Читать книгу Toni der Hüttenwirt Staffel 14 – Heimatroman - Friederike von Buchner - Страница 6

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Toni saß in Bürgermeister Fellbachers Arbeitszimmer. Fellbacher schenkte Toni eine weitere Tasse Kaffee ein. Toni gab Zucker und Sahne dazu und rührte bedächtig um.

»Fellbacher, ich kann mir vorstellen, wie enttäuscht du bist. Aber schließlich ist der alte Wenzel Fachmann in Sachen Kuhritt. Ich hab’ mir mit ihm zusammen alle Kühe angeschaut. Die Bauern stellen sie gern zur Verfügung. Doch fast alle bezweifeln, dass sie sich reiten lassen. Die Kühe heutzutage werden nur als Mastrinder oder Milchkühe eingesetzt. Wenzel hat auch erhebliche Zweifel, dass es gut gehen würde. Die Viecher sind net gewöhnt, dass sie etwas machen sollen. Wenzel meint, man könnte die Rindviecher schon daran gewöhnen, geritten zu werden, aber des brauche Zeit. Du sollst dir den Kuhritt aus dem Kopf schlagen, zumindest für dieses Jahr.«

»Des ist net schön, Toni.«

Bürgermeister Fellbacher trank einen Schluck Kaffee.

»Ja, so ist es! Es hat sich eben viel verändert, seit meiner Kindheit, auch das Leben der Kühe ist anders geworden. Sehr schade ist es, wirklich sehr schade, Toni. Ich habe mich schon so gefreut.«

»Dann willst aufgeben, Fellbacher?«

»Werde ich wohl müssen«, sagte der Bürgermeister leise.

»Es sei denn, uns fällt ein Trick ein, wie man die Kühe zur Mitarbeit überreden könnte.«

Fritz Fellbacher lachte.

»Willst du jetzt Kuhflüsterer werden, Toni?«

»Ach, ich bin auch nur ein bissel enttäuscht. Lassen wir uns einige Tage Zeit, um noch einmal in Ruhe darüber nachzudenken.«

»Richtig, so schnell geben wir hier in Waldkogel nicht auf«, schmunzelte der Bürgermeister.

Toni trank den Kaffee aus und verabschiedete sich.

Toni hatte sein Auto bei seinen Eltern geparkt. So ging er zu Fuß die Hauptstraße entlang.

Doktor Beate Brand, die Tierärztin, fuhr in ihrem großen Geländewagen vorbei. Sie hupte und winkte. Da kam Toni eine Idee.

Augenblicke später stand er im Hof der Tierarztpraxis neben Beate, die ihr Auto auslud. Sie hatte Tierfutter eingekauft. Toni half ihr beim Ausladen.

»Sag mal, Beate, gibt es jemanden, der so etwas ist wie ein Pferdeflüsterer, aber für Kühe, also quasi ein Kuhflüsterer, verstehst?«

»Toni, wie kommst du darauf?«, lachte Beate.

»Weil ich so jemanden suche. Wenn es talentierte Menschen gibt, die gut mit Pferden umgehen können, damit diese ruhig werden und sich gut reiten lassen, muss es auch jemanden geben, der Kühe auf diese Weise trainieren kann. Ist das nicht logisch?«

Beate stellte den Karton mit Hundefutter ab. Sie lehnte sich an ihr Auto, steckte die Hände in die Hosentaschen ihrer Kniebundhosen und überlegte.

»Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, zumindest eine Chance herauszufinden, ob es Kuhflüsterer gibt. Komm mit rein, Toni! Trinkst einen Kaffee mit?«

Toni verneinte, hatte er doch beim Bürgermeister Kaffee getrunken. Kurze Zeit später saßen Beate und Toni in der Küche. Beate trank Kaffee und Toni einen Saft. Die Tierärztin hatte einen Stapel alter Notizbücher geholt und blätterte darin.

»Ah, da habe ich ihre Adresse.«

Beate schrieb sie auf einen Zettel und schob ihn Toni über den Tisch.

»Sie war eine Kommilitonin von mir. Ihre Eltern hatten damals einen kleinen Zirkus. Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist. Irgendwie habe ich sie aus den Augen verloren nach dem Studium. Leider habe ich nur ihre Handy-Nummer, von der ich nicht weiß, ob sie noch gültig ist.«

Toni las: »Violetta-Tosca Bertani, das klingt südländisch.«

»Ja, Viola, so riefen wir sie. Sie war Italienerin. Ihre Eltern waren beide aus der Toskana, aber die Großeltern kamen aus Ungarn und Russland. Viola war sehr schön und in jeder Weise bemerkenswert. Sie war äußerst selbstbewusst, sehr klug und sie konnte wunderbar mit Tieren umgehen. Ich habe es in den praktischen veterinärmedizinischen Fächern oft erlebt. Toni, es war einfach verblüffend, wie Tiere unter ihrer Hand lammfromm wurden. Es kam uns fast wie Zauberei vor. Vielleicht waren sie von ihrer Schönheit so betört wie alle Studenten?«, lachte Beate. »Wir beneideten sie alle und baten sie oft, uns ihren Trick zu verraten. Aber so schön, wie sie war, so zurückhaltend war sie auch. Fast sah es so aus, als hätte sie es lieber mit Tieren als mit Menschen zu tun. Sie sagte immer, es sei nichts Besonderes, sie kenne viele Menschen, die so mit Tieren umgehen könnten. Ich kann dir nur raten, sei behutsam, falls du sie findest und fall nicht mir der Tür ins Haus. Ich halte mich da heraus.«

»Wenn man in einem Zirkus mit Tieren aufgewachsen ist, kann ich mir das gut vorstellen. Ich danke dir, Beate. Ich werde versuchen, sie zu finden. Du und sie, ihr scheint nicht gerade Freundinnen gewesen zu sein?«

Beate lächelte.

»Nein, das waren wir nicht. Wenn es um einen Burschen geht, dann hört die Freundschaft zwischen Madln auf«, sagte Beate leise.

Toni sah, wie ein leichter Schatten der Traurigkeit über Beates Gesichtszüge huschte. Er stellte keine weiteren Fragen. Sie wechselten das Thema. Toni blieb nicht mehr lange. Beate musste auch auf Hausbesuche.

Toni ging zurück zum Rathaus. Die neue Gemeindesekretärin hieß Gina. Sie hatte eine italienische Mutter und sprach perfekt Italienisch. Toni bat sie, Violetta-Tosca Bertani zu finden und mit ihr zu sprechen. Sie hatte sicher größere Chancen, mit ihr ins Gespräch zu kommen.

*

Toni fuhr den Milchpfad hinauf zur Oberländer Alm. Er musste langsam fahren und Abstand halten zu dem Lieferwagen, der sich den schmalen Weg hinauf quälte. Er war schwer beladen. Der hat sich bestimmt verfahren, dachte Toni. Zu wem will der oder was sucht er hier? Das Wenden auf der Wiese hinter der Oberländer Alm dürfte schwierig werden.

Hinter der Oberländer Alm parkte der Lieferwagen. Toni hielt ebenfalls. Ein Mann stieg aus. Er nahm die Sonnenbrille ab und kam auf Toni zu.

»Grüß Gott, Toni! Da staunst du, wie? Hab’ im Rückspiegel gesehen, dass du hinter mir hergefahren bist.«

»Mei, Mark, was für eine Überraschung. Grüß Gott! Mit dir habe ich nicht gerechnet.«

Sie begrüßten sich herzlich wie sehr alte gute Freunde.

»Wo ist dein schicker Sportwagen?«, fragte Toni.

Mark sah Toni an. Seine Miene verdüsterte sich schlagartig.

»Das ist eine längere Geschichte. Ich will einige Tage zu dir auf die Berghütte. Meinst, ich kann den Wagen mit all meinem Zeug hier stehen lassen?«

»Sicher! Hier kommt nix fort. Ich rede aber noch mal extra mit dem Wenzel und der Hilda, dass sie ein Auge drauf haben.«

»Danke, Toni! Ich gehe schon einmal vor.«

»Willst dem Wenzel und seiner Frau net ›Grüß Gott‹ sagen?«

»Toni, nein! Heute nicht! Ich mag die beiden Alten sehr, aber ich bin heute nicht in Stimmung.«

Er drehte sich und ging zum Auto zurück. Er nahm seinen Rucksack vom Beifahrersitz und schulterte ihn. Toni sah, wie er das Auto abschloss.

»Bis gleich, Toni! Ich warte hinter der nächsten Biegung auf dich.«

Mark setzte eine Sonnenbrille auf und zog seinen breitkrempigen Hut tiefer in die Stirn. Mit großen Schritten ging er an der Oberländer Almhütte vorbei. Ohne den Blick zu wenden, strebte er dem Bergpfad zu, der hinauf zur Berghütte führte.

Toni schüttelte den Kopf.

»Mei, was ist nur los mit ihm?«, sagte Toni leise vor sich hin.

Mark stammte aus Frankfurt und war ein guter Freund von Annas Freunden Sue und Sven. Er schien Kummer zu haben. Toni beeilte sich auf der Oberländer Alm und eilte Mark nach.

»So, es ist alles geregelt. Die beiden haben ein Auge auf dein Auto. Warum nimmst du so viele Sachen mit?«

»Toni, ich werde es dir erzählen, wenn wir auf der Berghütte sind. Ich habe heute Nacht nicht viel geschlafen und brauche dringend einen Kaffee.«

So gingen Toni und Mark schweigend den Pfad hinauf zur Berghütte. Mark ging voraus. Toni beobachtete ihn. Mark schaute nur auf den Boden. Nicht ein einziges Mal ließ er seinen Blick über das Tal und die Berge schweifen. Toni war froh, als sie die Berghütte erreichten.

Es war still an diesem frühen Vormittag. Toni bat Mark, sich gleich auf die Terrasse zu setzen. Dann ging Toni zu Anna in die Küche der Berghütte.

»Der Mark ist hier, weißt, der Freund von Sue und Sven.«

»Oh, das ist schön! Wo ist er?«

Anna wollte hinauseilen. Toni hielt sie am Arm zurück.

»Mit dem stimmt etwas net. Er kam mit einem total überladenen Lieferwagen an, der steht jetzt auf der Oberländer Alm. Es ist nichts aus ihm herauszubekommen. Mein Bauchgefühl sagt mir, er hat Kummer. Ich nehme ihm eine Kanne Kaffee mit hinaus und du bringst eine Brotzeit. Ich wette, dass er auch hungrig ist.«

Etwas später saßen Toni und Mark auf der Terrasse der Berghütte. Mark trank Kaffee.

»Meine Hochzeit ist geplatzt, Toni«, sagte Mark leise.

»Ich wusste gar net, dass du ein Madl hattest?«

»Doch, doch, es ist gleich im letzten Jahr passiert, bald nach meinem Urlaub bei euch. Wir verstanden uns gut und zogen nach einigen Monaten zusammen, Wir verlobten uns an Ostern und wollten in wenigen Wochen heiraten. Doch jetzt ist es aus und vorbei.«

»Streit gibt es immer mal wieder, Mark«, versuchte Toni zu trösten. »Ich kenne net wenige Paare, die sich ausgerechnet während der Hochzeitsvorbereitungen gestritten haben. Es kann schon stressig sein, so eine Hochzeit zu organisieren.«

»Darum geht es nicht, Toni«, sagte Mark bitter.

Anna brachte die Brotzeit und begrüßte Mark. Sie setzte sich dazu.

Mark trank einen Schluck Kaffee und löffelte sein Müsli mit Quark.

Es dauerte eine ganze Weile, bis er berichtete, was ihm widerfahren war.

»Miriam wollte zuerst in Amerika heiraten. Nur mühsam konnte ich sie davon überzeugen, dass meine Eltern sehr enttäuscht wären. Also gab sie irgendwann nach. Aber es sollte eine kleine Hochzeit werden im engsten Familienkreis. Dazu muss man wissen, dass Miriam keine Familie hat, das sagte sie jedenfalls.«

Mark lachte bitter.

Er erzählte, dass seine Eltern enttäuscht waren, aber sich schließlich fügten. Marks Mutter plante, sobald das junge Paar von der Hochzeitsreise zurückkäme, eine große Gartenparty zu geben und alle Freunde und Geschäftskollegen einzuladen.

»Es sollte eine Überraschung für uns werden. Mutter fing sofort mit der Organisation an. Sie erzählte natürlich ihren Freundinnen davon, ihrer Kosmetikerin und anderen, wie das stolze Mütter eben so machen, wenn das einzige Kind, der einzige Sohn, heiratet.«

Mark trank wieder einen Schluck Kaffee.

»Die Nachricht, dass ich heiraten würde, zog Kreise. Irgendwann erschienen Geschäftsfreunde unangemeldet bei meinen Eltern. Es muss ein sehr peinliches Gespräch gewesen sein. Jedenfalls berichteten sie von einem jungen Mann, der einmal eng mit Miriam liiert war und sich dann kurz vor der Hochzeit von ihr trennte, nachdem er umfangreiche Nachforschungen angestellt hatte. Es war eine ziemlich verrückte Geschichte, die die Freunde meinen Eltern auftischten. Doch mein Vater kennt den Geschäftsfreund seit Jahrzehnten und schätzt ihn als verlässlichen und ehrlichen Menschen. Also, wie soll ich sagen? Jedenfalls stellten meine Eltern Nachforschungen an, hinter meinem Rücken. Es kam heraus, dass Miriam schon oft verlobt war und dass jedes Mal kurz vor der Hochzeit die Paare auseinandergingen. Jedes Mal verlangte Miriam eine Entschädigung. Damit sind wir bei meinem Sportwagen. Um einen Skandal zu vermeiden, habe ich ihn ihr überlassen. Eigentlich ist sie eine raffinierte Betrügerin.«

»Eine Heiratsschwindlerin?«, fragte Anna.

Mark schüttelte den Kopf.

»Diesen Tatbestand erfüllt sie nicht. Sie ging bei allen ihren Männern sehr geschickt vor. Es waren immer Söhne sehr wohlhabender Familien. Sie suchte sie sich wohl gezielt aus. Nach jeder Eskapade wechselte sie die Stadt.«

Mark seufzte tief.

»Als mir meine Eltern den Bericht zu lesen gaben, konnte ich es nicht glauben. Ich konnte es einfach nicht begreifen. Ich war mir ihrer Liebe so sicher.«

Mark stöhnte.

»Das zurückliegende Wochenende verbrachte sie auf einer Schönheits- und Fitnessfarm. Ich nahm die Gelegenheit war und durchsuchte in ihrer Abwesenheit die Wohnung. Ich fand schließlich ein kleines Notizbuch, in dem Miriam alle Männer feinsäuberlich aufgelistet hatte, sowie die jeweilige Entschädigung, die sie bekommen hatte. Für mich brach eine Welt zusammen. Ich besprach mich mit dem Anwalt meiner Eltern. Er prüfte die Sache und riet mir, mich möglichst elegant aus der Beziehung zurückzuziehen. Eine Anzeige sei sinnlos und würde mir mehr schaden, als ich gewinnen könnte. Im Gegenteil, ich müsste damit rechnen, dass sie mich verklagen würde, da ich mein Heiratsversprechen nicht einhalten wollte. So verrückt es klingt, sie hat die Sache mit einer dreisten Professionalität betrieben und gut davon gelebt. Sie arbeitete nicht, hatte eine Penthouse-Wohnung mit Mainblick. Mir erzählte sie, sie habe von einer entfernten Tante geerbt.«

»Dann bist du also ausgezogen«, sagte Toni. »Sind das deine Sachen im Auto?«

»Ja! Ich habe in einer Nacht- und Nebelaktion alles gepackt. Die Möbel überlasse ich ihr. Ich habe ihr das Notizbuch, das Dossier, die Wagenpapiere und die Schlüssel zu meinem Sportwagen gut sichtbar auf den Tisch gelegt. Mein Anwalt meinte, ich würde nie mehr etwas von ihr hören.«

Mark trank noch einen Schluck Kaffee.

»Jetzt bin ich auf dem Weg nach Wien. Ich werde dort in zwei Wochen eine von Vaters Filialen übernehmen. Eine möblierte Wohnung habe ich gebucht, bis ich Zeit und Muße habe, eine schöne Wohnung zu suchen, die ich mir dann einrichten werde. Sie wird aber erst in einer Woche frei. Da dachte ich mir, ich lege eine Pause bei euch ein.«

»Das war eine gute Überlegung, Mark«, sagte Toni. »Du brauchst erst mal Abstand und musst wieder zu dir finden, bevor du in dein neues Leben startest.«

»Ja, so denke ich auch. Ich wollte auch in kein Hotel. Ich habe Angst, dass mich jemand nach Miriam fragt. Die Welt scheint ein kleines Dorf zu sein. Ich kann nicht mit jedem darüber reden. Bei euch ist es etwas anderes. Toni, Anna, ich kann euch nicht beschreiben, wie ich mich fühle. Ich habe diese Frau geliebt. Sie sollte die Mutter meiner Kinder werden.«

»Niemand kann nachvollziehen, wie du dich fühlst, Mark. Es sei denn, er hat Ähnliches erlebt. Du musst den Liebeskummer verkraften, da du sie geliebt hast. Du musst die Enttäuschung verkraften, dich getäuscht zu haben und getäuscht worden zu sein«, sagte Anna voller Mitgefühl.

»Mark, ich weiß nicht, ob es dir im Augenblick ein Trost ist, aber ich will dir trotzdem einen Gedanken mitteilen, der mir so durch den Kopf geht.«

Mark schaute Toni an.

»Weißt, immerhin hattest du einen guten Schutzengel, der dich vor Schlimmerem bewahrte. Du bist ein anständiger Bursche. So ein Weib wie diese Miriam hatte leichtes Spiel mit dir. Aber das darfst du dir nicht vorwerfen. Du warst ihr einfach net gewachsen. Vielleicht hätte sie dich auch geheiratet und dann nach einer Weile die Scheidung eingereicht. Vielleicht hättet ihr dann schon Kinder gehabt. Es ist besser, so wie es gekommen ist. In einer Ehe muss es nicht nur Liebe geben, sondern auch Vertrauen. Sie hat dir nix erzählt, Mark. Wenn sie dich geliebt und es ehrlich gemeint hätte, dann hätte sie dir ihr seltsames Vorleben beichten müssen.«

»Ja, das hätte sie. Vielleicht hätte ich ihr sogar verziehen. Aber so muss ich annehmen, ich war nur ein weiteres Opfer für sie.«

»Ich an deiner Stelle hätte ihr den Sportwagen nicht gegeben«, sagte Toni.

»Ach, Toni, das Auto hätte mir auch keine Freude mehr gemacht. Wenn ich damit gefahren wäre, hätte es mich ständig an sie erinnert. Sie benutzte ihn sehr oft oder wir waren zusammen unterwegs. Außerdem wollte ich keinen Skandal. Vielleicht könnt ihr das nicht verstehen. Sie ist raffiniert vorgegangen. Ich konnte sie nicht als Heiratsschwindlerin festmachen. Ich könnte euch alles ausführlich erzählen, aber es würde mir nur weh tun.«

»Jetzt bleibst erst mal hier und kommst zur Ruhe. Die Berge werden dir gut tun. Auf einen Gipfel zu klettern, davon rate ich dir allerdings ab. Du bist mit deinen Gedanken noch so mit der Sache beschäftigt, dass es dir an Konzentration mangelt. Ich will nicht, dass du abstürzt.«

»Ich verstehe dich, Toni. Mir fehlt auch die Kraft dazu. Ich werde nur einige leichte Wanderungen machen. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Ich fühle mich so leer, so unendlich leer.«

»Dein Herz ist wund.«

»Ja, das ist es! Ich hadere mit mir selbst. Wie konnte ich sie lieben? Warum habe ich nichts bemerkt? Warum ist mir bei allen Zärtlichkeiten nie der Verdacht gekommen, dass sie es nicht ehrlich meint?«

»Sie war eben die perfekte Schauspielerin«, sagte Toni.

»Ja, das war sie.«

Mark schaute Toni in die Augen.

»Weißt du, Toni, ich habe auch Angst, dass sie mich vielleicht doch geliebt hat, dass es bei uns wirkliche Liebe war. Vielleicht hat sie es doch ehrlich gemeint, dieses Mal?«

Toni und Anna wechselten Blicke.

»Ich verstehe, dass du dich an diese Hoffnung klammerst, Mark. Aber sie hat dir nichts erzählt! Du hättest sie zur Rede stellen können.«

»Ja, das hätte ich. Aber ich bin sicher, eine Aussprache hätte nichts gebracht. Es ist schon recht kompliziert mit der Liebe, Toni. Nicht jeder hat solch ein Glück wie du und Anna. Ihr seid schon zu beneiden. Ich lasse von einer Beziehung lieber die Finger. Ich scheine dafür nicht das nötige Urteilsvermögen zu haben. Ich war mir so sicher, dass es Liebe ist!«

Toni schenkte Mark Kaffee nach.

»Vielleicht verliebst du dich eines Tages wieder, Mark. Wenn es die wahre Liebe ist, dann wirst du es spüren.«

»Das denke ich nicht, Toni. Wie soll ich feststellen, dass es dann die richtige Liebe ist? Das dachte ich bei Miriam ja auch.«

Toni legte den Arm um Anna. Er warf ihr einen zärtlichen Blick zu.

