großer Zettel. Darauf stand:

Treffen heute im Garten!

Die Tür zum Garten stand offen. Nach und nach kamen die Frauen zur wöchentlichen Kaffeerunde, zu der Helene Träutlein eingeladen hatte. Die Frauen trafen sich regelmäßig unter der Leitung von Pfarrer Zandlers Haushälterin. Sie tranken zusammen Kaffee und machten Handarbeiten, die sie in der Adventszeit für einen guten Zweck verkauften. Aber seit zwei Wochen blieben die Wollknäuel, Strick- und Häkelnadeln in den Körben. Es gab bei den Frauen nur noch ein einziges Thema, die Wahl des ›Waldkogeler Bergmadls’.

»Also, des ist mit meinem Alten daheim nimmer auszuhalten. Mei, ich hab’ mir schon überlegt, ob ich mir Watte in die Ohren stopfe oder mir in der Apotheke in Kirchwalden Ohrenstöpsel hole. Er redet von nix anderem mehr. Es ist grausig«, schimpfe Maria Lechbacher.

»Da bist net die Einzige, Maria. Bei uns daheim ist es genauso. Mein Mann und die Buben reden auch über nix anderes mehr. Es geht nur noch darum, welches Madl sie wählen«, warf eine andere ein.

»Es sind doch noch keine Fotos ausgehängt. Wie wollen sie dann entscheiden?«

Alle lachten.

»Jeder kann sich an den Fingern abzählen, dass jedes Madl zwischen achtzehn und fünfundzwanzig dabei mitmacht. Meine Buben, die machen schon Listen«, sagte Hedi. »Dabei sind sie auch schon öfters in Streit geraten.«

»Genau wie bei uns daheim. Es ist erschreckend, mit wie viel Interesse die Burschen des verfolgen. Ich habe ja immer gedacht, sie würden sich nur über Fußball so ereifern. Aber jetzt, da drehen sie fast durch. Wo soll das noch hinführen? Ich sage euch ehrlich, dass ich froh bin, wenn diese seltsame Wahl herum ist. Wie der Fellbacher auf so eine Idee kommen konnte, ist mir ein Rätsel. Mei, so eine Schönheitskönigin, die brauchen wir hier bestimmt net!«, betonte Anneliese mit Nachdruck.

Alle stimmten ihr zu.

»Wo ist eigentlich die Irene? Kommt die heute nicht?«

Helene Träutlein schenkte eine weitere Runde Kaffee ein.

»Die Irene Fellbacher hat angerufen. Sie kommt, es kann aber ein bisserl später werden, hat sie gesagt.«

»Sie will sich doch nicht drücken?«, rief Maria. »Dass es hier in der Runde im Augenblick net so angenehm für sie ist, das kann ich verstehen. Aber ganz freisprechen kann ich sie nicht.«

»Genau«, stimmte Hedi zu, »die Irene hätte des ihrem Fritz ausreden müssen. Des ist doch ein Schmarrn, des Ganze! Wir brauchen so eine Wahl in Waldkogel nicht. Des gibt nur noch mehr Ärger. Ihr wisst ja, dass ich zwei Madln hab. Die Große ist zwanzig und die Kleine ist siebzehn Jahr’. Sie sind vom Schönheitsfieber befallen. Jeden Tag probieren sie eine neue Frisur aus und ein neues Make-up. Ihre Zimmer gleichen einer Theatergarderobe. Und jetzt kommt noch des Dickste: Sie wollen nach München und sich von einem Stylisten beraten lassen. Die spinnen doch! Also, ich weiß mir bald nimmer zu helfen. Und Geld geben die aus! Da haben sie jahrelang gespart. Es sollte für später sein, wenn sie mal heiraten. Jetzt werfen sie des Geld nur so mit vollen Händen hinaus. Jeden Tag ziehen sie durch die Läden in Kirchwalden und kommen mit Tüten und Kartons voller Kleider und Schuhe heim. Die ersten Tage hab’ ich mir des Zeugs noch angesehen und vorführen lassen. Na, jetzt mache ich des nimmer. Ich hab’ ihnen gesagt, sie sollen mit ihrem Krempel in ihre Zimmer verschwinden. Ich will nix mehr sehen und hören. Ihr braucht euch net über eure Buben und Mannsbilder auszulassen. Des ist eine Kleinigkeit, gegen das, was sich bei mir daheim abspielt, des sage ich euch. Narrisch geworden! Alle beide! Des ist schon beängstigend«, machte sich Gisela Luft.

Sie seufzte tief.

Die Frauen sprachen weiter über dieses Thema und es ging ziemlich laut dabei zu. Pfarrer Zandler saß im Studierzimmer und las. Er konnte sich nicht konzentrieren und schloss das Fenster. Er machte sich leise Musik an. Ihn plagte auch etwas das schlechte Gewissen, weil er fand, dass er nicht ganz unschuldig an der Angelegenheit war. Aber die Sache war nun einmal angelaufen und konnte schwerlich aufgehalten werden. Es war, als gingen sowohl mit den Mannsbildern als auch mit den Madln die Pferde durch. Aber neugierig war Pfarrer Zandler schon. Deshalb machte er das Fenster wieder auf und lauschte.

Als Irene Fellbacher in den Garten kam, verstummten alle für einen Augenblick. Helene Träutlein rückte zur Seite, damit sich Irene neben sie setzen konnte.

»Ich gebe dir gleich einen Kaffee.«

»Danke, Helene! Ich habe gerade in Kirchwalden Kaffee getrunken. Ich habe die Kinder zu meinen Eltern gebracht.« Sie seufzte leise und fügte hinzu: »Da bleiben sie jetzt auch bis zum Ende der Schulferien. Gefallen tut ihnen des net, aber darauf kann ich keine Rücksicht nehmen. Ich musste sie aus dem Weg haben.«

»Mei, was hast vor?«, fragte Hedi.

»Ich will in Streik treten.«

»Wie bitte?«

»Streiken willst?«

»Wie kommst denn auf so etwas?«

Irene Fellbacher prasselten die Fragen entgegen. Sie nahm jetzt doch einen Kaffee.

»Also gut, sage ich es euch besser selbst, bevor es zu Gerüchten kommt.«

Sie trank einen Schluck Kaffee. Dann atmete sie tief durch. Sie schaute in die Runde.

»Also, dass es schon mal klar ist. Ich hab’ net vor, mich von meinem Fritz scheiden zu lassen. Aber streiken tue ich! Mit dem Mann ist kein vernünftiges Wort mehr zu reden, seit dieser depperten Idee, mit dem Schönheitswettbewerb. Mei, ich weiß, dass er als Bürgermeister abends oft fort muss. Aber seit es diese Arbeitsgruppe gibt, sehe ich ihn überhaupt nimmer. Die Kinder sind schon unruhig geworden, weil er keinen Abend mehr daheim ist. Wenn der dann kommt, dann höre ich nur noch von diesem narrischen Schönheitswettbewerb. Ich habe beschlossen, zu streiken.«

»Heißt des, du ziehst bei euch daheim ins Gästezimmer?«, fragte Maria, ohne dabei rot zu werden.

»Ob ich des mache, des weiß ich noch net. Ich kann mir ja auch ein Zimmer im Hotel ›Zum Ochsen‹ nehmen. Habe ich net das Recht, mal Urlaub zu machen? Mich zu erholen? Alles ist so selbstverständlich, Kochen, Waschen, Bügeln, dem Herrn die Schuhe putzen, um die Kinder kümmern, den Garten in Ordnung halten und so weiter und so weiter. Ihr wisst genau, von was ich rede. Und alles ist so selbstverständlich! Naa, so geht des net weiter, das habe ich gestern beschlossen.«

»Ja, hast mit deinem Mann net erst mal geredet, Irene?«, fragte Helene Träutlein.

»Helene, nimm es mir nicht übel, aber von so einer Sache verstehst du nix! Du bist unverheiratet und bekommst deine Hausarbeit bezahlt. Du hast einen geregelten Urlaub und freie Abende und Nächte, wenn ich das mal umschreiben darf. Also halte dich da heraus.«

Helene Träutlein verzog erstaunt das Gesicht. Dass Irene sie so offen kritisierte, überraschte sie. Doch sie fasste sich schnell.

»Irene, ich kann verstehen, dass du auf deinen Fritz sauer bist. Ich billige dir auch zu, dass du mir in gewisser Weise absprichst, dass ich da mitreden kann. Aber so ein Streik, ich weiß nicht, kann es dadurch nicht schnell zu einem dauerhaften Streit kommen? Zuerst sollte man doch immer miteinander reden und versuchen, sich in der Mitte zu treffen. Der Fritz scheint doch ein ganz vernünftiger Mann zu sein.«

»Normalerweise, aber wir haben im Augenblick keine normalen Zeiten in Waldkogel. Sicher hab ich es versucht, wie wir wohl alle hier, oder?«

Irene schaute in die Runde und erntete zustimmendes Nicken.

»Ich habe mit dem Fritz geredet, an seine Vernunft und an seine Verantwortung appelliert. Nix! Nichts hat geholfen. Da habe ich gedroht. Meine Drohung verpuffte. Ich mache sie wahr. Wenn er erst selbst die Hausarbeit machen und jeden Tag auswärts essen muss, vielleicht kommt er dann zu Besinnung. Es kommt mir vor, als bestünde seine Welt nur noch aus feschen, jungen Madln. Erspart mir, über was die Mannsbilder in dieser Arbeitsgruppe alles reden. Die steigern sich da in etwas hinein, des nimmer feierlich ist. Und ich nehme des nimmer hin!«

Sie stöhnte.

»So, jetzt frage ich euch, wann haben sich die Mannsbilder mal so viele Gedanken um uns gemacht?«

Es entstand Gemurmel rund um den Kaffeetisch. Irene Fellbacher lächelte.

»Jedenfalls will ich, dass sich etwas ändert, jedenfalls bei mir daheim. Nur mit einem schönen großen Blumenstrauß zum Muttertag ist das nicht mehr getan. Vielleicht bin ich für euch kein gutes Vorbild. Aber darauf nehme ich keine Rücksicht. Mein Fritz wird jetzt seine Lektion lernen, das schwöre ich euch. Und ich sage euch gleich noch etwas. Sollte es eine von euch wagen, den Fritz zum Essen einzuladen, dann kann sie mich kennenlernen. Sicher wird er sich bei seinen Freunden ausheulen. Ich denke mir schon, dass sie ihn herumreichen, ihn zum Essen einladen. Aber ich warne euch! Wenn ihm eine hilft, dann kann sie mich von einer anderen Seite kennenlernen.«

»Du drohst uns?«, rief Maria vom anderen Ende des Tisches her.

»Fass es auf, wie du es willst, Maria. Ich will nur nicht, dass mir jemand in den Rücken fällt. Mit der Gina habe ich auch schon geredet. Sie wird ihm im Rathaus kein Frühstück machen und seinen Kaffee kann er sich selbst kochen. Mit der Meta Baumberger habe ich auch gesprochen. Mittagstisch bieten die Baumbergers eigentlich nicht an. Xaver und Meta machen die Wirtschaft erst am späten Nachmittag auf. Aber wir wissen alle, dass die Franziska und der Sebastian jeden Tag nach der Schule bei den Baumberger Großeltern zum Mittagessen gehen. Außerdem gibt es gelegentlich doch einen Mittagstisch für Reisegruppen, auch wenn es mehr die Ausnahme ist. Aber Meta hat versprochen, den Fritz abzuweisen, falls er auf den Trick verfällt, sich bei ihr einzuschmeicheln.«

Irene schaute Helene an, die neben ihr saß.

»Es kann sein, dass er dann mit seinem Freund essen will. Helene, du musst mit dem Pfarrer reden. Wenn er ihn einlädt, im Pfarrhaus zu essen, dann …, ja, dann hat er mich zum letzten Mal in der Messe gesehen. Kannst ihm ruhig erzählen, dass ich auch auf ihn sauer bin. Er hat den Fritz in seiner depperten Idee noch bestärkt. Zandler muss für einen Augenblick den Verstand verloren haben, Helene.«

Irene Fellbacher atmete tief durch.

»So, des war alles, was ich euch sagen wollte. Ich kann jetzt nicht länger bleiben. Ich habe in Kirchwalden eine Freundin getroffen. Wir beide gehen heute Abend ins Kino und vielleicht gehen wir anschließend noch auf ein Bier in den Biergarten. Was die Mannsbilder können, das können wir auch!«

Die Frau des Bürgermeisters stand auf. Sie nahm die Handtasche, sagte »Pfüat euch« und ging fort.

Es war ganz ruhig. Die Frauen fingen erst wieder an zu reden, als das Motorengeräusch von Irenes Auto nicht mehr zu hören war. Sie redeten wild durcheinander und diskutierten Irenes Verhalten. Die Meinungen gingen weit auseinander. Sie reichten von Empörung, dass sie so etwas machte, bis hin zu absoluter Zustimmung und Bewunderung. Einige berieten, ob sie sich ihr anschließen sollten. Dann würde hoffentlich bald wieder Ruhe in Waldkogel einkehren.

So ging das die nächste Stunde weiter. Helene Träutlein war froh, als endlich die Kirchturmuhr schlug und das Ende des wöchentlichen Kaffeeklatsches anzeigte. Die Frauen verabschiedeten sich. Helene blieb noch einen Augenblick allein sitzen und trank noch eine Tasse Kaffee. Sie konnte es kaum glauben, was sie eben erlebt hatte.

Pfarrer Zandler kam in den Garten. Er grinste.

»Sie haben alles gehört?«, fragte ihn seine Haushälterin.

Der lachte laut.

»Das Fenster stand offen und es war nicht zu überhören. Na ja, warten wir ab, was geschieht. Das war ja eine wirkliche Drohung von der Irene. Ich denke, es ist besser, wenn ich den Fritz in der nächsten Zeit nicht zum Essen einlade.«

Helene Träutlein zuckte mit den Schultern.

»Wie denkst du darüber, Träutlein?«

»Der Bürgermeister meinte es bestimmt gut mit dem Wettbewerb. Das Ganze scheint aber etwas aus dem Ruder zu laufen, Herr Pfarrer. Können Sie nicht ein bisserl die Zügel anziehen?«

»Versuchen kann ich es! Ob es gelingt, das steht auf einem anderen Blatt. Ich überlege, was zu tun ist, damit der Riss, der sich im Augenblick in der Gemeinde auftut, nicht noch tiefer wird.«

Helene Träutlein stand auf und begann, den Tisch abzuräumen. Pfarrer Zandler ging in die Gartenlaube und setzte sich in den Schatten. Er dachte nach. Aber ihm fiel nichts ein. Er bereute es, Fritz Fellbacher auf dieses Thema gebracht zu haben. Doch seine Reue brachte ihn nicht weiter. Ich muss aufpassen, dass ich nicht noch mehr Öl ins Feuer gieße, dachte er. Er kannte die Männer und Burschen von Waldkogel gut. Insgesamt waren sie alle recht umgänglich und gute Ehemänner und Buben. Aber wenn man sie in die Enge trieb, dann verwandelten sie sich, wider besseres Wissen, in dumme Esel und sture Böcke.

»Herr im Himmel«, murmelte der Pfarrer verzweifelt, »Herr, ich brauche einen Rat. Ich kann die Irene verstehen. Der Fritz ist mein Freund. Er kann sich so sehr in eine Sache verbeißen, dass er darüber Frau und Kinder vergisst. Aber muss die Irene deshalb gleich so hart sein?«

Über eine Stunde saß Pfarrer Zandler im Garten und ließ sich die Angelegenheit durch den Kopf gehen. Aber ihm fiel keine Lösung ein, die Wellen zu glätten. Mit Irene Fellbacher konnte er nicht sprechen, sie war in Kirchwalden. Mit Fritz wollte er erst reden, wenn dieser ihn ansprach. Also musste er sich in Geduld üben, was ihm in dieser Angelegenheit sehr schwerfiel.

*

Sebastian und Franziska kamen über das Geröllfeld. Toni bediente die Gäste auf der Terrasse, Anna war in der Küche beschäftigt. Nach einer Weile kam Toni herein.

»Wo sind die beiden?«

»Sind die Kinder schon wieder da?«, fragte Anna. »Ich habe sie nicht gesehen.«

»Mei, ich habe doch keine Halluzinationen. Ich habe die beiden gesehen!«

Anna und Toni schauten sich an. Anna wischte die Hände ab. Ohne dass sie sich absprechen mussten, gingen Toni und Anna zu den Kinderzimmern. Sebastian saß auf dem Bett. Seine kleine Schwester Franziska hockte vor ihm auf dem Boden.

»Tut es sehr weh, Basti?«, fragte sie.

»Es geht!«

»Du hast es dem Paul ganz schön gegeben. Der hat bestimmt mehr Schmerzen.«

»Wie siehst du aus, Basti! Was ist passiert?«, rief Anna.

Sebastian hatte Abschürfungen an den Knien, eine Beule am rechten Jochbein und ein Ellenbogen blutete. Ein Ärmel seines Hemdes war an der Schulter eingerissen und es fehlten einige Knöpfe.

»Tut mir leid mit dem Hemd, Anna«, sagte Sebastian leise.

»Das ist nicht schlimm. Das gebe ich der Baumberger Oma, die näht es wieder zusammen.«

»Der Basti hat sich mit dem Paul geprügelt, Toni. Des war eine schöne Keilerei. Sie sind beide den Hang hinuntergerutscht«, erzählte Franziska mit wichtigem Unterton.

Toni legte den Arm um sie.

»Und warum haben sie sich geprügelt?«

Sebastian warf seiner Schwester einen vielsagenden Blick zu, der so viel bedeutete wie: wage nicht, etwas zu erzählen. Franziska errötete leicht und zuckte verlegen mit den Achseln.

Anna schickte Sebastian ins Badezimmer. Er sollte sich waschen und umziehen. Dann würde sie ihm in der Küche Pflaster draufmachen und einen Umschlag mit der Ella Waldners Kräutertinktur auf die Verletzung am Jochbein legen.

Sebastian schwieg. Er stand auf, suchte aus seinem Kleiderschrank ein frisches Hemd heraus und verschwand im Badezimmer.

»Du kommst mit mir in die Küche, Franzi. Ich habe so viel Arbeit. Willst du mir helfen?«

»Gern, Anna!«

Anna gab Franzi leichte Arbeiten und versuchte dabei, das Mädchen in ein Gespräch zu verwickeln. Anna fragte, wie der Nachmittag mit den Kindern im Forsthaus war. Franziska gab nur einsilbige Antworten, die Anna auch nicht weiterbrachten. Sie erfuhr nur, dass, außer den Kindern der Hofers, noch andere zum Forsthaus gekommen waren.

Sebastian schwieg sich ebenfalls aus. Er legte sich mit dem feuchten Umschlag aufs Bett. Als Anna später nach ihm sah, war er bereits eingeschlafen.

»Gute Nacht, schlafe gut Basti«, flüsterte Anna und schloss leise die Tür.

Anna gab Franziska Abendessen und brachte sie dann zu Bett.

Später, als es im Wirtsraum der Berghütte ruhig war, weil alle Hüttengäste schlafen gegangen waren, saßen Toni und Anna am Kamin und unterhielten sich.

»Möchte wissen, warum die beiden sich so geprügelt haben, Anna? Basti und Paul sind die dicksten Freunde. Sicherlich hatten sie schon öfter mal eine Meinungsverschiedenheit, aber dieses Mal scheint es heftig gewesen zu sein.«

»Mach dir keine Sorgen, Toni!

Basti neigt nicht dazu, sich zu prügeln. Von Paul Hofer kann man es auch nicht sagen. Sie sind im Grunde zwei sehr vernünftige Buben. Trotzdem kann es mal vorkommen, dass Worte als Argumente nicht mehr ausreichen. Dann fliegen unter Freunden auch schon mal die Fäuste.«

Toni nippte an seinem Bier.

»Sicher, das weiß ich. Ich war auch einmal in dem Alter. Da gibt es Sachen, die kann man als Bub nicht auf sich sitzen lassen. Da ballt man die Fäuste und haut drauf. Mich wundert nur, dass er nicht den Grund erzählte, Anna. Und wie er Franziska angegiftet hat, damit sie nichts sagt!«

Anna schmunzelte.

»Vielleicht ging es um ein Madl?«

»Ein Madl?«, rief Toni überrascht.

»Warum nicht? Die Kinder werden älter.«

Toni rieb sich das Kinn.

»Meinst wirklich?«, fragte er nach.

Anna zuckte mit den Schultern.

»Wir können nur raten, Toni. Wir waren nicht dabei. Aus Franziska habe ich nichts herausbekommen. Vielleicht erfahren wir morgen mehr.«

Anna warf Toni einen liebevollen Blick zu.

»Mach dir nicht so viele Sorgen. Wir können stolz auf die Kinder sein. Sie sind selbstständig und regeln ihre Angelegenheiten, ohne gleich nach Mama und Papa zu rufen, Toni.

Auch wenn es dabei mal einige Schrammen gibt oder ein Hemd zerreißt, finde ich es gut. Das heißt doch nur, dass sie versuchen, allein klarzukommen.«

Das Feuer im Kamin war heruntergebrannt. Toni legte Holz nach.

»Ach, Anna, ich bin mir eben manchmal unsicher. Franzi und Basti sind net unsere Kinder. Wenn sie nix sagen wollen, dann denke ich, es könnte auch sein, weil wir nur ihre Adoptiveltern sind. Vielleicht sind sie nur oberflächlich so fröhlich und drinnen in ihren kleinen Herzen sieht es ganz anders aus.«

»Toni, was machst du dir für seltsame Gedanken? Die beiden mögen uns, sie hatten uns gedrängt, sie zu adoptieren. Erinnerst du dich?«

»Ja, schon«, brummte Toni. »Ich mache mir eben Gedanken. Sie sollen glücklich sein, sich geborgen fühlen.«

»Das tun sie, Toni. Sicherlich haben Paul und Basti herumgealbert und dann wurde aus Spiel plötzlich Ernst. Du weißt doch, wie das geht. Jetzt denkst du nicht mehr daran! Außerdem gehen wir jetzt schlafen. Es ist schön, dass die Hüttengäste sich schon so früh zurückgezogen haben. Da kommen wir auch mal früher ins Bett.«

Bello, der junge Neufundländer, lag groß und breit vor dem Kamin. Plötzlich hob er den Kopf, dann stand er auf und ging zu der Tür, die zum privaten Wohnzimmer führte. Davon ging der schmale Flur des Anbaus ab, in dem die beiden Kinderzimmer lagen, und das einfache Badezimmer. Auf der anderen Seite lag das Schlafzimmer von Toni und Anna.

Die Tür öffnete sich einen Spalt breit. Franziska schaute heraus. Sie trug nur ihren Schlafanzug und war barfuß. Als das kleine Mädchen sah, dass im Wirtsraum der Berghütte keine Hüttengäste mehr waren, kam es auf Toni und Anna zu.

»Ich kann net schlafen«, sagte Franziska leise und drehte an ihren blonden Haaren.

»Franzi, du bist barfuß. Du erkältest dich!«, tadelte sie Toni.

Er stand auf und ging in Franziskas Kinderzimmer. Bis er mit den Hausschuhen und einem dicken Morgenmantel zurückkam, setzte sich Franzi mit angezogenen Füßen auf einen Schaukelstuhl.

»So, das ziehst an! Ich hole dir einen schönen Kräutertee, dann kannst schlafen.«

Etwas später sahen Toni und Anna zu, wie Franziska schluckweise den warmen Tee trank. Sie hatten dabei den Eindruck, als sei das Mädchen mit seinen Gedanken weit fort.

»Was geht dir im Kopf herum, Franzi? Willst du es uns nicht sagen? Vielleicht können wir helfen? Hast du schon geschlafen und vielleicht schlecht geträumt?«

»Der Max ist nicht da! Ich kann nicht einschlafen, ohne den Max. Ich habe das Fenster aufgelassen, aber er ist nicht gekommen.«

Franziskas Stimme klang weinerlich.

»Aber Franzi, deswegen musst du dir keine Sorgen machen. Der Max war doch schon öfter nachts fort. Kater machen gern mal nächtliche Ausflüge.«

»Aber wenn er nicht mehr kommt?«

Anna strich Franziska über das Haar.

»Er wird wiederkommen. Wirst schon sehen, wenn du morgen früh aufwachst, ist er da. Dann liegt er, wie immer, eng zusammengekuschelt bei dir im Bett und schnurrt. Vielleicht hat er eine Freundin im Tal oder auf einem der Berghöfe.«

»Ich habe Angst, dass das Ungeheuer ihm etwas tut.«

Toni und Anna warfen sich einen erstaunten und überraschten Blick zu. Sie wussten, dass Franziska an Max besonders hing, weil der Kater noch aus ihrem Elternhaus war.

»Wie kommst du denn auf so eine Geschichte? Welches Ungeheuer soll Max etwas tun?«

»Das Ungeheuer im Bergsee!«

»Wer hat dir diesen Blödsinn erzählt?«, brauste Toni auf. »So ein Unsinn! Wollte Basti dich ärgern?«

»Naa, Basti sagt so etwas nicht. Aber der Paul!«

»So?«

»Ja, Toni, der Paul hat gesagt, im Bergsee sei ein Ungeheuer. Es sei groß und schwarz und hat hell leuchtende Augen.«

»Des ist Unsinn!«

»Das ist kein Unsinn, Toni. Es kommen ganz viele Luftblasen rauf. Der Paul hat sie gesehen, die Ulla auch und einige andere auch noch, weißt, die größeren Buben.«

Toni und Anna konnten nur mühsam ein Lachen unterdrücken.

»Der Paul wollte sich nur wichtigmachen und die anderen Kinder auch.«

Franziska schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern.

»Des Ungeheuer ist schon eine ganze Weile dort, mindestens zwei Wochen. Wenn es dämmert, dann kann man hinten im See unter Wasser seine Augen blinken sehen. Die Luftblasen kommen rauf, wenn es atmet. Der Paul sagt, es gäbe viele Seen, in denen Ungeheuer leben. Sie werden sehr alt und schlafen oft über viele, viele Jahre, aber dann werden sie wach und haben Hunger. Sie kommen heraus und jagen Kaninchen, Katzen und Vögel.«

Anna und Toni trauten ihren Ohren nicht.

»Sebastian hat zum Paul gesagt, dass er spinnt und dumm sei. Er hat Paul ausgelacht, dann haben sie Streit bekommen.«

»Haben sie sich deshalb geprügelt?«, fragte Anna.

»Ja, die Ulla hat große Angst bekommen und geweint. Da ist Basti auf Paul los. Und dann gab es eine schlimme Keilerei.«

»Es ist Unsinn, Franzi. Es gibt keine Ungeheuer und schon gar keines im Bergsee.«

»Die großen Buben haben ein Bild dabei gehabt, darauf war ein schwarzes Ungeheuer zu sehen. Das Bild ist aber nicht in Deutschland gemacht worden.«

»Meinen die Buben vielleicht Nessi, das Ungeheuer von Loch Ness in Schottland?«

»Ja, so heißt das Ungeheuer, Nessi. Nessi ist eigentlich ein schöner Name, aber es ist böse, schrecklich böse.«

Anna ergriff das Wort:

»Franzi, haben wir dich schon einmal belogen?«

Franziska schüttelte den Kopf.

»Das würdet ihr nie machen!«

»Darauf kannst du dich verlassen, Franzi. Also, Toni und ich sagen dir jetzt, es gibt kein Ungeheuer im Bergsee. Die Buben haben sich nur einen Spaß erlaubt. Lache sie einfach aus!«

»Förster Hofer hat auch gesagt, dass Luftblasen aufsteigen und andere Leute auch. Sie haben sie durch das Fernglas gesehen.«

Toni und Anna seufzten gleichermaßen. Ihnen waren im Augenblick die Erklärungen ausgegangen. Da drang ein lautes, energisches Maunzen durch den Raum. Kater Max stolzierte mit hocherhobenem Schwanz durch den Wirtsraum. Franziska sprang auf. Sie riss ihn in die Arme und drückte ihn an sich.

»Mein Max, mein guter Max!«

Anna fasste die Gelegenheit beim Schopf.

»So, Franzi, jetzt ist alles wieder gut. Max ist hier und du gehst jetzt schlafen.«

Anna brachte Franziska ins Bett, zum zweiten Mal an diesem Abend. Sie schloss das Fenster und blieb bei Franziska sitzen, bis sie eingeschlafen war.

Toni saß am Kamin und wartete auf Anna.

»Anna, ich bin sauer. Wie kommt dieser Lausebengel von Paul dazu, solche Geschichten in die Welt zu setzen und Franziska so zu ängstigen? Was denkt sich der Bengel?«

Toni griff nach seinem Handy.

»Was willst du machen?«

»Ich rufe auf der Stelle Lorenz Hofer an und frage ihn, ob sein Bub noch recht bei Sinnen ist.«

»Toni, lass es! Mach dich nicht lächerlich! Du weißt doch, wie Kinder und Jugendliche sind. Sie machen aus einer Mücke einen Elefanten. Mag sein, dass das mit den Luftblasen stimmt. Es werden irgendwelche Gase sein. Als ich letzte Woche bei der Veronika Boller im Laden war, habe ich auch zwei Frauen darüber sprechen gehört.«

»Davon hast du gar nichts erzählt.«

»Toni, es ist Getratsche! Immer mehr Leute sagen, sie hätten Blasen aufsteigen gesehen und auch in der Dämmerung ein seltsames Leuchten. Ich denke, dass es nur dummes Gerede ist.«

»Aber du siehst, was bei so einem Gerede herauskommen kann. Basti und Paul prügeln sich, und die Franzi kann nicht schlafen, weil sie Angst hat, ein Ungeheuer könnte ihrem Kater Max etwas antun.«

»Toni, lass es gut sein!«

»Nix da, Anna! Wenn die Kinder darunter leiden, lass ich nix gut sein!«

Anna stand auf und ging auf Toni zu. Sie streichelte ihm die Wange.

»Was willst du tun, du tapferer Held? Willst Drachentöter spielen?«

»Anna, mache dich nur lustig über mich. Ich gehe morgen früh zum Hofer und rede mit ihm. Ich gehe ganz früh los, damit ich ihn noch antreffe, bevor er in den Wald geht.«

Anna gab Toni einen Kuss.

»Tu, was du nicht lassen kannst! Dann kommst du aber so schnell wie möglich wieder! Du weißt, dass sich für morgen diese Reisegruppe angesagt hat?«

»Ja, bis zehn Uhr bin ich zurück, eher früher.«

Anna seufzte.

»Gut, dann ist das Thema erledigt. Jetzt gehen wir schlafen, sonst kannst du erleben, wie ich mich in ein Ungeheuer verwandele.«

Sie lachten. Toni löschte die Deckenlampe und sie gingen schlafen. Bello trottete hinter ihnen her und legte sich in den Flur zwischen die Türen der Kinderzimmer und hielt Wache.

*

Toni ging schon um halb sechs ins Tal. Er wollte sichergehen, Lorenz Hofer noch im Forsthaus anzutreffen.

Als der alte Alois in die Küche der Berghütte kam, wunderte er sich über Tonis Abwesenheit.

»Weißt, Anna, man kann es auch übertreiben«, sagte er und schüttelte den Kopf.

»Ich weiß, ich weiß, Alois«, seufzte Anna. »Aber du kennst doch Toni. Er ist sonst so ruhig, besonnen und klug, aber wenn etwas mit den Kindern ist, dann …, dann ist er nicht wiederzuerkennen. Ich hoffe, der Lorenz lacht ihn aus, weil er so ein Theater macht.«

Der alte Alois rieb sich das Kinn.

»Was denkst du?«, fragte Anna.

Alois holte einen Becher heißen Kaffee, ein Stück Brot, Butter und Käse. Er setzte sich an den Küchentisch und fing an zu essen. Anna wusste, dass man den Alois beim Essen nicht dazu bringen konnte, viel zu reden. Also wartete sie.

Endlich war Alois fertig.

»Weißt, der Bergsee war nicht immer so groß. Als ich ein kleiner Bub war, noch viel jünger als Basti, da wurde des Wehr erneuert, damit man den Bergsee höher aufstauen konnte. Die Wiesen dahinter, die waren so feucht, dass selbst die hungrigsten Kühe net drauf wollten. Es waren die reinsten Sumpfwiesen, fast richtige Moorflächen.«

Anna bekam große Augen.

»Gell, da staunst du! Des hättest nicht gedacht, dass es hier einmal ein Moor gab. Aber des war so. Es gab einen alten Hof. Der wurde kurz vor dem zweiten Weltkrieg verlassen. Danach riss man ihn nieder und staute den Bergsee weiter auf, bis zu seiner heutigen Größe.«

»Dann reichte der Park vom Waldschlösschen des Grafen damals nicht bis zum See?«

»Naa, des war erst später so.«

Der alte Alois trank einen Schluck Kaffee.

»Es kann ja sein, dass es hinten, in der Nähe des Schilfs, ein bisserl rumort. Vielleicht gibt es irgendwelche Gase, die dort aufsteigen. Ich bin kein Experte, aber leider ist es ja heutzutage so, dass sofort aus allem eine große Geschichte gemacht wird. Vielleicht hat auch irgendjemand etwas im See versenkt? Es kam immer mal vor, dass jemand Entsorgungsgebühren sparen wollte und in einer Nacht- und Nebelaktion etwas im Bergsee verschwinden ließ. Vielleicht war mal wieder so ein Umweltsünder am Werk, wer weiß?«

»Wirklich? Alois, ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand so etwas macht.«

»Anna, der Hornochse muss net aus Waldkogel sein. Dass ein Hiesiger so was macht, kann ich mir auch net vorstellen. Dazu lieben alle Waldkogeler ihren Bergsee zu sehr. Aber es ist schon mal vorgekommen und dann hat man auch einen erwischt. Der war aus München. Mei, nix gegen die Münchner, ich will niemanden pauschal verurteilen. Aber es war so gewesen.«

»Wenn du es sagst, Alois, dann kann es wirklich möglich sein, dass die Luftblasen daher rühren.«

»Ja, das denke ich auch. Irgendwann hört der Spuk auf. Wenn ich mal wieder drunten in Waldkogel bin, dann rede ich mit dem Fellbacher. Es ist schon Jahre her, dass man mal den Wasserspiegel des Bergsees gesenkt hat. Sicher dauert es seine Zeit, bis des Wasser abgeflossen ist. Aber er füllt sich auch wieder. Früher wurde des im Herbst gemacht. Durch Schnee und Regen, den Bach und die unterirdischen Quellen steigt der Wasserpegel dann bis zum Frühjahr wieder.«

Anna hörte interessiert zu. Es gibt noch vieles von und über Waldkogel, das ich nicht weiß, dachte sie. Sie nahm sich vor, sich, während des nächsten Winters, eingehend mit der Geschichte von Waldkogel zu beschäftigen.

Toni kam kurz nach neun Uhr zurück. Die meisten Hüttengäste waren bereits zu ihren Wanderungen aufgebrochen oder hatten sich verabschiedet. Es war ruhig auf der Berghütte. Toni und Anna saßen auf der Terrasse und plauderten.

»So, da bin ich wieder. War ich nicht schnell?«

»Was hat Lorenz gesagt?«

»Warte, gleich! Ich hole mir erst ein Bier.«

Toni zapfte sich ein kleines Bier und setzte sich zu den beiden.

»Der Paul hat ein blaues Auge und blutete aus der Nase. Der Basti muss fest zugeschlagen haben. Lorenz war mit Paul sogar beim Martin, wegen des starken Nasenblutens. Aber die Nase ist in Ordnung, nix gebrochen.«

»Das ist ja schlimm! Die beiden müssen sich richtig verhauen haben.«

Anna war entsetzt.

»Des haben sie. Aber weder Lorenz, noch sonst jemand in der Familie hat Mitleid mit Paul. Lorenz hat seinem Buben eine tüchtige Standpauke gehalten, wegen dem dummen Zeug, das er erzählt. Ich denke, dass das Paul eine Lehre sein wird.«

»Dann ist also an der ganzen Geschichte nichts dran. Da wird sich Franzi freuen, wenn sie aufwacht. Ich habe sie schlafen lassen. Ich habe in der Schule angerufen, Franzi entschuldigt und Sebastian auch. Der schaut nicht gut aus, mit seiner Beule, und klagt auch etwas über Kopfschmerzen. Sie haben heute ohnehin nur drei Stunden Unterricht, wegen einer Konferenz.«

Toni nickte und rieb sich das Ohrläppchen.

»Also, die Geschichte mit dem Ungeheuer ist natürlich Unsinn. Damit wollte Paul nur seine Schwester ärgern und dem Madl Angst machen. Die Ulla ist eben ein bisserl ängstlich.«

Anna schmunzelte. Sie wusste, dass Sebastian sich schon öfter als Ullas Beschützer aufgespielt hatte und es deshalb schon mal Streit zwischen den Buben gab, auch wenn sie Freunde waren.

»Anna, das ist aber nicht alles. Es ist wirklich so, dass in den letzten Wochen vermehrt Luftblasen gesehen wurden. Lorenz gab zuerst auch nichts drauf, bis er sie selbst sah.«

Alois gab zu bedenken, dass des nix Gefährliches bedeuten musste.

»Da wird nur was gerüchtemäßig hochgekocht«, sagte Alois.

»So denkt Fellbacher auch. Er will nichts unternehmen. Das heißt, er hat die Sache der übergeordneten Dienststelle in Kirchwalden gemeldet, gewissenhaft wie Fellbacher nun mal ist. Die Beamten in Kirchwalden haben es weitergeleitet. Jetzt steht die Antwort noch aus. Es wird geprüft und dann kommt vielleicht jemand und untersucht den Bergsee. Und nimmt Wasserproben. Aber das kann dauern, wenn überhaupt nachgeforscht wird. Jedenfalls sagte Hofer, dass man wassertechnisch einiges herausfinden könnte. Das wäre genauso wie bei Bodenproben, die er untersuchen lässt.«

Am Nebentisch saß eine junge, schlanke, zierliche Frau. Sie stand auf und trat an den Tisch. Sie war etwas verlegen.

»Toni, entschuldige bitte, aber ich saß am nächsten Tisch und habe das Gespräch zwangsläufig mitgehört. Ich bin Ingenieurin. Mein Spezialgebiet ist Wasserwirtschaft. Vielleicht kann ich helfen?«

»Setz dich, Emily! Mei, welch ein Zufall! Da haben die Engel vom ›Engelssteig‹ bestimmt mal wieder mitgemischt.«

Emily sah Toni mit großen Augen an.

»Ich hole dir erst mal ein Bier, dann reden wir weiter. Ich lade dich ein!«

Während Toni ein Bier zapfte und noch einige Telefonate der Reisegruppe annahm, erzählte der alte Alois Emily die Geschichte vom »Engelssteig« und dem »Höllentor«. Emily hörte aufmerksam zu.

»Schau, dort, des ist der Gipfel des ›Höllentors‹. Aber heute musst keine Angst haben, Madl. Es steht keine schwarze Wolke über dem Gipfel. So eine Wolke ist nur zu sehen, wenn der Teufel aus dem Tor oben auf dem Berg herausgekommen ist. Dann passiert meistens ein Unglück. Aber wir haben die Engel vom ›Engelssteig‹ zu unserem Schutz. Ihnen können wir all unsere Sorgen und Nöte anvertrauen. Also, wenn du mal einen Kummer hast, dann musst du nur mit den Engeln reden. Sie tragen jede Nacht alles, was wir ihnen anvertraut haben, und unsere Gebete, hinauf in den Himmel. Sie bringen sie direkt zum Herrgott, seinem Buben, dem Jesus, zu dessen Mutter, der Heiligen Maria und allen Heiligen und Seligen. Also vergiss net, Madl, Waldkogel ist ein ganz besonderer Platz, mit einem direkten Himmelszugang. Zwar können wir die Himmelsleiter net sehen. Aber des bedeutet net, dass es sie net gibt.«

Emily lachte. Ihr Lachen klang ungläubig.

»Entschuldige, Alois! Ich lache dich nicht aus, aber ein bisserl komisch klingt diese Geschichte vom ›Engelssteig‹ und ›Höllentor‹ schon für mich. Ich lache, weil ich gerade an meinen alten Professor denken muss. Er sagte immer:«, Emily ahmte die tiefe Stimme ihres Professors nach, »›Leute, denkt daran, es gibt Vorkommnisse, die könnt auch ihr mit dem besten Labor und den modernsten Methoden nicht erklären. Es gibt eben mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als sich unsere Schulweisheit träumen lässt‹. Ja, das war seine Rede.«

Toni brachte das Bier. Sie prosteten sich zu und tranken. Dann erzählte Emily Hüttinger, sie arbeite als führende Abteilungsleiterin in einem großen Umweltlabor. Sie bot an, Wasserproben vom Bergsee zu nehmen und in ihr Labor zu schicken.

»Die Kollegen sind sehr gewissenhaft und werden alles untersuchen, genauso, als würde ich es selbst tun.«

Toni sagte, er könne das nicht entscheiden, aber er würde sie gern mit Bürgermeister Fellbacher bekannt machen. Der könnte einen Auftrag erteilen.

»Toni, meinst du, ich würde eine Rechnung stellen?« Sie lachte wieder. »Ich mache das einfach so!«

Er sah sie überrascht an. Doch als Emily erklärte, das Labor gehöre ihrem Vater, und eines Tages würde sie es übernehmen, stimmte Toni zu.

»Fein, dann sind wir uns einig.«

Sie besprachen die Einzelheiten. Toni rief Doktor Martin Engler an und kündigte Emily an. Er bat ihn, ihr einige sterile Schraubgefäße für die Wasserproben zu geben.

»Kannst jederzeit bei Martin vorbeigehen, Emily«, erklärte Toni. »Er hilft gerne. Übrigens, der Martin hat ein großes Labor. Vielleicht kannst du das Wasser dort untersuchen?«

»Für eine erste Untersuchung reicht ein Praxislabor bestimmt aus. Aber wir haben spezielle Geräte, die das Wasser auf Gasspuren untersuchen. Es würde jetzt zu weit führen, alles zu erklären. Es ist jedenfalls eine sehr spannende und wunderbare Arbeit.«

Emily lachte wieder.

»Als Frau musste ich mich am Anfang ziemlich durchsetzen. Aber jetzt nach einigen Jahren zweifelt niemand mehr an meinem Wissen. Ich liege immer richtig, ich habe mich noch nie geirrt.«

Toni sah sie erstaunt an.

»Aber du hast Laborergebnisse. Sind es nicht die Maschinen, die das alles machen?«

»Sicher nehmen sie uns viel Arbeit ab, aber die Proben müssen vorbereitet werden. Wenn man gar nicht weiß, nach was man suchen soll, braucht man schon den richtigen Riecher. Wenn die Testergebnisse ausgedruckt werden, besagt das auch noch nichts. Es kommt darauf an, die Zahlen so zu kombinieren, dass es einen Sinn ergibt. Es ist oft eine wahre Detektivarbeit. Zum Beispiel kann jeder ermittelte Wert für sich genommen, innerhalb des Normalbereichs liegen, aber trotzdem eine Verunreinigung vorliegen, wenn man sich alle Werte genau anschaut.«

»Deine Augen leuchten, dir macht die Arbeit sicherlich viel Freude!«

»Das tut sie, Toni. Leider bin ich selten an der frischen Luft, sondern meistens im Labor und im Büro. Da hast du, als Hüttenwirt, einen schöneren Beruf. Du bist jeden Tag in den Bergen. Du hast eine grandiose Aussicht und klare Luft. Fast beneide ich dich darum. Weißt du, dass die Familie meines Vaters aus Kirchwalden stammt?«

»Der Familienname Hüttinger ist in unserer Gegend öfter vertreten. Das ist bekannt.«

»Ja, den Namen gibt es öfter. Aber mein Vater hat hier keine direkten Verwandten mehr. Er meinte, ich sollte trotzdem mal herfahren und sehen, wo die Wurzeln der Hüttingers liegen.«

Dann erzählte Emily kurz ihre Familiengeschichte. Ihr Vater hatte in München studiert und sich dort in ihre Mutter verliebt, als sie mit ihrer Mutter eine Freundin in München besuchte. Es war Liebe auf den ersten Blick. Emilys Vater beendete sein Studium und ging nach Hannover. Sie heirateten und Emily wurde geboren.

»Vater wünschte sich einen Buben. Aber das Schicksal hatte wohl eigene Pläne. Ich bin nun mal ein Mädchen und habe auch keine Geschwister. Mein Vater stellte mir frei, was ich studieren wollte. Er meinte, ich sollte mich nicht verpflichtet fühlen, in seine Fußstapfen zu treten. Aber mir gefällt mein Beruf.«

»Wenn du nicht Ingenieurin geworden wärst, was hätte dein Vater dann gemacht?«

»Er hätte weitergearbeitet, wie er es auch heute noch tut und würde dann später das Labor verkaufen. Er sagt, ich solle mich nicht angebunden fühlen, falls ich mich mal verliebe. Ihr wisst schon! Aber ich verliebe mich nicht. Ich tue mich damit schwer. Ich habe mehr ein Händchen für schwierige Analysen als für Burschen.«

»Liebe ist ein Geschenk«, sagte Toni.

»Richtig! Entweder man bekommt das Geschenk oder nicht. Es ist wie beim Losverkäufer auf der Kirmes. Entweder gewinnt man oder man zieht eine Niete. Ich weiß, dass es auch Trostpreise gibt. Aber ich gebe mich nicht mit einem Trostpreis zufrieden.«

Emily stand auf.

»Toni, ich mache mich gleich auf den Weg. Wo finde ich diesen Doktor Martin Engler?«

Toni erklärte ihr den Weg. Sie holte ihre Umhängetasche aus der Kammer und lief den Pfad hinunter, Richtung Oberländer Alm.

*

Emily hatte an verschiedenen Stellen des Bergsees Wasserproben entnommen. Sie fuhr damit zurück nach Waldkogel und parkte ihr Auto auf dem Marktplatz. Sie ließ die Wasserproben im Kofferraum und ging in den Laden.

»Grüß Gott«, rief ihr Veronika Boller zu. »Ein bisserl Geduld, ich bin gleich bei Ihnen!«

Veronika Boller, die zusammen mit ihrem Mann den Trachten- und Andenkenladen führte, stand neben einem jungen Mann, der sich im wandhohen Spiegel betrachtete.

»Fesch sehen Sie aus! Dazu ziehen Sie jetzt noch den Hut mit dem Gamsbart auf, dann ist es perfekt. Damit schauen Sie aus wie ein Einheimischer.«

Sie reichte ihm den Hut. Er betrachtete ihn ohne Regung und setzte ihn dann auf sein lockiges, etwas längeres Haar.

Emily starrte ihn wie gebannt an. Sie spürte, wie eine Welle der Wärme sie von Kopf bis zu den Fußspitzen erfasste. Es war ihr, als bliebe ihr keine Luft zum Atmen mehr. Er sah unheimlich gut aus. Er war groß, breitschultrig, hatte schmale Hüften und war braungebrannt.

»Den Anzug nehme ich auch«, sagte er.

Emily hörte den Akzent. Sofort überlegte sie. Wo kommt er her?

Vielleicht ein Engländer?

Oder ist er ein Amerikaner?

Möglicherweise kann er auch ein Kanadier sein.

»Fein, des ist eine gute Wahl, die Sie da getroffen haben. Damit werden Sie daheim richtig Staat machen, wie wir hier sagen. Sie sind doch nicht aus der Gegend?« Veronika hoffte, ihren Kunden so in ein Gespräch zu verwickeln.

Er schwieg.

»Die Kniebundhosen und die anderen Sachen, die Sie ausgewählt haben, die hängen schon in der Kabine. Sie haben doch nix dagegen, dass ich des junge Madl bediene, bis Sie die anprobiert haben?«

Er drehte sich um und warf Emily einen Blick zu, der ihr die Röte in die Wangen steigen ließ. Sofort wandte er sich wieder ab. Aber ihr war, als betrachtete er sich nicht weiter im Spiegel, obwohl er sich davor hin- und herdrehte, sondern beobachtete sie.