»Du wirst es wissen, Mark! Du wirst es in deinem Herzen spüren. Es wird sich ganz anders anfühlen als bei Miriam. Dein Herz wird in einem anderen Takt schlagen. Es wird tiefer gehen, viel tiefer. Du wirst es einfach vom ersten Augenblick an wissen, dass ihr zusammengehört. Liebe ist nicht erklärbar. Sie ist nur erlebbar. Du wirst es wissen, wenn es soweit ist.«

»Du bist ein Romantiker, Toni.«

»Ja, das bin ich! Dessen schäme ich mich auch nicht. Liebe ist ein Geheimnis, das sich nur den beiden liebenden Herzen offenbart, die wirklich zusammengehören. Nur wenn sich Herzen finden, welche die Liebe füreinander bestimmt hat, wirst du den geheimen Zauber spüren.«

»Wenn ich mir jetzt einen Zauber wünschen könnte, dann wäre es der, alles zu vergessen.«

»Das kommt schon! Du musst Frieden mit dir selbst machen, Mark.«

»Das ist schwer, Toni. Ich könnte mich ohrfeigen. Wie konnte ich ihr so auf den Leim gehen? Ich bin so wütend auf mich! Wie konnte ich nur solch ein Trottel sein? Ich bin einfach beziehungsunfähig. Das ist die Erkenntnis, die ich gewonnen habe.«

Toni schlug mit der Hand auf den Tisch.

»Himmelsakrament! Schluss jetzt, Mark! Du triefst ja vor lauter Selbstmitleid. Wo bleibt dein Stolz? Dreh den Spieß um! Sei froh, dass du alles erfahren hast, dass du rechtzeitig dahinter gekommen bist. Ich will, dass du mir etwas versprichst.«

»Was soll ich dir versprechen?«, fragte Mark erstaunt.

»Während du hier auf der Berghütte bist, redest du nicht mehr über die Sache. Du hast sie uns erzählt, damit ist es gut. Es ist aus und vorbei. Klappe den Aktendeckel dieser Episode deines Lebens zu. Du kannst es nicht ungeschehen machen. Du kannst dir damit aber die weitere Zukunft verbauen. Jeder Mensch kann sich irren, kann Fehler machen. Hinterher ärgert sich jeder. Das ist normal. Ich will dir ein Bild geben. Wenn Kinder laufen lernen, fallen sie hin. Sie stehen wieder auf. Eines Tages laufen sie, ohne hinzufallen und trotzdem kann es sein, dass sie sogar als Erwachsene ausrutschen. Wichtig ist nur, dass man aufsteht und weitergeht. Du verbringst jetzt schöne Urlaubstage hier. Dann gehst du nach Wien. Das ist gut. Es ist eine andere Stadt, andere Menschen, eine neue Aufgabe. Es ist ein Neuanfang. Gehe unter Menschen, damit meine ich auch Madln. Nicht alle sind so wie diese Miriam. Es ist doch wie bei Kirschen. Sie schmecken gut, doch in einem ganzen Korb voller süßer Früchte kann es eine faule Frucht geben. Es wäre doch Unsinn, deswegen nie mehr Kirschen zu essen oder?«

Mark nickte.

Toni stand auf. »Komm mit mir, Mark. Ich gebe dir jetzt eine Kammer. Anna, kochst du Mark einen schönen Kräutertee aus Kräutern, die die Ella Waldner gesammelt hat?«

»Daran habe ich auch gerade gedacht, Toni. Der Tee wird Mark gut tun. Er wird wunderbar schlafen können.«

»Kräuter von der Ella Waldner, ist das nicht die alte Frau aus dem Wald, über die alle sagen, sie sei eine Kräuterhexe?«

»Genau die ist es. Aber der Titel ›Kräuterhexe‹, der ist bei der Ella eine Auszeichnung. Sie kennt sich wie sonst niemand mit Kräutern aus und deshalb nennen wir sie liebevoll ›Kräuterhexe‹. Trink den Tee, dann wirst schon sehen.«

Toni zeigte Mark die Kammer. Anna brühte einen Tee auf. Sie hofften beide, dass er Schlaf finden würde.

»Das ist eine schlimme Geschichte, Toni«, bemerkte Anna später leise in der Küche der Berghütte. »Mark ist nur noch ein Schatten seiner selbst.«

»Ja, das ist er! Dem hat es die Füße unter den Beinen fortgerissen. Für Mark ist eine Welt zusammengebrochen. Er hadert mich sich selbst. Ist dir aufgefallen, dass er über Miriam nicht geschimpft hat?«

»Ja, das ist mir auch aufgefallen. Was denkst du, was das zu bedeuten hat, Toni?«

»Nun, ich denke, dass er seinen Zorn und seine Wut nur gegen sich selbst richtet. Er kann nicht verstehen, dass ihm das passieren konnte. Das macht die Sache so schwer für ihn. Hoffentlich verschließt er sein Herz nicht für alle Zeit. Es wäre schade.«

»Ja, das wäre es! Das Beste wäre, wenn er sich neu verlieben würde, Toni!«

Toni lachte.

»Das kann ich mir im Augenblick nicht vorstellen. In seinem Herzen ist keine Bereitschaft für eine neue Liebe. Er ist nicht offen für neue Gefühle. Er misstraut sich selbst. Deshalb ist es sehr schwer für ihn, vielleicht sogar unmöglich, jemals wieder einem Madl zu vertrauen.«

»Toni, was höre ich da? Wo bleibt dein Optimismus? Er hat doch keine Wahl. Wenn ihn die Liebe erfasst, dann kann er nichts dagegen machen, dann wird er einfach mitgerissen. Das ist wie bei einer Lawine. Wen und was sie erfasst, begräbt sie unter sich und reißt sie mit. Also, ich hoffe, dass Mark von einer ganz großen Liebeslawine erfasst wird und ihn nur noch Liebe umgibt. Dann kann er nicht anders.«

Toni nahm Anna in seine Arme. Sie küssten sich.

»Wir beiden stecken in einer großen Liebeslawine. Nicht wahr, Anna?«

»Einer riesengroßen Liebeslawine!«

Sie küssten sich wieder und schauten sich tief in die Augen. In diesem Augenblick wurde ihnen mal wieder so richtig bewusst, welch großes Glück sie hatten.

»Ich liebe dich, Anna!«

»Ich liebe dich, Toni!«

Sie lächelten sich zärtlich an. Dann gingen sie wieder an die Arbeit.

*

Leise schloss Claudia die Tür der kleinen Kammer. Sie ging barfuß hinaus vor die Almhütte und setzte sich.

Sie seufzte leise.

»Entschuldige, Janet, dass es so lange gedauert hat. Es ist jeden Abend ein Kampf, bis Moni eingeschlafen ist. Ich lese ihr vor, ich singe ihr Schlaflieder und kuschele mit ihr.«

»Ach, mache dir darüber keine Sorgen. Ich habe gern gewartet und den herrlichen Ausblick genossen. Das ist wirklich ein schönes Fleckchen Erde.«

»Ja, das ist es! Die Enzian Alm ist ein ganz besonderer Platz, auch wenn es keine richtige Alm ist.«

Claudia lachte leise.

»Monika meint, wir sollten uns Kühe anschaffen, dann würden wir den Weg zu Nachbars Alm sparen, wenn wir Milch brauchen.«

»Kinder denken oft sehr praktisch. Wie lange willst du bleiben? Was willst du in Zukunft machen? Ist es dir hier nicht zu einsam?«

Claudia schwieg.

»Entschuldige, ich war schon wieder so unhöflich. Ich wollte dich nicht verletzen, Claudia.«

»Du hast mich nicht verletzt. Es ist nun einmal eine Tatsache, dass ich mich dem neuen Leben stellen muss. Das versuche ich jetzt schon zwei Jahre. Seit ich hier auf der Enzian Alm bin, komme ich besser mit dem Schmerz des Verlustes klar.«

»Es ist ja auch schrecklich, wie das Schicksal dir mitgespielt hat«, sagte Janet voller Anteilnahme.

»Seit ich hier bin, finde ich immer mehr Trost. Rudi hatte die Alm für uns als Sommerhaus gekauft. Wir waren hier immer sehr glücklich. Ich fühle mich ihm hier näher als irgendwo sonst. Die Alm liegt nicht sehr hoch. Ich überlege, ob ich dauerhaft hierbleibe. Die Almhütte ist zwar nicht groß, aber es reicht für mich und Monika. Sie hat eine Kammer, ich habe eine Kammer, es gibt den größeren Wohnraum mit der Kochecke und Rudi hat ein Bad einbauen lassen. Was will ich mehr? Die Ruhe hier in den Bergen tut mir gut. Ich hoffe, dass Monika auch ruhiger wird. Sie sagt, sie vermisst ihren Vater. Aber ich bezweifele, dass sie sich richtig an ihn erinnern kann. Sie war gerade mal drei Jahre, als der Autounfall geschah. Nächsten Monat wird sie fünf.«

»Fragt sie nach ihrem Vater?«

»Ja! Ich erzähle ihr viel von ihm. Wir betrachten Fotos. Ich habe ihr gesagt, dass Rudi im Himmel ist. Das sagen wohl alle Mütter ihren Kindern, wenn sie den Vater verloren haben, denke ich. Es ist nicht leicht, ihr zugleich Vater und Mutter zu sein.«

»Du schaffst das schon, Claudia! Du hast so vieles im Leben schon geschafft. Du hattest es nie leicht.«

»Sprechen wir nicht über die alten Geschichten, Janet. Ich will daran nicht denken. Ich will nur das Schöne in Erinnerung behalten.«

»Das verstehe ich. Schöne Erinnerungen geben Kraft. Sie sind ein dickes emotionales Polster. Aber du kannst dich auf die Dauer auch hier nicht einigeln, Claudia. Du bist noch jung, du bist gerade mal dreiundzwanzig Jahre. Willst du für den Rest deines Lebens hier auf der Enzian Alm sitzen und …« Janet brach den Satz ab.

»… und trauern, wolltest du sagen, richtig?«

»Claudia, wir kennen uns seit unserem ersten Schultag und haben uns immer gut verstanden. Freundschaft bringt auch die Verpflichtung mit, den anderen etwas aufzurütteln. Es wäre eine schlimme Sache, wenn ich dich nur bedauern würde, was ich natürlich tue. Aber du solltest dich dem Leben und auch einer neuen Liebe nicht verweigern.«

»Mit dem Leben komme ich ganz gut klar. Rudi hat mich und Moni gut versorgt. Wir brauchen nicht viel. An Liebe will ich nicht denken, Janet. Ich werde nie, niemals einen anderen Mann lieben können. Rudi wird immer in meinem Herzen sein. Er war meine große Liebe und für mich wird er es immer bleiben. Ich werde ihm die Treue halten. Bin ich das nicht auch Monika schuldig?«

Janet seufzte leise.

»Das weiß ich nicht, Claudia. Ich bin noch nicht verheiratet, habe keine Kinder. Ich kann allenfalls darüber theoretisieren. Ich bin Monikas Patentante. Deshalb mache ich mir auch Gedanken. Monika wird eines Tages erwachsen sein. Ihr wird die Liebe begegnen und sie wird erkennen, wie wunderbar die Liebe ist. Sie wird dahinterkommen, dass du dich einer neuen Liebe verschlossen hast, aus Rücksicht zu ihr. Ich sorge mich, dass dies Schuldgefühle bei Monika auslösen könnte.«

»Ich werde alles tun, um das zu verhindern, Janet. Jede Frau muss für sich selbst entscheiden. Ich habe mich einmal für Rudi entschieden und das war für ein ganzes Leben, für mein ganzes Leben. Dass uns nur wenige Jahre geblieben sind, dafür können er und ich nichts. Ich bin für die wenigen Jahre sehr dankbar. Es war eine so glückliche Zeit.«

»Rudi liebte dich, das weiß ich. Er wollte, dass du glücklich bist.«

»Ja, das wollte er. Er trug mich auf Händen.«

Janet legte den Arm um die Schultern der Freundin.

»Liebe Claudia! Ich bin nicht Rudi. Aber ich will auch, dass du glücklich bist. Versprich mir, dass du immer so handelst, dass du glücklich bist? Das wäre sicherlich ganz in Rudis Sinn.«

»Das kann ich dir versprechen, Janet. Das ist in Rudis Sinn.«

Janet seufzte erleichtert.

»Dann bin ich beruhigt. Ich hatte mir Sorgen um dich gemacht.«

»Das weiß ich. Danke für deinen Besuch!«

»Leider muss ich morgen schon wieder ganz früh los. Aber ich besuche dich gern öfter, wenn ich darf?«

»Was soll diese Frage? Was redest du da für einen Schmarrn!«

»Oh, du scheinst die Kraftausdrücke der Berge schon ganz gut drauf zu haben?«

Claudia lachte.

»Die bringt Monika mit heim. Sie trifft sich zwei Mal in der Woche im Dorf mit anderen Kindern zum Spielen. Im Herbst schicke ich sie in den Kindergarten.«

»Das ist eine gute Idee!«

Die beiden Frauen sahen sich an.

»Es war schön, dass du so spontan vorbeigekommen bist, Janet.«

»Ich komme bald wieder und bleibe länger. Dann kannst du mir die Berge zeigen.«

»Das werde ich! Es gibt hier herrliche Wanderwege.«

Claudia erzählte Janet von den vielen kleinen Wanderungen, die sie fast täglich mit Monika unternahm. Dabei leuchteten ihre Augen. Janet sah, wie glücklich Claudia in den Bergen war, und dass sie in der Natur und der Stille der Berge den Trost fand, den ihr kein Mensch geben konnte.

Die beiden Freundinnen redeten noch eine Weile, dann gingen sie schlafen. Janet schlief auf dem Sofa im großen Wohnraum. Monika kuschelte sich ins Federbett in ihrer Kammer. Es dauerte lange, bis sie einschlafen konnte. Sie war einsam und die Sehnsucht nach Rudi wieder mal sehr groß.

*

Monika und ihre Mutter saßen vor der Almhütte. Claudia häkelte an einem schwarzen Schultertuch. Ihre kleine Tochter saß am Tisch und malte eifrig.

»Moni, das gibt aber ein schönes Bild«, lobte sie Claudia. »Malst du die Enzian Alm?«

Monika nickte eifrig.

»Das ist unsere Almhütte, das ist der Weg und das hier ist der ›Engelssteig‹. Darüber ist der Himmel. Dort ist Papa und schaut herunter.«

Claudia lächelte und streichelte ihrer kleinen Tochter über das Haar.

»Ja, dein Papa ist dort oben und schaut herunter.«

Monika nahm einen gelben Buntstift und malte vom Gipfel des Berges eine Leiter, die hinauf in den Himmel führte.

»Oh, das hast du schön gemalt, die Leiter sieht golden aus.«

»Mama, die Leiter ist aus Gold, das ist doch die Engelsleiter.«

»Ich weiß, mein kleiner Schatz. Darauf steigen die Engel jede Nacht vom ›Engelssteig‹ hinauf in den Himmel. Ich habe dir die Geschichte schon oft erzählt.«

Die kleine Monika stand vom Stuhl auf und setzte sich neben ihre Mutter. Sie schmiegte sich an sie.

»Erzählst du mir die Geschichte noch einmal, bitte!«

Claudia legte ihre Handarbeit zur Seite und nahm ihre kleine Tochter auf den Schoß.

»Also! Es war einmal vor langer, langer Zeit, da gab es im Himmel plötzlich eine große Aufregung. Petrus, der für die Ordnung dort oben zuständig ist, hatte herunter auf das schöne Waldkogel gesehen. Hoppla, dachte er, was ist das? Das muss ich mir genauer ansehen, dachte er. Und schon flogen viele kleine Engel herbei und brachten Petrus sein Fernrohr. Er schaute hindurch und sah, dass sich auf dem Gipfel des ›Höllensteig‹ etwas verändert hatte.«

»Das ist der Berg dort drüben«, warf Monika ein.

»Genau! Der Teufel hatte sich über Nacht dort ein Tor eingebaut, damit er schneller in Waldkogel sein konnte, um die Menschen zu ärgern. Als Petrus das sah, war er sehr ärgerlich und wütend. Dem werde ich die Sache vermasseln, rief er aus. So geht das nicht. Die Waldkogeler sind so liebe und gottesfürchtige Menschen, deshalb sollen sie einen ganz besonderen Schutz erhalten. Im hohen Himmelssaal gab es noch am gleichen Tag eine große Konferenz. Alle waren ziemlich aufgeregt und es wurden viele Vorschläge gemacht. Ein kleiner Engel, der sich noch seine Flügel verdienen musste, hatte den besten Vorschlag.«

»Und deshalb bekam er sofort Flügel.«

»Ja, Moni, so war es. Der kleine Engel bekam wunderschöne Flügel. Er wurde zum Architekten und Bauleiter ernannt.«

»Wie Papa, der war auch Architekt!«

»Genau!« Claudia lächelte.

Monika kuschelte sich an ihre Mutter. Claudia erzählte weiter.

»In der nächsten Nacht wurde es am Nachthimmel plötzlich ganz hell. Es war ein wunderbar helles, reines Licht. Alle Waldkogeler standen auf und liefen hinaus ins Freie. Sie blickten hinauf auf den Berggipfel. Dort sahen sie, dass viele Engel auf und ab schwebten. Sie brachten Bauteile und fügten sie zusammen. Die goldene Leiter wurde immer höher und höher. Sie bauten die ganze Nacht daran. Dann stiegen die Engel hinauf. Dabei trugen sie große dicke Bücher. Jeder in Waldkogel wusste plötzlich, was in den Büchern stand. Die Engel hatten diese Erkenntnis den Menschen ins Herz gegeben. In den Büchern waren die Gebete, Wünsche und Sehnsüchte aufgeschrieben, die die Waldkogeler hatten. Diese brachten die Engel hinauf in den Himmel.«

»Aber jetzt kann niemand mehr die Engelsleiter sehen«, bemerkte Monika.

»Richtig, mein Schatz! Die Menschen konnten sie nur in dieser einen Nacht sehen. Aber es ist nicht wichtig, etwas zu sehen, es genügt, daran zu glauben. Und so ist es bis heute. Jede Nacht bringen die Engel die dicken Bücher hinauf. Dann geschehen Wunder.«

Monika nickte eifrig.

»Können die Engel auch Bilder hinaufbringen? Das Bild ist für Papa!«

Claudia überlegte kurz, was sie ihrer kleinen Tochter antworten sollte.

»Moni, ich denke, die Engel können das Bild hinaufbringen. Wir legen es heute Nacht auf deinen Nachttisch und reden mit den Engeln vor dem Einschlafen. Dann bringen sie dein Bild hinauf in den Himmel.«

Claudia schaute sich das Bild an.

»Das ist sehr schön. Du kannst noch mehr auf das Blatt malen. Hier unten kannst du Gras malen und Blumen und einen Gartenzaun um die Almhütte. Dein Papa wollte einen Zaun herumbauen.«

Claudia schwieg eine Weile, während Monika weitermalte. Sie erinnerte sich, wie sie damals zum ersten Mal auf der Enzian Alm waren. Monika saß noch im Kinderwagen. Sie saßen vor der Almhütte und machten Pläne.

Rudi hatte sie gefragt, was sie sich wünsche. Einen halbhohen Zaun mit vielen Blumenkästen, hatte Claudia geantwortet. Doch wie es im Leben oft ist, kamen sie nicht dazu, den Zaun zu errichten. Das Holz dafür lagerte immer noch im Holzschuppen auf der Rückseite der Almhütte.

Claudia sah hinauf in den blauen Himmel. Stumm redete sie mit Rudi. Ich werde den Zaun bauen, noch in diesem Sommer. Du wirst sehen, er wird schön werden. Er wird dir gefallen.

»Mama!«, riss Monika Claudia aus ihren Gedanken.

Sie hielt ihr wieder das Bild hin.

»Oh, das ist sehr schön. Das hast du ganz wunderbar gemacht. Dein Papa wäre sehr stolz auf dich. Male noch Tannenbäume auf den Berg und vergiss den kleinen Bach nicht, aus dem wir unser Wasser bekommen.«

»Und die Wasserleitung, die Papa gebaut hat«, erklärte Monika mit etwas altklugem Unterton in der Stimme.

»Ja, und die Wasserleitung!«, lächelte Monika gütig.

Das Mädchen vergisst nichts, dachte Claudia. Es war schon etwas her, dass Claudia Monika erzählt hatte, wie Rudi eine Wasserleitung gelegt hatte. Es war ein regnerischer Tag gewesen. Sie saßen am Ofen und betrachteten die Fotos im Album. Das Fotoalbum war Monikas liebstes Bilderbuch. Fast jeden Tag sah sie es sich an. Sie hatte alle Geschichten behalten, die Claudia ihr zu jedem Bild erzählte. Oft lauschte Claudia, wie Monika ihrer Puppe die Geschichten erzählte.

Die kleine Monika malte weiter.

Irgendwann sah sie auf.

»Soll ich dir auch ein Bild malen, Mama?«

»Wenn du willst, mein Schatz! Gern, ich freue mich. Das hänge ich dann an die Wand.«

Monika schob ihr Bild über den Tisch.

»Schreibe drauf ›Für Papa von Moni‹.«

»Komm her, wir machen das zusammen.«

Claudia nahm ihre Tochter wieder auf den Schoß. Sie umschloss mit ihrer Hand die Hand des Mädchens und führte sie. In großen Druckbuchstaben schrieben sie auf die Rückseite:

Für Papa von Moni

Monika strahlte. Sie war zufrieden. Dann begann sie ein zweites Bild zu malen. Monika nahm wieder ihre Handarbeit und häkelte weiter.

Plötzlich sah Monika auf.

»Können wir hinauf auf den Gipfel?«

Claudia sah überrascht auf.

»Aber nein, mein Schatz. Auf den Gipfel können nur Bergsteiger. Ich kann nicht klettern und du bist zu klein. Wenn du größer bist, dann kannst du klettern lernen, und wenn du noch größer bist, dann kannst du mit einer Seilschaft hinauf auf den Gipfel des ›Engelssteigs‹ klettern. Du wirst eines Tages auf dem Gipfel stehen, das verspreche ich dir. Außerdem wollte das dein Papa auch. Er war ein sehr guter Bergsteiger. Er freute sich schon darauf, dass er mit dir eines Tages auf den Gipfel des ›Engelssteigs‹ klettern würde.«

Claudia strich ihrer Tochter über das Haar.