Emily stand da wie gelähmt. Sie konnte sich nicht rühren. Ihr Herz raste und das Blut pochte in ihren Schläfen. Erst als Veronika Boller sie am Arm berührte, kam Emily zu sich.

»Ich …, ich …, man hat mir gesagt, dass ich bei Ihnen ... Also, ich brauche einen kleinen Karton und Klebestreifen und all so’n Zeug, um ein Paket zu machen.«

»Ja, das können Sie bekommen. Gehen Sie nach hinten durch! Dort haben wir eine Abteilung, in der wir alles führen, was so im Haushalt gebraucht wird. Durch die Damenabteilung, an dem Ständer mit den Dirndln vorbei, dann sehen Sie schon den Durchgang.«

Emily nickte nur und riss sich los. Mit schnellen Schritten floh sie fast. Dabei spürte sie deutlich seine Blicke in ihrem Rücken. Sie war froh, in der Abteilung, mit den hohen Regalen voller Haushaltssachen, angekommen zu sein. Ganz vorn stand eine kleine dreistufige Haushaltsleiter. Emily sank auf die oberste Sprosse. Sie legte die Hand auf die Brust, in der Höhe ihres Herzens, als wollte sie es festhalten. Sie schüttelte energisch den Kopf, als könnte sie sich damit von den Bildern befreien, die sie überwältigt hatten. Es dauerte eine Weile, dann bekam sie ihren Atem wieder unter Kontrolle. Sie ging durch die Regalreihen, bis sie das Gewünschte fand.

Ob er noch vorne ist?

Sein Anblick war einfach überwältigend gewesen.

Welch ein Mann!

Was für wunderbare, schöne Augen!

Emily beschlich die Angst, dass sie einfach das Bewusstsein verlieren könnte, wenn sie ihn noch einmal sehen würde. Nein, das durfte nicht sein. Sie griff nach einem Einkaufskorb und legte die Waren hinein. Dann ging sie ganz langsam durch die Regalreihen und tat so, als schaute sie sich alles an. Aber in Wirklichkeit verschwamm alles vor ihren Augen. Sie sah nichts, aber es kam ihr vor, als würde ihr Gehör wie ein Verstärker wirken. Sie hörte und verstand jedes Wort, das Veronika Boller mit ihm sprach. Er hatte offenbar eine Wanderausrüstung anprobiert, mit einer Kniebundhose aus feinstem hellem Rehleder, einem bestickten Trachtenhemd, einer Weste, einem Lodenjanker, Haferlschuhen und Wadenwärmer.

»Mei, darin sehen S’ fesch aus. Des ist wie für Sie gemacht.«

Der Mann kaufte die gesamte Ausstattung und behielt sie gleich an. Er zahlte mit Kreditkarte. Veronika sagte laut:

»Oh, Sie sind Mister … Wie spricht man das aus?«

»Tailor!«, antwortete er knapp.

»Des ist Amerikanisch oder ist des Englisch? Gibt es da eigentlich große sprachliche Unterschiede?«

Er gab ihr keine Antwort.

Emily hielt es jetzt nicht mehr aus. Auf leisen Sohlen schlich sie weiter vor. Sie blieb hinter dem Ständer mit den Dirndln stehen und beobachtete ihn. Ihr Herz klopfte wieder schneller. Sie hielt sich eine Hand vor den Mund. Es war eine unbewusste Geste. Vielleicht ängstigte sie der Gedanke, sie könnte gleich laut seufzen.

Es war für Emily fast wie eine Erlösung, als er den Laden verließ. Ihr Herz raste immer noch, als sie nach vorn zur Kasse ging.

»Oh, da sind Sie wieder. Haben S’ alles gefunden?«

Emily nickte nur und blickte durch die Schaufensterscheiben nach draußen. Er lud die Tüten in den Kofferraum und stieg ein.

»Des war ein fescher Bursche«, bemerkte Veronika. »Und gut betucht scheint er auch zu sein. Er hat nicht einmal nach dem Preis gefragt. Sein Auto hat zwar eine Münchner Autonummer, aber ich gehe jede Wette ein, der Bursche ist net aus München. Des habe ich im Gefühl. Des muss ein Leihwagen sein. Ich bin bekannt für meine Menschenkenntnis. Der Bursche ist kein Münchner, dazu ist er viel zu wortkarg. Der war ja richtig zugeknöpft. Na ja, aber gut eingekauft, das hat er. Das muss ich sagen.«

Veronika stand neben Emily und sah zu, wie er davonfuhr. Emily seufzte leise. Veronika schmunzelte.

»Ein wirklich fescher Bursche! Kann verstehen, dass da schon mal das Herzerl zu klopfen anfängt. Ja, da habe ich wirklich Verständnis dafür. Wenn ich ein paar Jahrzehnte jünger wäre, und ich meinen guten Franz nicht hätte, dann wäre des anders, ganz anders. So ein Bursche, der kann ein Madl von einer Sekunde zur anderen um den Verstand bringen. Aber mein Gefühl sagt mir auch, dass mit ihm etwas net stimmt. Mei, war der verschlossen! Ich glaub net, dass es daran liegt, dass er schlecht Deutsch sprechen tut. Na, des ist’s net. Er hat ganz gut nach einem Anzug und anderer Kleidung für die Berge gefragt. Der Bursche hat etwas zu verbergen.«

Veronikas Worte rauschten wie ein Wasserfall an Emilys Ohren vorbei. Sie brauchte noch einen Augenblick, bis sie sich wieder fasste. Sie räusperte sich.

»Ich möchte dann zahlen«, sagte Emily.

Veronika Boller rechnete zusammen und nannte die Summe. Emily legte ihr einen Geldschein auf die Ladentheke und bemerkte, dass sie das Restgeld in die Spenden für Tiere geben könnte, die neben der Kasse stand. Dann raffte sie die Waren zusammen und rannte aus dem Laden, als sei sie auf der Flucht.

Erst als sie in ihrem Auto saß, beruhigte sich ihr Herz wieder. Sie kramte im Handschuhfach und fand eine etwas zerdrückte Tafel Schokolade, die sie ganz aufaß. Danach fühlte sie sich besser. Sie ließ den Motor an und fuhr zur Post. Auf dem kleinen Postamt, das nur aus einem Raum bestand, packte Emily die Wasserproben ein. Sie schrieb einige nette Zeilen dazu und gab das Paket als Eilpaket auf.

Emily schaute auf ihre Armbanduhr. Das Paket würde noch heute ankommen und die ersten Ergebnisse würde sie bis zum Mittag des nächsten Tages erwarten können.

Zur Sicherheit rief sie noch kurz ihren Vater an. Er lachte.

»Emily, du kannst das Arbeiten nicht lassen, wie? Ich dachte, du machst Urlaub. Gefallen dir die Berge so wenig, dass du dir eine Beschäftigung gesucht hast?«

»Vater, du musst mich nicht so ärgern. Die Berge sind wunderschön. Das Ehepaar, das die Berghütte führt, sind liebe, freundliche Leute. Sie haben zwei Kinder adoptiert und es gehört noch ein alter Mann dazu, fast könnte man sagen, es ist eine Patchwork-Familie. Ich wünsche mir, du wärst hier und könntest sie kennenlernen. Man fühlt sich gleich wohl bei ihnen. Oh, sie haben einen Hund, einen lieben, jungen Neufundländerrüden. Er heißt Bello und ist befreundet mit Kater Max.«

Zum Glück konnte Emily nicht sehen, wie ihr Vater am anderen Ende der Leitung schmunzelte.

»Es freut mich, dass du es so gut getroffen hast. Aber deine Stimme klingt anders, Emily. Ist etwas mit dir?«

»Nein, mir geht es gut! Vielleicht liegt es daran, dass die dünne Bergluft sie so klingen lässt.«

»Ah, meinst du?«

»Was sollte es sonst sein?«

»Ach, nichts mein Kind! Ich wünsche dir einen schönen Urlaub.«

»Vater, was denkst du? Ich höre doch den Unterton heraus. Du, ich kenne dich! Du flunkerst mich gerade an, stimmt es?«

Emilys Vater lachte.

»Also gut! Ich dachte, da eine gewisse Sehnsucht herauszuhören, wie du die Bewohner der Berghütte beschrieben hast. Vielleicht kommst du ja doch noch auf den Geschmack und schiebst die Gründung einer Familie nicht länger von dir.«

»Vater! Sei still! Bitte! Und jetzt muss ich Schluss machen. Bitte sorge dafür, dass die Wasserproben schnell analysiert werden.«

»Das verspreche ich! Ich lasse einige Überstunden machen und schickte dir alle Analysen per Eilkurier.«

»Ich bezweifle, dass der Eilkurierdienst die Berghütte findet. Es führt keine Straße dorthin.«

Emily bat ihren Vater, die Unterlagen an sie mit der Adresse »Tonis Berghütte«, abzugeben auf der »Oberländer Alm«, zu adressieren. Zusätzlich sollte er ihr die Untersuchungsergebnisse auf ihr Handy schicken. Dann verabschiedete sie sich.

Emily steckte das Handy ein und ging zum Auto. Sie fuhr langsam den Milchpfad hinauf und stellte ihr Auto ab. Dann sprach sie kurz mit Wenzel und Hildegard Oberländer, dass sie am nächsten Tag eine Eilsendung erwartete. Sie redeten über den Bergsee.

»Des ist schön, dass du des Wasser untersuchen tust, Emily«, lobte sie der alte Wenzel.

Er betrachtete sie von oben bis unten.

»Hast einen Burschen?«, fragte er.

»Wenzel!«, schimpfte Hildegard laut, »Wenzel, was stellst du wieder für Fragen! Lass des Madl in Ruh’! Des geht dich nix an.«

»Mei, Hilda, man wird doch noch mal fragen dürfen? Mir Gedanken zu machen, des kannst mir net verbieten. Wenn so ein fesches Madl in seinem Urlaub arbeitet, dann hat es keinen Burschen. Stimmt es, Emily?«

Emily lachte.

»Besser keinen Mann, als den Falschen.«

»Des stimmt, Emily!«, sagte Hilda. »Wie schnell hat man sein Herz verloren, und wie die Mannsbilder sind, des ist ein Kapitel für sich. Man kommt oft erst in der Ehe dahinter!«

»Hilda, was soll des heißen?«, empörte sich Wenzel.

»Nix soll des heißen, gar nix! Ich hab nur laut gedacht, genau wie du vorhin.«

Hildegard Oberländer verschwand in der Almhütte. Emily verabschiedete sich schnell und eilte den Bergpfad hinauf, der zur Berghütte führte.

Den ganzen Weg lang musste sie an den Mann denken, den sie in Veronikas Laden gesehen hatte. Er ging ihr einfach nicht aus dem Kopf. Sie war über sich selbst erschrocken, dass ihre Gedanken immer wieder zu ihm zurückkehrten. Es war wie verhext. Ich denke nicht mehr an ihn, ich denke nicht mehr an ihn, ich vergesse ihn, ich vergesse ihn, hämmerte sie sich, einem Mantra ähnlich, ein. Aber es wirkte nicht, es geschah eher das Gegenteil. Sie erinnerte sich deutlicher und deutlicher, und ihr Herz raste.

Erschöpft erreichte sie die Berghütte. Eine Reisegruppe, die nur eine Tageswanderung machte, saß auf der Terrasse der Berghütte. Toni, Anna und der alte Alois hatten alle Hände voll zu tun. Selbst Sebastian und die kleine Franziska packten mit an. Sie sammelten die leeren Gläser und Teller ein und trugen sie zum Spülen in die Küche.

»Anna, ein ganz schöner Trubel!«, rief ihr Emily zu.

»Hast alles erledigen können, mit den Wasserproben?«

»Ja, ja! Morgen früh kommen die ersten Ergebnisse.«

»Wunderbar! Entschuldige, Emily, ich habe keine Zeit. Wir unterhalten uns später.«

Kurzentschlossen brachte Emily ihre Umhängetasche in die Kammer und zog die Wanderjacke aus. Dann ging sie in die Küche der Berghütte.

»Anna, gib mir eine Schürze! Ich helfe dir! Ich spüle das Geschirr.«

»Lass, du bist hier in Urlaub! Das wäre ja noch schöner, wenn ich dich arbeiten lassen würde. Du tust so schon so viel für uns.«

Emily ließ sich nicht davon abhalten. Sie packte einfach zu. Anna gab ihr schließlich eine Schürze. Die beiden Frauen arbeiteten Hand in Hand. Anna freute sich über Emilys Hilfe. Emily war froh, dass sie etwas tun konnte und es ihr so möglich war, die Gedanken in ihrem Kopf und ihr Herz etwas zu bändigen.

So ging das den ganzen Tag, bis es bei Einbruch der Dämmerung ruhig wurde. Die Wandergruppe machte sich auf ins Tal. Die Stille der Berge nahm wieder Besitz von der Berghütte.

*

In der Nacht schlief Emily schlecht. Sie erwachte öfter und wälzte sich im Bett herum. Einmal war es ihr zu warm, dann fror sie wieder. Sie machte das Fenster auf und dann wieder zu.

Morgen Abend trinke ich etwas, damit ich schlafen kann, nahm sie sich vor. Oder ich frage Anna, ob sie eine Schlaftablette hat, überlegte Emily. Sie ärgerte sich, dass sie kein Buch mitgenommen hatte. Dann hätte ich lesen können. Ein spannender Thriller, das wäre jetzt das Richtige, um mich auf andere Gedanken zu bringen. Morgen besorge ich mir Lesestoff, überlegte sie. Möglich, dass es bei dieser Veronika Boller im Laden Bücher gab. Emily erinnerte sich dunkel an ein Regal mit Büchern.

»Mist«, sagte sie leise vor sich hin.

Denn als sie an den Laden dachte, drängte sich die Erinnerung in ihr Bewusstsein.

»Emily, vergiss ihn! Vergiss ihn sofort! Mach dich nicht zum Narren!«, befahl sie sich im Flüsterton. »Du wirst ihn nie wiedersehen. Du willst ihn nicht wiedersehen!«

Aber auch diese Suggestion half nicht. Sie bewirkte eher das Gegenteil.

Emily war froh, als draußen der Morgen dämmerte. Sie wartete noch eine Weile, dann stand sie auf und zog sich an. Als Geräusche zu ihr drangen, verließ sie ihre Kammer.

»Guten Morgen, Toni!«

»Mei, Emily, schon so früh wach? Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt. Der Holzboden ist etwas hellhörig.«

»Nein, nein! Ich war schon wach. Ich bin erstens eine Frühaufsteherin, zweitens denke ich, dass die gute, klare Bergluft daran schuld ist, dass ich weniger Schlaf brauche. Sie ist sicherlich viel sauerstoffhaltiger als die in der Stadt.« Emily lachte. »Das weiß ich, ohne sie untersuchen zu müssen.«

Toni schmunzelte. Er bot Emily an, sich zu ihm an den Tisch zu setzen und zu frühstücken. Sie lehnte ab. Sie wollte nur einen großen Becher Kaffee. Damit setzte sie sich auf die Terrasse der Berghütte und schaute über das Tal und die Hänge. Langsam stieg die Sonne über die Gipfel im Osten. Ihre Strahlen glitten die Berghänge hinunter und vertrieben die Schatten der Nacht. Dunst lag über Tal und Wiesen, der sich nur langsam auflöste. Hoch oben im noch blassen Licht des Morgens kreisten Greifvögel auf der Suche nach Futter.

Emily trank den Kaffee. Toni kam und schenkte ihr nach.

»Wie schön es hier ist, Toni! Ich liebe die Natur. Ich werde sie vermissen, wenn ich wieder im Labor sitze.«

»Ja, es ist ein besonders schönes Fleckchen unter Gottes Himmel. Schau mal rauf zum Gipfel des ›Engelssteigs‹! So funkelte das Gipfelkreuz selten. Wir hier in Waldkogel sagen dann, die Engel haben es heute Nacht geputzt.«

Emily konnte ein Schmunzeln nicht ganz unterdrücken und trank schnell einen Schluck Kaffee.

»Ich weiß, dass wir dir ein bisserl sonderbar vorkommen, mit unserem Glauben an die Engel vom ›Engelssteig‹ und den Satan im ›Höllentor‹. Du darfst ruhig darüber grinsen, Emily. Damit können wir umgehen. Weißt, des hat net nur etwas mit Glauben zu tun, es ist einfach auch Erfahrung. Du bist als Ingenieurin ja wohl mehr dem naturwissenschaftlichen Denken verbunden. Da spricht auch nix dagegen und ich verstehe auch deine Skepsis. Vielleicht wirst du dich eines Tages dazu entschließen, einen Versuch zu machen.«

»Was für einen Versuch, Toni? Soll ich auf den Berg klettern und eine Gesteinsprobe analysieren?«

»Na, des wäre sicherlich ganz und gar eine vergebliche Mühe. Ich meine des so mit dem Versuch: Es gibt im Leben eines jeden Menschen Augenblicke oder Ereignisse, die ihn beschäftigen und ihm mehr oder weniger Rätsel aufgeben. Falls du einmal vor so einer unlösbaren Aufgabe stehst, dann trage deine Fragestellung den Engeln vor und bitte sie, im Himmel ein gutes Wort für dich einzulegen, damit du die Antwort findest.«

Emily lachte.

»Solch eine Situation gibt es oft im Labor. Wir suchen und suchen und finden nichts. Irgendetwas muss aber da sein. Trotzdem kommen wir nicht darauf. Dann suchen wir weiter, bis wir die Lösung finden.«

Toni schüttelte den Kopf.

»Ganz so meine ich es nicht. Wenn du des mit den Engeln mal ausprobieren willst, dann musst du eine Sache nehmen, die ganz außerhalb deines Einflussbereichs liegt.«

Toni erzählte, wie er sich damals im Zug in Anna verliebt hatte, die elegante, junge blonde Frau, von der er auf einen Blick wusste, dass sie aus einer ganz anderen Welt kam.

»Ich verliebte mich einfach! Ich wusste nicht, was werden sollte, nur, dass sie es ist. Dann hab ich in meiner Not mit den Engeln geredet. Schon am nächsten Tag brachte ihre Freundin Anna zu mir. Was sagst du jetzt?«

Emily konnte ihr Lachen nicht zurückhalten.

»Toni, man sagt, dass Seeleute Seemannsgarn spinnen. Kann es sein, dass Leute aus den Bergen auch ganz groß im Geschichtenerfinden sind?«

Toni schmunzelte.

»Dazu kann ich nichts sagen. Es ist auch sinnlos, darüber zu diskutieren. Ich kann dir nur den Rat geben, es zu probieren mit einem besonderen Anliegen. Du musst niemandem etwas davon erzählen. Aber ich bin sicher, dass du danach anders denkst. Dein Leben erfährt auf jeden Fall eine Bereicherung, des ist mal sicher.«

Toni ging wieder hinein. Die ersten Hüttengäste waren von dem Hüttenboden heruntergekommen und wollten ihr Frühstück.

Emily blieb auf der Terrasse der Berghütte sitzen. Sie musste immer wieder hinauf zum Gipfelkreuz sehen, das so wunderbar in der Morgensonne glitzerte.

Auf der einen Seite kamen ihr die Geschichten über den ›Engelssteig‹ und das ›Höllentor‹ sehr sonderbar vor. Auf der anderen Seite machten Toni und der alte Alois einen sehr bodenständigen Eindruck auf sie. Sie waren keine Männer, die einfach nur so etwas daherredeten. Sie waren von der Hilfe und dem Beistand der Engel zutiefst überzeugt.

Emily lächelte. Es war auch ein klein wenig ein Lächeln des Bedauerns. Was für glückliche Menschen sie sind, dachte Emily. Sie können an etwas glauben und freuen sich darüber. Sie war da viel nüchterner. Vielleicht brachte es ihr Beruf mit sich. Sie durchdachte immer alles. Genauso analysierte sie auch ihre Mitmenschen.

Emily seufzte leise.

Toni verliebte sich in Anna und sie kam zu ihm. Das muss einfach Zufall gewesen sein, redete sie sich ein. Gleichzeitig keimte in ihrem Herzen eine Sehnsucht, eine Hoffnung, dass es, auch wenn man es im Labor nie beweisen könnte, eine Kraft gibt, die liebende Herzen einfach zusammenbringt. Das ist ein Traum, aber ein wunderschöner Traum, sagte sie sich. Die nächsten Stunden erlaubte sie sich, dem Traum der Sehnsucht nach Liebe nachzuhängen.

Als ihr bewusst wurde, dass sie sich ausmalte, wie es sein könnte, einen liebenden Mann und Kinder zu haben, die in einem großen Haus mit einem Garten aufwuchsen, schmunzelte sie über sich selbst. Sie hatte sich ausgemalt, wie sie den Garten anlegen würde, mit einem Fischteich und einer Schaukel. In einen großen Baum könnte man ein Baumhaus bauen. Es duftete nach Blumen. Schmetterlinge gaukelten von Blüte zu Blüte und eine dicke Hummel suchte Nektar.

»Emily, dein Handy läutet schon zum zweiten Mal in deiner Kammer«, rief ihr Anna zu.

Emily zuckte zusammen und kam wieder in der Wirklichkeit an. Sie sah, dass inzwischen an allen Tischen auf der Terrasse Hüttengäste saßen. Draußen auf dem Geröllfeld standen nebeneinander die gepackten Rucksäcke für die Bergwanderungen.

Emily sprang auf und lief in ihr Zimmer. Sie schloss die Tür und las die SMS. Ihr Vater hatte sie geschickt. Er schrieb, dass im Wasser keinerlei Hinweise auf Gase zu finden seien. Außerdem sei das Wasser des Bergsees von ausgezeichneter Qualität. Es sei besser als manches Wasser, das in Städten aus dem Wasserhahn floss. Es sei sehr mineralhaltig und nicht kalkig.

Emily steckte das Handy in die Hosentasche und ging hinaus.

»Anna, danke, dass du mir Bescheid gegeben hast, ich meine die Anrufe. Mein Vater hat mehrere SMS geschickt. Also, das Wasser ist sehr gut, ausgesprochen rein. Es lassen sich keine Gase nachweisen. Er kann sich auch keinen Reim darauf machen. Aber warten wir ab, bis ich die schriftlichen Ergebnisse im Detail habe.«

»Toni ist runter nach Waldkogel. Er bringt die Kinder in die Schule und holt auf dem Rückweg Lebensmittel von der Oberländer Alm. Wenn der Eilbote früh gekommen ist, hat er den Umschlag vielleicht schon dabei.«

Emily überlegte kurz.

»Anna, es muss im Bergsee etwas vorgehen, was diese Blasen auslöst. Am besten ich schaue mir sie mal selbst an. Außerdem ist der Bergsee groß und hat ein entsprechendes Wasservolumen. Vielleicht sollte ich an unterschiedlichen Stellen noch einmal Proben entnehmen und zu verschiedenen Tageszeiten.«

»Emily, wahrscheinlich ist an dem Gerede nichts dran. Mach dir nicht zu viel Arbeit!«

Emily schüttelte den Kopf.

»Anna, einen Versuch unternehme ich noch. Kannst du mir Proviant geben, einen Biwaksack und ein Fernglas? Ich hole mir beim Doktor noch sterile Wassergläser und nehme Proben, auch von der Mitte des Sees. Gibt es da ein Boot?«

Anna erklärte ihr, dass es auf der anderen Seite des Sees eine Hütte gebe, mit Steg und Ruderboot. Das könne sie nehmen. In der Hütte sei meistens niemand.

»Gut dann wird die Hütte mein Ausgangspunkt. Vielleicht kann ich dort auch schlafen. Na ja, schlafen werde ich nicht viel. Ich will in der Nacht in regelmäßigen Abständen Wasserproben nehmen, bis morgen früh.«

Anna versuchte, es Emily auszureden. Doch diese Mühe war vergeblich. So stellte Anna ihr einen großen Rucksack mit Proviant zusammen, gab ihr einen Biwakschlafsack und zur Sicherheit eine Isomatte, falls doch jemand in der Hütte war, und ein Fernglas.

Emily verabschiedete sich und machte sich sofort auf den Weg.

Auf der Oberländer Alm traf sie Toni. Der Eilbote war gerade dagewesen. Emily riss den braunen Umschlag auf und überflog die Zahlenkolonnen.

»Toni, das Wasser im Bergsee hat Trinkqualität. Mehr kann ich im Augenblick nicht dazu sagen. Aber ich werde mir die Werte noch genauer ansehen.«

Emily erzählte Toni, was sie vorhatte und dass sie erst am nächsten Tag zur Berghütte zurückkäme. Toni fand auch, dass sie sich zu viel Arbeit machte, konnte sie aber nicht davon abhalten. Also ließ er sie ziehen.

Emily stieg in ihr Auto und fuhr zum Bergsee. Toni nahm die Vorräte und wanderte hinauf auf die Berghütte. Währenddessen dachte er an Emily. Er verstand nicht, warum sie mit dem Ergebnis nicht zufrieden war.

Oder gab es doch etwas, nach dem sie weitersuchen wollte?

Hat Emily nicht alles erzählt?, fragte er sich.

Auf der Berghütte angekommen, sprach er mit Anna. Anna beruhigte ihn. Sie machte ihm klar, dass Emily einfach eine junge Frau war, der ihr Beruf Freude machte. Aus Erfahrung wisse Emily, dass es gut war, eine zweite Analyse zu machen.

»Weißt du, Toni, Emily erinnert mich etwas an mich selbst, damals, während meines erstens Lebens«, lachte Anna, »als ich Bankerin war. Da hatte ich auch oft so ein seltsames Gefühl, dass ich nachts aufstand, um die Werte der Börsen in New York und Tokio zu beobachten. Ich musste es einfach tun und ich tat auch immer gut daran. Es brachte gute Ergebnisse für meine Kunden und für meine Karriere.«

Toni lachte und nahm Anna in den Arm.

»In deinem ersten Leben«, flüsterte er ihr zu, »bist du trotzdem nicht so glücklich gewesen wie jetzt, oder?«

Anna schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn.

»Mein lieber Toni, ich war glücklich, das heißt, ich hielt mich für glücklich. Was wirklich Glück, Zufriedenheit und Ausgeglichenheit ist, das habe ich erst erfahren, als du mir begegnet bist, und wir uns gefunden haben. Der beste Wert im Leben, die allergewinnträchtigste Aktie, ist die Aktie der Liebe.«

Toni küsste Anna.

»Darin hast du ganz schön investiert!«

»Ja, das habe ich! Und ich sage dir, die Gewinne sind gigantisch. Die Anzeigetafel schafft es nicht mehr, weil der Kurs ständig steigt.«

Sie nahmen sich fest in die Arme und küssten sich.

»Ich liebe dich, Anna!«

»Ich liebe dich, Toni!«

»Anna, manchmal kann ich es immer noch nicht glauben, dass du meine Frau bist. Es kommt mir wie ein Wunder vor.«

»Das Wunder der Liebe! Ich bin sehr glücklich mit dir, Toni. Es war die beste Entscheidung meines Lebens.«

Toni schaute Anna tief in die Augen. Sie sah, wie sehr er sie liebte. Es gab trotzdem immer noch Augenblicke, in denen er sein Glück nicht fassen konnte.

Sie packten zusammen die Vorräte aus, die Toni von der Oberländer Alm mitgebracht hatte. Dann setzten sie sich für eine kleine Weile auf die Terrasse der Berghütte. Toni legte den Arm um Annas Schulter und sie ihren Kopf an seine Schulter. Sie schwiegen, nur ihre Herzen hielten Zwiesprache. Sie waren so glücklich.

*

Emily holte bei Martin weitere Gefäße für die Wasserproben. Anschließend erstand sie im Trachten– und Andenkenladen Boller eine Landkarte in einem großen Maßstab von Waldkogel. Zuerst nahm sie entlang des Ufers parallel zum Weg Wasserproben. Sie nummerierte sie und markierte die Stellen auf der Karte. So arbeitete sie sich das ganze Ufer entlang, bis weit nach hinten, dort, wo der Wald an den Bergsee grenzte und zum großen Teil mit dichtem Schilf bewachsen war. Als sie damit fertig war, war es schon später Nachmittag. Emily verstaute die Wasserproben in ihrem Kofferraum, setzte sich ans Ufer und machte eine Pause. Anna hatte ihr sehr viel Proviant eingepackt, Brot und Käse, Äpfel, Schokolade, Müsliriegel und sogar eine kleine Schachtel mit Streuselkuchen, dazu mehrere Flaschen mit kaltem Kräutertee und zwei Thermoskannen mit süßem Milchkaffee, wie Emily ihn so gerne trank.

Emily schenkte sich einen Becher Kaffee ein und aß von dem Streuselkuchen. Dabei studierte sie den Zettel, auf dem Anna ihr den Weg zu der kleinen Hütte, auf der anderen Seite des Bergsees, beschrieben und eine einfache Skizze gemalt hatte. Dorthin gab es keine Straße, nicht einmal einen Sandweg, sondern nur einen Trampelpfad, der wahrscheinlich an manchen Stellen zugewachsen war. Emily suchte mit dem Fernglas die andere Uferseite nach der Hütte ab. Sie entdeckte sie nicht. Auch von dem einfachen Holzsteg, mit dem vertäuten Ruderboot, gab es keine Spur. Äste, die ins Wasser hingen und hohes Schilf schirmten das Ufer wie eine undurchdringliche Wand ab.

Da werde ich suchen müssen, dachte Emily. Sie packte alles zusammen. Danach fuhr sie mit dem Auto zurück und bog vor den letzten Häusern von Waldkogel nach links ab. Sie folgte dem schmalen Feldweg, bis zu seinem Ende. Dort ließ sie das Auto stehen. Sie schulterte den großen Rucksack und hängte sich die Tasche mit den leeren Gläsern und das Fernglas um.

Sie ging los. Zu Beginn war der Pfad gut zu sehen, aber je weiter sie kam, desto enger wurde er. Am Schluss konnte sie nur noch ahnen, wo er verlief. Sie bog Zweige zur Seite, schreckte Vögel und Enten auf, die im Dickicht brüteten und arbeitete sich vorwärts. Dann stand sie plötzlich auf einer kleinen Lichtung mit einer winzigen Hütte. Wind und Wetter hatten dem rohen Holz eine dunkle Farbe gegeben. Das Dach war bewachsen. Aus dem dichten Moos ragten einzelne Blüten heraus. Es war still. Nur das Wasser plätscherte leise an den Steg.

Emily ließ den Rucksack von den Schultern gleiten und stellte ihn auf die Bank hinter dem Tisch, der vor der Hütte stand. Sie drückte die Klinke herunter. Die Tür war nicht abgeschlossen. Sie schaute sich um. In dem einfachen Raum gab es einen Ofen, ein Lager aus Holzbrettern und einen Tisch mit zwei Stühlen. Auf einem Regal an der Wand stand etwas Geschirr.

Emily holte den Rucksack herein, breitete die Isomatte auf dem Lager aus und legte den Biwaksack darauf. Dann machte sie eine Erkundungstour. Etwas abseits fand sie das Ruderboot. Es schaukelte im Wasser und war mit einem langen Strick an einem Strauch am Ufer angebunden. Emily zog an dem Seil, es zerriss.

»So ein Ärger! Musste das sein?«, schimpfte sie laut vor sich hin.

Sie überlegte kurz, was sie tun sollte. Hier ins sumpfige Ufer zu steigen, war keine so gute Idee. Besser war es, zu versuchen das Boot von der Seeseite aus zu erreichen. Emily ging zurück zum Steg. Sie zog Wanderschuhe, Socken, Kniebundhosen und Bluse aus. Nur in ihren knappen Shorts und einem trägerlosen T-Shirt glitt sie ins Wasser. Es war kalt, aber sehr erfrischend. Emily schwamm erst einmal ein Stück hinaus auf den See, bevor sie umkehrte. Das Ruderboot war inzwischen etwas hinausgetrieben und schaukelte am Rande des Schilfs. Emily kletterte hinein. Sie streifte sich das Wasser aus den Haaren, griff nach den beiden Rudern und ruderte an den Steg. Sie prüfte das Seil, es war alt und sehr brüchig. Kurzentschlossen zerriss sie ihr seidenes Halstuch in lange Streifen und knüpfte daraus ein Band. Damit verstärkte sie das alte Tau. Zufrieden besah sie sich ihre Arbeit.

»Du wirst mir nicht mehr davonschwimmen«, flüsterte sie zufrieden. Dann legte sie sich auf den Steg und genoss die Sonne, die gegen Abend noch immer wunderbar warm war.

Plötzlich schreckte sie ein Geräusch hoch. Emily stellte fest, dass sie wohl eingeschlafen war. Sie richtete sie auf und rieb sich die Augen. Das Wasser unweit des Stegs war sehr bewegt. Sie konnte die Blasen deutlich sehen. Wie gebannt starrte sie einen Augenblick auf die Stelle, dann rannte sie in die Hütte und holte ein Gefäß. Sie kniete sich auf den äußersten Rand des Stegs und bückte sich, als sie unter dem Steg ein Geräusch vernahm. Sie sah darunter und bekam große Augen. Etwas Dunkles zeichnete sich unter der Wasseroberfläche ab. In Abständen stiegen Luftblasen auf. Emilys Herz klopfte. Sie griff nach einem der Ruder und schlug damit schräg nach unten unter den Steg.

Sofort kam auf der anderen Seite des Stegs ein Taucher im schwarzen Taucheranzug nach oben. Er riss die Taucherbrille ab und spuckte das Mundstück seiner Sauerstoffflasche aus.

»Was soll das? Wollen Sie mich umbringen?«, brüllte er.

Dabei rieb er sich den Kopf.

Emily stockte der Atem. Sie erkannte die Stimme sofort. Was für wunderschöne Augen er hat, schoss es ihr durch den Kopf. Dann geschah es. Sie spürte noch, wie ihr heiß wurde. Sie kämpfte gegen das Gefühl, das ihr die Sinne raubte. Es drehte sich alles um sie. Sie wankte und spürte, wie ihre Beine nachgaben, sie mit den Armen ruderte und verzweifelt nach einem Halt suchte. Dann verlor sie das Gleichgewicht und stürzte nach vorne. Halb landete sie im Wasser, halb in den Armen des Tauchers, der sie auffing. Energisch packte er sie und trug sie aus dem Wasser.

Sie standen sich gegenüber und schauten sich an.

»Danke«, murmelte Emily.

Er nickte ihr nur zu. Dann drehte er sich um und ging in Richtung Schilf. Emily sank auf die Bank vor der Hütte. Sie rieb sich die Stirn. Ihr Herz raste und sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Es dauerte einige Minuten, bis ihr sonst so klarer analytischer Verstand wieder die Oberhand bekam.

Taucher – Luftblasen – das muss die Lösung sein, dachte sie. Kleine Ursache, große Wirkung, wie man sagt, schoss es ihr durch den Kopf.

Sie stand auf und legte die Hände trichterförmig um den Mund und rief: »Hallo! Haalllooo! Wo sind Sie? Können Sie noch einmal herkommen? Ich muss sie etwas fragen.«

Emily lauschte. Sie bekam keine Antwort. Sie setzte sich hin und dachte nach. Nach einer Weile raschelte es und sie hörte Schritte.

»Ja, da bin ich! Was gibt es?«, fragte er und schaute sie direkt an.

Emily sprang auf. Sie stemmte die Arme in die Seite und nahm ihren ganzen Mut zusammen. Nur nicht schwach werden, schoss es ihr durch den Kopf. Behalte die Nerven! Er sieht verdammt gut aus, aber das darf jetzt keine Rolle spielen.

»Nun sag schon etwas! Du hast doch gerufen. Was wolltest du fragen?«

Er duzt mich einfach!

»Also, hören Sie mal«, brüllte sie ihn an.

Dabei richteten sich ihre Wut und ihr Zorn eigentlich nicht gegen ihn, sondern gegen sich selbst. Sie war sich böse, weil seine pure Anwesenheit sie so durcheinandergebracht hatte.

»Bevor man jemanden duzt, sollte man sich vorstellen.«

»Johannes! Gerufen werde ich John. John Tailor!«

Er streckte ihr die Hand hin. Sie zögerte.

»Also, mir hat man gesagt, dass man sich hier die Hand gibt oder habe ich mich geirrt?«

»Emily, Emily Hüttinger!«

Sie gab ihm die Hand und zog sie schnell wieder zurück, so wie ein Kind, das sich vor einer heißen Herdplatte ängstigt. Die Hand fühlte sich wunderbar an, groß und kräftig und gleichzeitig warm und sanft.

Sie errötete tief. Er grinste.

»So, was wolltest du fragen?«

Emily räusperte sich.

»Seit wann tauchst du hier im Bergsee?«

»Warum willst du das wissen?«

»Weil ich es wissen muss! Los! Ich vermute, es sind schon mehrere Wochen.«

»Das könnte hinkommen.«

»Weißt du, was du damit ausgelöst hast?«

»Wieso, ich störe doch niemanden.«

»Pah! Du hast mit deiner heimlichen Taucherei ganz erheblich gestört.«

»Warum? Außer dir habe ich hier am See niemanden gesehen. Du bist gestern schon mal hier gewesen und hast Wasser abgefüllt.«

»Du hast mich beobachtet?«

»Nicht beobachtet, nur gesehen. Außerdem habe ich dich schon einmal gesehen, beim Einkaufen in dem Laden am Marktplatz. Stimmt es?«

Emily spürte, wie ihr wieder das Blut in die Wangen schoss. Ihr Herzschlag ging schneller.

»Lenke nicht vom Thema ab! Warum tauchst du im Bergsee?«

»Schatzsuche!«

Emily brach in schallendes Gelächter aus.

»Du willst mich für dumm verkaufen. Verspotten kann ich mich selbst.«

Sie schüttelte sich. Sie fror jetzt. Er sah es und öffnete seine große Reisetasche, nahm ein flauschiges großes Badetuch heraus und reichte es ihr.

»Trockne dich ab!«

Emily zögerte, nahm es aber dann doch. Sie legte es sich um die Schultern.

»Nun mach schon, geh rein und ziehe dir trockene Sachen an! Ich laufe nicht fort.«

Sie war sich nicht sicher, ging dann aber doch in die Hütte. Sie lehnte die Tür nur an und lauschte auf Schritte, falls er doch davonging. Aber er blieb.

Als Emily hinaustrat, hielt er ihr eine Tafel Schokolade hin.

»Bitte! Ein kleiner Versuch einer Wiedergutmachung. Ich muss dich sehr erschreckt haben. Das ist meine letzte Tafel, aus meinem Vorrat, den ich aus Amerika eingeschmuggelt habe.«

»Dann will ich sie dir nicht wegnehmen.«

»Nimm schon!«

»Nein!«

»Okay, dann teilen wir sie uns – halbe-halbe?«

»Meinetwegen! Aber bilde dir damit nicht ein, dass du mich um den Finger wickeln kannst.«

John brach die Tafel entzwei und gab Emily eine Hälfte.

»Schmeckt gut!«, sagte Emily leise.

»Meine Lieblingsschokolade, ich stärke mich nach dem Tauchen damit.«

»Also, jetzt mal offen und ehrlich, warum tauchst du seit mindestens zwei Wochen im Bergsee? Du hast damit ganz schön Unruhe ausgelöst.«

»Welche Unruhe? Das war nicht meine Absicht!«

Emily erzählte ihm von den wilden Gerüchten und Spekulationen. Sie sprach von der Schlägerei zwischen Paul und Sebastian. Er lachte herzlich.

»Das ist nicht zum Lachen. Alle machten sich Sorgen, nicht wegen des Ungeheuers, sondern wegen der Luftblasen.«

Er setzte sich auf die Bank, streckte die Beine von sich und kreuzte lässig die Füße.

»Ich hatte keine Ahnung, dass meine Tauchgänge zu einer solchen Unruhe beitragen würden. Aber wenn ich als kleiner Junge eine ähnliche Beobachtung gemacht hätte, wäre mir wohl auch die Phantasie durchgegangen.«

»Du hast immer noch nicht meine Frage beantwortet. Du weichst mir aus.«

»Doch, aber du glaubst mir nicht. Nun ja, meine Suche mit Schatzsuche zu umschreiben, war etwas übertrieben.« Er lachte. »Vielleicht gehört das zu meiner amerikanischen Art. Alles machen wir größer und schöner. Aber es stimmt. Ich suche etwas.«

Er zuckte mit den Schultern.

»Wahrscheinlich finde ich es nicht. Aber darauf kommt es nicht an, sondern auf den Versuch.« Er lächelte wieder. »Vielleicht habe ich doch Glück? Man sagt ja auch, dass Amerikaner Optimisten sind.«

»Dir muss sehr viel daran liegen.«

Er nickte.

»Mehr willst du nicht preisgeben?«, fragte Emily.

Er überlegte. Sie ließ ihm Zeit.

»Okay, warum sollte ich dir nicht die ganze Geschichte erzählen. Aber ich warne dich, sie ist sehr lang. So wie es aussieht, gibt es kein Happy End. Vielleicht darf ich dich zum Abendessen in das Hotel ›Zum Ochsen‹ einladen. Dort habe ich ein Zimmer und das Restaurant ist gut.«

Sie starrte ihn an. Er grinste, hatte sie ihn missverstanden? Nahm sie an, er wollte sie auf sein Zimmer einladen?

Sie schüttelte den Kopf.

»Wir können auch hier essen. Anna hat mir so viel eingepackt.«

»Wer ist Anna, deine Schwester?«

Emily lachte.

»Nein, Anna ist die Frau von Toni. Sie führen zusammen die Berghütte.«

»Von der Berghütte habe ich schon gehört.«

Emily stand auf. Sie ging in die Hütte. Er folgte ihr.

»Draußen oder drinnen?«, fragte er.

Emily zuckte mit den Schultern. Ihr Herz klopfte. Sie fühlte, dass es sicherer war, draußen zu essen. Sie war innerlich so aufgewühlt. Angst stieg in ihr auf, ihre Gefühle nicht mehr unter Kontrolle halten zu können.

»Es ist ein schöner Abend. Draußen, würde ich sagen!«

Emily staunte. Wie selbstverständlich half er, den Tisch zu decken. Er trug die Petroleumlampe hinaus und prüfte, ob sie auch brannte.

Sie setzten sich, Emily auf die Bank und John auf einen Stuhl, den er von drinnen geholt hatte.

Sie begannen, zu essen.

»Also, ich bin ganz Ohr!«

John erzählte, dass sein Urgroßvater sich vor vielen Jahrzehnten verliebt hatte. Er war aus München und wanderte leidenschaftlich gern in den Bergen. Dabei lernte er eine junge Frau kennen.

»Ein Madl, wie man hier wohl sagt.«

Sie verlobten sich heimlich. Die junge Frau arbeitete als Hilfsmagd. Sie war arm und entsprach so gar nicht den Wünschen von Johannes’ Familie. Deshalb hielt er seine Verlobung geheim. Johns Urgroßvater, Johannes Schneider, stammte aus einer vermögenden Familie. Es war ihm klar, dass seine Liebste niemals von seiner Familie akzeptiert werden würde. Also beschloss er auszuwandern und sie später heimlich nachkommen zu lassen, um sie dann in Amerika, fernab seiner Familie, zu seiner Frau zu machen.

»Johannes, er wurde Hannes gerufen, sah darin die einzige Möglichkeit«, sagte John.

Johannes teilte sein Erspartes in zwei Teile. Ein Teil sollte ihm den Start in Amerika erleichtern. Den anderen Teil legte er in Schmuck an und gab seiner Verlobten das Geld für die Reise.

»Meine Urgroßmutter ist eine sehr vorsichtige Frau, auch heute noch.«

»Sie lebt noch? Wie alt ist sie?«

»Ja, sie lebt noch und mein Urgroßvater lebt auch noch. Sie sind beide über neunzig Jahre.«

John erzählte weiter. Magda, das einfache Madl aus den Bergen, war sehr ängstlich, man könnte ihr unterwegs den Schmuck stehlen oder sie sogar des Diebstahls bezichtigen. Außerdem kursierten damals die wildesten Gerüchte von sehr hohen Ausfuhrsteuern für Wertgegenstände, die sie nicht bezahlen konnte. Also packte Magda das Goldkollier, die Ohrringe, die Ringe und den Armreif zusammen mit der Brosche und einem goldenen Kreuz in eine Kiste und vergrub sie in den feuchten Wiesen am Rande des Bergsees. Sie merkte sich genau die Stelle und zählte die Schritte vom Ufer bis zur Grube und von der Grube bis zur Mauer des Parks, der das Schlossgelände des Grafen umschloss.

»Doch die Weltpolitik machte ihren Plänen einen Strich durch die Rechnung. Bald brach der zweite Weltkrieg aus und verhinderte, dass meine Urgroßeltern auf Europareise gehen konnten. Dann wurde mein Großvater Max geboren. Das Leben ging weiter. Er wurde erwachsen und heiratete eine Amerikanerin. Max und Donna bekamen einen Sohn, meinen Vater Tom. Er änderte den Namen ›Schneider‹ in ›Tailor‹ und heiratete Mary, meine Mutter. Hannes und Magda lebten ein glückliches Leben voller Liebe. Sie sind der ruhende Pol in der Familie. Es ist so, als ginge von ihrer Liebe eine Kraft aus, die uns alle wie ein wärmender und schützender Mantel umgibt.«

Emily hörte aufmerksam zu. Die Geschichte rührte sie.

»Meine Urgroßeltern schafften es nie, ihre geplante große Reise anzutreten. Jetzt sind sie alt und schwelgen in Erinnerungen. Meine Urgroßmutter bedauerte sehr, dass sie damals nicht wenigsten das Kreuz mitgenommen hat. Sie hängt sehr daran. Es ist weniger der materielle Wert als ein Stück Heimat. Sie erzählte mir, das Kreuz sei ein Kreuz, wie man es hier in der Gegend in einen Herrgottswinkel stellt. Mein Urgroßvater hat es für sie anfertigen lassen. Der Sockel bildet ein Stein, den er vom Gipfel des ›Engelssteigs‹ geholt hatte. Seine Absicht war, dass seine Frau später in Amerika ein kleines Stück Heimat hätte.«

Emily wischte sich die Augen.

»Welch wunderbare Geschichte!«, sagte sie leise und tief bewegt.

»Also machte ich mich auf die Suche, Emily. Durch Nachforschungen erfuhr ich, dass der Bergsee später aufgestaut wurde.«

»Jetzt verstehe ich«, unterbrach ihn Emily. »Deshalb hast du getaucht.«

»Ja, das war einzig und allein der Grund. Aber meine Suche ist wohl vergebens. Schade! Mit einem Erfolg konnte ich kaum rechnen, dennoch war meine Hoffnung groß.«

Emily schwieg eine Weile.

»Dir hat deine Großmutter bestimmt viel vom ›Engelssteig‹ und dem ›Höllentor‹ erzählt. Hast du dich mit deinem Wunsch schon einmal an die ›Engel‹ gewandt?«, fragte Emily mit einem scheuen Seitenblick.

John räusperte sich. Sie sah ihn an. Er schien verlegen zu sein.

»Also, ich habe mir als Junge die Geschichten jeden Tag erzählen lassen. Sie waren für mich wie Märchen. Sie sind wunderschön und tröstlich für Kinder. Sie geben Hoffnung.«

»Das war keine Antwort auf meine Frage«, sagte Emily hart.

»Ich weiß, Emily! Was soll ich sagen?«

»Du hast mit den ›Engeln‹ gesprochen. Gib es zu! Ich kann es dir an der Nasenspitze ansehen.«

Verlegen griff sich John an die Nase. »Ja, ich gebe es zu. Ich war sogar in der Kirche und habe eine große Kerze gestiftet. Es ist mein innigster Wunsch, wenigstens das Kreuz zu finden, Emily. Wer weiß schon, wie lange Greatgrandma Magda noch lebt? Ich würde ihr damit eine große Freude machen.«

»Das verstehe ich. Dann musst du weitersuchen.«

»Ja, ich habe mir den ganzen Sommer über Urlaub genommen. Vieles im Leben erreicht man nur durch Beständigkeit und Ausdauer. Fleiß ist der beste Motor.«

»Das hast du schön gesagt. Ja, so ist es. Man darf sich nicht von ersten Misserfolgen entmutigen lassen.«

Die Sonne versank langsam hinter den Bergen. Im Tal war es schon sehr schattig und dunkel. Nur die Bergspitzen leuchteten von rosarot bis goldgelb in der Abendsonne. Die Schneefelder und Gletscher glitzerten, als seien sie aus vielen roten Granatsteinen. John machte die Petroleumlampe an. Es wurde kühl. Ohne dass ihn Emily dazu aufgefordert hatte, holte er ihr aus der Hütte ihre Jacke.