»Wirst sehen, wie schnell die Jahre vergehen. Bald bist du groß. Erst kommst du im Herbst in den Kindergarten und im nächsten Jahr in die Schule. Das wird schön werden. Da lernst du Schreiben und Rechnen und viele schöne Sachen.«

»Fahren wir wieder nach Hause?«

Claudia hatte bisher noch nicht mit ihrer Tochter darüber gesprochen, dass sie die Wohnung in München aufgelöst hatte.

»Gefällt es dir hier nicht?«

»Doch, es ist schön und ich habe Freunde.«

»Wir könnten für immer auf der Alm bleiben. Mir gefällt es hier auch gut. Ich denke, dass es deinem Papa auch gefallen würde, wenn wir hierbleiben würden.«

Monika nickte eifrig. Sie schien sich damit abgefunden zu haben. Claudia war beruhigt. Sie ging in die Almhütte und betrat ihre Kammer. Dort nahm sie das Bild ihres Mannes in die Hände. Sie küsste es.

»Rudi, wir bleiben hier«, sagte sie leise. »Ich denke, dass dir das recht ist. Hier sind wir sicher und haben Frieden. Monika kann in der Natur aufwachsen und glücklich sein. Sie ist so ein wunderbares Kind.«

Sie hatte tränenfeuchte Augen. Claudia wischte sich die Augen. Sie stellte das Bild wieder ab und ging hinaus.

*

Es geschah in der nächsten Nacht. Die Sonne warf ihre ersten Strahlen über die Berggipfel, als Claudia aus dem Tiefschlaf hochschreckte. Irgend­etwas beunruhigte sie. Ihr Herz raste. Sie überlegte, ob sie vielleicht einen Albtraum hatte. Sie konnte sich aber nicht erinnern. Zuerst versuche sie, wieder einzuschlafen. Doch die innere Unruhe wurde immer stärker. Sie stand auf, schlüpfte in ihre Hausschuhe und in ihren Morgenmantel und schlich hinüber zu Monikas Kammer. Leise drückte sie die Türklinke hinunter und öffnete die Tür einen kleinen Spalt.

»Moni!«, schrie Claudia.

Ihr Herz zog sich zusammen, als sie das leere Bett sah. In Hausschuhen rannte Claudia vor die Almhütte. Sie suchte Monika.

»Monika! Moni! Wo bist du? Wo hast du dich versteckt?«, schrie Claudia.

Sie lauschte. Alles blieb still. Claudia rannte um die Almhütte. Sie schaute im Holzschuppen nach und in dem kleinen Baumhaus, das Rudi für seine Tochter gebaut hatte. Doch dort war sie auch nicht.

Die Tränen der Angst und der Panik quollen aus Claudias Augen, als sie zurück in ihre Kammer rannte. Schnell zog sie sich an. Sie ging noch einmal in Monikas Zimmer. Dort sah sie, dass die Kleider fort waren, die Moni am Vortage getragen hatte. Ihr kleiner Rucksack fehlte auch.

»Das Bild! Die Zeichnung! Sie wird doch nicht?«, stöhnte Claudia.

Sie rannte hinaus vor die Almhütte, faltete die Hände vor der Brust und schaute hinauf zum »Engelssteig«.

»Ihr Engel beschützt meine Moni! Lasst sie mich finden«, flüsterte Claudia aus tiefster Inbrunst, wie nur eine Mutter für ihr Kind beten konnte.

Dann rannte sie los, den Weg den Berg hinauf. Sie kann nicht weit gekommen sein, dachte Claudia. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Sie rannte und schrie immer wieder Monikas Namen, bis sie völlig atemlos anhalten musste. Claudia war so erschöpft, dass sie sich erst einmal auf den Waldboden setzte. Die Tränen entluden sich. Sie wurde von einer tiefen Angst erfasst.

»Ich will Monika nicht verlieren. Sie ist doch alles, was mir geblieben ist«, schluchzte sie. »Himmel, hilf mir! Bitte! Was soll ich tun?«

Claudia stand auf und ging weiter, bis sie völlig erschöpft war. Irgendwann wurde ihr klar, dass sie Monika so nicht finden würde. Sie rannte den ganzen Weg zurück.

Atemlos kam sie bei der Enzian Alm an. Claudia ergriff ihren Autoschlüssel und brauste los.

Vor der Polizeidienststelle in Waldkogel machte sie nicht einmal den Motor aus. Sie stürzte hinein. Gewolf Irminger und Christina Danzer kamen aus dem Hinterzimmer. Dort hatten sie gerade gefrühstückt.

»Monika ist fort! Sie ist weggelaufen! Helfen Sie mir! Bitte, helfen Sie mir, sie zu suchen! Sie war nicht in ihrem Bett. Ich will nicht mehr leben, wenn ich jetzt Moni auch noch verliere. Sie ist alles, was ich habe, alles was mir geblieben ist«, schrie Claudia und trommelte in ihrer Verzweiflung mit den Fäusten auf die Holzplatte.

Irminger und Danzer warfen sich einen Blick zu. Es bedurfte keiner großen Worte. Die blasse und sehr zierliche junge Frau sah in ihrer schwarzen Kleidung erbärmlich aus. Sie hatte verweinte Augen.

Chris ging zu Claudia und legte den Arm um sie.

»Ganz ruhig! Jetzt setzen Sie sich und erzählen alles der Reihe nach.«

»Sie müssen sie finden. Bitte helfen Sie mir!«

Gewolfs neue Kollegin führte Claudia in das Nebenzimmer und drückte sie auf einen Stuhl.

»Ganz ruhig! Wir finden jeden«, versuchte Christina sie zu beruhigen. »Wie heißen Sie? Wo wohnen Sie?«

»Claudia Rachner …, ich wohne mit Monika auf der Enzian Alm … Sie ist erst vier Jahre …, wird demnächst fünf Jahre. Ich bin aufgewacht und habe festgestellt, das Moni fort ist. Ich habe sie drei Stunden lang gesucht und sie nicht gefunden. Wenn ihr etwas passiert ist, dann …« Der Rest des Satzes ging in einem neuerlichen Tränenschwall unter.

Claudia zitterte am ganzen Leib. Christina legte ihr eine warme Decke um und schenkte ihr eine Tasse heißen Kaffee ein.

»Hier, der Kaffee tut bestimmt gut. Ich bin Christina Danzer, aber du kannst Chris zu mir sagen. Wir sind doch hier in Waldkogel alle eine große Familie. Und wenn jemand Kummer hat, dann rücken wir enger zusammen. Deiner Monika wird bestimmt nichts passiert sein. Kinder haben einen besonderen Schutzengel, Claudia. Jetzt gibst du uns eine genaue Beschreibung. Hast du ein Foto von Monika?«

Claudia schüttelte den Kopf. Sie putzte sich die Nase. »Nur daheim, ich bin einfach losgefahren.«

Christina nickte.

»So, dann sage ich dir jetzt, wie wir das machen! Ich fahre mit dir zur Enzian Alm und hole das Foto. Wolfi schreibt alles auf und meldet es weiter. Dann wissen alle, dass Monika gesucht wird. Wir werden sie bestimmt finden.«

Christina packte Monika in das Polizeiauto und fuhr mit ihr hinauf zur Enzian Alm.

Claudia weinte den ganzen Weg. Als sie ankamen, gab sie Christina ein Foto aus dem Fotoalbum.

»Was für ein liebes Madl«, sagte Christina leise.

»Sie sieht ihrem Vater sehr ähnlich«, sagte Claudia.

Sie blätterte im Album zurück und zeigte Christina ein Bild von Rudi. Noch bevor die junge Polizeimeisterin fragen konnte, sagte Claudia: »Ich bin Witwe! Mein Mann kam vor zwei Jahren bei einem Autounfall auf der Autobahn um. Ein Lastwagen hatte eine Massenkarambolage verursacht.«

Christina ergriff voller Anteilnahme Claudias Hand und hielt sie fest.

»Mein Beileid! Wir werden Monika finden. Bitte, glaube mir. Kinder laufen oft fort.«

Claudia fing an zu schluchzen.

»Es ist wegen der Zeichnung. Sie fehlt. Ich habe Angst, dass Moni auf den ›Engelssteig‹ will. Ich mache mir solche Vorwürfe. Es ist alles meine Schuld.«

Claudia erzählte Christina, was sie Monika über den »Engelssteig« erzählt hatte und dass die Engel die Zeichnung in den Himmel bringen würden. Sie berichtete auch, dass Monika auf den Gipfel wollte. Christina hörte Claudia ruhig zu.

»Das ist ja schon einmal ein Anhaltspunkt. Auf den Gipfel kommt Moni bestimmt nicht. Außerdem sind viele Wanderer rund um den Berg unterwegs und Bergsteiger ebenso. Sicher wird sie gesehen. Ein Kind allein unterwegs, das fällt auf. Aber ich werde Wolfi sofort informieren.«

Christina ging hinaus zum Polizeiwagen. Über Funk sprach sie mit ihren Kollegen Gewolf Irminger. Sie bat ihn, Kontakt zu Doktor Engler aufzunehmen und den Pfarrer zu verständigen.

»Wolfi, ein Arzt sollte nach Claudia sehen und ihr vielleicht ein Beruhigungsmittel geben.«

Christina war sehr besorgt. Sie wollte Claudia nicht alleine auf der Enzian Alm lassen. Ihr war zuzutrauen, dass sie selbst weiter nach Monika suchen würde und vielleicht in Gefahr käme. Gewolf Irminger, der von allen Wolfi genannt wurde, versprach, sich um alles zu kümmern. Bis jemand käme, sollte seine Kollegin bei Claudia bleiben.

Christina ging in die Almhütte. Dort hatte Claudia den Kopf auf die Tischplatte gelegt und weinte. Christa setzte sich neben sie und streichelte ihr behutsam den Rücken.

Die Zeit bis Doktor Martin Engler kam, schien endlos zu sein, dabei waren es nur Minuten. Hinter ihm kam Pfarrer Zandler. Irminger brachte den Geistlichen in Claudias Auto herauf, zurück würde er mit Christina zusammen im Polizeiauto fahren. Die beiden überließen Claudia Doktor Martin Engler und Pfarrer Zandler. Sie war bei ihnen in besten Händen.

»Aufi, Wolfi, zurück ins Dienstzimmer! Jetzt können wir das Foto herausschicken.«

»Ich werde auch die Bergwacht in Kirchwalden informieren, Chris. Der Leiter der Bergwacht, Leonhard Gasser, ist aus Waldkogel. Er wird uns in diesem Fall besonders bei der Suche unterstützen.«

Noch während Christina zurückfuhr, rief Gewolf über Funk die Bergwacht an. Leonhard, der Leo gerufen wurde versprach sofort mit der Suche zu beginnen und alle verfügbaren Hubschrauber in die Luft zu schicken.

Es verging keine Viertelstunde, dann kreisten mehrere Hubschrauber über den Bergen rund um Waldkogel. Sie suchten besonders das Gebiet um den »Engelssteig« ab.

Der Tag verging. Claudia hatte ein starkes Beruhigungsmittel bekommen und schlief in ihrer Kammer auf der Enzian Alm. Pfarrer Zandler blieb bei ihr. Bis zum Abend war die Suche erfolglos geblieben. Jetzt waren alle noch mehr besorgt. Doktor Martin Engler kam am Abend und gab Claudia ein Mittel, das sie die Nacht durchschlafen lassen würde.

*

Die Sonne versank im Westen hinter den Bergen. Ein kühler Wind frischte auf. Der alte Alois trat auf die Terrasse und schaute sich den Himmel an. Er rief Toni herbei.

»Toni, sind schon alle Hüttengäste zurück?«

»Fast alle, nur Mark fehlt noch.«

»Hoffentlich kommt er bald. Des wird ein Unwetter geben, ein richtiger Wettersturz, Toni. Schau dir den Himmel an!«

»Ja, Alois, des schaut net gut aus. Es war den ganzen Tag so schwül heiß. Da musste sich ja etwas zusammenbrauen.«

»Drüben über dem Gipfel des ›Höllentors‹ ballen sich die schwarzen Wolken. Des ist ganz schnell gegangen. Vor einer Stunde war noch nix zu sehen.«

Toni ging zu den Hüttengästen, die noch an den Tischen auf der Terrasse saßen und bat sie, in die Wirtstube zu kommen. Dann begann er das Gestühl auf der Terrasse mit Seilen zu sichern. Einige der Hüttengäste, die Hochgebirgserfahrung hatten und das Wetterszenario am Himmel zu deuten wussten, packten mit an.

Tonis Handy klingelte. Er nahm das Gespräch an. Es war Mark. Dieser teilte ihm mit, dass er noch ziemlich weit oben am Pilgerpfad war. Er sei sich sicher, dass er es vor dem aufkommenden Unwetter nicht mehr bis zur Berghütte schaffen werde. Deshalb würde er in einer Schutzhütte Zuflucht suchen.

»Hast du noch genug Proviant?«, fragte Toni.

»Ja, das reicht noch für zwei Tage, wenn ich es mir einteile. Du hast mir ja reichlich mitgegeben. Aber zwei Tage wird das schlechte Wetter nicht anhalten. Wie sehen uns morgen früh, Toni.«

Toni legte auf und wandte sich an den alten Alois.

»Das war Mark. Er ist oben am Pilgerweg und wartet das Unwetter in einer Schutzhütte ab.«

»Des ist gut! Da ist er sicher.«

Es fing an zu regnen. Zuerst waren es einige vereinzelte dicke Regentropfen. Dann prasselte es los, als hätte der Himmel alle Schleusen geöffnet.

»Soll ich die Gewitterkerzen aufstellen?«, fragte Anna leise.

Der alte Alois hatte es gehört.

»Es wird sich ausregnen. Ein Gewitter wird es nicht geben, Anna. Musst keine Angst haben. Bei uns hier oben wird das Wasser gut ablaufen. Aber es kann sein, dass in Waldkogel drunten einige Keller volllaufen.«

Toni versuchte seine Eltern anzurufen. Aber sein Handy war tot.

»Störung!«, murmelte Toni. »Der Funk ist gestört.«

Der alte Alois lachte.

»Mach kein solches Gesicht, Toni! Früher sind wir hier auf der Berghütte ohne Telefon und den modernen Kram ausgekommen. Ich sage dir, in vielen Fällen war des noch net einmal so schlecht. Wir haben ruhiger gelebt.«

»Alois, des streite ich net ab. Aber für Notfälle ist es schon gut, ein Handy zu haben.«

»Ja, aber nur für Notfälle! Die Leut’, die reden viel zu viel miteinander. Da wird wegen jedem Dreck angerufen. Aber was bringt es in den meisten Fällen? Nix! Deshalb verstehen sich die Menschen auch net besser.«

Anna blinzelte Toni zu. Der Alois war heute schon den ganzen Tag angespannt gewesen und auf eine seltsame Weise unruhig.

»Alois, du hast Recht! Komm, wir machen jetzt für alle einen schönen Grog. Dann holst du deine Ziehharmonika und spielst uns etwas vor.«

So geschah es dann auch. Der alte Alois setzte sich mit seinem Instrument in die Nähe des Kamins und spielte alte Volksweisen. Bei den Liedmelodien sangen viele mit. Während es draußen fast bis Mitternacht stürmte und regnete, verbreitete sich in der Berghütte Gemütlichkeit. Dann gingen alle schlafen.

Mark saß in der Schutzhütte beim Ofen und wartete, bis das Wetter vorbei war. Als es nachließ, trat er vor die Hütte. Die Luft war voll würziger Düfte. Mark setzte sich in der Dunkelheit neben die Hüttentür und schaute den Wolken nach, die in großer Höhe vom Wind fortgetrieben wurden, bis es sternenklar war. Mark war nicht müde. Er blieb noch lange sitzen und genoss die Einsamkeit. Die Ruhe der Berge tat ihm wohl. Es war ganz still. Mark beschloss, vor der Schutzhütte sitzen zu bleiben, bis die Sonne aufging. Er wusste, dass ein Sonnenaufgang nach solch einem Wetter besonders schön anzusehen war, weil die Luft über Berg und Tal sehr klar war. Mark holte seine Pfeife aus dem Rucksack. So saß er auf der Bank und lauschte den Geräuschen der Bergwelt, die nach dem Sturm langsam erwachte, als es gegen Morgen ging.

Plötzlich drang ein Geräusch an sein Ohr, das ihn aufhorchen ließ. Mark erschrak richtig. Er richtete sich auf und lauschte. Da war es wieder. Dann war es eine Weile still. Mark wollte sich schon damit trösten, dass er sich verhört hätte, als er es wieder hörte.

»Was ist das?«, murmelte er vor sich hin.

Mark überlegte. War es ein verletztes Tier? Oder war es ein Wanderer in Not, jemand, der es am Abend nicht mehr bis zur Schutzhütte geschafft hatte?

Mark stellte sich mitten auf den Pilgerweg und lauschte. Jetzt hörte er es deutlich. Es klang wie ein leises Piepsen oder ein zaghaftes Wimmern. Doch wo kam es genau her? Es war noch immer etwas windig. Der Wind konnte das Geräusch von überallher zu ihm getragen haben.

Mark lauschte angestrengt und versuchte die Richtung zu bestimmen, aus der das Geräusch kam. Einmal hatte er den Eindruck, die Ursache müsste weiter unten im Tal liegen, ein anderes Mal vermutete er sie ganz in der Nähe. Dann war es ihm, als käme sie aus dem dichten Mischwald auf der anderen Seite des Pilgerweges, der sich den Hang hinunterzog bis zu den Almen. Er ging am Waldesrand ein Stück entlang. Mark ärgerte sich, dass er keine Stablampe dabei hatte. Es war noch zu dunkel, um im Wald deutlich sehen zu können.

Jetzt hörte er es deutlich. Es klang, als weine jemand.

Mark formte die Hände wie einen Trichter und rief, so laut er konnte: »Haalloo! Wo bist du?«

Er musste nicht lange warten, dann hörte er ein langgezogenes: »Maa … maaamaaa!«

Ein Kind! Da weint ein Kind, schoss es Mark durch den Kopf. Marks Herz fing an zu klopfen. Es raste. Aufregung und Sorge ergriff ihn. Trotz der schlechten Lichtverhältnisse stürmte er in den Mischwald. Dabei rief er immer wieder: »Wo bist du!!?«

Immer wieder rief eine kindliche Stimme nach seiner Mutter. Der Ruf nach der Mutter kam von weiter unten am Hang.

»Ich komme! Wo bist du?«, rief Mark immer wieder.

Sein Herz klopfte schneller. Seine Augen hatten sich inzwischen an die spärlichen Lichtverhältnisse im Wald gewöhnt und er konnte besser sehen. Er stieg weiter den teilweise steilen Hang hinunter und drückte sich durch das dichte Unterholz.

Unter einem Baum entdeckte er das Kind. Er stürzte darauf zu und ließ sich auf die Knie fallen.

»Hallo, wer bist denn du? Hast du dich verlaufen?«, lächelte er es an.

Mark befühlte die heiße Stirn des Kindes und die roten Wangen. Sie waren glühendheiß. Das Mädchen zitterte am ganzen Körper. Es hatte Schüttelfrost.

»Du bist ganz nass«, sagte Mark. »Du hast dich erkältet. Aber das haben wir gleich. Du musst keine Angst vor mir haben. Ich bin Mark und ein guter Freund von Toni. Kennst du Toni von der Berghütte?«

»Nur die Franzi!«

»Oh, das ist fein. Reden kannst du. Wie heißt du?«

»Mo... Moni... Monika!«, schluchzte das Mädchen.

»Monika, ich nehme dich jetzt auf den Rücken und bringe dich fort. Du musst dich ganz fest an mir festhalten!«

Es kostete Mark Mühe, das Mädchen auf seinen Rücken zu heben. In gebeugter Haltung arbeitete er sich den Hang hinauf. Dabei musste er mit einer Hand die Äste und Zweige zur Seite drücken und mit der anderen Hand Monika festhalten. Es war ein hartes Stück Arbeit, bis sie oben bei der Schutzhütte ankamen.

»Du musst die nassen Sachen ausziehen. Dann kuschelst du dich dort auf die Pritsche.«

Mark zog seinen Pullover aus und sein Hemd.

»Das kannst du anziehen. Es wird ein wenig groß sein, aber die Sachen sind trocken.«

Monikas Schüttelfrost wurde stärker. Mark half ihr, die nasse und schmutzige Kleidung auszuziehen. Er zog ihr zuerst sein Hemd an, dann den Pullover darüber. Er krempelte ihr die Ärmel hoch. Dann breitete er seinen warmen Wanderanorak aus und wickelte das Mädchen darin ein. Zum Schluss deckte er es noch zu. Zwischendrin legte er Holz im Ofen nach.

Mark setzte sich auf die Bettkante. Er tippte auf seinem Handy Tonis Nummer ein. Aber das Handy blieb tot.

»Auch das noch«, murmelte Mark leise vor sich hin.

Er rieb sich die Stirn. Es war offensichtlich, dass er niemand zur Hilfe rufen konnte. Also musste er sich selbst helfen. Er kochte Monika einen Tee. Proviant hatte er noch genug dabei. Aber das Mädchen wollte nichts essen, nicht einmal Schokolade.

Ich muss sie irgendwie zur Berghütte bringen. Ihm war klar, dass er sie den ganzen Weg nicht einfach so auf dem Rücken tragen konnte.

Da kam ihm eine Idee.

Er setzte sich ans Bett und ließ Monika schluckweise den warmen Tee trinken.

»Du bist krank, Moni. Du hast Fieber.«

»Ich will zu meiner Mama!«, jammerte das Mädchen und fing wieder an zu weinen.

»Ich bringe dich jetzt zur Berghütte. Dann holt Toni deine Mama. Ich packe dich in meinen Rucksack und trage dich zur Berghütte.«

Mark packte den Rucksack aus. Er nahm ein Taschenmesser und schnitt an der Seite oberhalb des Rucksackbodens zwei Löcher hinein.