»Danke«, sagte sie leise. »Du bist sehr zuvorkommend.«

Er lächelte.

»Bist du aus Waldkogel?«, fragte er.

»Nein, ich mache hier nur Urlaub. Vorfahren meines Vaters stammen aus der Gegend. Ich bin aus Hannover.«

»Ah«, hauchte er leise. Emily kam es so vor, als schwinge damit der Hauch eines Gefühls mit, das sie aber nicht zu deuten vermochte.

John schmunzelte.

»Schon seltsam, die Geschichte unserer Familien hat uns zum gleichen Zeitpunkt unsere Wege kreuzen lassen.«

»Ist wohl Schicksal gewesen«, murmelte Emily. »Du hast es herausgefordert mit deiner Suche, den Luftblasen und dem Schein deiner Unterwasserlampe.«

Emily holte Luft.

»John, du solltest mit dem Bürgermeister sprechen. Deine heimliche Suche hat ziemlich Staub aufgewirbelt. Dabei geht es nicht nur um meine Wasserproben.«

»Aber vielleicht muss ich dann die Suche abbrechen? Die Gesetze in Deutschland sollen sehr streng sein. So viel ich weiß, darf man nicht einfach irgendwo tauchen.«

»Stimmt!«

Emily dachte nach.

»Du brauchst Verbündete«, sagte sie mit Nachdruck.

John sah sie erstaunt an. Sie erzählte ausführlich von Toni, Anna und dem alten Alois auf der Berghütte. Sie sei erst wenige Tage hier, aber es gäbe einen wunderbaren Zusammenhalt. Die Waldkogeler hätten ein großes Herz. Sicherlich würden sich alle für ihn stark machen, damit er weitertauchen konnte.

»Toni ist bestimmt bereit, mit dem Bürgermeister zu sprechen. Ich würde es auch tun. Aber ich bin fremd hier, genau wie du.«

John schwieg eine Weile. Dann schaute er sie flehentlich an.

»Könnte ich dich irgendwie überreden, zu schweigen? Greatgrandma Magda wäre das sicherlich nicht recht, wenn es bekannt wird. Vielleicht habe ich Glück und finde etwas.«

Emilys Herz klopfte, als sie in seine Augen schaute. Sie überlegte eine Weile.

»Wenn du mit Toni redest, dann wird er dich verstehen. Die Sache können wir schon irgendwie regeln. Ich bin auf deiner Seite.«

»Wir, das klingt gut! Du bist auf meiner Seite, das klingt noch besser!«, lächelte er.

Seine Stimme klang noch wärmer und weicher.

Emilys Herz raste, dass es sie fast schmerzte. Jetzt müsstest du dich eigentlich bedanken. Ich würde mich nicht wehren, wenn du mich einfach in den Arm nehmen würdest, mir einfach aus Begeisterung um den Hals fallen würdest, sprach Emilys Herz stumm. Es war mehr als das, es war ein Schrei, ein Ruf nach Liebe und Nähe, wie es nur aus einem liebenden Herz hervorquellen konnte.

Aber es geschah nichts. John schenkte einen weiteren Becher Tee ein und trank.

Dann schaute er auf die Uhr.

»Ich muss leider gehen, Emily. Bleibst du über Nacht hier?«

»Wie kommst du darauf?«

»Drinnen …, der Biwakschlafsack ...«

Sie räusperte sich verlegen und wich seinem Blick aus.

»Ich wollte auch heute Nacht Wasserproben nehmen. Diese Arbeit kann ich mir sparen. Das Ungeheuer habe ich bereits gefunden«, sagte sie.

Dabei dachte Emily, John ist alles andere als ein Ungeheuer, trotzdem raubt er mir mein Herz.

Sie stand auf.

»Ich werde zusammenpacken und sehen, dass ich auf die Berghütte komme. Also, wenn du willst, kannst du gerne mitkommen.«

»Ich muss ins Hotel. Meine Angehörigen rufen jeden Abend an. Meine Familie vermisst mich.«

Emily spürte einen Stich im Herzen. Wie ein Echo hallten seine Worte »Meine Familie vermisst mich« in ihrem Inneren nach. Meinte er seine Eltern, Großeltern, Urgroßeltern? Hatte John noch Brüder und Schwestern? Oder sprach er von seiner ganz eigenen Familie, seiner Frau und seinen Kindern? Emily riskierte einen Blick auf seine Hände. John trug keinen Ehering. Auf der einen Seite war sie über diese Tatsache erleichtert, auf der anderen Seite war das keine Gewähr, dass er ledig und frei war. Vielleicht legt er seinen Ehering ab, wenn er taucht, dachte Emily. Sie wusste, dass vom kalten Wasser die Finger schmäler werden konnten. John könnte Angst haben, den Ring zu verlieren.

Unter Aufbietung aller Kräfte begann sie, die Reste einzupacken. John spülte die Becher ab und stellte sie auf das Regal. Es tat Emily weh, ihren Biwakschlafsack zusammenzurollen. In ihrem Herzen war eine Sehnsucht, die so groß war, dass sie fast den Verstand verlor. Wie schön wäre es, mit ihm hier die Nacht zu verbringen. Traurigkeit überfiel sie. Sie war froh, dass die Petroleumlampe den Raum nur spärlich erhellte.

Er hat mir kein einziges Kompliment gemacht, sagte sie sich.

Da gab es nicht das geringste Anzeichen eines Flirtversuches.

Ich scheine ihm nicht zu gefallen.

Er wird in festen Händen sein.

Ist auch nicht verwunderlich, so gut, wie er aussieht.

Ich dumme Kuh, wie konnte ich nur denken, dass er noch zu haben sei und wenn es so wäre, warum sollte er sich für mich interessieren?

Sie riss sich zusammen. Sie band den Biwakschlafsack und die Isomatte auf den Rucksack, schloss den Reißverschluss der Jacke, schulterte den Rucksack und schaute sich noch einmal um. Die leeren Gefäße standen neben den Bechern im Regal.

»Fertig!«, sagte sie mit fester Stimme.

»Ich auch!«

John drehte die Lampe aus. Sie gingen hinaus.

Den Rückweg schritt John voran. Er bog die Zweige und das Gestrüpp auseinander, damit Emily gut durchkam. Dann waren sie bei Emilys Auto angekommen. Sie legte den Rucksack auf den Rücksitz. Danach öffnete sie den Kofferraum, nahm die Wasserproben heraus und schüttete die Flüssigkeit neben dem Auto auf den Boden.

»Das war es«, sagte sie leise.

Mit einem leisen Klick schnappte der Deckel des Kofferraums zu. Sie stieg ein.

Als sie die Tür zuziehen wollte, hielt er sie fest.

»Bist du noch einige Tage hier? Bist du oben auf der Berghütte?«

Emily nickte.

»Vielleicht sehen wir uns?«

Sie lächelte und fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Sie hoffte, dass er es in der Dämmerung nicht sah.

»War ein netter Zufall, dich zu treffen«, sagte er.

»Und hat mir weitere Untersuchungen erspart. Ich wünsche dir viel Glück, wie auch immer deine Suche weitergeht.«

»Danke!«

Irgendwie entstand eine peinliche Stille zwischen ihnen. Emily griff nach dem Türgriff. John ließ die Autotür los. Sie fiel zu. Emily schnallte sich an, startete den Wagen und fuhr an. Sie hob zum Abschied noch einmal die Hand, sah ihn aber dabei nicht an. Dann gab sie Gas und fuhr sehr schnell davon.

John blieb stehen und schaute den roten Rücklichtern nach, bis er sie in der Dunkelheit nicht mehr erkennen konnte.

Mit klopfendem Herzen erreichte Emily den Milchpfad, der hinauf zur Oberländer Alm führte. Sie musste erst einmal anhalten und sich beruhigen. Sie war so aufgewühlt. So fühlt es sich an, wenn mir ein Mann gefällt, sagte sie sich. Aber es ist wohl einseitig.

»Schade! Sehr, sehr schade«, murmelte sie vor sich hin.

Sie atmete tief durch. Es hat nicht sollen sein, dachte sie. Ihr analytischer Verstand gewann wieder die Oberhand. Das Rätsel um den Bergsee war jedenfalls gelöst. Mehr muss mich nicht interessieren, sagte sie sich. Sie griff nach ihrem Handy und schickte eine SMS an ihren Vater. Sie lautete:

Lieber Papa! Ursache gefunden! Es war ein Taucher, der heimlich einen Schatz suchte. Ich mache jetzt Urlaub. Erzähle alles ausführlich, wenn ich wieder daheim bin. Liebe Grüße an Mama.

Emily.

Sie schaltete das Handy ganz aus.

»So, das wäre erledigt. Soll er doch machen, was er will, dieser John Tailor aus Amerika! Ich werde keinen einzigen Gedanken an ihn mehr verschwenden.«

Emily fand ihre Stimme klang fest und entschlossen.

»Okay, ich bin drüber weg. Adieu, John Tailor!«

Sie fuhr weiter bis zur Oberländer Alm. Dort parkte sie das Auto, nahm den Rucksack und wanderte langsam hinauf zur Berghütte. Sie musste vorsichtig sein, weil es schon dunkel war und sie keine Stablampe dabei hatte. Emily seufzte erleichtert, als sie beim Geröllfeld ankam und die erleuchtete Berghütte sah. Toni löschte gerade die Kerzen der kleinen Windlichter, auf den Tischen der Terrasse. Die Tür stand offen und ein milder Schein fiel aus dem Wirtsraum. Bello, der junge Neufundländerrüde, lag oberhalb der Treppenstufen, die zur Terrasse hinaufführten. Er hatte sie gehört und bellte laut, dann lief er ihr entgegen.

»Bello, mach keinen Lärm, du weckst alle auf«, lachte Emily.

Sie streichelte den Hund, der sie freudig umkreiste.

»Mei, Emily, du bist schon zurück? Ich dachte, du wolltest über Nacht am See bleiben«, begrüßte sie Toni.

Sie ging an ihm vorbei in den Wirtsraum der Berghütte, ließ ihren Rucksack einfach auf den Boden gleiten und sank erschöpft in einen Schaukelstuhl am Kamin.

Toni, Anna und der alte Alois musterten sie.

»Scheint anstrengend gewesen zu sein. Toni, hole dem Madl mal einen schönen Obstler«, rief der alte Alois.

Emily trank. Sie seufzte und lachte dann laut. Toni und Anna setzten sich hin.

»Ihr glaubt nicht, was ich erlebt habe. Der Typ ist irre! Verrückt ist er! Total verrückt, irre! Ihr glaubt es mir nicht? Er sucht nach einem Schatz.«

Toni, Anna und der alte Alois warfen sich Blicke zu.

»Schaut nicht so«, sagte Emily. »Er taucht im Bergsee und sucht eine Kiste oder Kästchen. Jedenfalls hat seine Urgroßmutter etwas vergraben, bevor sie nach Amerika fuhr, um dort zu heiraten. Das war vor dem letzten Krieg und bevor der Bergsee weiter aufgestaut wurde. Und dieser John bildet sich ein, er könnte die Sachen finden. Ein Taucher im Bergsee, ein amerikanischer Schatzsucher im Bergsee, so etwas kann man nicht durch Wasserproben herausfinden. Der Typ muss wirklich eine Schraube locker haben. Ich dachte, das Herz bleibt mir stehen, als er vor mir plötzlich aufgetaucht ist.«

Aus Emily sprudelte die ganze Geschichte heraus.

»Er ist nicht das Ungeheuer, aber es ist ungeheuerlich. So eine Geschichte kann niemand erfinden. Es ist fast siebzig Jahre her, dass diese Magda die Sachen vergraben hat und er will sie finden. So eine verrückte Idee! Der Typ ist irre! Na ja, man sagt ja, dass amerikanische Männer etwas anders ticken. Mich rührte die Geschichte. Deshalb bot ich ihm an, mit mir zu euch zu kommen. Er hat schließlich mit seinen Luftblasen und so weiter einiges Aufsehen erregt. Aber okay, mal davon abgesehen, vielleicht …, ach, egal! Was mache ich mir Gedanken über ihn? Für mich ist die Sache erledigt, ein für alle Mal. Soll er doch weitersuchen oder auch nicht. Meinetwegen kann er weitertauchen, bis das kalte Wasser ihn alt und schrumpelig werden lässt. Mir ist es egal. Mich geht es nichts an. Wer weiß, vielleicht sucht er nach ganz etwas anderem? Der Typ kam mir schon so merkwürdig vor, als ich ihn gestern im Laden am Marktplatz gesehen habe, als ich Verpackungsmaterial gekauft habe. Da starrte er mich schon so komisch an, dass es mir ganz heiß wurde. Freundlich ist er überhaupt nicht, aber das habe ich auch schon gestern bemerkt. Soll er nach Amerika verschwinden und weiterhin seiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen, amerikanische Schokolade zu essen.«

Emily holte tief Luft.

»Also, die Sache ist erledigt. Toni, du kannst dem Bürgermeister sagen, dass das Wasser im Bergsee sauber ist und er sich keine Sorgen machen muss. Was du ihm noch erzählen willst, das überlasse ich dir. Für mich ist die Sache abgeschlossen. Ich will und werde nicht mehr daran denken. Jetzt mache ich Urlaub. Morgen früh gehe ich wandern. Toni, wenn du aufstehst, dann wecke mich sofort. Klopfe an die Tür, bis ich antworte. Ich will eine schöne mehrtägige Bergwanderung machen.«

Emily stand auf. Sie lachte, aber ihr Lachen wirkte etwas gezwungen.

»Also dann, ich gehe jetzt schlafen. Gute Nacht!«

Sie griff nach dem Rucksack und ging zu ihrer Kammer. Toni, Anna und der alte Alois, riefen ihr noch einen Gutenachtgruß hinterher, dann fiel die Kammertür hart ins Schloss.

Toni schüttelte den Kopf.

»Mei, was war denn jetzt das?«

Anna lachte.

»Das Geheimnis um das Ungeheuer im Bergsee wurde gelöst. Aber jetzt scheint Emily mit einem anderen Ungeheuer zu tun zu haben.«

Toni grinste.

»Ein fesches, männliches Ungeheuer aus Amerika! Die Emily hat sich verliebt. Also, für mich steht das fest.«

Anna und der alte Alois stimmten zu. Sie waren sich einig, dass jedes Wort von Emilys langen Schimpftiraden nichts anderes war als ein sehnsuchtsvolles Rufen nach diesem John Tailor. Es waren Schreie aus der Tiefe eines liebenden Herzens, voller Verzweiflung, mit der Bitte um Gehör. Eine Liebeserklärung.

Der alte Alois rieb sich das Kinn.

»Alois, was geht dir im Kopf herum? Sagt dir der Namen ›Schneider‹ etwas?«, fragte Toni.

»Ich überlege gerade. Aber der Name sagt mir nix. Allerdings hat das nichts zu bedeuten. Es gab immer reiche Leut’ aus München, die oft nach Waldkogel kamen. Die wohnten dann meistens auf dem Schloss. Wir, die gewöhnlichen Sterblichen, die bekamen sie nur zu sehen, wenn sie ankamen oder abfuhren. Sie tranken nie in der Wirtschaft ein Bier. Sie blieben unter sich, verstehst, Toni?«

Toni nickte.

»Aber vielleicht kann sich Tassilo erinnern?«

»Mei, des glaube ich net. Toni, so alt ist der Graf net. Aber vielleicht ist der Name in einem alten Gästebuch zu finden?«

»Oder die alte Zenzi erinnert sich vielleicht«, sagte Toni.

»Das ist eine Möglichkeit«, stimmte der alte Alois zu.

Toni handelte sofort. Er griff zum Handy und rief im Hotel ›Zum Ochsen‹ an. Leider konnte man ihn nicht mit dem Gast verbinden, weil dieser telefonierte. Toni überlegte kurz.

»Dann hinterlasse ich eine Nachricht. Sie lautet:

Lieber Herr Tailor!

Emily hat uns von Ihrer Suche berichtet. Wir können Ihnen vielleicht einen Hinweis geben. Wir würden uns freuen, wenn Sie uns auf der Berghütte besuchen würden.

Viele liebe Grüße auch von Emily.

Toni.

Toni wartete einen Augenblick, dann fragte er nach und ließ sich den Text noch einmal vorlesen.

»Ja, genau so!«

Toni wurde versichert, dass man Herrn Tailor die Nachricht sofort überbringen würde. Toni bedankte sich und legte auf.

»Das wird der Emily nicht gefallen, wenn dieser John herkommt«, schmunzelte Alois.

»Mei, Alois, dann gefällt ihr es eben net. Da kommt einer so viele tausend Kilometer hierher nach Waldkogel, um seiner Urgroßmutter eine Freude zu machen. Wer uns dann böse sein will, dass wir versuchen zu helfen, der soll wegen mir schmollen. Außerdem wissen wir doch, dass sich die Emily vor lauter Sehnsucht nach dem Burschen verzehrt. Wenn er kommt, dann hat sie noch eine Chance.«

»Wenn sie hier ist, Toni.«

»Anna, sicher, wenn sie hier ist. Mir wird schon etwas einfallen, damit sie hierbleibt und net einige Tage in die Berge verschwindet. Wie heißt es? ›Der Zweck heiligt die Mittel‹. Und in dem Fall geht es doch wohl um zwei Sachen. Erstens, vielleicht helfen wir dem John weiter und zweitens wäre es nicht das erste Mal, dass sich zwei Herzen hier auf der Berghütte finden.«

»Spielst wieder den Hochzeiter«, lachte der alte Alois.

»Na, ich hab nur Mitleid mit der Emily. Sie hat Liebeskummer, auch wenn sie es nie zugeben würde. Welcher Mensch kann bei Liebeskummer einfach die Hände in den Schoß legen? Mag sein, dass es da einen gibt, aber ich bin nicht so. Schau doch mal, Alois, versetze dich mal an die Stelle von diesem John. Er hatte sich unterm Steg versteckt und die Emily hat ihm mit dem Ruder einen Hieb versetzt. Sie erschreckt und fällt ins Wasser. Er fischt sie heraus. Sie will wissen, was er macht und er erzählt, er suche nach einem Schatz. Also, des ist auch ein bisserl peinlich. Das ist ein ausgewachsener Mann, dieser John. Einem fremden Madl zu sagen, dass er auf Schatzsuche ist, klingt ein bisserl sonderbar, auch wenn er ihr dann die Geschichte erzählt hat. Normalerweise träumen kleine Buben, einen Schatz zu finden, aber keine ausgewachsene Burschen. Sicherlich scheute er davor zurück, offiziell danach zu suchen. Vielleicht dachte er, wenn er jetzt mit dem Madl zu flirten anfängt, dann hält sie ihn für einen Hallodri und sie nimmt ihn nicht ernst.«

»Was du wieder für Theorien entwickelst, Toni!«

Anna streichelte Tonis Wange und gab ihm einen Kuss.

»Warten wir es ab, Toni, und jetzt gehen wir alle schlafen.«

Toni rief Bello und machte die Tür zu. Der alte Alois ging zuerst in seine Kammer. Toni und Anna saßen noch einen Augenblick allein am Kamin, dann legten sie sich auch schlafen.

Toni schlief bald ein. Anna lag noch wach. Ihre Gedanken kreisten um Emily. Wie sich im Leben alles gleicht, dachte sie. Anna schlüpfte vorsichtig aus dem Bett. Sie wollte Toni nicht aufwecken. In der Dunkelheit griff sie nach ihrem Jogginganzug und klemmte ihn unter den Arm. Erst vor der Schlafzimmertür zog sie ihn an. In der Küche war noch ein Rest Glut im Ofen. Anna legte Holz nach und setzte einen kleinen Topf mit Wasser auf. Dazu schob sie die Ofenringe zur Seite und stellte den Topf über die aufzüngelnden Flammen, damit sich das Wasser schneller erhitzte. Sie wartete. Dann hörte sie eine Tür. Anna schaute aus der Küche.

»Ah, du bist es, Emily. Kannst du auch nicht schlafen?«

»Ja, ich habe gestern Nacht wenig geschlafen und müsste eigentlich über die nötige Bettschwere verfügen. Aber Pustekuchen, nix da! Ich kann einfach nicht einschlafen. Vielleicht bekommt mir das Reizklima in den Bergen nicht?«

Anna schmunzelte.

»He, Anna, was denkst du?«

Anna lächelte erneut. Das Wasser kochte bereits. Sie brühte eine Kanne Tee auf und stellte zwei Becher auf den Tisch.

»Setz dich! Wir trinken jetzt schönen Schlaftee. Der Kräutertee ist eine spezielle Mischung von Ella Waldner. Sie lebt in Waldkogel. Sie ist eine alte Frau, die sich sehr gut mit Kräutern auskennt.«

Der Tee hatte gezogen. Anna füllte die Becher.

»Er schmeckt etwas bitter. Gib viel Zucker hinein!«, sagte Anna.

»Warum kannst du nicht schlafen, Anna? Du musst die Luft und das ganze Klima hier oben doch gewöhnt sein.«

»Bin ich schon. Meistens schlafe ich auch wie ein Baby in der Wiege. Heute gehen mir Erinnerungen im Kopf herum und ich konnte nicht einschlafen. Ich musste an meine Freundin Sue denken. Die Situation heute Abend mit dir am Kamin hat alte Erinnerungen geweckt an einen sehr bedeutenden Abend.«

»Hoffentlich gute Erinnerungen, Anna!«

»Wie man es nimmt. Damals hätte ich meiner besten Freundin am liebsten die Augen ausgekratzt. Aber heute bin ich ihr sehr dankbar, dass sie erkannte, was mit mir los war und handelte. Es war zwar fast etwas gewaltsam, aber es war genau das Richtige.«

Emily nippte an ihrem Tee. Sie gab noch einen Löffel Zucker hinein und rührte sorgfältig um.

Anna lächelte.

»Erzähle schon, Anna!«

»Also gut! Es war der Abend nach meiner Ankunft in Frankfurt, nachdem ich im Zug Toni gesehen hatte. Sue sagte mir auf den Kopf zu, dass ich mich in ihn verliebt hätte. Wenn wir zwanzig Jahre jünger gewesen wären, hätte ich mich wohl auf Sue gestürzt, sie gekratzt und sie an den Haaren gezogen. So brüllte ich nur herum und schimpfte über diesen Bergler in Lederhosen, diesen unmöglichen Typen. Je mehr ich schimpfte, desto mehr lachte Sue und forderte mich auf, zu meinen Gefühlen zu stehen.«

Anna nippte an ihrem Tee.

»Ich weiß nicht mehr, was ich alles brüllte, aber ich wehrte mich gegen die Vorstellung, von einer Zukunft mit ihm zu träumen, auch nur, sie in Erwägung zu ziehen. Es war unmöglich. Ich arbeitete in Hamburg bei einer Bank, er war irgendwo in den Bergen. Außerdem waren Berge für mich ein rotes Tuch. Ich war noch nie in den Bergen gewesen und wurde von meiner Großmutter angehalten, die Berge zu meiden. Sie bläute mir ein, Berge seien gefährlich. Meine Großmutter zog mich groß, nach dem Unfalltod meiner Eltern in den Bergen. Und ich sollte mich ausgerechnete in einen Mann aus den Bergen verliebt haben? Ich schrie im Wohnzimmer herum und drohte Sue, ihr die Freundschaft zu kündigen. Nachts überlegte ich mir, dass es besser sei, den Urlaub bei Sue abzubrechen. Ich kannte Sue, das Thema ›Bursche aus den Bergen‹ würde täglich aufgetischt werden, solange ich bei ihr war. Aber es kam anders. Sue trickste mich aus. Am nächsten Abend saß ich völlig verwirrt Toni in der Wirtsstube seiner Eltern gegenüber. Seine Art zog mich an und verwirrte mich. Ich wusste nicht mehr ein noch aus. Mein Herz sagte ›Ja‹, mein Verstand ›Nein‹. Aber dann griff das Schicksal ein und ich fand hier in Waldkogel auf der Berghütte meine Heimat.«

Anna sah Emily in die Augen.