»So, Moni. Ich erkläre dir, wie das jetzt geht. Der Rucksack ist groß genug. Du setzt dich jetzt da hinein und streckst die Füße und Beine aus den Löchern heraus. Dann kann ich dich besser tragen. Das ist dann fast so wie bei einem Kindersitz. Du weißt doch, was ein Tragesitz für Babys ist? Du bist zwar kein Baby mehr, aber so kann ich dich sicher zur Berghütte bringen. Vertraust du mir?«

Monika schaute ihn nur mit großen fiebrigen Augen an.

Mark polsterte den Rucksackboden mit Moos. Dann half er Monika in den Rucksack und hob ihn auf den Rücken.

»Leg deine Arme um meinen Hals und halte dich fest!«

Monika tat, wie er es ihr gesagt hatte und legte den Kopf an seine Schulter. Sie muss hohes Fieber haben, ich muss mich beeilen, trieb er sich an.

»Kann es losgehen? Schön festhalten!«

Inzwischen war die Sonne ganz hinter den Bergen hervorgekommen. Mark ging los. Er musste sich beeilen, gleichzeitig aber vorsichtig sein, nicht zu stolpern.

Der Weg zur Berghütte erschien Mark endlos.

Als er oben ans Geröllfeld kam, sah er Toni auf der Terrasse. Er winkte ihm mit beiden Armen zu und rief nach ihm. Toni blickte in seine Richtung und rannte ihm entgegen.

»Um Himmels willen! Mark, was ist los?«

»Sie heißt Monika! Ich habe das Mädchen im Wald gefunden. Sie muss dort die ganze Nacht gewesen sein, vermute ich. Ihre Kleider waren klitschnass. Sie ist ganz heiß und hat hohes Fieber.«

»Gib sie her!«

Toni nahm Mark die kostbare Fracht ab. Sie eilten zur Berghütte. Dort trug Toni das Mädchen in Franziskas Kammer. Anna und der alte Alois eilten herbei.

»Reib das Madl mit der Kräutertinktur von der Ella Waldner ein«, sagte der alte Alois. »Des hilft!«

Anna und der alte Alois kümmerten sich um das Mädchen, das alles mit sich geschehen ließ. Toni probierte sein Handy aus, das immer noch nicht funktionierte.

»Das Unwetter muss irgendwo einen Funkmast zerstört haben, Toni. Mein Handy geht auch nicht. Was machen wir jetzt? Monika braucht sofort einen Arzt«, sagte Mark. »Und wir müssen die Polizei verständigen. Sicher haben die Eltern eine Vermisstenanzeige aufgegeben.«

Toni antwortete nicht. Er ging in den Wirtsraum der Berghütte und riss das Schränkchen mit den Notsignalen an der Wand auf. Er nahm alle heraus. Gemäß der alpinen Vorschrift für einen Hilferuf, feuerte Toni im Abstand von jeweils zehn Sekunden sechs rote Signale in den Himmel über dem Tal von Waldkogel.

»So, ich bin sicher, dass jetzt bald Hilfe kommt!«, sagte er. »Irgendjemand hat es bestimmt gesehen!«

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Innerhalb von einer Minute wurden unten in Waldkogel drei rote Signalraketen in den Himmel geschossen, wie die Vorschriften es vorsahen.

»Jetzt kommt bald jemand!«, sagte Toni. »Ich nehme an, dass es Leo ist, der mit seinem Hubschrauber kommt.«

Toni ging zu Anna. Sie saß am Bett der kleinen Monika und legte ihr kühlende Tücher auf die Stirn.

»Ich habe die Notsignale abgefeuert, Anna. Es gibt immer noch keinen Handyempfang.«

Minuten später drang der Schall eines Martinshorns durch die Berge und kam mit vielfachem Echo zurück.

»Scheint, dass Hilfe unterwegs ist!«

Toni ging hinaus auf die Terrasse der Berghütte. Es dauerte nicht lange, dann brauste Christina Danzer mit dem Polizeimotorrad den Weg zur Berghütte herauf. Hinter ihr saß Doktor Martin Engler.

Christina kam vor der Treppe der Berghütte zu stehen, deren wenige Stufen auf die Terrasse hinaufführten. Toni sprang alle Stufen hinunter.

»Bist des Wahnsinns, Tina, mit dem Motorrad heraufzukommen? Aber ich bin froh, dass ihr hier seid«, diesen Tadel konnte Toni sich nicht verkneifen.

Christina nahm ihren Helm ab.

»Ist das deine einzige Sorge? Toni, erstens will ich wissen, was los ist. Zweitens werde ich Chris gerufen und nicht Tina. Das habe ich dir schon so oft gesagt«, schrie sie ihn wütend an.

Toni errötete und rieb sich verlegen das Ohrläppchen.

»Mark hat im Wald ein kleines Mädchen gefunden. Es ist in Franzis Zimmer. Scheint hohes Fieber zu haben.«

»Monika!«, riefen die Polizistin und der Arzt wie aus einem Mund. »Sie wird seit gestern früh gesucht. Hast du nicht die Hubschrauber gesehen?«, sagte Martin.

Er wusste, wo Franzis Zimmer war, rannte voraus und die junge Polizistin folgte ihm.

Doktor Martin Engler setzte sich ans Bett.

»Sie ist gerade eingeschlafen«, flüsterte Anna.

Sie zeigte Martin die Medikamente, die sie Monika gegeben hatte.

»Die hattest du Franzi und Basti verordnet, bei ihrer letzten Erkältung. Ich dachte, sie können nichts schaden.«

»Das hast du gut gemacht, Anna«, lobte sie Martin. »Sie wirken auch schon. Sie schläft. Das Fieber geht sicherlich bald zurück.«

Martin hörte das schlafende Kind ab.

»Die Lunge ist frei. Sie wird sich schnell erholen. In einigen Stunden sieht es schon anders aus. Hauptsache, sie wurde gefunden!«

Martin und Anna gingen hinaus. Bello legte sich auf dem Bettvorleger vor das Bett und bewachte die schlafende Monika. Anna ließ die Tür offen.

Toni spendierte Kaffee. Martin und Christina saßen mit Toni, Anna, dem alten Alois und Mark an einem Tisch. Um sie herum standen die Hüttengäste, die an diesem Morgen noch auf der Berghütte waren. Alle lauschten, was Christina und Martin erzählten.

»Des war der Grund für die Hubschrauber der Bergwacht, die den ganzen Tag die Gegend abgesucht hatten? Dass die jemand suchten, das hatten wir uns schon gedacht«, sagte Toni leise.

»Dann werde ich mal Wolfi verständigen«, sagte Christina.

»Im Augenblick gibt es hier keinen Handyempfang. Deshalb hab’ ich die Notsignale abfeuern müssen.«

»Das Polizeimotorrad ist an ein anderes Funksystem angeschlossen«, antwortete Christina.

Sie ging hinaus auf das Geröllfeld. Lässig stand sie in ihrem enganliegenden Motorradanzug neben dem Polizeimotorrad und redete mit Irminger, der im Tal geblieben war. Es dauerte eine Weile, bis sie wiederkam.

»So, es ist alles geregelt. Wolfi stoppt den Alarm bei der Bergwacht und fährt sofort zur Enzian Alm, um Monikas Mutter zu verständigen. Er bringt sie herauf bis zur Oberländer Alm. Ich fahre hinunter und hole sie dort ab. Das geht mit dem Motorrad schneller, als wenn sie zu Fuß heraufwandert.«

»Des ist gefährlich, der Pfad ist zu schmal«, warf Toni ein.

»Du bist Hüttenwirt und ich war bei der Motorradstaffel der Polizei. Ich weiß, was ich tue«, sagte Christina knapp.

Sie zog den Helm auf und klappte das Visier herunter. Augenblicke später brauste sie über das Geröllfeld, dass die kleinen Steinchen aufgewirbelt wurden und unter den Rädern des Motorrades herausspritzten.

Christina musste auf der Oberländer Alm nicht lange warten. Bald näherte sich das Polizeiauto mit eingeschaltetem Blaulicht, aber ohne Sirene. Hinten drin saßen Claudia Rachner und Pfarrer Zandler.

Claudia stürzte sogleich auf Christina zu.

»Wie geht es ihr?«

»Claudia, ganz ruhig! Im Augenblick schläft sie. Sie hat Fieber und ist ein wenig erkältet. Martin hat sie untersucht. Er sagt, es sei nicht dramatisch.«

Claudia faltete die Hände vor der Brust und sagte leise: »Gott sei Dank! Lieber Gott, ich danke dir!«

Pfarrer Zandler trat neben Claudia. Väterlich legte er den Arm um sie.

»Madl, ich habe es dir doch gesagt. Die Moni hat einen Schutzengel. Wir alle in Waldkogel haben Schutzengel!«

Christina half Claudia den Motorradhelm aufzuziehen und auf das Polizeimotorrad zu steigen.

»Leg deine Arme von hinten um mich und klammere dich an mich. Du musst keine Angst haben, Claudia. Ich bringe dich sicher hinauf.«

Dann fuhr sie mit Claudia davon.

*

Toni, Anna, der alte Alois, Mark, Martin und alle Hüttengäste standen auf der Terrasse und erwarteten sie.

Martin half Claudia vom Motorrad und brachte sie sofort hinein zu Monika.

»Siehst du, wie gut sie schläft, Claudia? Weck sie nicht! Schlaf ist die beste Medizin.«

Doktor Martin Engler maß mit einem modernen Thermometer noch einmal Monikas Temperatur, ohne dass er sie dafür wecken musste.

»Das Fieber fällt stetig. Sie ist ein robustes Madl. Lass sie ausschlafen. Dann kannst du sie mit nach Hause nehmen. Ich komme morgen auf der Enzian Alm vorbei und sehe nach ihr. Du musst dir wirklich keine Sorgen machen.«

Claudia ergriff Martins Hand.

»Danke, Martin, vielen, vielen Dank! Ich mache mir Vorwürfe. Aber ich hatte nie damit gerechnet, dass Moni fortlaufen würde.«

»Kinder sind unberechenbar, Claudia. Schimpf net, wenn sie aufwacht. Hör dir erst mal an, was sie zu sagen hat. Das Madl hat ein dramatisches Erlebnis hinter sich. Sag ihr, dass sie nimmer fortlaufen soll, aber dramatisiere die Sache nicht weiter.«

Martin gab Claudia zu verstehen, dass sie mitkommen sollte. Sie folgte ihm vor die Tür. Martin schloss die Tür.

Er flüsterte: »Claudia, ich will ganz ehrlich zu dir sein. Du hast den Verlust von Rudi noch nicht ganz verarbeitet. Das wird immer schlimm für dich bleiben. Jeder kann sich vorstellen, was du mitgemacht hast, seit Monika verschwunden war. Aber du darfst sie nicht überbehüten. Verstehst du, was ich dir damit sagen will?«

»Ja, Martin! Danke noch mal für alles. Du bist ein großartiger Doktor.«

Claudia wollte wieder ins Zimmer gehen. Martin hielt sie zurück.

»Lass sie schlafen. Bello ist bei ihr. Sie wird den ganzen Tag schlafen. Setz du dich draußen auf die Terrasse. Toni wird dir eine herzhafte Brotzeit machen. Du hast seit gestern nichts gegessen.«

»Ich habe keinen Hunger. Ich will bei Monika bleiben.«

»Nix da! Das ist eine medizinische Anweisung.«

Martin legte einfach den Arm um Claudias Schulter und nahm sie mit hinaus.

»Toni, Claudia braucht etwas zu essen. Etwas Leichtes und doch Kräftiges!«, sagte Martin.

»Da weiß ich genau das Richtige«, rief der alte Alois und eilte in die Küche.

Es dauerte nicht lange, dann kam er mit einem Teller mit Fleischbrühe, in der Eierschwämmchen schwammen.

»So, des tust essen! Dann fühlst dich besser, Madl. Siehst wirklich elend aus.«

Alois setzte sich zu Claudia an den Tisch. Martin und Christina fuhren wieder ins Tal. Toni und Anna gingen ihrer Arbeit auf der Berghütte nach. Durch das Ereignis brachen die Hüttengäste später zu ihren Touren auf und alle wollten Proviant mitnehmen. Toni und Anna hatten alle Hände voll zu tun.

Claudia aß brav ihre Suppe, auch wenn sie sich dazu zwingen musste.

»Danke, Alois, das schmeckt gut!«

»Schaust auch viel besser aus, Madl!«

»Wo ist dieser Mark? Wolfi sagte, ein Mark Strasser, der hier Hüttengast ist, hätte Monika gefunden.«

»Des stimmt! Der Mark ist net nur Hüttengast, sondern auch ein Freund. Anna hat ihn über ihre Freunde in Frankfurt kennengelernt. Mark war sehr müde und hat sich hingelegt. Du wirst ihn später kennenlernen. Dann kannst dich bei ihm bedanken.«

»Ich möchte ihm ein Geschenk machen, Alois. Du kennst ihn. Was könnte ihn erfreuen?«

»Ein Geschenk, des wird er sicherlich ablehnen. Aber ich gebe dir einen Tipp. Um deine Moni zu retten, hatte er seinen Rucksack zerschnitten, damit er sie besser tragen konnte«, flüsterte Alois.

Dann erzählte er, was er wusste.

»Danke, Alois! Dann weiß ich, was ich zu tun habe. Außerdem kann Monika ihm den Rucksack geben, dann kann er nicht ablehnen. Sobald es Monika wieder besser geht, fahre ich mit ihr nach Kirchwalden und kaufe einen schönen Rucksack.«

»Soweit musst net fahren. Bei der Veronika am Marktplatz kannst alles kaufen, was du fürs Gebirge brauchst. Du kennst doch den Trachten- und Andenkenladen?«

»Stimmt, daran habe ich nicht gedacht. Sicher gehe ich da einkaufen. Dort gibt es alles, auch für den Haushalt. Ich kaufe dort meine Wolle. Aber gern gehe ich dort nicht einkaufen«, fügt Claudia leise hinzu. »Frau Boller ist sehr redselig und stellt eine Frage nach der anderen.«

Der alte Alois lachte. Er erklärte, dass sich Claudia daraus nichts machen solle. Böse würde es Veronika nicht meinen. Es wäre eben ihre Art.

»Weißt, die Veronika und der Franz, die haben keine Kinder. Die Veronika hat eben einen ausgeprägten Gluckeninstinkt. So musst du ihre Neugierde verstehen. Sie will jeden ein bissel bemuttern. Aber wenn du net allein hingehen willst, dann kannst du die Anna mitnehmen oder den Toni.«

Claudia überlegte kurz.

»Ich will auch noch ins Pfarrhaus und mich bei Pfarrer Zandler bedanken. Ich werde ihn bitten, mitzukommen.«

»Des ist ein gute Idee!«, sagte der alte Alois.

Claudia stand auf und schaute nach Monika. Das Mädchen schlief immer noch ganz fest. Anna kam dazu und legte ihr eine Hand auf den Arm.

»Leg dich draußen auf einen Liegestuhl, Claudia. Bello passt auf. Toni, Alois und ich haben auch ein Auge auf Monika.«

Anna duldete keinen Widerspruch. Sie brachte Claudia hinaus auf die Terrasse, packte sie auf einen Liegestuhl und deckte sie zu.

»So, jetzt schaust du dir die schöne Aussicht an und freust dich, dass alles gut ist.«

»Ach, Anna, ich war außer mir. Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn Monika etwas zugestoßen wäre.«

Anna setzte sich neben Claudia und hörte ihr zu. Claudia erzählte von Rudi, wie sie ihn kennengelernt hatte und von den wenigen gemeinsamen Jahren.

»Er war sicher ein wunderbarer Mensch, Claudia. Ihr habt eine liebe kleine Tochter. In ihr wird ein Teil von ihm immer bei dir sein«, sagte Anna leise und streichelte Claudias Hand.

Dann ließ sie Claudia allein. Es dauerte nicht lange, dann war Claudia auch eingeschlafen. Die Berge gaben ihr Ruhe in ihr Herz und sie versank in einen tiefen traumlosen Schlaf.

*

»Mama!«

Claudia war sofort hellwach. Mit einem Ruck richtete sie sich auf, riss Monika, die neben dem Liegestuhl stand, in die Arme und drückte sie an sich. Claudia bedeckte Monikas Gesicht mit Küssen.

»Mein Schatz! Mein kleiner Liebling! Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist. Geht es dir gut? Tut dir etwas weh?«

Claudia befühlte Monikas Stirn.

»Du scheinst kein Fieber mehr zu haben. Tut dir etwas weh?«

Monika schüttelte den Kopf.

Toni, der neben Monika stand, sprach Claudia an.

»Moni geht es schon wieder gut. Anna hat Fieber gemessen. Sie hat keine Temperatur mehr. Sie ist schon vor mehr als zwei Stunden aufgewacht und hatte bis jetzt mit Franzi gespielt. Musst dir keine Sorgen machen.«

Claudia stand vom Liegestuhl auf.

»Toni, warum hast du mich nicht sofort geweckt?«

Toni schmunzelte.

»Du hast die Ruhe gebraucht«, betonte er mit Nachdruck.

Claudia stand die Verlegenheit ins Gesicht geschrieben. Sie wandte sich an Monika.

»Ich freue mich, dass es dir wieder gut geht. Dann können wir jetzt heim auf die Enzian Alm gehen.«

Monika sah ihre Mutter an und schüttelte den Kopf.

»Du willst nicht heim?«

Claudia sah Toni erstaunt an.

»Moni, geh wieder zu Franzi! Sie wartet auf dich. Ich erkläre es deiner Mama.«

Monika warf ihrer Mutter einen scheuen Blick zu. Erst als Claudia nickte, rannte sie davon. Dabei hielt sie mit beiden Händen den Rock fest, der ihr bis zu den Füßen ging. Anna hatte Monika einen Rock und einen Pullover von Franziska gegeben, der natürlich für die fast Fünfjährige viel zu lang war.

Toni holte zwei Tassen Kaffee und setzte sich mit Claudia an den Tisch.

»Moni geht es gut. Sehr gut sogar! Als sie aufwachte, fragte sie zuerst nach Mark.«

»Nach Mark?«, staunte Claudia.

Toni erklärte es ihr. Monika wollte wissen, wo Mark ihre Jacke hätte. Dort in der Tasche ihres Anoraks sei das Bild für ihren Papa. Mark erklärte ihr, dass er die nassen Sachen in der Schutzhütte gelassen hätte.

»Dann musst du sie holen, erklärte ihm Monika.« Toni lachte. »Dabei hat sie ihn angeschaut, als hätte er ein Verbrechen begangen. Anna und ich, die dabei standen, mussten erst einmal lachen. Monika blieb ganz ernst. Dann erzählte sie uns, dass sie den Engeln entgegengehen wollte, um ihnen das Bild zu geben. Aber sie hätte sich verlaufen.«

»Dann war es genauso, wie ich es mir vorgestellt habe«, sagte Claudia leise.

»So ähnlich«, meinte Toni. »Jedenfalls ist Mark sofort zur Schutzhütte aufgebrochen, um Monikas Sachen zu holen.«

Toni schaute auf die Uhr.

»Er muss bald zurück sein. Es kann nicht mehr lange dauern.«

»Das wäre doch nicht nötig gewesen. Ich hätte die Sachen auch holen können.«

Toni lachte.

»Du kennst deine Tochter besser, als ich es beschreiben kann. Sie ließ Mark keine Chance. Sie schickte ihn einfach los«, lachte Toni. »Na ja, das ist vielleicht etwas übertrieben. Mark wollte Monika eine Freude machen. Er hat sofort erfasst, wie viel Moni das Bild bedeutete.«

»Mark!«

Monikas Freudenschrei schallte über das Geröllfeld und kam als Echo aus den Bergen zurück. Sie rannte in dem langen Rock und in Franziskas Gummistiefeln über das Geröllfeld.

Claudia trat an das Geländer der Terrasse und sah, wie Mark Monika mit offenen Armen auffing und sich dann mehrmals im Kreise mit ihr drehte. Dann unterhielten sie sich kurz. Mark nahm den Rucksack ab. Er holte Monikas Schuhe heraus. Sie setzte sich auf den Boden, entledigte sich Franzis Gummistiefel, die ihr auch viel zu groß waren und schlüpfte in ihre Schuhe. Mark nahm die Gummistiefel. Monika ergriff Marks Hand und sie gingen weiter in Richtung Berghütte.

»Das ist ein schönes Bild, die beiden scheinen sich gesucht und gefunden zu haben«, sagte Toni leise. »Und wie Mark strahlt! Deine Monika hat richtig Sonnenschein in sein Herz gebracht. Was auch immer geschehen ist und wie schlimm es für dich war, Claudia. Ich denke, es musste so kommen. Es war so vorgesehen, dass Mark Monika findet. Das war nicht nur ein Glück für Moni, sondern auch ein besondere Glück für Mark.«

Claudia verstand nicht, was Toni damit andeuten wollte. Aber es war keine Zeit mehr, Toni zu fragen.

»Mama, Mama! Mark hat meine Sachen und mein Bild hat er auch!«, rief Monika.

Sie rannte auf ihre Mutter zu und zog Mark hinter sich her.

»Grüß Gott! Sie sind Herr Strasser! Ich bin Monikas Mutter. Vielen Dank, dass sie meine Tochter gerettet haben. Ich bin Ihnen alle Zeit meines Lebens dankbar.«

»Nenn mich einfach Mark!«

»Claudia!«

Sie sahen sich an und gaben sich die Hand. Toni, der dabeistand, sah sofort, dass da etwas geschah. Die beiden sahen sich an und vergaßen alles um sich herum. Sie vergaßen sogar, nach der Begrüßung die Hand des anderen loszulassen.

Claudia spürte, wie ihr Herz klopfte.

»Mark, gibst du mir jetzt mein Bild?«

Monika zupfte ungeduldig an Marks Jacke.

Er ließ Claudias Hand los.

»Natürlich bekommst du dein Bild! Ich habe dir doch gesagt, ich habe es im Rucksack.«

Mark stellte den Rucksack auf den Tisch, packte die halbfeuchte Kinderkleidung aus und holte Monikas Bild heraus, das er extra in eine Plastiktüte gesteckt hatte.

»Es ist schmutzig geworden«, flüsterte Monika leise.

»Das macht nichts, Moni. Papa gefällt es auch so!«, versuchte sie Claudia zu beruhigen.

Monika strahlte.

Anna kam und nahm die nassen Sachen.

»Ich hänge sie an den Kamin, dann sind sie schnell trocken. Kommst du mit und hilfst mir, Moni?«

Auf diese Weise lotste Anna Monika geschickt von Claudia und Mark fort. Sie hatte aus einigen Metern Entfernung gesehen, wie die beiden sich begrüßt hatten.

Als Anna Augenblicke später in die Küche der Berghütte kam, flüsterte Toni ihr zu: »Hast gesehen, wie die beiden sich angestarrt haben? Himmel, ich dachte, ich sehe nicht recht. Da hat es gefunkt. Was meinst du, Anna?«

»Pst, Toni! Nicht so laut. Moni könnte dich hören. Die Kleine ist sehr aufgeweckt.«

»Anna, keine Sorge, ich lass mir bei der Moni nix anmerken. Aber ich kann erkennen, wenn ein Bursche und ein Madl sich sehen und Interesse aneinander haben.«

»Übertreibst du da nicht, Toni? Claudia hat bestimmt kein Interesse an einer neuen Partnerschaft. Sie trauert noch immer um ihren Rudi, auch wenn es schon bald ins dritte Jahr geht, dass sie ihn beerdigen musste. Sie trägt noch immer tiefschwarze Trauerkleidung.«

»Und sie sieht schlimm darin aus! Dabei ist sie noch so jung.«

»Sie wird bald vierundzwanzig, hat mir Martin erzählt.«

»Es ist nicht gut, wenn sie sich so dem Leben abwendet. Überlege dir mal, Anna, die Menschen werden heute immer älter. Sie wird doch nicht fünfzig oder sechzig Jahre, vielleicht noch länger, trauern wollen?«

Anna zuckte mit den Schultern und seufzte.

»Toni, wir halten uns da heraus. Claudia scheint die Witwenschaft zu ihrem Lebensinhalt gemacht zu haben. Sie muss entscheiden, ob sie sich wieder dem Leben zuwendet oder weiterhin trauert und ihrem verstorbenen Mann die Treue hält, über seinen Tod hinaus. Das muss jede Frau für sich entscheiden.«

Anna sah Toni ernst an.

»Toni, ich bitte dich, dich in dieser Sache sehr zurückzuhalten. Mein Gefühl sagt mir, dass Claudia noch immer sehr verletzlich ist.«

»Schon gut, Anna. Musst dir keine Sorgen machen! Ich werde nix sagen. Aber eines musst du mir zugestehen. Der Mark strahlt, wenn die kleine Monika bei ihm ist, als hätte er das große Glück gefunden.«

Anna lächelte und nickte. Sie dachte, dass die Liebe vielleicht einen Umweg machen könnte, über Monikas Herz, um Claudias Herz zu erreichen. Doch darüber sprach sie nicht mit Toni.

Anna richtete Kaffee und Kuchen auf einem Tablett und brachte es hinaus.

»Hier, bei Kaffee und Kuchen redet es sich bestimmt besser«, sagte sie zu Claudia und Mark.

»Danke, Anna, und gib mir bitte gleich Bescheid, sobald Monikas Sachen trocken sind. Oder kannst du mir ein Bügeleisen leihen, dann bügele ich sie trocken? Ich will bald mit Monika heimgehen.«

»Ich achte darauf, Claudia!«, sagte Anna kurz und ging davon.

»Du kannst doch bis Morgen hierbleiben. Ich gebe dir und Monika gern meine Kammer und schlafe auf dem Hüttenboden«, bot Mark an.

»Danke, aber du hast schon genug für uns getan. Ich möchte nicht bleiben.«

»Schade«, sagte Mark leise. »Monika wird es auch bedauern. Ich hatte ihr versprochen, morgen auf den Gipfel des ›Engelssteigs‹ zu klettern und ihr Bild hinaufzubringen.«

»Wie bitte?«

»Claudia, du hast mich genau verstanden. Ich sagte Monika, dass ich ihr Bild ins Gipfelbuch legen werde. Dort würden die Engel es finden.«

Claudia atmete tief durch.

»Vielleicht ist das gar keine so schlechte Idee. Ich hätte das Bild heute Nacht sonst verschwinden lassen müssen und ihr morgen gesagt, dass die Engel es geholt hätten. Ich hatte ihr zwar vor dem Einschlafen erklärt, dass die Engel das Bild nicht wirklich abholen würden, sondern dass es auch so in dem dicken Buch wäre, das die Engel haben. Es ist manchmal schwer, alles richtig zu machen. Ich will Monika doch nicht die Illusionen nehmen.«

»Du hast alles richtig gemacht, Claudia.« Mark lächelte. »Jedenfalls soweit ich es als Außenstehender beurteilen kann. Ich habe keine Kinder«, sagte er und fügte leise hinzu. »Ich hatte von Kindern geträumt, als ich dachte, die Richtige gefunden zu haben. Aber der Traum ist kürzlich geplatzt.«

»Das tut mir leid für dich!«

Mark schüttelte den Kopf.

»Das muss dir nicht leid tun. Es war ein Glück für mich. Sie war nicht ehrlich. Aber ich will nicht über Miriam reden. Es ist vorbei.«

Mark sah Claudia an.

»Du bist Witwe, sagte mir Martin.«

Sie nickte und trank einen Schluck Kaffee.

»Uns blieben nur wenige Jahre, aber es waren die glücklichsten meines Lebens.«

Obwohl Claudia Mark nicht kannte, öffnete sie ihm ihr Herz. Sie erzählte ihm, wie sie Rudolf Rachner begegnet war. Es war kurz vor ihrer Volljährigkeit, sie war noch Schülerin und stand vor dem Abitur.

»Er war viel älter als ich, Mitte Dreißig. Meine Eltern waren entsetzt. Seine Eltern hielten mich für eine Spielerei ihres Sohnes. Für uns war es die große Liebe.«

Claudia sah Mark nicht an, als sie ihm ihr Leben erzählte. Sie machte ihr Abitur, zog an ihrem achtzehnten Geburtstag zu Rudolf, der Rudi gerufen wurde. Sie heirateten und stellten fest, dass sie auf dem Weg waren, glückliche Eltern zu werden.

»Wir freuten uns. Rudi war Architekt. Er kaufte eine schicke Wohnung mit großer Terrasse in einem guten Viertel von München. Zwei Jahre später entdeckten wir die Enzian Alm und kauften sie. Das heißt, Rudi schenkte sie mir. Es war klug von ihm. So haben Monika und ich ein wirkliches Zuhause, weit ab von allem. Monika fühlt sich hier in Waldkogel sehr glücklich und ich bin auch ruhiger geworden. Rudis Eltern machten mir immer wieder Schwierigkeiten. Sie sind sehr vermögend. Rudi war ihr einziges Kind und sie wollen Monika haben. Sicher schützt mich das Gesetz. Ich bin die Mutter, aber Rudis Eltern haben Macht und Einfluss. Mehr will ich nicht sagen!«

Claudias Augen wurden feucht.

»Sie dürfen nie erfahren, dass Monika fortgelaufen war.«

Mark verstand.

»Sie werden es nie erfahren. Von wem sollten sie es erfahren? Außerdem bin ich sicher, dass dir hier in Waldkogel nichts geschehen kann. Jeder wird bezeugen, was für eine gute Mutter du bist«, sagte Mark mit sanfter Stimme.

Er ahnte, welche Ängste Claudias Herz schwer machten.

»Ja, ich sorge gut für Monika und bin finanziell auch abgesichert. Die Wohnung in München steht zum Verkauf. Es gibt auch schon Interessenten.«

»Das ist doch wunderbar.«

»Ja, wenn die Wohnung verkauft ist, habe ich weniger Belastungen und das Kapitel München ist abgeschlossen. Ich werde dann hier auf dem Friedhof ein Grab kaufen und Rudi umbetten lassen. Er liebte Waldkogel und ich denke, es wäre ihm recht. Außerdem ist es gut für Monika, wenn ihr Vater hier beerdigt ist. Ich denke, dass die Grabpflege die Verbindung und die wenigen Erinnerungen, die Monika hat, stärkt.«

»Du machst das alles wirklich großartig, Claudia.«

Er sah sie an. Welch schöne Augen sie hat, dachte er. Gern hätte er ihr ein Kompliment gemacht. Aber er hielt sich zurück. Es war zu früh. Mark wagte nicht einmal zu hoffen, dass es dafür irgendwann einen Zeitpunkt geben könnte.

»Du denkst an Moni, du bettest deinen Mann um. Was tust du für dich?«, fragte er.

»Ich habe nichts für mich zu tun. Ich sorge nur für Monika. Das ist das Wichtigste und meine Aufgabe. Jetzt, da sie keinen Vater mehr hat, muss ich beides für sie sein, Mutter und Vater.«

»Ja, so sagt man im allgemeinen«, sagte Mark leise.

Gern hätte er ihr gesagt, dass sie auch etwas für sich selbst tun sollte. Etwas, was sie wieder strahlen lassen würde und die Trauer von ihren Wangen nehmen würde. Doch er wusste, dass es besser war, zu schweigen.

Anna kam an den Tisch.

»Claudia, die Sachen sind trocken. Monika zieht sie schon an.«

»Oh, das ist wunderbar. Dann können wir heimgehen.«

Claudia stand auf. Sie sah Mark an.

»Nochmal vielen Dank für alles! Vergelt’s dir Gott, wie man hier in den Bergen sagt.«

»Ich hoffe, wir sehen uns wieder. Ich bin noch einige Tage hier, Claudia.«

Sie sah ihn nur an und wusste nicht, was sie ihm antworten sollte. Er kam ihr zuvor.

»Auf jeden Fall muss ich Monika doch berichten, dass ich die Zeichnung auf den ›Engelssteig‹ gebracht habe. Wo ist das Bild?«

»Das wird Monika haben. Ich rede mit ihr.«

Claudia eilte davon. Sie war froh einen Grund zu haben, sich von Mark zu entfernen, der sie so verwirrte und sprachlos machte.

Mark setzte sich wieder hin. In Gedanken verloren spielte er mit den Krümeln auf seinem Kuchenteller. Er schob sie mit dem Besteck hin und her.

»Mark, hier ist das Bild!«, sagte Monika.

Mark erschrak. Das kleine Mädchen stand neben ihm. Er hatte es nicht kommen gehört.

»Danke, Moni! Morgen bringe ich dein Bild hinauf. Das habe ich dir versprochen und das werde ich tun.«

Monika schaute Mark an.

»Kannst du bitte ein Foto machen?«, flüsterte sie ihm zu. »Mama hat gesagt, dass ich dich nicht fragen darf. Aber ich hätte so gern ein Foto.«

»Pst!« Mark legte den Finger auf seine Lippen und blinzelte Monika zu. »Du bekommst dein Foto! Das ist unser kleines Geheimnis.«

Monika legte zuerst den Zeigefinger über ihre Lippen und raunte: »Pst!« Dann fiel sie Mark einfach um den Hals. Er war zuerst völlig überrascht und überrumpelt. Doch dann drückte er Monika fest an sich.

»Bist ein ganz liebes Mädchen, Moni! Nun geh’, deine Mama wartet auf dich.«

»Pfüat di!«, rief Monika und lief davon.

Mark sah ihr nicht nach. Er hatte Angst, dass Claudia gesehen hatte, wie Monika ihn spontan umarmt hatte. Wie würde sie es aufnehmen?

Mark schob die Sonnenbrille über die Augen und blätterte in seinem Notizbuch. Doch mit seinen Gedanken war er bei Claudia und Monika.

»Musst sehr schlau sein, Mark, dass du deine Notizen lesen kannst, auch wenn sie auf dem Kopf stehen.«

Toni stand neben Mark, dem erst jetzt bewusst wurde, dass er sein Notizbuch verkehrt herum hielt. Er wurde rot.

»Lass mich raten. Warst mit deinen Gedanken bei Claudia und Monika?«

»Das war nicht schwer zu erraten, Toni.«

Mark seufzte.

»Toni, die beiden sind sehr lieb, alle beide. Monika ist ein wirklich herziges kleines Mädchen. Claudia bewundere ich, wie sie ihr Leben meistert.«

Toni nickte Mark zu, legte ihm kurz die Hand auf die Schulter und ließ ihn dann mit seinen Gedanken alleine.

*

Daheim auf der Enzian Alm angekommen, machte Claudia Monika ein warmes Bad. Danach kochte sie eine von Monikas Lieblingsessen, Grießbrei mit gemahlenen Haselnüssen und Rosinen. Dazu gab es Apfelmus. Anschließend kuschelten sie zusammen auf dem Sofa im großen Wohnraum der Almhütte. Mutter und Kind hatten ein Ritual, dass sie abends zusammen das Fotoalbum betrachteten. Aber an diesem Abend interessierte sich die kleine Monika zum ersten Mal weniger für die Bilder. Sie sprach nur von Mark. Sie erzählte, dabei strahlten und leuchteten ihre Augen. Claudia ließ sie reden, hörte ihr nur zu. Dann brachte sie Monika ins Bett. Sie sprach mit ihr das Nachtgebet wie jeden Abend.

»Amen«, sagte Claudia.

Monika sah ihre Mutter an.

»Papa im Himmel hat bestimmt Mark geschickt. Papa kann Mark auch gut leiden. Kann ich für Mark auch ein Gutenachtgebet sagen wie für Papa?«

Claudia erschrak im ersten Augenblick. Dann musste sie lächeln. Sie streichelte ihrer kleinen Tochter über das Haar und sagte leise: »Das kannst du!«

»Lieber Gott beschütze Mark. Amen!«

»Amen«, wiederholte Claudia.

»So mein kleines Madl! Es war ein langer und anstrengender Tag. Jetzt wird gleich geschlafen. Heute Abend gibt es keine weitere Gutenachtgeschichte. Da musst du dir selbst eine ausdenken!«

Monika nickte eifrig.

»Das kann ich!«

Monika umarmte ihre Mutter.

»Ich mag Mark! Er ist nett!«

»Ja, das ist er«, sagte Claudia leise.

Sie gab ihrer Tochter einen Kuss, ging hinaus und lehnte die Tür an.

Claudia brühte einen Tee auf. Sie setzte sich mit dem Becher auf die Bank vor die Hütte und schaute hinauf in den Nachthimmel. Der Mond schien hell, die Sterne funkelten. In Gedanken ging Claudia die Liste der Erledigungen durch, die sie sich für den nächsten Tag vorgenommen hatte. Sie wollte innen an der Tür ein neues Schloss anbringen lassen, damit Monika sich nicht noch einmal heimlich davonschleichen könnte. Sie wollte Pfarrer Zandler besuchen und ihn bitten, mit ihr einen Rucksack kaufen zu gehen. Vielleicht konnte sie den Geistlichen auch überreden, dass er Mark den Rucksack aushändigte. Claudia wollte Mark nicht wiedersehen. Er war ihr unheimlich. Er hatte ihr Herz aufgewühlt. Sie war sich bewusst, dass mit ihr etwas vor sich gegangen war. Das durfte sich nicht wiederholen. Sie hatte auch gesehen, wie Monika sich mit einer Umarmung von Mark verabschiedet hatte. Sie war nicht eifersüchtig. Doch dass Monika heute Abend auch für Mark gebetet hatte, das hatte sie überrascht und machte sie umso nachdenklicher. Nimm es nicht so ernst, ermahnte sich Claudia selbst. Monika steht noch ganz unter dem Eindruck ihrer schlimmen Erlebnisse. Wenn etwas Zeit vergeht, wird sie ihn vergessen.

Was ist, wenn sie ihn nicht vergisst, schoss es Claudia durch den Kopf. Dabei musste sie sich eingestehen, dass sie sich vor einem Wiedersehen so sehr fürchtete.

Claudia überlegte, was sie tun sollte. Ihr kamen viele Ideen.

Vielleicht sollte ich mit Monika in Urlaub fahren?

Ich könnte mit ihr zu Janet ziehen, einige Tage, bis er wieder fort ist aus Waldkogel, denn schließlich macht er nur Urlaub.

Ich könnte all die Einladungen von Freunden annehmen, die mir nach Rudis Tod geschrieben hatten.

Ich könnte Doktor Martin Engler bitten, mich und Monika sofort in eine Mutter-und-Kind-Kur zu vermitteln.

Die Uhr auf dem Kirchturm der schönen Barockkirche in Waldkogel schlug Mitternacht. Claudia erschrak. Sie hatte Stunden damit verbracht, darüber nachzugrübeln, wie sie Mark aus dem Weg gehen konnte. Sie schaute hinauf in den Nachthimmel und flüsterte leise: »Rudi, es tut mir leid. Entschuldige! Ich weiß auch nicht, wie das kam.«

Claudia zog ihr Dreieckstuch enger um die Schultern. Es konnte die Umarmung nicht ersetzen, nach der sie sich sehnte. Sie fühlte sich so einsam.

Und plötzlich war sie mit ihren Gedanken wieder bei Mark. Er hat wohl gerade eine gescheiterte Beziehung hinter sich, der Arme, dachte sie. Wenn einem der liebste Mensch genommen wird, ist es schlimm und man muss sich damit abfinden. Aber wenn ein Mensch einen enttäuscht, dann ist das sicherlich auch sehr schmerzlich. Diese Miriam war nicht ehrlich, hatte Mark ihr gesagt, erinnerte sich Claudia. Das kann viel bedeuten, überlegte sie. Hatte sie ihn bestohlen, betrogen, übel hintergangen? Claudia überlegte. Was es auch war, was diese Miriam gemacht hatte, es war dumm. Wie konnte sie nicht sehen, was für ein wunderbarer Mensch Mark ist? Ja, manche haben das große Glück und treten es mit Füßen, sagte sich Claudia.

Claudia verglich Rudi mit Mark. Sie waren sehr unterschiedlich, hatten aber doch Gemeinsamkeiten. Sie liebten beide die Berge. Mark konnte auch gut mit Monika umgehen.

Vielleicht sollte ich Monika Marks Nähe lassen, bis er wieder abreist? Claudia grübelte. Kinder brauchen auch eine männliche Bezugsperson, überlegte sie. Außerdem war Monika offenbar in Marks Nähe glücklich.

Claudia seufzte leise.

Sie gestand sich ein, dass sie Angst hatte, unheimlich große Angst, dass in ihr Gefühle aufkeimen würden, zu denen sie sich nicht bekennen wollte, weil sie sich vorgenommen hatte, niemals mehr für einen Mann Gefühle aufzubringen. Ihre Liebe hatte ihrem Rudi gegolten, dem wunderbaren Vater ihres gemeinsamen Kindes. Es war eine ganz besondere Liebe gewesen, trotz des Altersunterschieds. Rudi war so jung im Herzen gewesen. So voller Übermut und Unbeschwertheit konnte er sein, dass sie oft den Altersunterschied vergaß.

Claudia spürte, wie sie langsam die Müdigkeit übermannte. Sie ging in die Almhütte und schloss die Tür. Zur Sicherheit hängte sie eine kleine Kuhglocke an den Türgriff. Sollte Monika versuchen, sich erneut davonzustehlen, so hoffte Monika, durch das Geräusch geweckt zu werden. Sie löschte das Licht und ging in ihre Kammer. Sie drückte einen Kuss auf Rudis Bild auf dem Nachttisch und kuschelte sich in die Federn. Sie war müde und schlief gleich ein.

*

Mark war nach dem Abendessen auf der Terrasse sitzen geblieben, auch als sich die anderen Hüttengäste zurückzogen.

»Willst net schlafen gehen?«, fragte Toni.

Mark, der tief in Gedanken war, erschrak und zuckte zusammen.

»Nein! Ich kann nicht schlafen. Ich müsste schlafen. Ursprünglich hatte ich vor, morgen auf den Gipfel des ›Engelssteigs‹ zu klettern. Aber ich werde den Aufstieg um einen Tag, vielleicht auch um einige Tage verschieben.«

Mark warf Toni einen Blick zu.

»Du hast selbst gesagt, Toni, wenn man mit seinen Gedanken mit etwas sehr beschäftigt ist, dann soll man die Gipfel, Gipfel sein lassen, richtig?«

»Ja, das war mein Rat! Geht dir die Sache mit der Miriam immer noch durch den Kopf?«

Mark grinste.

»Miriam? Miriam, wer ist das? Wer war sie? Ach ja, jetzt erinnere ich mich undeutlich. Sie ist eine meiner Verflossenen, wie das im Leben manchmal so passiert«, lachte Mark.

Sie mussten beide schmunzeln.

»Hast du Zeit, Toni? Trinken wir noch ein Bier zusammen?«

»Sicher, gern! Setzen wir uns rein, an den Kamin?«

Mark und Toni gingen in die Berghütte. Während Toni zwei Bier zapfte, legte Mark Holz in die Glut des Kamins. Er streichelte Bello, der auf seinem Lieblingsplatz vor dem Kamin lag.

Toni kam und reichte Mark den Bierseidl. Sie prosteten sich wortlos zu und tranken.

»Toni, ich bin schon den ganzen Tag am Überlegen, ob ich noch wirklich nach Wien gehen soll. Ich könnte auch mit Vater sprechen und zum Beispiel eine Filiale in Kirchwalden eröffnen. Ich grüble schon den ganzen Abend darüber nach. Ich könnte mir hier eine Wohnung suchen. Was hältst du davon?«

Toni unterdrückte ein Schmunzeln.