»Du hast diesen John ganz schön runtergeputzt, du hast kein gutes Haar an ihm gelassen. Da kam mir der Gedanke, dass es so sein könnte wie bei mir damals. Darüber dachte ich nach und konnte nicht schlafen. Emily, wenn dein Herz dir sagt, dass du ihn liebst, dann lasse es zu!«

Emily seufzte tief.

»Das würde ich so gern, Anna! Ja, ich habe mich in ihn verliebt. Das geschah nicht erst am Bergsee, sondern schon in dem Laden. Ich trat ein, sah ihn und da war es um mich geschehen. Es war, als würde ich plötzlich unter dem Mikroskop etwas ganz Seltenes entdecken. Anders kann ich es dir nicht beschreiben.«

Anna lächelte.

»Du hattest das Gefühl, als versinke die Welt um dich, als gäbe es nur noch ihn und dich. Ab diesem Augenblick möchtest du nur noch für ihn leben.«

»Ja, ja, ja«, seufzte Emily.

Sie trank wieder einen Schluck Tee.

»Aber was nützt es mir? Er scheint kein Interesse an mir zu haben.«

»Bist du dir da wirklich so sicher?«

Emily zuckte mit den Schultern.

»Anna, ich weiß nicht. Er hat mich nicht gefragt, ob ich einen Freund habe. Er unternahm keinen, auch nicht den kleinsten Versuch, mit mir zu flirten. Ich weiß nicht, woran ich bei ihm bin.«

»Vielleicht ist er nur schüchtern? Hast du ihn gefragt, ob sein Herz frei ist?«

»Anna«, schrie Emily heraus, »wie würde das aussehen?«

Anna schüttelte den Kopf.

»Himmel, Emily, was ist dabei, das Feld zu sondieren? Willst du ihn oder willst du ihn nicht?«

»Anna, wie kannst du fragen? Er raubt mir den Schlaf.«

»Na also! Dann tue etwas!«

»Was soll ich tun? Ich kann mich ihm doch nicht an den Hals werfen? Ich habe mich sowieso kaum noch unter Kontrolle. Ich kenne mich nicht wieder.«

»Das nennt man Liebe. Du bist verliebt. Zeige es ihm! Mache ihm schöne Augen! Mein Gott, Emily, wir Frauen können den Männern den Kopf verdrehen. Das war schon immer so und wird auch immer so bleiben. Warum sollte der Bursche darauf nicht reagieren?«

Emily zuckte wieder mit den Schultern. »Chance vorbei! Ich habe es vermasselt, Anna. Er wollte mit mir Essen gehen. Ich habe abgelehnt, stattdessen haben wir deinen Proviant gegessen. Er sagte, er müsse ins Hotel, weil er auf einen Anruf warte. Ich hätte in der Hütte am Bergsee bleiben und ihn bitten können zurückzukommen.«

»Hätte – hätte – hätte, das bringt dich nicht weiter. Das gehört der Vergangenheit an. Denke lieber an die Zukunft. Er sagte, er wolle den ganzen Sommer hierbleiben. Er wohnt im Hotel ›Zum Ochsen‹. Nimm dir dort ein Zimmer oder gehe so früh hin, dass du im Frühstücksraum mit ihm zusammentriffst. Lade ihn ein, mit dir eine Wanderung zu machen. Und wenn er auf deine Signale nicht reagiert, dann spreche ihn direkt an. Männer haben eine lange Leitung. Es gibt auch Männer, die sind etwas zurückhaltend. Sie brauchen eine Ermutigung. Emily, wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert, im dritten Jahrtausend nach unserer Zeitrechnung. Nur Mut! Er kann ablehnen, aber dann weißt du, woran du bist. Sag ihm: Ich habe mich in dich verliebt, John. Oder, John, ich muss dir etwas gestehen, ich bin so gern in deiner Nähe. John, es ist da etwas mit mir und ich muss dir einfach sagen, dass ich mich in dich verliebt habe.«

»Wirklich?«

»Sicher! Emily, wir sind emanzipierte Frauen. Aber wenn wir uns verlieben, dann verhalten wir uns noch so, wie es unsere Großmütter oder Urgroßmütter getan haben. Wir warten auf ein Zeichen von ihm. Die Zeiten sich vorbei. Wir sind gleichberechtigt in der Liebe. Es war doch schon immer so, dass wir Frauen uns den Mann ausgesucht haben. Nur jetzt müssen wir nicht mehr so tun, als würden die Burschen uns aussuchen.«

Anna schaute Emily tief in die Augen.

»Sicherlich kann es schiefgehen. Aber auch diese Erfahrung gehört zur Emanzipation. Doch dann weißt du, woran du bist. Hat er sich nicht in dich verliebt, dann gibt es einen Grund. Den soll er dir sagen.«

»Gründe kann es viele geben, er hat eine Andere, seine Eltern wollen, dass er nur eine Amerikanerin nimmt, ich gefalle ihm vom Typ her nicht, was weiß ich?«, zählte Emily auf.

»Höre auf, dir Gedanken zu machen, warum er dich nicht will. Es gibt nur einen Grund, den ich gelten lasse.«

»Der ist?«, schoss es aus Emily hervor.

»Ich glaube, die Liebe bringt die zwei Menschen zusammen, die zusammengehören. Das ist einfach so. Sie treffen sich und entflammen füreinander im gleichen Augenblick. Bei mir und Toni geschah es im Zug. Bei dir und John geschah es im Laden von Veronika Boller. Wenn er derjenige ist, dessen Namen im großen Himmelsbuch der Liebe zu deinem Namen zugeordnet steht, dann muss er dich lieben. Wenn er dich nicht liebt, dann seid ihr nicht füreinander bestimmt.«

»Dann wäre es aber ungerecht, dass ich mich in ihn verliebt habe, Anna. Warum ist es dann geschehen?«

»Bist du schon einmal verliebt gewesen?«

»So richtig noch nicht. Jedenfalls so noch nicht wie jetzt. Ich wusste nicht, dass man so lieben und sich so vor Sehnsucht verzehren kann.«

»Vielleicht sollte nur eine Herzenstür aufgestoßen werden, damit in dir die Sehnsucht nach Liebe und Zweisamkeit geweckt wird und du dein Leben nicht im Labor verbringst. Aber niemand auf Erden kann dir wirklich eine Antwort geben. Ich kann dir nur von meiner Erfahrung erzählen. Wenn du ihn liebst, dann nimm ihn dir! Versuche, ihn zu verführen, setze ihm die Pistole auf die Brust. Dann hast du Klarheit.«

Emily trank wieder einen Schluck Tee.

»Vielleicht wäre es gut, wenn ich morgen früh doch nicht wandern ginge, sondern versuchen würde, ihn zu sehen. Könnte ja wie Zufall aussehen.«

Anna schmunzelte.

»Es wäre kein Zufall, wenn er auf die Berghütte käme. Toni hat ihm im Hotel eine Nachricht hinterlassen. Toni und Alois haben eine Idee, wer etwas wissen könnte, über diesen vergrabenen Schatz.«

Emily wurde rot.

»Du meinst, er kommt? Er kommt wirklich?«

»Du kennst meinen Toni nicht. Er wird so lange keine Ruhe geben, bis er mit John gesprochen hat. Toni ist so ein herzensguter Mensch. Ihn rührte die Geschichte. Er will immer alles regeln. Er will, dass jedermann glücklich ist. Meistens gelingt es ihm. Dafür liebe ich ihn auch.«

»Oh, Anna, ich habe Herzklopfen, wenn ich daran denke, dass John auf die Berghütte kommt. Wann denkst du, dass er hier ist?«

Anna zuckte mit den Schultern.

»Wenn es dir zu lange dauert, dann rufe ihn an und mache Druck! Schließlich hat er dich erschreckt und muss etwas gutmachen. Eine halbe Tafel Schokolade ist da wirklich zu wenig.«

»Du bist ein Schatz, Anna! Ein richtiger Schatz! Danke! Danke, dass du mit mir geredet hast.«

»Gern geschehen! Komm wir teilen uns den Rest Tee. Es wäre schade, wenn ich ihn wegschütten müsste. Zum Frühstück kann ich den Hüttengästen keinen Schlaftee geben.«

»Gibt es auch so etwas wie Liebestee?«

Anna lachte.

»Nein, das gibt es nicht, das gibt es nur im Märchen.«

Sie lachten und tranken den Tee aus. Dann legten sie sich wieder hin. Emily fühlte sich so gelöst. Es war ein neues Gefühl in ihrem Herzen, das ihr Mut machte. Sie schlief gleich ein und träumte von John.

*

John telefonierte sehr lange mit seiner Familie in Amerika. Danach saß er auf dem Balkon seiner Hotelsuite und trank einen Whisky. In den Händen drehte er den Zettel hin und her, auf dem die Einladung, Tonis Nachricht, stand.

Was können sie wissen?

Was hat Emily erzählt?

Was wird es für Folgen haben?

Auf der einen Seite freute sich John, dass es vielleicht eine Spur gab. Auf der anderen Seite hatte er ein mulmiges Gefühl. Er haderte immer noch mit dem Schicksal, dass er Emily begegnet war, denn ihr Anblick hatte alles verändert. Er schwankte zwischen Träumen und Wünschen und einer Unsicherheit, gepaart mit Erstaunen. Es war nur ein Blick gewesen, der ihn mitten ins Herz getroffen hatte. Er grübelte, was Emily wohl über ihn dachte, über einen Mann, der sich in den Kopf gesetzt hatte, einen Schatz in einem Bergsee zu suchen. Musste es ihr nicht lächerlich vorkommen? Sie wollte mit mir nicht essen gehen, erinnerte er sich. Wollte sie nicht mit ihm gesehen werden?

Johns Gedanken kreisten immer mehr um Emily als um die Aufgabe, derentwegen er nach Waldkogel gekommen war. Noch mehr als Tonis Nachricht mit der Andeutung, dass er ihm einen Hinweis geben konnte, freute er sich über die Grüße.

»Viele liebe Grüße auch von Emily«, las John laut.

Er überlegte, ob die Zeile nur eine flüchtig dahindiktierte Höflichkeitsfloskel war oder ob mehr dahintersteckte.

»Liebe Grüße …, liebe Grüße«, flüsterte er vor sich hin.

Er dachte lange darüber nach. Emily wirkte sachlich auf ihn, zielstrebig, wie eine Frau, die genau wusste, was sie wollte. Sie hatte die Einladung zum Abendessen nicht angenommen, das kann nur bedeuten, dass sie auf Abstand zu ihm gehen wollte. Zwar gestand er sich ein, dass die Lebens- und Liebesgeschichte seiner Urgroßeltern sie zu Tränen gerührt hatte, aber das musste nichts bedeuten. Seine Schwestern heulten in jedem Liebesfilm los.

John trank den Whisky aus. Er nahm eine eiskalte Dusche und legte sich ins Bett. Dort lag er noch lange wach, bis er irgendwann einschlief. Als der Anruf der Rezeption ihn weckte, erschrak er. Er bereute, den Auftrag gegeben zu haben, ihn zu wecken. Der Traum war wunderschön gewesen. Er träumte von Emily, bis das Läuten des Telefons das Traumbild zerriss, in dem er mit ihr nachts im Ruderboot lag und hinauf in die Sterne des Nachthimmels über Waldkogel sah. Ärgerlich über sich selbst, fluchte er laut in seiner Muttersprache. Dann riss er den Hörer ans Ohr.

»Thanks! Eine große Kanne Kaffee auf mein Zimmer!«, sagte er unwirsch und knallte den Hörer auf.

Es war fünf Uhr. John stand auf. Er trat auf den Balkon. Es war noch kühl. Nur die Bergspitzen rund um Waldkogel leuchteten im zarten Morgenlicht. Er schaute hinauf zum Gipfelkreuz des »Engelsteigs« und schickte all seine Sehnsucht nach Emily hinauf und die Verwirrung und Unsicherheit, die sein Herz erfüllten. Er war so verwirrt. Er wusste, sie war es. Doch es war alles so schnell gegangen, dieser Blick, dieser einzige Blick. Aber er war ihr am Bergsee nicht nähergekommen. Er litt.

Nach einer kalten Dusche, frisch rasiert und nach einer starken Kanne Kaffee fühlte er sich besser.

Er steckte eine Flasche Wasser aus der Zimmerbar ein und plünderte die Schale mit Süßigkeiten auf dem Tisch. Dann betrachtete er sich im raumhohen Spiegel des Schlafzimmers. Er trug die neue Wanderkleidung, die er im Trachten- und Andenkenladen Boller gekauft hatte. Er schmunzelte, als er den Hut mit dem Gamsbart aufsetzte. Sein Anblick erinnerte ihn an ein altes Schwarzweißfoto seines Urgroßvaters. John Tailor schulterte den Rucksack und verließ das Zimmer.

Aus dem Kamin der Oberländer Almhütte stieg eine Rauchfahne in den Morgenhimmel. Es roch nach Holz. Es roch gut. John liebte den Duft von Holzfeuer. Er warf noch einen Blick auf die Landkarte. Dann machte er sich auf den Weg hinauf zu Tonis Berghütte. Er ließ sich Zeit, blieb öfter stehen und genoss die Aussicht. So wird es auch damals ausgesehen haben, als Greatgrandpa hier wanderte, dachte er. Damals war er mit seiner Liebsten unterwegs. Der alte Johannes hatte es oft erzählt, wie sie Hand in Hand gewandert waren. Jetzt steige ich hinauf. Sein Herz sehnte sich danach, den Weg nicht allein zu beschreiten. Diese Sehnsucht hatte einen Namen: Emily.

John erreichte das Geröllfeld. Er blieb stehen und ließ das Bild der Berghütte auf sich wirken. Wieder verglich er den Anblick mit der Erinnerung an die alten Fotos, die er kannte. Auf der Terrasse der Berghütte breitete ein Mann auf einigen Tischen Tischdecken aus.

John ging weiter. Er blieb oberhalb der Treppe stehen, die in wenigen Stufen zur Terrasse der Berghütte führte. Bello, der junge Neufundländerrüde, kam und beschnupperte ihn freundlich.

»Du bist ein großer Bär«, sagte John und kraulte Bello das dicke Fell.

Bello rieb sich an Johns Beinen.

»Guten Morgen! Ich suche Herrn Toni. Den Familienname kenne ich leider nicht«, sagte John.

Toni streckte John die Hand entgegen.

»Du musst der John aus Amerika sein, denke ich mir. Du sprichst unsere Sprache gut, aber dein Akzent verrät dich. Emilys Beschreibung passt auf dich. Ich bin der Toni. Baumberger ist der Familiennamen, aber der ist hier nicht wichtig. Wir halten das mit der Anrede sehr locker.«

John lächelte und gab Toni die Hand.

»Genau wie wir in Amerika.«

»Du bist früh dran, John. Hast du schon gefrühstückt?«

»Nur Kaffee.«

»Dann setze dich hin, ich bringe dir Frühstück und setze mich einen Augenblick dazu.«

Toni schaute auf seine Uhr.

»In einer halben Stunde wird es hier lebhaft. Dann sind alle Hüttengäste aufgestanden und wollen schnell essen, damit sie los können. Willst draußen oder drinnen sitzen?«

John nahm an einem Tisch auf der Terrasse Platz. Toni brachte ihm ein Frühstück, wie es die meisten Hüttengäste mochten, Brot, Butter, Rühreier mit viel Speck, außerdem Marmelade. Dazu gab es süßen Milchkaffee.

»Schmeckt gut«, strahlte John. »Schmeckt fast, als hätte es Greatgrandma Magda gemacht.«

»Mei, das ist ja ein Kompliment«, Toni freute sich. »Damit sind wir gleich beim Thema. Wollen wir sofort darüber reden?«

»Deine Nachricht ließ mich kaum schlafen. Es liegt mir sehr viel daran, etwas über die Dinge zu erfahren, die Greatgrandma versteckt hat, bevor sie sich auf den Weg zum Schiff machte und ihrem Glück entgegenfuhr.«

Dann erzählte John kurz, dass sein Urgroßvater seine Braut damals in New York abgeholt hatte. Er reiste mit ihr zuerst nach Chicago. Dort heirateten sie. Sie wohnten weiter in der Wohnung, die Johannes angemietet hatte. Dann wurde Magda schwanger. Johannes fand, dass es an der Zeit war, aufs Land zu ziehen. Er kaufte weit oberhalb von Milwaukee ein einsam gelegenes Grundstück mit einer alten Farm, direkt am Michigan See.

»Unsere ganze Familie wohnt heute noch dort zusammen, das sind vier Generationen. Es wurde immer wieder angebaut und umgestaltet. Die Großeltern betrieben am Anfang, während der Sommermonate, eine kleine Pension und verliehen Boote. Magda kochte gutes deutsches Essen. Ihre Kuchen und Torten erlangten eine Berühmtheit. Heute betreiben meine Eltern eine große Marina.«

»Jetzt bist du gekommen, um deiner Urgroßmutter ihren sehnlichsten Wunsch zu erfüllen?«

»Ja, das bin ich! Ich weiß, es ist eine verrückte Idee. Aber einer in der Familie musste es versuchen.«

»Das verstehe ich, John. Wäre ich an deiner Stelle, würde ich es auch versuchen. Jetzt höre mir mal zu!«

Toni erzählte John von dem alten Alois, der sich sicher war, wenn einer etwas beitragen könnte, dann Tassilo Graf von Teufen-Thurmann. Möglich, dass in den alten Gästebüchern ein Hinweis zu finden war.

»Wenn dein Urgroßvater Gast im Waldschlösschen war, dann hat er sich sicherlich dort eingetragen. Vielleicht finden wir jemanden, der ihn und Magda kannte. Ich gebe zu, es ist nur eine vage Spur.«

John nickte eifrig.

»Magda hatte dort oft bei großen Empfängen ausgeholfen, erzählte sie. Dabei sind sich die beiden begegnet, Hannes und sie.«

»Mei, da schließt sich vielleicht der Kreis. Wenn du willst, dann mache ich Kontakt für dich und du kannst heute noch hingehen. Ich muss nur anrufen.«

»Toni, das ist mehr, als ich erwartet habe. Ich habe natürlich auch schon daran gedacht, dort vorzusprechen und war am Überlegen, wie ich es anstellen sollte. Na ja, zuerst wollte ich weiter im Bergsee suchen.«

Toni schaute auf die Uhr.

»Tassilo wird nicht am Telefon sein. Ich vermute, dass die Zenzi schon auf ist.«

»Zenzi? Zenzi?«, John runzelte Stirn.

»Was hast du?«, fragte Toni.

»Wie alt ist diese Zenzi?«

»Sehr alt«, lachte Toni. »Wie alt sie ist, weiß niemand, sie macht ein Geheimnis daraus.«

John lehnte sich auf dem Stuhl zurück und schüttelte den Kopf. Er fuhr sich mit den Händen durch das dichte lockige Haar.

»Toni, ich wage mich nicht an die Hoffnung zu klammern, aber es gab damals eine Zenzi. Von ihr hat mir Greatgrandma erzählt. Vielleicht ist es dieselbe Zenzi? War sie damals schon auf dem Schloss?«

Entschlossen griff Toni zu seinem Handy. Es läutete hin und es dauerte, bis Zenzi sich meldete.

»Grüß Gott, Zenzi, hier ist der Baumberger Toni!«

»Toni, ein herzliches Grüß Gott! Mei, das ist ja ein früher Anruf.«

»Ja und ich vermute auch, dass Tassilo noch net zu sprechen ist.«

»Des stimmt. Es dauert noch eine Weile, bis er zu mir in die Küche kommt. Weißt, er frühstückt jeden Morgen ganz früh mit mir in der Küche wie in alten Zeiten, als er noch ein kleiner Bub war, nur er und ich. Willst ihn sprechen? Hast du etwas zu bereden mit ihm?«

»Ja, Zenzi! Wir haben hier einen Hüttengast aus Amerika. Er heißt John Tailor und ist ein Urenkel eines Paares, das eine enge Verbindung nach Waldkogel hat. Aber es ist einiges unklar. John sucht nach seinen Wurzeln. Es ist möglich, dass Tassilo oder du ihm helfen könnt. Bitte richte dem Tassilo aus, dass ich mich über einen Rückruf sehr freue.«

»Mache ich, Toni!«

Toni zögerte. Er überlegte kurz, ob es sinnvoll wäre, Zenzi am Telefon zu befragen.

»Gibt es noch etwas, Toni? Bist so still?«

»Zenzi, die Leut’, um die es geht, die haben den Familiennamen geändert. Des haben viele in Amerika so gemacht. Früher hießen sie ›Schneider‹. Sagt dir der Namen etwas?«

»Toni, mei stellst du Fragen. Es gab in der Gegend net viele Familien mit dem Namen.«

»Der alte Schneider war nicht von hier, er war aus München.«

»So, aus München, was du net sagst?«

Toni bildete sich ein, dass Zenzis Stimme am Telefon anders klang. Weiß sie etwas, fragte sich Toni.

»Zenzi, der Bursche dürfte so in deinem Alter sein und seine Frau auch. Sagt dir der Namen Johannes Schneider nichts? Der alte Alois meint, es sei sehr wahrscheinlich, dass er auf dem Waldschlösschen ein- und ausgegangen ist, damals vor fast siebzig Jahren.«

»Johannes Schneider, da muss ich erst überlegen.«

»Er wurde Hannes gerufen und ist später nach Amerika ausgewandert. Des Madl, mit dem er sich hier in Waldkogel verlobte, hieß Magda.«

Es dauerte etwas, bis Zenzi sich äußerte. Toni fühlte durch das Telefon, dass irgendetwas geschah.

»So, so, was du net sagst«, sagte Zenzi endlich ganz leise.

Toni hörte am Telefon, wie Zenzi leise seufzte. Dann wurde ihre Stimme unerwartet barsch und abweisend.

»Also, ich hab’ jetzt keine Zeit mehr, mit dir zu tratschen. Ich muss des Frühstück machen. Ich werde ihm sagen, er soll dich anrufen. Pfüat di, Toni!«

Dann knackte es in der Leitung. Zenzi hatte schnell aufgelegt und nicht abgewartet, bis Toni sich von ihr verabschiedete.

Toni legte auf, steckte das Handy ein und schmunzelte. Ihm kam es so vor, als hätte sich die alte Zenzi erinnert, wollte aber nichts sagen oder besser: noch nichts. Sollte er John gegenüber davon sprechen? Toni entschied sich dagegen.

»John, der Graf wird anrufen. Dann erfahren wir, wann er Zeit hat und du hingehen kannst.«

John wurde nervös. Er gestand Toni, dass er sich vor dem Besuch etwas fürchtete. Er wusste nicht, wie man sich verhielt und war in Sorge, den Grafen mit seinen amerikanischen Umgangsformen zu verprellen. Toni brach in Gelächter aus. Er sagte, John solle sich nicht so viele Gedanken machen. Er erzählte ihm von Tassilo, den hier alle duzten und nichts anderes war als ein echter Waldkogeler.

»Natürlich steckt immer die Verpflichtung des Adels in ihm. Er kümmert sich deshalb besonders um alles, wobei er helfen kann und hat für jeden ein offenes Ohr. Ich bin auch mit ihm per du.«

»Du bist ja auch ein Waldkogeler. Ich bin ein Fremder und komme weit über den Ozean her.«

»Bist auch ein bisserl ein Waldkogeler. Schließlich stammst du in der vierten Generation von einem Paar ab, das hier seine Liebe gefunden hat.«

»Die Glücklichen!«, seufzte John. »Sie sind zu beneiden.«

Toni schmunzelte.

»Musst ja nicht allein hingehen. Ich denke sogar, es wäre richtig, wenn dich die Emily begleiten würde. Sie hat uns von dir und deiner Suche erzählt und so die Sache ins Rollen gebracht. Die Emily ist ein patentes Madl, will ich mal sagen. Falls du nimmer weiterweißt, dann wird sie dich bestimmt unterstützen. Sie war von der Geschichte deiner Familie sehr bewegt.«

John errötete tief.