»Woher der Sinneswandel? Haben dich die Berge so verzaubert, dass du ein Waldkogeler werden willst?«

Mark grinste verlegen.

»Die Berge, ja ja, die Berge auch. Da findet man so allerlei Interessantes und Schönes, was einem dann packt und nicht mehr loslässt.«

Toni gab sich bewusst etwas unbedarft. Er warf einen Blick auf die Wanduhr in der Wirtsstube der Berghütte.

»Mark, es ist schon spät. Vielleicht bin ich auch nicht mehr so aufnahmefähig, aber ich verstehe nicht, was du mir damit sagen willst.«

Mark trank einen Schluck Bier.

»Gut, Toni, dann will ich es anders ausdrücken. Auch wenn ich mich bisher davor scheute.«

Toni musste Geduld aufbringen. Mark schaute in die Flammen des Kaminfeuers und Toni sah, dass er sich jedes Wort genau überlegte.

»Toni, ich will es so sagen. Die kleine Monika hat sich einen festen Platz in meinem Herzen erobert. Ich bin einfach vernarrt in des kleine herzige Madl.«

Mark atmete tief ein.

»Ihre Mutter, die Claudia, die hat es mir nicht minder angetan. Der Himmel stehe mir bei, aber die Claudia, die hat eine Ausstrahlung, dass mir fast das Herz stehen geblieben ist, als ich sie gesehen habe. Dabei sieht sie im Augenblick so blass und schmal aus. Toni, ich kann es nicht verstehen, ich kann es nicht glauben. Aber je länger ich darüber nachdenke, desto mehr muss ich es mir eingestehen. Toni, ich denke, ich habe mich in die Claudia verliebt. Ich hatte nicht vor, mich zu verlieben. Ich suchte nicht nach einem Ersatz für Miriam, ganz im Gegenteil. Ich war überhaupt nicht auf der Pirsch, wenn du es so nennen willst. Toni, ich schwöre dir, des war ganz eigenartig. Wir sahen uns an, gaben uns die Hand und dann ist etwas geschehen, das ich schlecht beschreiben kann. Ich kann dir das nur mit einem Vergleich aus der Physik annähernd, nur ungefähr, wie bei einem Experiment, aufzeigen. Also stelle dir vor, da gibt es einen großen Tisch. Er ist aus Holz, also nicht magnetisch. An beiden Querseiten des Tisches werden zwei starke, sehr starke Magnete so platziert, dass, wenn man sie loslässt, sie durch die gegenseitige Anziehungskraft sich aufeinander zubewegen und nichts kann sie aufhalten. Dann hängen sie zusammen und es kostet viel Kraft, sie zu trennen, verstehst du?«

Toni trank schnell einen Schluck Bier, um ein Lachen zu unterdrücken.

Er räusperte sich.

»Ja, ich verstehe dich genau, Mark. Diesen Vorgang bei Menschen habe ich schon oft beobachtet, und außerdem mit der Anna selbst erlebt. Dafür gibt es ein Wort. In einem Kreuzworträtsel würde stehen: Anziehungskraft bei Menschen mit fünf Buchstaben!«

»L – I – E – B – E!«, buchstabierte Mark und nahm dabei seine Finger zur Hilfe.

Er nickte und lächelte verträumt.

»Ja, das Wort heißt ›Liebe‹, Toni. Ich gebe es zu, mir gegenüber und dir gegenüber. Ich habe mich in Claudia verliebt.«

Toni schaute Mark ernst an.

»Mark, ich freue mich für dich, dass die Liebe wieder dein Herz erfasst hat, aber ich bin auch verwirrt.«

»Warum bist verwirrt?«

»Weil ich immer sage, dass die Liebe die Herzen zusammenführt, die zusammengehören. Aber Claudias Herz gehört immer noch ihrem Rudi.«

»Das ist mir klar. Doch ich kann nichts dafür, dass ich mich in sie verliebt habe. Ich weiß, dass ich Geduld haben muss. Deshalb denke ich, es wäre vielleicht gut, wenn ich in ihrer Nähe wäre.«

»Eine Garantie, dass deine Geduld belohnt wird, gibt es nicht, Mark.«

Toni trank einen Schluck Bier und redete weiter.

»Früher, zur Zeit meiner Großeltern, da war es sehr selten, dass eine Witwe wieder heiratete. Sie hielt ihrem Mann die Treue, besonders, wenn sie finanziell unabhängig war. Wenn eine junge Witwe heiratete, dann war es meistens keine Liebesheirat, sondern eine Zweckheirat. Er versorgte sie und die Halbwaisen und sie schenkte ihm noch weitere Kinder.«

»Das weiß ich!«

»Claudia ist jung, Mark. Vielleicht hast du irgendwann eine Chance. Aber ich will dir keine Hoffnung machen, die sich dann nicht erfüllt. Sicher darfst du um sie werben, das ist das gute Recht eines verliebten Burschen. Dir muss dabei nur klar sein, dass du erstens nicht so vorgehen kannst wie bei einem anderen Madl, das keine Witwe ist, und zweitens, dass sie dich vielleicht auch mag, aber trotzdem nie und nimmer deine Frau wird.«

Mark seufzte.

»Ich weiß, dass es schwer werden wird. Aber ich denke, dass vielleicht ein Sinn hinter allem steckt. Ich hatte nie vor, euch zu besuchen, war auf dem Weg nach Wien. Da kam mir die Idee, einen Umweg über Waldkogel zu machen. Dann ging ich wandern. Es war ein schöner heißer Tag. Ich saß länger als ich es vorhatte oben auf einem Felsenvorsprung und betrachtete das Tal. Dann kamen die schwarzen Unwetterwolken und mir war klar, dass ich es nicht bis zur Berghütte schaffen würde. So verbrachte ich die Nacht in einer Schutzhütte, ganz in der Nähe der Stelle, an der Monika im Wald lag und weinte. Hatte da der Himmel nicht die Hand im Spiel? Sieht es nicht so aus, als wollte er, dass ich über viele Umwege und Widrigkeiten mit Claudia zusammentreffe?«

»So könnte man es deuten, Mark.«

»Ich sehe es so, denn auf normalem Wege wäre ich Claudia nie begegnet und wenn, wären wir sicherlich nicht so ins Gespräch gekommen. Vielleicht war es der Plan der Liebe, die auf diese Weise Claudia austricksen wollte und mich auch?«

»Du klammerst dich an den Gedanken?«

»Ja! Ich bin so verliebt in Claudia, dass ich jeden Strohhalm ergreife, der sich mir bietet. Ich hoffe nur, die Liebe, die Vorsehung, das Schicksal, nenne es wie du willst, hat noch einige Tricks bereit. Ich muss ihr näherkommen. Claudia ist wie eine schöne Blume ohne Wasser. Sie ist wie eine Rose, die im Augenblick irrtümlich in einer Wüste steht. Toni, gib mir einen Rat. Was würdest du an meiner Stelle machen?«

»Das darfst du mich nicht fragen, Mark. Ich kann dir keinen präzisen Rat geben. Ich kann dich nur bitten, vorsichtig zu sein. Du wirst sie sicherlich auf der Enzian Alm besuchen.«

Mark nickte.

»Ich habe Monika ein Foto vom Gipfel versprochen. Das Versprechen halte ich.«

»Gut so, etwas anderes habe ich auch nicht erwartet. Musst sehr einfühlsam sein, Mark, schätze ich. Vielleicht ergibt sich eine Gelegenheit, in der du Claudia von deinen Gefühlen erzählen kannst. Sage ihr, was du empfunden hast und empfindest und sage ihr, dass du warten kannst. Bitte sie, darüber nachzudenken. Mehr kannst du nicht tun, Mark. Aber es wird gut sein, dass sie weiß, dass du sie liebst. Oder schreibe ihr einen Brief. Dann bringst du sie vielleicht nicht so in Verlegenheit.«

»Mei, Toni, das ist gut! Ich schreibe ihr einen Brief. Siehst du, jetzt hast du mir doch einen Rat gegeben und was für einen guten Rat! Ich kann nur hoffen, dass sie meinen Brief auch liest.«

»Wenn du willst, gebe ich ihr den Brief. Dann kann ich ja später mal so beiläufig fragen, was du ihr geschrieben hast.«

»›Mit dir kann man Pferde stehlen‹, wie man sagt. Bist ganz schön raffiniert, Toni!«

»Naa, raffiniert bin ich net. Ich bin nur praktisch, verstehst?«

Mark und Toni schmunzelten. Sie hoben die Bierseidl und tranken sich zu.

Danach redeten sie über Marks Gipfeltour. Sie sahen sich eine Karte an. Toni erklärte Mark die einzelnen Aufstiegsmöglichkeiten. Es war schon eine Weile her, dass Mark den Gipfel erklommen hatte. Damals war er als Teilnehmer einer Seilschaft mit einem erfahrenen Bergführer unterwegs gewesen. Dieses Mal wollte er im Alleingang den Gipfel des »Engelssteigs« bezwingen. Er wollte schon in der Dunkelheit losgehen, damit er bei Sonnenaufgang schon weit oben war und nur noch die steile, fast senkrechte Felswand zu erklimmen hatte.

»Toni, ich möchte, – ob es wahr wird, weiß ich nicht, – ich möchte einen Augenblick nur oben auf dem Gipfel allein sein. Ich möchte mit den Engeln reden dort oben und Monikas Bild in das Gipfelbuch kleben, ohne von jemandem angesprochen zu werden.«

Toni nickte ihm zu. Er verstand ihn.

»Wann willst du gehen? Übermorgen?«

»Wenn das Wetter gut ist.«

Toni stand auf und ging in die Küche. Er holte das Belegungsbuch der Berghütte, in dem alle Anmeldungen notiert waren.

»Übermorgen ist ein guter Tag. Da hat sich hier keine Seilschaft eingetragen. Falls dir einige Bergler folgen wollen, dann werde ich sie ein bissel aufhalten. Mir wird schon etwas einfallen. Musst nur diskret sein morgen und net rumerzählen, dass du übermorgen ganz früh los willst.«

»Ich verstehe! Ist wohl besser, dass ich nicht frage, wie du die Bergkameraden zurückhalten willst?«

»Genau! Und jetzt trinken wir aus, und ich gehe ins Bett. Du spülst die beiden Gläser und machst das Licht aus. Gute Nacht, Mark und träume von Claudia!«

»Danke, Toni! Gute Nacht! Ich werde sicherlich von ihr träumen und auch von Monika. Dagegen kann sie nichts machen. Außerdem glaube ich daran, dass die Liebe eine Chance hat.«

»›Glaube kann Berge versetzen‹, heißt es«, sagte Toni leise.

Er trank aus und stand auf. Er rief nach Bello, der vor dem Kamin lag und schlief. Bello erhob sich langsam und trottete hinter Toni her.

Mark blieb noch einen Augenblick am Kamin sitzen. Dann ging er hinaus auf die Terrasse. Er sah lange hinauf auf den Gipfel des »Engelsteigs«. Das Gipfelkreuz war im Mondlicht gut zu sehen. Er schickte alle Gedanken hinauf, die er im Herzen trug, und gab sie den Engeln mit. Dann ging er schlafen.

*

Am nächsten Tag wanderte Claudia zusammen mit ihrer Tochter von der Enzian Alm hinunter nach Waldkogel. Als sie den Marktplatz überquerten und gerade am Pfarrhaus vorbeikamen, hielt Pfarrer Zandler in seinem alten Auto. Seine Haushälterin Helene Träutlein war bei ihm. Der Geistliche stieg aus und ging auf Claudia und Monika zu.

»Grüß Gott, Claudia!«

»Grüß Gott, Herr Pfarrer! Das ist meine kleine Tochter Monika.«

Monika gab ihm die Hand machte einen Knicks.

»So, so, du bist also die kleine Ausreißerin, die uns alle so in Atem gehalten hat.«

»Ich bin keine Ausreißerin. Ich wollte nur den Engeln entgegengehen und habe mich verlaufen«, verteidigte sich Monika und setzte eine Schmollmiene auf.

»Ich weiß, Moni! Aber die Engel sind überall. Denen musst net entgegenlaufen«, lächelte der Geistliche. »Wo willst du jetzt hin? Gehst mit deiner Mama spazieren?«

Monika schüttelte heftig den Kopf.

»Wir stellen in der Kirche eine Kerze auf. Wir gehen einkaufen und ich gehe noch spielen.«

»Das ist schön! Ich komme aus Kirchwalden. Dort habe ich auch eingekauft.«

Claudia sah, wie Helene Träutlein die Taschen ins Haus trug.

»Herr Pfarrer Zandler, ich habe eine Bitte an Sie. Vielleicht ist es eine zu große Bitte. Aber ich wünsche mir ein wenig Schutz. Es dauert auch nicht lange, vielleicht zehn Minuten?«

Pfarrer Zandler sah Claudia verwundert an. Sie errötete.

»Sie können mich ruhig für feige halten, aber ich will später, im Trachten- und Andenkenladen Boller, für Mark, ich meine, für Herrn Strasser, ein Geschenk kaufen. Frau Boller ist immer so neugierig. Ich vermute, sie weiß, dass meine Monika einen nächtlichen Ausflug gemacht hat. Ich will von ihr nicht in ein Gespräch verwickelt werden«, seufzte Claudia und fügte hinzu. »Ich hoffe, Sie verstehen mich. Es muss auch nicht heute sein, wenn Sie keine Zeit haben.«

»Sicher habe ich Zeit. Du kannst sicher sein, dass Veronika Boller keine neugierigen Fragen stellt, wenn ich dabei bin. Klingle einfach am Pfarrhaus! Was willst du Mark kaufen?«

»Ich dachte an einen schönen neuen Rucksack. Er hatte seinen aufgeschnitten, um Monika besser tragen zu können.«

»Das ist eine gute Idee!«

Monika zupfte an der Strickjacke ihrer Mutter.

»Wir haben doch einen Rucksack. Das ist genau so einer wie Mark seiner. Den können wir Mark schenken.«

Claudia schaute ihre Tochter mit großen Augen an. Dabei schoss ihr das Blut in die Wangen.

»Aber, Moni, das ist doch Papas Rucksack. Das geht nicht!«

»Warum, Mama? Ist Papa im Himmel böse, wenn wir Mark seinen Rucksack geben?«

Claudia seufzte. Sie wusste nicht, was sie ihrer kleinen Tochter antworten sollte. Es hatte sie sehr getroffen, dass Monika Rudis Rucksack Mark geben wollte.

»Nein, dein Papa wäre sicherlich nicht böse. Aber ich will es nicht.«

»Warum, Mama?«

»Weil man keine gebrauchten Sachen verschenkt.«

»Das stimmt nicht! Tante Janet gibst du auch Sachen. Du hast Tante Janet alle deine bunten Kleider geschenkt.«

»Bei Tante Janet ist es etwas anderes. Tante Janet ist eine liebe Freundin.«

»Mark ist mein Freund! Ist er nicht dein Freund?«

Pfarrer Zandler hatte aufmerksam zugehört. Er sah, wie schlimm es für Claudia war, die kindlich direkten Fragen ihrer kleinen Tochter zu beantworten. Claudia hatte einen hochroten Kopf und fühlte sich von ihrer Tochter in die Enge getrieben. Hart sagte sie: »Monika, jetzt genug der Fragerei! Ich habe gesagt, wir kaufen einen neuen Rucksack und dabei bleibt es.«

»Du kannst Mark nicht leiden«, sagte Monika leise und schaute unter sich.

»Monika«, sprach Pfarrer Zandler sie an. »Ich habe eine Idee. Du hilfst jetzt meiner Haushälterin etwas in der Küche. Das kannst du schon. Ich habe noch mit deiner Mama zu reden. Deine Mama und ich, wir setzen uns jetzt in den Garten hinter das Pfarrhaus. Sag meiner Haushälterin, Helene heißt sie, sie soll uns Kaffee und Kuchen bringen. Du bist ein braves Mädchen und hilfst der Helene, bis ich dich rufe.«

Monika nickte eifrig und rannte ins Pfarrhaus.

Pfarrer Zandler ging mit Claudia in den Garten. Sie setzen sich an den Tisch unter dem Apfelbaum. Es dauerte nicht lange, dann brachte Helene Träutlein Kaffee und Kuchen. Pfarrer Zandler schenkte Claudia und sich Kaffee ein. Der Kuchen schmeckte gut. Es war ein Apfelkuchen mit Streuseln.

Nach einer Weile sagte Pfarrer Zandler: »So, meine liebe Claudia, es ist an der Zeit, dass wir reden. Ich habe den Eindruck, dass ein ganz schönes Durcheinander in deinem Herzen herrscht und dieses Chaos, wie ein Tonnengewicht auf deiner Seele lastet.«

Claudia legte ihre Kuchengabel hin. Sie lehnte sich auf dem Stuhl zurück und legte ihre Hände in den Schoß.

»Es ist nicht einfach als Alleinerziehende, besonders wenn man so jung Witwe geworden ist«, sagte sie leise.

»Das verstehe ich! Dein verstorbener Mann muss ein ganz besonderer Mensch gewesen sein. Als du schliefst, hatte ich mir das Bild auf deinem Nachttisch angesehen und auch das Fotoalbum betrachtet, das im Wohnraum der Almhütte auf dem Tischchen neben dem Sofa lag.«

»Ja, Rudi war etwas Besonderes. Er hat immer zu mir gehalten und dafür auch viel Kummer und Ärger mit seiner Familie gehabt. Seine Eltern mochten mich nicht. Als wir uns kennenlernten, ging ich noch zur Schule. Nach meinem Abitur haben wir geheiratet. Dann wurde ich mit Monika schwanger. Er trug mich und später Monika auf Händen. Warum musste er so früh gehen?«

Claudia kämpfte mit den Tränen.

»Weine ruhig, wenn es dir hilft! Ich kann dir deine Frage nicht beantworten, Claudia. Es hat auch keinen Sinn, wenn du darüber grübelst. Es ist so, dass es vieles gibt, was uns Menschen unverständlich ist und wir als ungerecht ansehen. Doch wir müssen uns damit abfinden.«

»Das sage ich mir jeden Tag. Es ist so schwer.«

»Wie lange bist du jetzt schon mit Monika allein?«

»Nächste Woche sind es zwei Jahre.«

»Du trauerst noch sehr. Gehst immer noch in tiefem Schwarz, obwohl das Trauerjahr schon lange zu Ende ist.«

»Was soll ich sonst tun? Trauern ist doch die einzige Form, in der ich zeigen kann, wie sehr ich ihn geliebt habe.«

Monika senkte den Blick. Sie errötete.

»Außerdem gibt mir die Trauerkleidung Schutz. Ich werde mit Respekt behandelt.«

»Ah, ich verstehe! Du hast Angst, dass du als junge alleinstehende Frau mit Kind schief angesehen wirst.«

»Das auch!«

Claudia seufzte. »Es sind auch die Burschen«, sagte sie leise. »Ich will nicht, dass sie mir nachsehen, mich ansehen. Ich kann mir doch kein Schild umhängen, damit sie wissen, dass sie mich in Ruhe lassen sollen.«

Pfarrer Zandler betrachtete Claudia. Er schmunzelte.

»Claudia, es gibt Leute, die glauben, ich könnte junge Madln nicht beurteilen. Sie irren sich, vertraue ich dir jetzt mal an. Du bist ein sehr fesches junges Madl und ich kann verstehen, dass du den Burschen gefällst. Es ist doch nicht schlimm. Du musst dich doch für deine Schönheit, die ein Geschenk des Himmels ist, nicht schämen.«

»Darum geht es nicht, Herr Pfarrer, das wissen sie genau. Ich will nicht, dass irgendein Bursche versucht, mit mir anzubändeln. Anbändeln, so sagt man doch in den Bergen, richtig?«

»Richtig! Aber genauso wenig, wie du einen Einfluss darauf hattest, dass der Herrgott deinen Rudi zu sich geholt hat, genauso wenig kannst du etwas daran ändern, wenn er einem Burschen die Liebe zu dir ins Herz gibt.«

»Ich weiß, dass ich nichts dagegen machen kann oder nur wenig. Ich kann mich taub stellen. Ich will keinen anderen! Ich hatte meinen Rudi. Das war gut und ich halte ihm die Treue. Das hat er verdient. Wie soll ich sonst sein Andenken ehren?«

»In dem du dich wieder dem Leben zuwendest. Denkst du nicht, dass dein Rudi wollte, dass du lebst und glücklich bist?«

»Das bin ich! Es ist alles gut und richtig, so wie es ist!«

Pfarrer Zandler hätte am liebsten auf den Tisch gehauen und ein autoritäres Machtwort gesprochen. Doch er wusste, wie verletzlich Claudia war und deshalb blieb er ruhig.

»Wenn du dich wieder dem Leben zuwendest und vielleicht auch irgendwann die Liebe eines anderen Mannes in dein Herz lässt, dann bedeutet das nicht, dass du Rudi vergisst. Du schiebst ihn damit nicht zur Seite. Du betrügst ihn nicht. Er wird immer seinen Platz in deinem Herzen haben, Claudia. Er lebt auf seine Weise in Monika weiter, die ein Teil von ihm ist.«

Claudia schwieg. Sie schaute auf ihre Hände, während sie weiter Pfarrer Zandler zuhörte.

Er versuchte, ihr verständlich zu machen, dass eine neue Liebe etwas anderes sei, dass sie anders sein würde, als die alte.

»Jede Liebe ist auf eine ganz besondere Art und Weise einzigartig und lässt sich nicht vergleichen«, sagte der Geistliche.

Er gab Claudia zu bedenken, dass Monika größer werden würde. Sie würde sich eines Tages auch verlieben und dann darüber nachdenken, warum ihre Mutter die Einsamkeit gewählt hatte. Außerdem nehme Claudia Monika so auch die Chance mit Geschwistern aufzuwachsen und ein richtiges Familienleben kennenzulernen.

»Man sagt zwar, dass ein Elternteil den anderen ersetzen muss. Das ist aber nur begrenzt möglich, Claudia. Wenn dir eines Tages ein liebendes Herz begegnet, das dich liebt und verehrt, das deine kleine reizende Tochter liebt, dann verschließe dich den Gefühlen nicht, wenn die Liebe an deine Herzenstür anklopft. Die Liebe ist immer ein Geschenk des Himmels, Claudia. Wenn sie kommt, dann hat das einen Sinn. Der Herrgott will dir einen, euch beide liebenden Menschen an die Seite geben, da bin ich ganz sicher. Dieser Mensch wird wissen, dass es einen unsichtbaren Dritten gibt, der immer in einem Winkel deines Herzens einen Platz haben wird, weil es Monika gibt. Rudi wird immer Monikas Vater bleiben, den sie lieb hat. Kinder haben ein großes Herz. Sie machen sich viel weniger Gedanken als wir überklugen neunmalgescheiten Erwachsenen. Kinder können einen weiteren Menschen lieben, ohne Schuldgefühle einem anderen Menschen gegenüber, den sie verloren haben.«

Claudia schaute kurz auf. Ihre Wangen waren tiefrot gefärbt.

»Wie heißt es in der Bibel? ›Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen‹, das soll kein Tadel sein, Claudia. Es soll eine Ermutigung sein.«

Pfarrer Zandler sprach weiter. Er erzählte, dass er am frühen Morgen auf der Berghütte angerufen hatte. Er hatte sich bei Toni erkundigen wollen, wie es Monika ginge.

»Ich habe mich sehr gefreut, dass sie sich so schnell erholt hat.«

Dann erzählte der Geistliche, dass Toni ihm erzählt habe, wie Monika an Mark hängt und auch er an dem Kind. Dass Mark auf den Gipfel des »Engelssteigs« will, um Monikas Bild hinaufzubringen.

»Ich denke, Mark hat Monika fest ins Herz geschlossen, Claudia und Monika ihn wohl auch. Wie denkst du darüber? Eigentlich ist das eine unnötige Frage, denn ich habe deine Angst gesehen, als Monika meinte, Mark den Rucksack ihres Vater schenken zu können.«

»Ja, es stimmt. Monika hat Mark tief ins Herz geschlossen. Die beiden haben sich irgendwie gefunden. Wenn man sie zusammen sieht, dann schaute es aus, als gehörten sie zusammen.«

Claudia erzählte dem Pfarrer, wie Monika begeistert nach Mark gerufen hatte und ihm entgegengelaufen war und wie er sie aufgefangen hatte.

»Und gestern Abend wollte sie auch noch ein kleines Nachtgebet sprechen für Mark, was sie dann auch tat.«

»Na siehst du, Claudia! Das ist doch sehr schön. Und wie steht es mir dir? Was empfindest du für Mark? Aber welchen Eindruck hat er bei dir hinterlassen?«

»Ich möchte nicht, dass er ein Gefühl bei mir hinterlässt. Das ist nicht richtig. Deshalb wollte ich Sie fragen, ob sie Mark in meinem und Monikas Namen den Rucksack geben könnten?«

»Nein, nein und nochmals nein! Wenn ich mich dazu bereit erklären würde, dann wäre ich ein schlechter Hirte. Claudia, jetzt werde ich mal deutlicher. Du willst dich nur drücken! Du hast Angst, dass du deine Gefühle nicht mehr unter Kontrolle halten kannst.«

Claudia seufzte.

»Auch wenn es kein Unrecht ist, wenn ich mich – rein theoretisch – vielleicht wieder verlieben könnte, so weiß ich nicht mehr, was ich tun soll, was richtig ist. Mit Rudi damals war es so einfach. Unsere Herzen flogen einfach einander zu.«

»Du solltest endlich Frieden machen mit dem, was geschehen ist. Mir kommt es vor, als wolltest du dich für etwas bestrafen. Es ist doch unnatürlich, dass sich ein Mensch so gegen liebe Gefühle wehrt.«

Claudias Augen füllten sich mit Tränen.

»Rudi war Architekt. Die Baustelle, die er an diesem Tag betreute, war sehr weit weg. Er rief abends an und sagte, dass es schlimm regnete und er vielleicht erst am nächsten Tag zurückfahren könne. Er wollte noch etwas warten und mich wieder anrufen. Ich wollte, dass er kommt und redete die Gefahr auf der Straße bei dem Unwetter klein. Rudi konnte mir keine Bitte abschlagen. Er fuhr los.«

Claudia schluchzte.

»Aber er kam nie an. In den frühen Morgenstunden läutete die Polizei mit einem Seelsorger an meiner Tür. Das habe ich noch niemandem erzählt. Ich trage die Schuld, ich habe ihn überredet! Ich hätte nicht so egoistisch sein dürfen. Ich hätte ihm zureden sollen, die Nacht im Hotel zu verbringen.«

Claudia weinte bitterlich. Pfarrer Zandler ließ sie weinen.

»Du hast keine Schuld, Claudia. Dich trifft keine Schuld! Keine! Hörst du?«

Claudia zuckte mit den Schultern.

»Mir steht es nicht zu, Kritik zu üben an dem, was Sie sagen, Herr Pfarrer. Sie meinen es sicher gut. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass ich die Schuld an Rudis Tod trage und dass Monika keinen Vater mehr hat.«

»Ich verstehe dich, Claudia. Trotzdem ist es Unsinn. Aber wenn es deine feste Meinung ist, müsstest du dann nicht alles tun, damit Monika einen Ersatzvater bekommt?«

Monika seufzte.

»Ich kann doch nicht irgendeinen Burschen heiraten, nur, damit Monika einen Ersatzvater bekommt. Das kann nicht ihr Ernst sein, oder?«

»Gütiger Himmel, stehe mir bei!«, rief Pfarrer Zandler aus und schaute hinauf in den blauen Himmel über Waldkogel. »Das Madl hier hat ein Talent, mir die Worte im Mund herumzudrehen.«

Sie schwiegen beide eine Weile und aßen den Kuchen zu Ende. Pfarrer Zandler, der von Toni mehr wusste, als er Claudia sagen konnte, hatte sich etwas überlegt.

»Claudia, wir gehen jetzt einkaufen. Wir kaufen für Mark einen Rucksack und dann kleidest du dich neu ein. Bunt!«

Claudia riss die Augen auf und starrte ihn an.

»Schau nicht so! Wenn du nicht genug Geld hast, dann rede ich mit Veronika Boller. Du kannst bei ihr anschreiben lassen.«

»Es geht nicht ums Geld!«

»Gut, dann sind wir uns einig! Dein Trauerjahr ist vorbei. Du kehrst jetzt wieder ins Leben zurück, das sage ich dir. Ich will dich nicht mehr in den dunkeln Sachen sehen. Höchstens an hohen kirchlichen Feiertagen darfst du dich etwas dunkler kleiden, aber auch nur dann. So, wie ich Monika verstanden habe, hast du deine bunten Sachen alle deiner Freundin Janet gegeben. Ist es so?«

Claudia brachte kein Wort heraus. Sie nickte nur.

»Hast du jetzt zu meiner Frage genickt oder hast du dein Einverständnis gegeben? Ist auch egal. Du bist ein trauriges und verirrtes Schäfchen, das sich am liebsten unsichtbar machen würde. Aber ich, als Schäfer, verpasse dir jetzt eine große bunte Schleife und ich dulde keinen Widerspruch. Aufi! Trink deinen Kaffee aus. Dann gehen wir!«

»Aber Herr Pfarrer …«

»Nix, da! Es wird gemacht, wie ich es gesagt habe.«

Pfarrer Zandler rief nach Helene Träutlein. Sie sah aus dem Küchenfenster.

»Wir gehen in den Laden zu Veronika. Schick die Monika heraus, Träutlein!«

Kurz darauf betrat Pfarrer Zandler mit Claudia und Monika das Geschäft. Veronika Boller bediente eine Kundin und ihr Mann Franz war auch beschäftigt. So grüßten sie Pfarrer Zandler nur nebenbei. Das passte ihm gut. Der Geistliche schob Claudia und Monika in die Ecke mit den Rucksäcken.

»So, meine Damen! Welcher soll es sein?«, fragte er.

Monika schaute sich um und ergriff gleich den größten Rucksack.

»Der hier ist sehr schön. Mama, bitte!«

Claudia fuhr ihrer Tochter über das Haar.

»Gut, wenn er dir so gut gefällt, dann nehmen wir ihn.«

Pfarrer Zandler lächelte zufrieden und trug den Rucksack zur Kasse. Dort war Veronika in ein Gespräch mit der Kundin vertieft. Der Geistliche erkannte sofort, dass es nicht ein Verkaufsgespräch war, sondern es sich um Klatsch und Tratsch handelte. Er packte Veronika kurzerhand am Arm.

»Ich muss hier mal unterbrechen. Ihr könnt ein anderes Mal reden. Ich brauche dich, Veronika.« Er wandte sich an die Kundin und sagte: »Gott zum Gruß«, bevor er Veronika von ihr fortzog und zur Seite nahm.

Pfarrer Zandler hielt sie am Arm fest und redete leise auf Veronika ein, die immer nur nickte. Dann kamen die beiden auf Claudia und Monika zu.

»Grüß Gott«, grüßte Veronika. »Herr Pfarrer Zandler hat mir anvertraut, dass die Trauerzeit vorbei ist und einige neue bunte Sachen her sollen.«

»Müssen!«, warf Pfarrer Zandler ein. »Monika, such du deiner Mama mal ein paar schöne bunte Kleider aus. Du bist doch ein kluges Madl und weißt sicher besser als ich, was deiner Mama gefällt.«

Die kleine Monika ließ sich das nicht zwei Mal sagen. Sie stürzte sich auf den Ständer mit den Dirndln.

Bald verschwand Claudia mit mehreren Dirndln in der Umkleidekabine. Sie verstand nicht, was Pfarrer Zandler draußen mit Veronika Boller flüsterte. Augenblicke später schaute diese in die Umkleidekabine, und nahm wortlos Claudias hochgeschlossenes schwarzes Kleid und die schwarze Strickjacke mit hinaus.

»Lassen Sie das hier«, schrie Claudia auf.

»Ruhe da drin!«, schallte Pfarrer Zandlers Stimme durch den ganzen Laden.

Die kleine Monika schlüpfte zu ihrer Mutter in die Kabine. Pfarrer Zandler hörte, wie die beiden leise tuschelten. Dann kam Claudia heraus. Sie trug ein mittelblaues Dirndl mit hellerer Schürze. Das hellblaue Mieder war mit Blumen bestickt. Die zartblaue Bluse mit halblangen Ärmeln und einem tiefen Ausschnitt stand ihr gut.

Claudia hatte einen hochroten Kopf. Mit flehenden Augen sah sie Veronika Boller an. Die verstand sofort, weil Claudia mit ihren Händen den tiefen Ausschnitt schützte.

»Des haben wir gleich! Ein schönes Umschlagtuch um die Schultern, dann fühlst dich gleich wohler, Claudia«, sagte Veronika, die einfach zum Du übergegangen war.

Sie brachte Claudia ein Dreieckstuch und steckte ihr es vorn mit einer schönen Spange zusammen.

»Sieht schon besser aus«, sagte Veronika. »So, jetzt geht es weiter.«

Unter den strengen Blicken von Pfarrer Zandler ließ Claudia Veronika machen. Sie probierte an und wenn Pfarrer Zandler nickte, landeten die Kleidungsstücke an der Kasse. Der Stapel wurde größer und größer. Es kamen Schuhe dazu, eine Wanderausrüstung und vieles mehr.

»So, jetzt reicht es!«, protestierte Claudia irgendwann völlig erschöpft.

Pfarrer Zandler sah sehr zufrieden aus. Er redete mit Veronika. Diese versprach, die Kleidung von Franz auf die Enzian Alm bringen zu lassen.

»Kann ich jetzt bitte mein schwarzes Kleid haben?«, fragte Claudia.

Pfarrer Zandler stemmte die Hände in die Seiten.

»Claudia, noch ein Wort und ich kann mich nimmer zurückhalten und stoße einen Fluch aus, dass es nimmer feierlich ist! Soll ich mich wegen dir versündigen? Des willst doch bestimmt net. Also gibst du jetzt Ruhe! Veronika, das schwarze Kleid, des tust einpacken.«

Claudia fügte sich. Sie verließ den Laden in dem blauen Dirndl. Die kleine Monika hatte auch ein neues Dirndl, ein Geschenk von Veronika Boller, sozusagen als Mengenrabatt.

Draußen sah Claudia Pfarrer Zandler an.

»Sie haben mich einer richtigen Gewaltkur unterzogen. Dürfen Sie so etwas?«

Pfarrer Zandler schmunzelte.

»Wenn es einem guten Zweck dient, darf ich noch viel mehr. Willst du des wissen?«

»Nein, bitte nicht! Ich bin völlig durcheinander!«

»Dann geh in die Kirche und sammle dich! Pfüat di, Claudia! Pfüat di, Monika! Wir sehen uns die Tage. Ich besuche euch auf der Enzian Alm. Moni, achte darauf, dass deine Mama die schönen Sachen auch anzieht!«

Die kleine Monika nickte eifrig. Sehr zufrieden ging Pfarrer Zandler zurück zum Pfarrhaus. Ich habe mir jetzt einen schönen Obstler verdient, dachte er. Das war vielleicht ein Stück Arbeit! Die Claudia ist so ein liebes und gutes Madl. Es wäre doch schön, wenn sie wieder die Sonne in ihrem Leben zulassen würde. Pfarrer Zandler hoffte, dass er ein wenig nachgeholfen hatte.

*

Toni stoppte seinen Geländewagen neben der Enzian Alm Hütte. Er stieg aus. Die Tür stand offen.

»Ist da wer?«, schallte es heraus.

Toni klopfte gegen den Türrahmen und trat ein.

»Oh, du bist es, Toni. Das ist eine Überraschung. Komm rein und setze dich. Einen Augenblick, bitte. Ich muss mir nur die Hände waschen.«

Toni sah, dass Claudia Teig geknetet hatte.

»Was backst du?«, fragte er.

»Monika hat sich einen großen Kuchen gewünscht, den sie in die Spielgruppe mitnehmen will. Sie geht jetzt jeden Nachmittag in die Spielgruppe.«

»Das ist schön, dann ist sie unter Kindern.«

Claudia wusch sich die Hände und lud Toni zu einem Tee ein. Kurze Zeit später saßen sie am Tisch.

»Claudia, ich bin nicht zufällig hergekommen.«

Sie lachte.

»Die Enzian Alm liegt auch zu abseits für einen zufälligen Besuch.«

Toni entnahm seinem Rucksack ein viereckiges flaches Päckchen. Es war in buntes Geschenkpapier eingepackt und mit einer grünen Schleife geschmückt, grün wie die Farbe der Hoffnung. Darunter steckte ein Briefumschlag. Toni schob es über den Tisch.

»Das soll ich dir und Monika geben – von Mark.«

»Danke! Ist er schon wieder abgereist?«

Toni schüttelte den Kopf und trank einen Schluck Kaffee. Er schmunzelte.

»Nein, er ist noch auf der Berghütte. Aber es ist etwas schwierig mit ihm. Ich will ganz ehrlich sein, Claudia. Mark sitzt den ganzen Tag auf der Terrasse und stiert vor sich hin. Was ich ihm auch sage und wie ich ihn auch ermuntere, es ist, als rede ich gegen eine Wand.«

Claudia schaute Toni überrascht an. »Was ist mit ihm? Er kam mir sehr locker vor, als wir uns auf der Berghütte begegnet sind.«

»Das ist etwas kompliziert. Es hat mit dir und Monika zu tun. Ich sage immer wieder zu ihm, er soll einfach mit dir reden. Aber er traut sich nicht.«

»Oh, habe ich ihn so erschreckt?«

»›Erschreckt‹ ist net richtig ausgedrückt, aber du hast bei ihm schon etwas in Gang gebracht, das ihn sehr beschäftigt. Also habe ihm geraten, dir einen Brief zu schreiben. In dem Packerl ist ein kleines Fotoalbum mit vielen Fotos, die Mark auf seiner Gipfeltour gemacht hat. Er hat dir einen Brief beigelegt. Ich weiß nicht, was er dir geschrieben hat, Claudia, mir ist nur bekannt, dass er dir einen Brief geschrieben hat. Ich bitte dich, ihn in aller Ruhe zu lesen und ihm zu antworten. Denke in Ruhe darüber nach. Dann rede mit ihm und wenn du das nicht möchtest, dann schreibe ihm. Mark ist ein lieber Bursche, eine ganz ehrliche Haut, wie man sagt. Er ist kein Hallodri, der Spielchen treibt, ganz im Gegenteil.«

»Er hat mir etwas angedeutet, dass eine junge Frau ihm übel mitgespielt hat, ohne dass er mir Näheres gesagt hat. Es scheint ihn sehr getroffen zu haben.«

»Was hat er dir erzählt?«

»Sie habe ihn betrogen, wobei das ein weiter Begriff ist. Das Wort ›betrogen‹ kann vieles bedeuten. Es muss ihn sehr geschmerzt haben«, sagte Claudia leise.

»Das hat es. Deshalb will er nach Wien übersiedeln.«

»Wien ist eine wunderbare Stadt. Ich war mit Rudi einmal einige Zeit dort. Er wird sich sicher bald heimisch fühlen.«

Toni sah eine Chance.

»Claudia, vielleicht könntest du ihm schreiben oder mit ihm reden, wie schön Wien ist. Mark sind nämlich inzwischen Zweifel gekommen. Er ist so unsicher.«

»Das kann ich gerne machen.«

Claudia stand auf und griff nach dem schönen Rucksack, der an der Wand hing.

»Monika hat ihm einen neuen Rucksack ausgesucht, weil er seinen doch aufgeschnitten hatte, als er Monika zur Berghütte trug. Kannst du den Rucksack mitnehmen und ihm geben, mit vielen lieben Grüßen von Monika und von mir?«

Toni schüttelte den Kopf. Er rieb sich das Kinn.

»Das halte ich nicht für eine so gute Idee, Claudia. Monika sollte ihm den Rucksack selbst geben.«

Claudia errötete.

»Ja, ich weiß. Wir haben ihn schon vor einigen Tagen gekauft. Ich weiß, dass wir ihn Mark persönlich geben sollten, bei allem was er für Monika getan hat.«

»Warum drückst du dich?«, fragte Toni direkt.

Claudia errötete. Sie stützte die Ellenbogen auf den Tisch und verbarg ihr Gesicht für einen Augenblick in den Händen.

»Gut, dann will ich mal ehrlich sein, Toni. Mark macht mich nervös.«

»Aha! Nervös im positiven oder negativen Sinn?«

Claudia seufzte.

»Wenn ich das nur wüsste! Es ist etwas sehr kompliziert.«

»Magst drüber reden? Es bleibt unter uns. Ich kann auch raten. Weißt, ich habe Augen im Kopf und Anna hat es auch gesehen.«

Toni schmunzelte. Sie sahen sich an.

»War es so offensichtlich?«

»Die Antwort kannst du dir selbst geben. Übrigens, ich habe gesehen, dass du ein buntes Dirndl trägst. Steht dir gut!«

»Mir blieb nix anderes übrig. Pfarrer Zandler hat mich unter Druck gesetzt. Er kommt jeden Tag vorbei, zu ganz unterschiedlichen Zeiten und schaut nach mir. Er kontrolliert mich. Er sagte, dass er meinen Kleiderschrank ausräumt und alle schwarzen Sachen mitnimmt, falls ich die bunten Kleider nicht anziehe.«

Toni lachte herzlich.

»Zandler kann auf eine liebenswerte Art ziemlich direkt sein. Aber er meint es nur gut. Außerdem ist Trauer eine innere Sache und hat nix mit Kleidern zu tun. Ich finde es gut, wenn du dich wieder mehr dem Leben zuwendest. Es ist auch gut für Monika.«

»Ja, das habe ich inzwischen auch eingesehen. Trotzdem fällt es mir noch sehr schwer.«

Toni stand auf.

»Claudia, du bist mit deiner Monika jederzeit herzlich willkommen auf der Berghütte. Ich hoffe, ihr kommt bald. Du würdest mir damit auch einen Gefallen tun. Jetzt muss ich gehen.«

»Ich werde darüber nachdenken, Toni. Danke, dass du gekommen bist und grüße mir alle, deine Anna, die Kinder, den alten Alois und Mark.«

»Das werde ich, und ich hoffe, dich wirklich bald zu sehen. Wie wäre es zum Beispiel heute Abend? Wir machen einen Hüttenabend. Es kommen viele aus dem Tal herauf. Es wird getanzt und es ist immer sehr schön.«

Noch bevor Claudia antworten konnte, sagte Toni: »Du kommst! Ich rechne fest mit dir und du bleibst über Nacht. Monika kann bei Franzi schlafen. Für dich reserviere ich eine Kammer. Also, bis zum Sonnenuntergang bist du oben! Ausreden lasse ich nicht gelten. Pfüat di, Claudia!«

»Also gut, eher gibst du ja doch nicht auf. Wir kommen!«

Toni stieß einen Jodler aus. Das Echo kam zurück.

»Das ist ein Wort, Claudia! Ich freue mich, wir freuen uns alle«, Toni blinzelte Claudia zu und fügte leise hinzu, »und der Mark, der freut sich bestimmt auch.«

Claudia errötete tief.

Toni ging zu seinem Auto, wendete und fuhr ab. Claudia sah ihm nach. Sie schaute auf die Uhr. Ihr Herz raste. Ihrer Wangen glühten. Angst beschlich sie, aber gleichzeitig freute sie sich darauf. Ich kann jederzeit gehen, tröstete sie sich und ließ sich damit ein Hintertürchen offen.