»Diese Emily ist eine besondere junge Frau. Sie ist mutig, selbstbewusst, zielstrebig und ...«

»Fesch!«, ergänzte Toni. »Du weißt doch was ›fesch‹ bedeutet?«

John grinste. Er erzählte, dass sein Urgroßvater noch heute seine Frau ein fesches Madl nennt.

»Siehst! Und gibst du zu, dass die Emily fesch ist?«

»Sehr fesch, Toni! Sehr, fesch! So eine Frau oder Madl, wie ihr hier in den Bergen sagt, ist mir noch nie begegnet.«

John sah Toni an und beschloss, mit ihm über Emily zu reden. Er erzählte, wie er sie zum ersten Mal im Laden sah und wie sie dann halb ins Wasser und halb in seine Arme fiel.

»Toni, am liebsten hätte ich sie nicht mehr losgelassen!«

Toni stand auf und ging in die Berghütte. Er kam mit zwei Obstlern zurück.

»Hier, ich lade dich ein! Jetzt hörst du mir mal zu, John Tailor aus Amerika. Es kann sein, dass du den vergrabenen Schatz deiner Urgroßmutter nicht findest. Aber du kannst einen anderen Schatz finden. Das heißt, du hast ihn schon gefunden. Du musst nur noch zupacken. Du weißt, wie ich das meine?«

John strahlte. Zuerst brachte er kein Wort heraus, dann sagte er leise:

»Du sprichst von Emily?«

»Mei, John, von wem sollte ich sonst reden? Trinken wir darauf, dass du deinen Schatz auch findest. Prosit, John!«

John nickte Toni zu. Sie tranken.

»Du kennst Emily besser als ich, Toni. Meinst du, ich habe eine Chance?«

Toni stand auf.

»Ich kann mich leider nicht länger mit dir unterhalten, John. Doch ich sage dir, dass ich bei Emily Anzeichen entdeckt habe, die sehr vielversprechend sind.«

Toni blinzelte John zu.

John Tailor strahlte.

*

Als Tassilo Graf von Teufen-Thurmann in die Küche kam, roch es angebrannt. Die alte Zenzi stand mit hochrotem Kopf am Herd und bereitete erneut Eier mit Speck zu. Sie wirkte sehr nervös.

»Zenzi, was ist mit dir?«

»Nix ist, es ist heute nur net mein Tag. Der Toni hat mich mit seinem Anruf ganz durcheinandergebracht. Dann habe ich eine Kaffeetasse auf dem Boden fallen lassen, die Eier mit Speck sind angebrannt. Naa, des ist net mein Tag! Aber ich habe es immer kommen gesehen. Doch wenn es dann so weit ist, überrascht es einen doch.«

Graf Tassilo trat neben Zenzi. Er legte liebevoll den Arm um sie.

»Loslassen! Was soll des?«, rief sie.

»Zenzi, gib Ruhe! Als du noch mein Kindermädchen warst, hast du mich in den Arm genommen, wenn ich Kummer hatte. Jetzt bin ich an der Reihe. Jetzt setzt dich hin und trinkst eine Tasse Kaffee mit mir.«

Er führte sie zum Stuhl.

»Aber die Eier!«, protestierte sie.

»Um die kümmere ich mich. Du gibst jetzt Ruhe.« Und schmunzelnd fügte er hinzu: »Zenzi, ich bin dein Chef! Des ist eine dienstliche Anweisung.«

»Ich kündige! Ich bin schon längst im Rentenalter. Ich gehe!«

»Schmarrn! Abgelehnt! Du kommst net ohne mich aus, ohne uns hier und wir nicht ohne dich!«

Die Eier waren fertig. Er füllte sie auf seinen Teller und stellte die große Pfanne auf die Anrichte. Er begann zu essen. Dabei beobachtete er Zenzi. Sie sah wirklich nicht gut aus.

»Du gefällst mir heute nicht, Zenzi. Soll ich den Martin anrufen?«

»Na, der kann mir auch nicht helfen. Bei der Sach’ hilft auch kein Doktor.«

Er sah kurz vom Teller auf.

»So, der Martin kann dir nicht helfen und ich kann dir auch nicht helfen.«

»Des hab’ ich net gesagt, dass du mir net helfen kannst. Aber es ist mir peinlich. Mei, ich hätte vielleicht schon längst mit dir darüber reden sollen. Des hätte mir bestimmt einige schlaflose Nächte erspart.«

Der Graf verlor langsam die Geduld.

»Zenzi, rede endlich! Du kennst mich und weißt, dass ich am Morgen net dazu aufgelegt bin, irgendwelche Ratespiele zu machen, auch net mit dir.«

Zenzi schnäuzte sich die Nase und wischte sich die Augen. Dann gestand sie ihre Vermutung, dass Tonis Gast auf der Berghütte etwas mit einer Sache zu haben könnte, in die sie auch verstrickt sei. Stockend berichtete sie und machte viele Pausen, in denen sie nach Worten suchte, nicht weil sie alt war und ihr Gedächtnis gelitten hätte, sondern weil sie vor Aufregung nicht die richtigen Worte fand. Tassilo übte sich in Geduld.

»Den Brief habe ich noch, den ich von der Magda bekam. Ich schrieb ihr zurück, aber es war Krieg und es wurden keine Briefe nach Amerika verschickt, denke ich mir so. Später, nach dem Krieg, schrieb ich noch einmal, aber nach Wochen und Monaten kam mein Brief zurück. Die Adresse sei unbekannt, stand drauf.«

»Dann müsstest dich eigentlich freuen, Zenzi. Vielleicht kommt jetzt ein bisserl Licht in die Sache.«

»Sie dürfen aber nix sagen, bevor ...«

»Ja, ja, Zenzi, ja! Ich verspreche es dir! Außerdem wirst dabei sein, wenn dieser John Tailor kommt. Ich rufe Toni an und sage ihm, dass er ihn sofort herschicken kann. Ich weiß, dass du auf heißen Kohlen sitzt.«

Zenzi nickte und wischte sich wieder die Augen. Tassilo rief im Beisein von Zenzi Toni an und sprach kurz mit ihm. Toni kündigte Johns Besuch noch am Vormittag an.

»So, die eine Sache ist am Laufen, Anna«, sagte Toni und steckte das Handy ein. »Jetzt müssen wir nur noch Emily dazu bringen, dass sie John begleitet. Sie schläft lange.«

»Das macht der starke Tee, den ich ihr heute Nacht zum Trinken gegeben habe. Ich habe ihr von Ella Waldners Spezialschlaftee gegeben.«

Anna erzählte Toni von ihrem Gespräch mit Emily. Toni schmunzelte.

»Ich habe mir doch gleich gedacht, dass das Madl verliebt ist.«

»Ja, das ist sie! Ich gehe jetzt, wecke sie und rede mit ihr.«

»Bist ein Schatz, Anna!«, sagte Toni und drückte seiner Anna einen Kuss auf die Wange.

Anna klopfte an Emilys Kammertür und öffnete sie einen kleinen Spalt.

»Guten Morgen, Anna!«

»Guten Morgen, Emily! Wie hast du geschlafen?«

Emily setzte sich auf die Bettkante und streckte die Arme nach oben.

»Wunderbar!« Emily lächelte und sagte leise: »Ich habe von John geträumt.«

»Das ist ein gutes Zeichen. Es gibt Neuigkeiten. Toni hat mit dem Grafen telefoniert. Er scheint John weiterhelfen zu können.«

»Wie schön! Ist John schon hier?«

Anna nickte.

»Er sitzt draußen auf der Terrasse und plaudert mit dem alten Alois.«

Emily errötete tief. Anna ging auf sie zu und packte Emily an den Schultern.

»So, jetzt sage ich dir etwas. Toni und ich haben dir eine Eselsbrücke gebaut. Es liegt an dir, ob du darüber gehst. Toni hat John gesagt, dass er dich mit zum Grafen nehmen soll. Damit John dich wirklich einlädt, ihn zu begleiten, sagte Toni, dass der Graf dich auch kennenlernen wollte, da du irgendwie die Sache ins Rollen gebracht hättest, indem du uns davon erzählt hast und überhaupt und das mit deiner Hilfsbereitschaft, den Wasserproben und so weiter. Du verstehst?«

Emily nickte.

»Also, du machst dich jetzt fertig, ziehst dich an. Ich bringe dir ein Frühstück herein. Dann gehst du raus, begrüßt John und sagst, dass du gehört hast, dass er zum Grafen will und du bereit seist, ihn zu begleiten. Dann geht ihr los. Damit ist die erste Hürde erst mal genommen.«

»Klingt ganz einfach, ganz simpel.«

»Das ist es! Ich hole dir jetzt dein Frühstück. Was willst du essen?«

»Nur einen großen Becher Kaffee und vielleicht ein Stück Kuchen?«

»Bringe ich dir!«

Ein halbe Stunde später trat Emily auf die Terrasse der Berghütte. John stand sofort auf und grüßte sie.

»Guten Morgen, John. Das sind ja wunderbare Nachrichten. Anna hat mir gerade davon berichtet.«

»O ja, sie klingen sehr hoffnungsvoll. Die Einladung gilt auch für dich.«

»Ich weiß! Also, lass uns gehen! Ich bin sehr neugierig. Ich war noch nie auf einem richtigen Schloss, mit einem echten Grafen.«

»Ich auch nicht!«

Emily lachte.

»Er ist auch nur ein Mensch. Menschen bestehen zum größten Teil aus Wasser. Also denke ich, ich schaffe das schon. Ich bin Wasserspezialistin und du kannst gut tauchen. So gesehen, sind wir ein ideales Team.«

Sie lachten beide und ihre Nervosität ließ nach.

»Gut, dann gehen wir!«

Toni trat dazu.

»Also, ich erwarte, dass ihr nach dem Besuch beim Grafen wieder auf die Berghütte kommt. Diese Schatzsuche macht uns alle neugierig.«

John versprach es. Dann gingen die beiden los.

*

Auf der Oberländer Alm ging John zu seinem Leihwagen. Er schloss die Tür auf und hielt sie Emily auf.

»Danke, das ist sehr freundlich. Aber ich fahre mit meinem eigenen Auto.«

Sie sahen sich an. John warf die Wagentür zu.

»Ich weiß, dass du sehr selbstständig bist. Dich kann ich nicht zum Essen einladen. Stattdessen lädst du mich ein, mit dir den Proviant zu teilen. Ich biete dir an, dich im Wagen mitzunehmen, stattdessen willst du mit deinem eigenen Auto fahren. Traust du niemandem? Bist du ein gebranntes Kind, welches das Feuer scheut? Scheust du davor zurück, jemanden etwas schuldig zu sein? Hast du Angst, dass ich dir zu nahe komme? Wovor hast du Angst, dass du sofort zurückweichst?«

Emily errötete tief.

»John, es hat nichts mit dir zu tun. Ich lehne dich nicht ab.«

»Oh, das ist aus deinem Mund ein Kompliment. Gut, dann steige ins Auto.«

»Nein, ich nehme meinen Wagen! Ich fahre vor.«

»Du hast Angst! Du benötigst ein Fluchtfahrzeug. Du fühlst dich nur sicher, wenn du alles unter Kontrolle hast.«

Warum ist es so schwer, dachte Emily. Aber sie hatte einfach Angst, so dicht bei ihm zu sein, dazu noch angeschnallt in seinem Auto.

John seufzte. Er schloss sein Auto wieder ab.

»So, ich sage dir etwas, ich fahre mit dir!«

Sie starrte ihn an.

»Emily, wie schaut das aus, wenn wir in zwei Autos vorfahren? Der Graf weiß, dass wir beide von der Berghütte kommen. Hör mal, du nimmst mich freundlicherweise mit, zumindest auf dem Hinweg. Ich verspreche dir, dass ich keine Einwände erhebe, falls du mich bittest, aus dem Auto zu steigen. Dann werde ich brav zu Fuß gehen.«

»Gut«, sagte Emily knapp und errötete.

Sie gingen zu Emilys Auto, stiegen ein und fuhren davon.

Den ganzen Weg sprachen sie nicht. Sie beobachteten sich gegenseitig. Es war mehr als ein Beobachten, sie belauerten sich richtig. Emily war erleichtert, als sie unter den Bäumen vor dem Waldschlösschen halten konnte. Sie stiegen aus.

In diesem Moment kam schon ein älterer Mann, in einem Lodenanzug, die Freitreppe herunter auf sie zu.

»Du musst die Emily sein«, begrüßte er sie herzlich und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin der Tassilo.«

»Oh, Grüß Gott, Herr Graf!«

»Madl, lass des! ›Herr Graf‹ sagt niemand zu mir. Mei, da würde ich mich auch gleich um Jahre älter fühlen.«

Dann hieß er John willkommen. John schaute an den Mauern empor.

»Wir gehen rein und bereden, was zu bereden ist. Dann sehen wir weiter. Solche Schlösschen gibt es in Amerika net. Wenn du willst, können wir später eine Besichtigung machen.«

Er ging voraus.

Augenblicke später saßen sie in der Bibliothek zusammen. Der Graf trank ein Bier und bot Emily und John auch Bier an. Zenzi saß dabei und trank Tee. Der Graf hatte sie den beiden vorgestellt und betont, dass sie für ihn und alle in der Familie dazugehöre wie eine liebe, ältere Tante.

»Die Zenzi war mein Kindermädchen, meine Vertraute und sie ist es bis heute geblieben. Meine gute Frau sagt oft, dass sie sich mit der Zenzi nicht messen kann. Des ist zwar Unsinn, aber es stimmt. Zenzi und ich, wir haben ein ganz besonderes Verhältnis.«

»Rede net so lange, Tassilo! Komm endlich zur Sache«, tadelte Zenzi ihn.

Der Graf lachte herzlich.

»Da hört ihr es, wer hier das Regiment führt. Aber die Zenzi hat Recht. So, jetzt erzähle mir alles über deine Familie, John«, forderte ihn Tassilo auf.

John gab einen kurzen familiengeschichtlichen Abriss und nannte seinen Anlass für den Besuch in Waldkogel.

Zenzi räusperte sich. Nach einem Blickkontakt mit dem Grafen fing sie an, zu erzählen. Anfangs klang ihre Stimme unsicher und zögerlich, wie bei jemandem, dem es sehr schwerfällt, über eine Sache zu sprechen. Dann wurde sie fester und schließlich klang sie sogar erleichtert.

»John Tailor, du musst entschuldigen. Ich muss ein bisserl weit ausholen. Ich bin als ganz junges Madl gleich nach der Schule hierher aufs Schloss gekommen. Damals gingen die Kinder net so viele Jahre in die Schule wie heute. Ich war also fast noch ein Kind, als ich herkam. Damals war der Tassilo noch net geboren. Es war eine Zeit voller Gesellschaften und Bälle. Jagdball, Neujahrsball ... So ging das viele Jahre. Es kamen immer die gleichen Leut’. Darunter waren auch Geschäftsleute aus München. Natürlich durften wir net mit ihnen sprechen, sondern sie nur bedienen. Unter denen, die oft hier waren, waren auch die Schneiders. Besonders der junge Johann Schneider war ein fescher Bursche. Alle Madln bei den Bediensteten, wie man damals sagte, schwärmten für ihn, für den Hannes, wie er gerufen wurde. Er war ein wirklich fescher Bursche. Er kam oft. Wir hatten hier auch immer Aushilfspersonal für die Küche und die Zimmer, wenn die Herrschaft über das Wochenende Gäste hatte. Zu den Madln, die aushalfen, gehörte auch eine kleine, zierliche Person mit Namen Magda. Ein sehr zurückhaltendes Madl mit großen, ängstlichen Augen und sehr scheu. Umso überraschter waren wir, als es durchsickerte, dass sich die beiden öfters heimlich trafen. Wir alle warnten Magda. Aber sie hörte nicht auf uns. Sie schwieg sich aus. Wir dachten alle, es nähme ein schlimmes Ende. Dann wurde bekannt, dass Johann, also der Hannes, nach Amerika ausgewandert war. Wir fanden des damals ein bisserl sonderbar, dass es Magda nicht auszumachen schien, dass er fort war. Sie arbeitete weiter beim Bauern und half dann und wann hier auf dem Schloss aus, meistens in der Küche. Sie und ich wurden Freundinnen. Es vergingen zwei Jahre, dann kam eines Tages Magda, um sich von mir zu verabschieden. Sie sagte, sie ginge auch nach Amerika. Es wäre endlich so weit, dass sie fahren könnte. Ihr Verlobter hätte ihr geschrieben, die Koffer seien gepackt und die kommende Nacht wäre die letzte hier. Wer ihr Verlobter war, darüber hüllte sich Magda in Schweigen, genauso wie sie niemals vorher verraten hatte, dass sie verlobt war. Doch an diesem Tag trug sie ihren Verlobungsring. Ich wünschte ihr alles Gute. Wieder verging eine lange Zeit. Zu Beginn des Krieges erreichte mich ein Brief von ihr. Sie erzählte von Hannes, der jetzt ihr Mann sei und dem Leben in Amerika. Der Krieg würde eine Reise unmöglich machen. Sie machte sich Sorgen und schrieb, dass sie vor ihrer Abreise verschiedene Dinge vergraben hätte. Sie schrieb, ich sollte nachsehen, ob die Sachen noch dort seien und ihr schreiben.«

John hing an Zenzis Lippen. Was sie ihm erzählte, war nicht neu für ihn.

»Ich vergewisserte mich, dass der Blechkasten noch dort war und schrieb Magda einen Brief. Doch nach Wochen und Monaten kam der Brief ungeöffnet zurück. Später wurde das Wehr neu gebaut und der Bergsee sollte höher gestaut werden. Das machte mir große Sorgen. Ich hoffte immer noch, wieder einmal einen Brief von Magda zu bekommen, aber ich wartete vergeblich. Nächtelang grübelte ich darüber, ob ich Magdas Blechkiste an mich nehmen sollte. Nach einem zähen Ringen bin ich eines Nachts hin. Ich hatte gewartet, bis es neblig war, damit mich niemand sehen konnte. Ich fand nach langem Suchen die Stelle und nahm Magdas Besitz an mich.«

Jetzt hielt es John nicht mehr auf dem Sessel aus. Er sprang auf.

»Sie haben die Schatulle? Waren die Sachen noch drin? Greatgrandma hängt besonders an dem Kreuz.«

Zenzi streckte die Hand aus. Sie griff nach John und zog ihn neben sich auf das Sofa. Sie hielt seine Hand fest.

»John, ich habe nie nachgesehen. Ich weiß nicht, was drin ist. Ich habe eine Decke um die Metallschatulle gewickelt und sie all die Jahre unter meinem Bett aufbewahrt. Tausendmal habe ich mich gefragt, warum sich deine Urgroßmutter nicht noch einmal gemeldet hat.«

»Sie hat geschrieben! Auch während des Krieges, sagte sie mir.«

»Ich habe keinen Brief bekommen. Es waren eben wirre Zeiten damals«, seufzte Zenzi.

Sie tätschelte Johns Hand und schaute ihn an.

»Du bist deinem Urgroßvater sehr ähnlich, Bub.«

»Das weiß ich. Greatgrandma Magda sagt das auch oft.«

Zenzi lächelte.

»So, Bub, dann gebe ich dir jetzt die Schatulle. Wenn du wieder in Amerika bist, dann sage der Magda, dass ich sie nie vergessen habe. Gib ihr die Telefonnummer vom Schloss! Vielleicht können wir telefonieren, wenn wir uns schon nimmer sehen können. Jetzt komm her, John.«

Zenzi stand auf und ging zu einem großen Tisch. Sie zog John mit sich. Emily und der Graf stellten sich dazu. Auf dem Tisch lag unter einer Decke die alte Schatulle.

John griff in die Hosentasche und nahm einen kleinen Schlüssel heraus. Das Schloss bewegte sich erst nicht, dann half John mit seinem Taschenmesser nach. Er klappte den Deckel auf.

Es war ganz still in der Bibliothek. Niemand sagte ein Wort. Alle schauten John zu, wie er nach und nach den Inhalt aus den verschiedenen Tüchern wickelte und nebeneinander auf den Tisch legte. Seine Urgroßmutter hatte ihm die einzelnen Schmuckstücke viele Male beschrieben. Deshalb waren sie John sehr vertraut. Ganz zuunterst lag das Kreuz, an dem Magda so hing.

John traten die Tränen in die Augen. Er ergriff Zenzis Hände.

»Danke, Zenzi!«, sagte er tief ergriffen. »Danke! Vielen Dank!«

Die alte Zenzi lächelte und streichelte John die Wange.

»Bub, danke net mir! Danke dem Herrgott, dass er zur gleichen Zeit, in der du gesucht hast, die Emily hergeschickt hat. Wenn sie net die Wasserproben genommen hätte, wärst du ihr nicht begegnet, dann wäre vielleicht alles anders gekommen. Möglich, dass du nicht so schnell den Weg hierher gefunden hättest. Möglich, dass alles ganz anders gekommen wäre. Die Emily war deine Glücksfee.«

John schaute Emily an.

»Ja, das bist du wirklich, eine Glücksfee!«

Graf Tassilo lud John und Emily zum Mittagessen ein. Dieses Mal lehnte John ab. Er wollte sofort ins Hotel zurück und mit seiner Familie sprechen. Sicherlich hätte er sie auch sofort anrufen und bleiben können. Aber Tassilo verstand, dass John gehen wollte.

»Ihr beiden kommt aber noch mal vorbei! Vielleicht am Wochenende zu einem Abendessen mit meiner ganzen Familie?«

John sah Emily fragend an. Als sie nickte, versprach John, mit ihr zu kommen.

John legte die Schmuckstücke und das Kreuz zurück in die Schatulle und wickelte die alte Decke drum herum. Dann brachten Zenzi und Tassilo John und Emily zum Auto.

Sie sahen ihnen nach, wie Emily davonfuhr.

»Sie sind ein schönes Paar«, sagte Zenzi leise.

»Ja, das sind sie. Meinst, sie sind ein Liebespaar, Zenzi?«

Die alte Zenzi schmunzelte.

»Nicht nur der John ähnelt seinem Urgroßvater. Die Emily erinnert mich ein bisserl an die Magda. Sie wirkt ein bisserl verschlossen, genau wie die Magda damals. Warten wir es ab, bis die beiden zum Abendessen kommen.«

Der Graf ging in sein Arbeitszimmer und rauchte eine Zigarre. Zenzi verschwand in der Küche. Es war ihr ein Stein von der Seele gefallen. Endlich war sie von der Last befreit. Sie hoffte, dass Magda sie anrufen würde.

*

Emily fuhr John zum Hotel »Zum Ochsen«.

»Emily, bleib bei mir, wenn ich meine Familie anrufe. Du wärst mir eine große Hilfe. Bitte!«

»Ja, das mache ich. Du hast Angst, dass die Freude bei deiner Urgroßmutter einen Schock auslöst. Das verstehe ich. Lass uns überlegen, wie du am besten vorgehst.«

John strahlte. Sie stiegen aus und gingen ins Hotel. Sie fuhren mit dem Aufzug in die obere Etage. John bat Emily in die Suite.

»Wir haben Zeit, du weißt, die Zeitverschiebung. Daheim schlafen noch alle oder sind gerade aufgestanden. Warten wir noch ein wenig. Außerdem brauche ich eine Verschnaufpause. Auf der einen Seite habe ich gewünscht, die Sachen zu finden, trotzdem sagte etwas in mir, du bist verrückt, du findest sie nie. Ich will mich erst einmal mit einem Whisky stärken. Was nimmst du, Emily?«

Sie errötete.

»John, ich nehme auch einen Whisky, einen doppelten. Kannst mir auch einen dreifachen Whisky einschenken!«

John staunte. Er nahm ein großes Glas und schenkte es fast voll.

»Du magst Whisky?«, fragte er vorsichtig.

»Ich habe mir vorgenommen, mich an die amerikanischen Sitten zu gewöhnen. Irgendwann muss ich damit anfangen. Was die Menge betrifft, bin ich mir nicht sicher. Aber ich brauche viel Mut, denke ich.«

Sie schauten sich in die Augen. Ihre Herzen schlugen im gleichen Takt. Jeder wusste es von dem anderen. Sie spürten es. Es knisterte zwischen ihnen. Sie waren sich so nahe. Trotzdem schlichen sie wie Katzen um den heißen Brei.

»Warum willst du dich an die amerikanischen Sitten gewöhnen und wozu brauchst du Mut?«

Emily schluckte. Was sollte sie sagen? Sie dachte an Annas Ratschläge.

»Nun, da gibt es ganz verschiedene Gründe, John. Vielleicht fahre ich demnächst mal nach Amerika? Ich hoffe, dass ich eine Einladung bekomme. Die Dame wohnt am Michigan See. Mich interessiert das Wasser vom Michigan See. Ich könnte einige Wasserproben nehmen.«

John schmunzelte.

»Du wirst ganz bestimmt eine Einladung bekommen!«

»So meinst du?«, sagte sie leise und schaute ihm dabei in die Augen.

»Darauf gebe ich dir mein Wort. Lass uns die Sachen auspacken. Wir fotografieren sie und schicken die Bilder in die USA.«

»Großartige Idee! Wir legen sie dort auf die Tischdecke. Der Farbkontrast ist gut.«

Sie prosteten sich zu und tranken einen Schluck. Dann stellte John das Kreuz auf. Er ließ von der Rezeption eine Kerze bringen und zündete sie an. Sie mussten sich nicht absprechen. Eine Weile standen sie ganz ruhig da und jeder sprach ein Gebet.

Anschließend machte John einige Bilder.

»Was ist mit den Schmuckstücken?«, fragte Emily.

»Tust du mir einen Gefallen und legst sie an? Bitte?«

Emily überlegte kurz, dann trat sie vor den Spiegel. John legte ihr die große Halskette um, die mehr ein Collier war. Emily schmückte sich mit den Ohrringen, den Armbändern und den Ringen.

»Bleib so!«, bat sie John und fotografierte sie.

Emily besah sich im Spiegel, während John seiner Familie eine Mail mit den Bildern schickte.

»Ich habe die Mail an meine Schwester Bridget geschickt. Sie schaut immer als erstes nach Mails, nachdem der Wecker geklingelt hat.«

Emily wollte den Schmuck ablegen.

»Behalte ihn bitte noch eine Weile an«, sagte John leise.

Er griff nach Emilys Hand. Sie schauten sich tief in die Augen.

»Emily …«, begann er mit weicher, zärtlicher Stimme.

Weiter kam er nicht. Sein Handy klingelte und das Telefon im Schlafzimmer der Suite läutete ebenfalls.

»Kann das schon deine Familie sein?«

»Nicht meine Familie«, lächelte er. »Ich habe noch keine eigene Familie. Ich hoffe, dass sich das bald ändert. Es werden sicher meine Verwandten sein, die anrufen.«

Emily verstand, was John ihr damit sagen wollte.

»Ich muss ans Telefon!«, seufzte er.

Bevor er ging führte er ihre Hand an seine Lippen und küsste sie sanft und zärtlich.

Während John im Schlafzimmer der Suite telefonierte, ging Emily zuerst nervös im Wohnzimmer auf und ab. Dann trat sie hinaus auf den Balkon. Ihr Blick wanderte hinauf zum Gipfel des »Engelssteigs« und sie sprach mit den Engeln.

»He, ihr dort oben, ich will euch nicht verschweigen, dass ich mir etwas seltsam vorkomme, mit euch zu sprechen, und gestehe auch, dass es ein Test ist. Ich liebe John und ich will ihn. Habt ihr das gehört? Wie soll ich es nur machen?«

Es verging fast eine halbe Stunde, bis sich die Schlafzimmertür öffnete und John herauskam. Er hatte einen hochroten Kopf.

»Alles okay?«

»Ja, alle sind schrecklich aufgeregt und freuen sich. Wir sollen das nächste Flugzeug nehmen.«

»Wir?«

»Ja, wir! Und es ist nicht nur eine Einladung für einen Besuch oder einen Urlaub. Emily, ich muss dir etwas sagen. Meine Urgroßmutter war mit auf dem Flughafen, als ich herflog. Sie nahm mich beiseite und sagte. ›John, ich hoffe, dass du das Kreuz findest. Der Schmuck, das ist nicht so wichtig. Aber ich denke, wenn du das Kreuz findest, dann findest du auch den Schmuck. Ich hatte es mir immer so vorgestellt, dass die Schmuckstücke innerhalb der Familie weitergegeben werden. Du sollst sie behalten. Ich hoffe, dass du eines Tages eine liebe, junge Frau findest. Dann gib ihr den Schmuck.‹ Emily, ich habe in Waldkogel im doppelten Sinn einen Schatz gefunden, den Schmuck meiner Großmutter und dich, meine Emily. Ich habe mich schon im Laden am Marktplatz in dich verliebt und kann seither kaum etwas anders denken. Mein erster Gedanke war, dass ich dir den Schmuck geben möchte. Ab diesem Augenblick suchte ich nicht mehr nur für meine Urgroßmutter. Ich wollte den Schmuck finden und ihn dir schenken. Emily, ich liebe dich!«

Emily riss die Arme hoch und fiel ihm um den Hals. Sie bedeckte sein Gesicht mit Küssen und flüsterte immer wieder: »Ich liebe dich! Ich liebe dich! Ich liebe dich, John Tailor! John, ich liebe dich so!«

Überwältigt von Emilys unerwartetem Gefühlsausbruch, hielt er sie ganz fest in den Armen. Endlich fanden sich ihre Lippen in innigen und leidenschaftlichen Küssen, nach denen sie sich so gesehnt hatte.

»Emily, willst du mich heiraten?«, fragte John.

»Ja, am liebsten auf der Stelle!«

Er lachte und sie küssten sich wieder.

Das Telefon läutete erneut.

»Sollen wir uns ablenken lassen?«, fragte John zwischen zwei Küssen.

»Mal hören, wer es ist? Wenn es uns nicht passt, legen wir auf!«

»Gute Idee!«

Sie gingen zum Telefon. John drückte die Lautsprechertaste und meldete sich.

Ein fast ohrenbetäubender Lärm erfüllte den Raum. Viele Leute brüllten durcheinander. Emily verstand nur die Hälfte.

»Meine Familie!«, sagte John.

»Deine Verwandten«, korrigierte ihn Emily lachend. »Wir gründen unsere eigene Familie. Liebst du Kinder?«

»Alle, die du mir schenkst«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Soll ich auflegen?«

John schaltete den Lautsprecher aus und griff nach dem Hörer. Er bat um Ruhe. Dann hörte Emily ihn sagen:

»Ja, ich habe Emily gefragt und sie hat Ja gesagt. Ja, ich habe ihr den Schmuck gegeben. Ja, ich bin glücklich. Ja, wir sind glücklich und wir kommen bald. Und jetzt gebt bitte Ruhe!«

Dann lächelte John und sagte leise und voller Zärtlichkeit.

»Ja, Greatgrandma, wir kommen so schnell, wie es geht. Grüße alle! Bye!«

John legte auf. Er nahm Emily in die Arme.

»Mein Schatz aus dem Bergsee! Ich habe dich aus dem Wasser gefischt.«

Sie küssten sich.

»Sie wollen, dass wir das nächste Flugzeug nehmen. Sie planen schon unsere Hochzeit. Greatgrandma hat es eilig. Sie sagt, wir sollen uns beeilen, weil sie und Hannes schon alt sind.«

»Das ist verständlich. Doch muss es das nächste Flugzeug sein? Kann es auch das übernächste oder das überübernächste sein? Wir haben hier noch einiges zu erledigen. Wir haben Toni versprochen, auf die Berghütte zu kommen. Meine Sachen sind auch noch oben. Das Essen auf dem Waldschlösschen können wir absagen. Aber wir sollten Zenzi einladen mitzufliegen. Sie hat es verdient. Sie sollte das Kreuz und den Schmuck deiner Urgroßmutter aushändigen. So hat alles seine Richtigkeit.«

John sah Emily in die Augen.

»Das ist ein schöner Gedanke. So machen wir es. Wir fahren sofort zu Zenzi und reden mit ihr.«

Emily legte den Schmuck ab. Sie packten ihn zusammen mit dem Kreuz in den Hotelsafe. Dann fuhren sie zum Waldschlösschen.

Zenzi war in der Küche. Tassilo brachte Emily und John zu ihr. Sie schaute kurz auf, dann schälte sie weiter die Pellkartoffeln für den Kartoffelsalat, den es zum Abendessen geben sollte.

»Zenzi, die Emily und ich haben uns verlobt«, sagte John.

»Gut, ich habe mir schon gedacht, dass ihr verliebt seid. Ich wünsche euch alles, alles Gute. Dein Urgroßvater hat sich ein Madl aus Waldkogel genommen und du jetzt auch. Des ist schön, auch wenn die Emily net von hier ist, aber des macht nix. Jedenfalls habt ihr hier eure Liebe gefunden.«

Tassilo stellte sich neben Zenzi und legte ihr wie zur Beruhigung kurz die Hand auf die Schulter.

»Zenzi, die Magda lädt dich ein, mit den beiden nach Amerika zu kommen«, sagte Tassilo.

Jetzt ließ Zenzi das Gemüsemesser sinken. Sie schaute in ihre Gesichter.

»Amerika, was du net sagst, Tassilo? Wenn ich könnte, dann würde ich die Einladung annehmen. Es müsste ja nicht für lange sein. Die Magda zu besuchen ist besser, als mit ihr zu telefonieren. Aber ich kann net!«

»So, warum kannst net? Hältst dich für zu alt?«

»Tassilo, pass auf, was du sagst«, schimpfte sie und tat beleidigt.

»Also, warum willst net nach Amerika?«

»Weil ich dich und alle hier net allein lassen kann. Des gibt ein schönes Chaos, wenn ich verreise. Ich war noch nie so weit fort. Naa, naa, des kann ich net machen! Ich hätte keine ruhige Minute dort drüben in Amerika.«

Tassilo grinste. Er zog einen Stuhl neben den von Zenzi und setzte sich. Er rieb sich das Kinn und spielte den Nachdenklichen.

»Zenzi, es wird sehr schwer, wenn du nicht da bist, des gebe ich zu. Aber eine Woche könnten wir, wenn wir uns sehr anstrengen, ohne dich auskommen.«

»Ein Woche sagst du?«

»Ja, eine Woche, länger können wir dich nicht entbehren.«

»Na gut! Ich bin ja noch nie geflogen. Meinst, ich kann des, Tassilo?«

»Des kannst, musst ja des Flugzeug net selber fliegen. Du setzt dich rein wie in ein Auto und steigst am Ziel wieder aus.«

»Schön, dann sage ich zu. Wann soll es losgehen?«

John sagte, dass Emily und er sich heute noch auf der Berghütte verabschieden wollten. Er würde für morgen die Flüge buchen. Zuerst ginge es von München nach Frankfurt und dann Nonstop nach Amerika.

»Gut, des wäre ja jetzt geklärt. Jetzt könnt ihr alle wieder gehen. Ich habe zu tun«, beendete Zenzi das Gespräch.

Tassilo stand auf, legte Zenzi kurz die Hand auf die Schulter. Sie sahen sich an. Dann gab Tassilo John und Emily ein Zeichen. Sie folgten ihm nach draußen.

»Sie freut sich. Die alte Zenzi ist so, dass sie erst mal viele Worte macht und sich dann überreden lässt. Es ist jetzt besser, wenn ihr geht. Ich werde mit ihr reden und mich um alles kümmern. Gib mir die Abflugzeiten durch, John. Ich fahre sie zum Flughafen nach München. Und euch noch einmal herzlichen Glückwunsch!«

Er winkte ihnen nach, als sie davonfuhren. Als Toni und Anna sahen, dass die beiden Hand in Hand über das Geröllfeld kamen, wussten sie, dass sie sich gefunden hatten.

»Toni, Anna, Alois! Emily und ich haben uns verlobt. Wir fliegen morgen nach Amerika. Wir wollen nur schnell Emilys Sachen holen«, sagte John. »Zenzi kommt mit und besucht für eine Woche ihre alte Freundin Magda.«

Alle sprachen ihre Glückwünsche aus. Emily ging packen. Derweilen berichtete John, dass Zenzi die Sachen ausgegraben und aufgehoben hatte.

»Mei, mei, die Zenzi hätte auch früher etwas unternehmen können«, schimpfte der alte Alois. »So eine Geheimniskrämerin! Sie hätte sich dem Tassilo anvertrauen können. Er ist ehrlich und hätte bestimmt alles getan, Magda und den Hannes zu finden.«

»Schmarrn, Alois«, schimpfte Toni. »Des war genauso, wie es sein sollte. Des war eben so vorgesehen, dass der John nach Waldkogel kommt und hier nicht nur den Schatz der Magda findet, sondern auch seinen ganz eigenen Schatz, die Emily.«

»Da hast auch wieder Recht, Toni.«

Der alte Alois grinste.

»Die Zenzi fliegt nach Amerika. Mei, des hätte ich mir nicht träumen lassen.«

»Willst mitfliegen Alois?«

»Naa, was soll ich da? Naa, mich bringt niemand von hier fort.«

Emily und John verabschiedeten sich und versprachen, zu schreiben und eines Tages wiederzukommen.

Emily fuhr mit John ins Hotel und rief ihre Eltern an. Dieses Mal ging John nervös im Wohnzimmer auf und ab. Es dauerte aber nicht lange, dann kam Emily.

»Was haben sie gesagt?«

Emily gab John einen Kuss.

»Sie sagten, ich soll dich grüßen und dir sagen, du sollst mich glücklich machen. Sie vertrauen mir, dass ich die richtige Wahl getroffen habe. Sie wissen, dass ich mir immer alles sorgfältig überlege.«

»Ah, dann ist sogar die Liebe bei dir das Resultat einer genauen Analyse?«

»John Tailor, rede nicht solch einen Unsinn! Es war Liebe auf den ersten Blick. Das weißt du!«

John nahm seine Emily fest in den Arm.

»Ja, mein Schatz! Es war Liebe auf den ersten Blick.«

Sie küssten sich lange und innig.

John orderte Flugtickets erster Klasse, mit Rücksicht auf die alte Zenzi, sie sollte es bequem haben. Sie packten. John erzählte Emily von Amerika, dem Land und seinem Leben, das er in Zukunft mit ihr teilen wollte.

*

Pfarrer Heiner Zandler saß in der Sitzecke in seiner Studierstube. Bürgermeister Fritz Fellbacher lief wie ein Tiger im Käfig auf und ab.

»Heiner, was soll ich nur machen? Irene streikt. Sie geht morgens aus dem Haus und kommt abends spät heim. Jeden Tag fährt sie woanders hin. Nachts schläft sie im Gästezimmer und schließt die Tür ab. Heiner, du kannst dir des net vorstellen, wie das ist! Grausam ist es, ganz grausam. Ich finde mich nicht mehr zurecht. Alles in meinem Leben geht drunter und drüber. Ich war bei ihren Eltern und hab’ die Kinder besucht. Ich habe sie gebeten, angefleht habe ich sie, auf die Irene einzuwirken. Aber Irenes Eltern sagten, des sei unsere Angelegenheit und sie hielten sich da heraus.«

»Das ist auch sehr vernünftig.«

»Bist wohl am Ende auch noch auf ihrer Seite, Heiner. Das hätte ich nicht von dir gedacht. Du bist Geistlicher. Solltest du nicht denen beistehen, denen übel mitgespielt wird? Heiner, am Ende kommt die Irene überhaupt nicht mehr? Heiner, so sage doch etwas! Gib mir deinen Rat!«

Bürgermeister Fritz Fellbacher wischte sich die Schweißtropfen von der Stirn.

»Setz dich hin, Fritz! Du machst mich ganz nervös.«

Fellbacher fiel auf einen Stuhl.

Pfarrer Zandler schickte zuerst ein stummes Stoßgebet zum Himmel. Dann begann er:

»Fritz, ich will dir jetzt etwas sagen. Ich bin fast ein bisserl beleidigt, dass du annimmst, ich würde Irenes Verhalten gutheißen. Nein, das tue ich nicht.«

»Ach, wie mir deine Worte guttun.«

»Langsam, langsam, Fritz! Das war erst die Einleitung. Also weiter! Aber ich kann die Irene auch

verstehen, jedenfalls zum Teil. Das meine ich so. Kann es sein, dass

du sie ein bisserl vernachlässigt hast?«

»Ich soll meine Irene vernachlässigen? So ein Schmarrn!«

»So siehst du es, Fritz. Irene sieht es anders – und ich auch.«

Pfarrer Zandler stand auf. Er stellte sich vor seinen Freund und stemmte, in einer unmissverständlichen Drohgebärde, die Hände in die Seite.

»Fritz, hol mal deinen Terminkalender heraus!«, verlangte er.

Seine Stimme ließ keinen Widerspruch zu. Fellbacher griff in die Jackentasche und legte den Terminkalender auf den Tisch. Pfarrer Fellbacher setzte sich wieder hin.

»So, Fritz, jetzt zählst du alle Abende in diesem Jahr, an denen du keine Termine hattest und früh daheim bei deiner Frau und deiner Familie warst. Dann zählst du überhaupt deine Tage ohne Termine.«

Fritz Fellbacher blätterte aufgeregt und bekam einen roten Kopf.

»Ah, langsam kommst drauf, Fritz. So, jetzt schaust du dir die letzten Wochen an. Da bist du nur noch auf Arbeitssitzungen gewesen, wegen des Schönheitswettbewerbs. War das nötig?«

»So ein Event, wie man modern sagt, braucht eben seine gründliche Vorbereitung, Heiner. Jedes Volksfest hat seine Vorbereitung. Die Irene kennt das doch, dass es vorher eng ist und ich viel zu tun habe. Sie verstand mich immer. Warum hat sie jetzt kein Verständnis mehr?«

»Weil es diesmal um einen Schönheitswettbewerb geht und du daheim von nix anderem mehr redest, als Wahlprognosen aufzustellen, wer die besten Chancen hat. Dich kümmert doch nur noch, welches fesche Madl die Krone aufs Haupt gedrückt bekommt. Dabei hat die Sache noch nicht einmal richtig angefangen.«

»Aber es ist gut für Waldkogel. Es ist eine gute Sache. Vergiss nicht, dass du auch dafür gewesen bist.«

»Lenk nicht ab, Fritz! Jede Frau will für ihren Mann die Schönste sein, so wie jeder Mann der Schönste und der Beste für seine Frau sein will. Mei, Fritz, begreifst du nicht? Sie ist eifersüchtig. Sie denkt vielleicht, dass sie dir nimmer gefällt.«

»So ein Schmarrn! Ich liebe meine Irene.«

»Das glaube ich dir. Aber achtest du sie auch genug?«

»Was willst jetzt damit sagen?«

»Achten eben und beachten!«

»Ja, ich achte sie und beachte sie auch, Heiner. Auf was willst du hinaus?«

»Fritz, ich habe mir die Sache durch den Kopf gehen lassen. So gut war die Idee doch nicht. Nicht nur deine Irene ist ärgerlich, auch viele andere Frauen ärgern sich mächtig. Kurz, es gärt unter den Weibern in der Gemeinde Waldkogel. Und es ist kein gutes Gären! Die Sache steht kurz vor einer Explosion.«

»Ich habe verstanden. Du meinst, ich soll die Sache abblasen? Gut, dann machen wir Schluss. Aus! Ende! Basta! Ich habe auch keine Lust mehr. Der Preis ist mir zu hoch. Bist du jetzt zufrieden, Heiner? Ist es des, was du gewollt hast?«

Fritz Fellbacher verschränkte die Arme und zog ein Gesicht wie ein kleiner enttäuschter Bub, der schmollte.

»Fritz, pass auf, dass ich nicht die Geduld mit dir verliere. Du schwankst von einem Extrem ins andere. Mei, mit dir ist nicht zu reden. Ich denke, du, alle, die an der Planung beteiligt sind, müssen die Sache ein bisserl zurückfahren.«

»Naa, wir hören ganz auf!«, brummte Fellbacher mit trotzigem Unterton.

Jetzt hatte Pfarrer Zandler genug. Seine Geduld war am Ende.

»Du störrischer Esel!«, brüllte Zandler seinen Freund an. »Merkst denn nicht, dass ich dir helfen will?«

»Helfen, helfen sagt du? Pah, davon merke ich nix. Du überhäufst mich mit Vorwürfen. Wo ist deine Hilfe?«

»Großer Gott im Himmel«, stöhnte Pfarrer Zandler, »steh’ mir bei, schenke mir Geduld!«

Sie schauten sich an. Pfarrer Zandler atmete tief ein.

»Fritz, darf ich dir einen Vorschlag machen?«

»Kommt darauf an. Ich habe für heute eigentlich keine Lust mehr auf irgendeinen Vorschlag oder einen Rat. Mein Bedarf ist gedeckt. Außerdem bin ich enttäuscht. Ich bin zu dir gekommen, weil ich Beistand und Hilfe brauche. Hilf mir, meine Irene wiederzubekommen.«

Fritz Fellbacher versagte die Stimme. Zandler sah, dass sein Freund mit den Tränen kämpfte. Jetzt ist er weichgekocht, dachte er. Jetzt hört er mir zu. Auf diesen Moment hatte er gewartet, als Geistlicher und noch mehr als Freund.

»Fritz«, sagte er freundlich. »Ich werde dir helfen, deine Irene zurückzugewinnen und ich habe da auch schon eine ganz gute Idee. Aber ich muss noch einmal drüber schlafen und die Sache mit meinem Chef dort oben bereden. Aber morgen ist die Angelegenheit ausgereift. Ich schlage dir Folgendes vor, wir treffen uns morgen beim Tassilo und bereden des gleich zu dritt.«

Fellbacher nickte.

»Um wie viel Uhr?«

»Zehn Uhr, passt es dir?«

Fellbacher nickte. Er stand auf.

»Komm, ich bringe dich zur Tür. Jetzt gehst heim, trinkst eine Maß und legst dich schlafen. Du bist auch völlig übermüdet.«

»Ich kann erst schlafen, wenn ich höre, dass die Irene heimgekommen ist.«

»Dann nimmst heute Abend mal eine Schlaftablette. Wenn du keine hast, dann fahre zum Martin und lass dir eine Pille geben. Die nimmst du, aber trinkst dann kein Bier. Alkohol und Tabletten passen nicht zusammen.«

»Da trinke ich lieber ein Starkbier und einige Obstler!«

Pfarrer Zandler brachte Fritz zur Tür. Anschließend ging er zu Helene Träutlein in die Küche. Er hatte mit ihr etwas zu bereden.

*

Zenzi kam eine Woche später aus Amerika zurück. Es war eine wunderschöne Zeit für sie gewesen. Magda, Hannes und Zenzi hatten in alten Erinnerungen geschwelgt. Sie konnten aufklären, wieso der Kontakt abgebrochen war.

Zurück in Waldkogel zehrte Zenzi noch lange an den schönen Erinnerungen. Sie und Magda schrieben sich lange Briefe und telefonierten gelegentlich.

John und Emily heirateten schon bald. Es war ein großes Fest. Magda und John freuten sich, dass ihre Geschichte die beiden zusammengeführt hatte. In der Ecke des alten Hauses am Michigan See fand das Kreuz mit dem Sockel aus dem Stein vom »Engelssteig« endlich seinen Platz.

Magda schickte Fotos von Johns und Emilys Hochzeit. Sie schrieb bald danach freudig, dass Emily in guter Hoffnung sei. Die beiden hatten beschlossen, sollte es ein Mädchen werden, dann wollten sie es Magda nennen und mit weiteren Namen Anna und Zenzi. Würde es ein Sohn, dann sollte er John heißen und danach Toni und Alois. Damit drückten Emily und John ihre Dankbarkeit gegenüber allen aus, die ihnen geholfen hatten, die vergrabenen Sachen zu finden und darüber hinaus den größten Fund zu machen, den zwei Herzen finden konnten, den Schatz der Liebe.

Toni der Hüttenwirt Staffel 15 – Heimatroman

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