Claudia ging ins Haus zurück. Sie besah sich das Päckchen mit dem Brief. Doch zuerst schob sie den Kuchen in den Ofen. Dann machte sie sich eine Tasse Kaffee. Sie setzte sich vor der Almhütte an den Tisch. Es kostete sie viel Überwindung, den Brief zu öffnen.

Ihre Hände zitterten, als sie Marks Brief öffnete.

»Was für eine schöne, klare Handschrift er hat«, flüsterte sie leise vor sich hin.

Sie las.

Liebe Claudia,

ich hoffe, Dir und Monika geht es gut. Ich denke sehr viel an Euch, eigentlich pausenlos den ganzen Tag und die ganze Nacht, und dann träume ich von Euch.

Wie ich es Monika versprochen habe, war ich auf dem Gipfel des »Engelsteigs« und habe ihre Zeichnung hinaufgebracht. Beiliegend findest Du ein Fotoalbum mit allen Fotos meiner Gipfeltour.

Ich habe ein dickes Fotoalbum ausgesucht. Es hat noch viele leere Seiten für weitere Fotografien. Damit verbinde ich die Hoffnung, dass Du und Monika das Album weiterführt und viele glückliche Momente ablichtet und darin aufbewahrt.

Der britische Dichter und Theaterautor Alan Ayckbourn schrieb einmal über die Fotografie und das Leben:

›Erfahrungen sind wie Fotos:

aus Negativem wird Positives‹

Diesen Satz möchte ich Dir und Monika zurufen.

Liebe Monika,

ich weiß, dass es dabei immer auch auf das Motiv ankommt und sicherlich ist nicht jedes Negativ eine Erinnerung an einen glücklichen Augenblick. Du hast mir von Deinem Leben erzählt und ich möchte Dir hier meine Anteilnahme versichern. Mein größter Wunsch ist, dass Du und Monika künftig viel schöne und sehr glückliche Momente einfangen könnt. Dabei möchte ich Euch helfen. Ich hoffe, dass es einen Weg gibt, dass wir drei, Du, Deine wunderbare liebe kleine Tochter und ich, gemeinsam die leeren Seiten in diesem Album füllen und zusammen noch weitere Alben anfügen können.

Bitte lass mich wissen, wann wir uns zu einem ersten gemeinsamen Fototermin treffen können.

Ich freue mich darauf und hoffe und flehe zu den Engeln auf dem ›Engelssteig‹, dass sie Dir beim Lesen dieser Zeilen beistehen und Dein Herz auch die Worte lesen kann, die zwischen den Zeilen stehen und ich nicht zu schreiben wagte.

Dein Mark

Claudia ließ den Brief sinken. Sie schloss die Augen und drückte die Hand auf die Brust, als wollte sie ihr Herz festhalten. In ihrem Inneren walten Gefühle auf, die ihr fast den Verstand raubten. Claudia hatte die Worte zwischen den Zeilen gelesen. Sie waren tief in ihr Herz eingedrungen.

Nach einiger Zeit stand sie wie benommen auf und ging in ihre Kammer. Sie setzte sich auf das Bett und betrachtete Rudis Foto auf den Nachttisch.

Was soll ich machen? Du bist nicht mehr da. Monika mag Mark und ich mag ihn auch. Soll ich meinen Gefühlen nachgeben? Ach Rudi, was sagst du dazu? Ich bin so hin- und hergerissen.

Claudia sprach still mit Rudi, wie sie es schon so oft getan hatte.

»Hallo? Bist daheim, Claudia?«

Sie erschrak und stürzte hinaus.

»Pfarrer Zandler!«

»Himmel, Madl, was ist? Du schaust mich an, als wäre ich ein Geist.«

»Es tut mir leid. Ich war gerade mit meinen Gedanken sehr beschäftigt.«

»So, so, was du nicht sagst? Ich sehe, dass der Rucksack noch immer hier ist. Das sehe ich nicht gern.«

Claudia errötete. Sie faltete den Brief und steckte ihn ein.

»Toni, war hier. Heute Abend gibt er einen Hüttenabend. Er hat Monika und mich eingeladen. Wir werden gehen. Sind sie jetzt zufrieden, Herr Pfarrer Zandler?«

»Sehr zufrieden! Es wird bestimmt ein schöner Abend werden. Dann hast du dich also wieder dem Leben zugewandt? Das ist schön.«

»Ich bin mir noch unsicher, aber alle schubsen mich. Oft kommt es mir vor, als hätte ich keine Wahl. Da sind Sie, Toni, Monika und jetzt auch noch Mark.«

»Mark, interessant, was hat er getan?«

»Ach, es ist auch egal! Hier, lesen sie selbst.«

Pfarrer Zandler setzte seine Brille auf und las, während Claudia Holz im Ofen nachlegte und frisches Teewasser aufsetzte.

»Des ist ein sehr schöner Brief«, sagte er lächelnd. »Er ist sehr feinfühlend geschrieben. Den Rest kannst du dir sicher zusammenreimen. Der Rest, des ist jetzt deine Entscheidung. Wie ich darüber denke, des weißt ja.«

Claudia nickte. Sie schwieg.

Pfarrer Zandler verfolgte das Thema nicht weiter. Geschickt lenkte er Claudias Aufmerksamkeit auf allgemeine Themen. Er blieb auch nicht lange, trank nur eine Tasse Tee mit ihr. Zufrieden stieg er in sein Auto und fuhr hinunter ins Tal.

Kaum, dass er gegangen war, brachte die Mutter einer Spielkameradin Monika auf die Enzian Alm.

»Hattest du einen schönen Nachmittag?«

»Mm! Aber wir konnten nicht so lange spielen wie sonst.«

»Warum?«

»Mama, was ist ein Hüttenabend? Gaby, Rosi und Maria gehen mit ihren Eltern zum Hüttenabend und Harry und Freddy auch.«

Claudia nahm ihre kleine Tochter in den Arm.

»Ein Hüttenabend, wie soll ich es dir erklären? Es gibt etwas Gutes zu essen, die Erwachsenen trinken Bier vom Fass, die Kinder trinken Limonade. Es brennt ein großes Feuer. Jemand macht Musik. Die Burschen und die Madln tanzen und alle sind sehr fröhlich.«

»Können wir auch hingehen?«

Claudia schmunzelte. Sie blinzelte Monika zu, erzählte ihr, dass Toni sie besucht und persönlich eingeladen hatte.

»Toni hat ein Geschenk vorbeigebracht, für dich von Mark. Schau mal, es liegt noch draußen auf dem Tisch.«

Monika sprang auf und rannte vor die Almhütte. Sie riss das Fotoalbum an sich und blätterte Seite für Seite um. Immer wieder warf sie Claudia einen Blick zu. Dabei strahlten Monikas Augen.

»Du hast Mark sehr gern, Monika, richtig?«

Das kleine Mädchen nickte eifrig.

Claudia setzte sich neben sie. Sie räusperte sich.

»Monika«, sagte Claudia, »du bist schon ein großes Mädchen. Du wirst in der nächsten Woche fünf Jahre. Ich habe auch etwas von Mark bekommen. Er hat mir einen Brief geschrieben.«

»Was steht drin? Liest du ihn mir vor?«

»Monika, ich sage dir, was drin steht. Darüber will ich auch mit dir reden. Er hat geschrieben, dass er dich lieb hat, Monika.«

»Dich nicht?«

»Doch mich hat er auch lieb, Monika«, sagte Claudia mit bebender Stimme. »Ist es schlimm für dich, dass der Mark mich auch lieb hat.«

»Nö, Mark ist mein Freund.«

»Das ist gut! Moni, weiß du, wenn Erwachsene sich lieb haben, dann kann es sein, dass sie sich oft sehen wollen.«

»Ich weiß schon, sie küssen sich«, kicherte Monika.

»Woher weiß du das?«

Monika zuckte mit den Schultern. Claudia schluckte. Sie musste weiterreden und tastete sich langsam vor.

»Monika, ich habe dir doch das Märchen vom Schneewittchen erzählt. Darin verliebt sich der Prinz in das Schneewittchen und …«

»Und er küsst sie und dann heiraten sie und Schneewittchen wird seine Königin.«

Claudia seufzte.

»Ja, so ist es! Weißt du, es könnte sein, dass mich Mark auch küssen möchte.«

»Macht ihr dann Hochzeit?«

Claudia lachte.

»Es ist nicht immer so, dass ein Bursche und ein Madl heiraten, wenn sie sich küssen. Sie müssen erst einmal herausfinden, ob sie zusammenpassen, ob sie sich wirklich so lieb haben, dass sie immer zusammensein wollen. Dann müssen sie entscheiden. Normalerweise ist das eine Entscheidung der beiden. Aber nehmen wir mal an, dass der Mark mich küssen will und nehmen wir mal an, dass wir feststellen, wir passen zusammen und wir haben uns ganz toll lieb.«

Claudia sah ihrer Tochter in die Augen.

»Monika, das könnte bedeuten, dass ich wieder heirate und dass du vielleicht irgendwann einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester bekommen könntest.«

»Wann?«, brach es aus Monika hervor.

Claudia musste laut lachen.

»Du wärst nicht traurig, wenn du einen neuen Papa bekommen würdest? Dein Papa bleibt natürlich immer dein Papa, aber es gäbe dann noch Mark.«

»Wie bei Franzi und Basti. Sie hatten keine Mama und keinen Papa mehr. Die sind tot, genau wie mein Papa. Jetzt sind Toni und Anna ihre Mama und ihr Papa. Franzi hat mir alles genau erklärt. Sie wurden adoptiert. Sie heißen jetzt Baumberger und wohnen auf der Berghütte. Werden wir dann bei Mark wohnen?«

Claudia war überrascht, wie nüchtern Monika darüber sprach.

»Es kann schon sein, dass wir danach bei Mark wohnen. Oder wir bleiben hier wohnen und Mark kommt nach der Arbeit her.«

»Das geht nicht!«, widersprach Monika.

Claudia war sehr überrascht.

»Warum?«

»Weil er dann mit dem Auto fahren muss und Papa …«

Monika sprach den Satz nicht zu Ende. Claudia verstand ihre Tochter trotzdem. Sie erkannte, wie tief Monika Mark in ihr Herz geschlossen hatte.

»Monika, dass wir über Mark geredet haben, das bleibt unser Geheimnis. Das musst du mir versprechen.«

Das kleine Mädchen nickte eifrig.

»Gut, dann ziehen wir uns jetzt an. Es geht hinauf auf die Berghütte. Lauf schon mal vor und zieh dein schönes neues Dirndl an. Ich muss den Kuchen noch aus dem Ofen holen.«

Monika rannte in ihre Kammer.

*

Claudia stellte ihr Auto hinter der Oberländer Alm ab. Dann wanderte sie mit Monika den schmalen Bergpfad hinauf, der zur Berghütte führte. Sie trug den neuen Rucksack für Mark auf dem Rücken.

Kaum hatten sie das Geröllfeld erreicht, stürmte Bello auf sie zu und schleckte Monika ab. Franziska und Sebastian kamen angerannt.

»Pfui, Bello! Deine Küsse sind nass«, schimpfte Monika und wischte sich das Gesicht mit der Dirndlschürze ab.

Sebastian ergriff Bellos Halsband und hielt ihn fest.

»Er mag dich eben gut leiden, Moni. Da kann der Bello schon mal stürmisch werden«, lachte er.

»Wo ist Mark?«, fragte Monika.

»Der Mark ist heute Mittag wandern gegangen. Spielst du mit uns?«, fragte Basti.

»Lauf schon, Moni«, ermunterte sie Claudia.

Ihr kam es sehr gelegen. Sie wusste nicht, wie es sein würde, wenn sie Mark gegenüber stand und war froh, dass Monika beschäftigt sein würde. Sie ging weiter in Richtung Berghütte. Toni winkte ihr zu. Er verlegte mit einigen Burschen Bretter, die wohl als Tanzboden dienen sollten.

Anna stand auf der Terrasse und begrüßte Claudia.

»Willkommen! Es ist wunderbar, dass du hier bist. Du schaust großartig aus. Das Dirndl steht dir einfach fantastisch. Bist ein richtiges Madl aus den Bergen.«

»Ich fühle mich noch etwas verkleidet in so einem hellen Dirndl«, sagte Claudia leise.

Anna lächelte.

»Wir wissen alles! Ganz Waldkogel kennt die Geschichte und schmunzelt darüber. Pfarrer Zandler in seiner neuen Rolle als Stilberater ist in aller Munde. Das hätte ihm niemand zugetraut. Veronika erzählt es jedem. Zandler ist zum Modeexperte von Waldkogel aufgestiegen.«

Claudia wurde rot.

»Wie peinlich!«, stöhnte sie.

Anna lachte nur. Sie nahm Claudia zur Seite und flüsterte leise: »Ich will dir gleich etwas gestehen. Ich weiß, was Mark dir geschrieben hat. Toni weiß nicht, dass ich den Brief lesen durfte. Mark hat ihn mir gezeigt, weil er auf mein Urteil als Frau großen Wert legte. Ist es nicht ein wunderschöner Brief?«

Verlegen strich sich Claudia eine Haarsträhne aus der Stirn.

»Ja, es ist ein wunderschöner Brief. Schade, dass Mark nicht hier ist. Wir haben ein Geschenk für ihn, den Rucksack.«

Claudia ließ ihn von den Schultern gleiten.

»Oh, Claudia, da muss ich dir noch etwas erzählen. Als er hörte, dass du heute Abend kommst, wurde er so nervös, dass er uns im Weg herumstand. Toni hat ihn deshalb zum ›Erkerchen‹ geschickt. Er hat auch Proviant dabei. Am besten gehst du zu ihm. Dort seid ihr allein und könnt euch ungestört aussprechen. Monika, kann so lange hierbleiben.«

»Sie wird mitgehen wollen, wenn ich gehe.«

Anna wusste das zu verhindern. Sie ging zu den Kindern und lotste sie in den Schuppen. Dort beschäftigte sie die Kinder, bis Claudia auf dem Weg zum »Erkerchen« außer Sichtweite war.

Claudia kam in die Nähe des »Erkerchens« und spähte vorsichtig um die letzte Biegung. Da war Mark. Er hatte auf dem kleinen Felsvorsprung ein großes dreibeiniges Fotostativ aufgebaut, auf dem ein Fotoapparat mit einem Teleobjektiv befestigt war. Die Hände in den Hosentaschen stand Mark ruhig da und schaute hindurch. Claudia fühlte, wie ihr Herz klopfte. Sie überlegte, was sie sagen sollte. Sie überlegte und überlegte, ging einige Schritt zurück und lehnte sich an die steile Felswand. Sie schloss die Augen. In ihrem Herzen stritten zwei Gefühle. Ein Gefühl trieb sie dazu weiterzugehen, und das andere Gefühl riet ihr zur Umkehr.

In diesem Augenblick erinnerte sich Claudia an Rudi. Er hatte gesagt, was auch immer im Leben geschieht, es ist gut, wenn man weitergeht. Vor Entscheidungen kann man ohnehin nicht fortlaufen, sie holen einen ein. Es ist falsch, Angst vor Entscheidungen zu haben, wenn man alle Erfahrungen einbezieht. In die Zukunft kann niemand sehen und eine Garantie gibt es für nichts. Es gibt nur den Mut, die Entschlossenheit weiterzugehen, um sein Bestes zu geben. Dabei muss man nur auf sein Herz hören. Die innere Stimme im Herzen weiß genau, was richtig ist.

Damit war für Claudia die Richtungswahl getroffen. Sie ging auf Mark zu.

»Hallo, Mark! Was gibt es so Interessantes zu sehen?«

Er zuckte zusammen und drehte sich um.

»Claudia!« Er strahlte. »Willst du mal durchschauen?«

»Gern!«

Mark trat einen Schritt zur Seite und zeigte Monika, wie sie das Teleobjektiv scharf einstellen konnte.

Sie schaute hindurch. Dann richtete sie sich auf.

»Das ist der Gipfel des ›Höllentors‹. Interessant!«

Sie legte den Kopf schief.

»Sieht nicht gerade einladend aus. Warum schaust du ihn dir an?«

Mark wurde etwas verlegen.

»Mich interessiert, ob sich dort eine schwarze Wolke bildet.«

»Bist du jetzt unter die Wetterbeobachter gegangen?«

»Nein! Du kennst doch, was die Waldkogeler über das ›Höllentor‹ sagen? Alle glauben, dass es ein Unwetter gibt oder sonst etwas Schlimmes geschieht, wenn eine schwarze Wolke über dem ›Höllentor‹ steht. Es kann auch etwas für einen einzelnen Menschen bedeuten. Was man auch immer davon halten mag, es schadet nichts, ein Auge darauf zu haben, denke ich.«

Claudia lächelte.

»Mir gefallen die Geschichten über den ›Engelssteig‹ besser.«

»Das ist doch selbstredend. Aber die Waldkogeler glauben fest daran, dass der Teufel aus seinem Tor herausgekommen ist, wenn eine schwarze Wolke sichtbar wird. Ich dachte, ich sehe mal nach, wie es heute ist. Aber es ist alles klar. Ich habe wohl nichts zu befürchten, denke ich.«

»Oh, dann war es dein ganz persönliches Interesse?«

»Ja! Kannst du dir den Grund dafür nicht denken?«

»Doch! Übrigens, vielen Dank für das Album. Monika war davon begeistert. Sie hat sich so gefreut. Jetzt liegt es auf ihrem Nachttisch.«

»Das freut mich. Wo ist Monika?«

»Sie spielt mit Franzi und Basti!«

»Das ist schön. Du wolltest ein wenig wandern gehen?«

»Nein, so ist es nicht ganz!«

»Wie dann? Hast du dich verlaufen?«

Sie mussten beide lachen.

»Anna hat mir gesagt, dass ich dich hier finde«, sagte Claudia leise. »Ich denke, wir sollten reden.«

»Setzen wir uns!«

Claudia nickte. Sie setzten sich auf die Bank. Mark bot Claudia Kräutertee an, den Toni ihm eingepackt hatte.

»Mark, du hast uns nicht nur das Album mit den schönen Bildern zukommen lassen. Es lag ein Brief dabei von dir an mich. Danke! Ich habe ihn gelesen. Ich habe ihn auch verstanden. Mir ist klar, was du zwischen den Zeilen geschrieben hast und fragen willst. Es war ein sehr schöner Brief, ein ganz wunderbarer Brief.«

Marks Herz klopfte. Ihm schossen tausend Fragen durch den Kopf. Nur mühsam hielt er sich zurück.

»Mark, du hast eine Antwort verdient. Der Satz von diesem Alan Ayckbourn hat mir sehr gefallen. Deine Anregung, dass ich mir neue Motive suche, greife ich gerne auf. Wollen wir uns darauf einigen, dass dies hier unser erster gemeinsamer Fototermin ist?«

Mark strahlte sie an.

»Gern! Liebend gern! Dann muss ich dich auch fotografieren! Darf ich? Du siehst wunderbar aus. Das Dirndl steht dir Spitze!«

Mark drehte das Stativ um und drückte auf den Auslöser.

»Danke für das Kompliment. Es ist noch etwas ungewohnt. Du weißt ja, dass ich bisher nur Schwarz getragen habe. Pfarrer Zandler hat mir ins Gewissen geredet und mich überrumpelt.«

Mark lachte.

»Ich weiß, Veronika Boller erzählt es allen! Sie meint es aber nicht böse.«

»Mark, es ist nicht leicht für mich, mich wieder dem Leben zuzuwenden. Ich bin in Sachen Freude und Lebenslust etwas ungeübt.«

»Niemand erwartet, dass du einfach alles hinter dir lässt und die Tür zuschlägst. Rudi wird immer ein Teil deines Lebens sein. Er ist nicht nur durch die Erinnerung mit dir verbunden, sondern auch durch Monika.«

»Monika war noch sehr klein, als Rudi verunglückte. Sie kann sich nicht wirklich an ihn erinnern. Mir ist seit dem Tag, als sie fortlief, etwas klar geworden, viel mehr als ich sah, wie sie sich auf dem Geröllfeld vor der Berghütte in deine Arme stürzte. Monika braucht eine männliche Bezugsperson. Sie ist auf der Suche nach einer Vaterfigur.«

»Das habe ich bemerkt«, sagte Mark leise.

»Mark, Monika mag dich sehr. Sie hat dich, seit sie dich kennt, in ihr Nachtgebet eingeschlossen.«

»Das ist schön, ich habe sie auch eingeschlossen und dich auch, Claudia.«

Claudia räusperte sich.

»Mark, um noch einmal auf deinen lieben Brief zurückzukommen. Ich denke, es wäre schön für Monika, wenn du ihr helfen würdest, die leeren Seiten des Albums zu füllen.«

»Das mache ich mit Freude, allerdings nur, wenn du mir ehrlich sagst, wie du darüber denkst, ich meine, im Bezug auf dich.«

Sie sahen sich an. Mark lächelte sie an.

»Jetzt kann ich es wagen, dir zu sagen, was ich dachte, als wir uns begrüßten und danach miteinander sprachen. Ich dachte, was für wunderschöne Augen du hast, Claudia. Doch heute blicken sie fröhlicher. Du schaust nicht mehr so traurig.«

»Du bist dafür die Ursache, Mark.«

»Das freut mich! Ich möchte noch mehr beitragen zu deinem Wohlbefinden. Himmel, wie das klingt! Verrückt! Wir schleichen wie die Katze um den heißen Brei. Ich möchte dir so viel direkt sagen, Claudia. Aber ich weiß nicht, ob es dafür zu früh ist. Ich will dich nicht verletzen.«

»Das tust du sicher nicht, Mark.

Mark griff nach Claudias Hand. Er sah ihr tief in die Augen.

»Claudia, ich habe mich vom ersten Augenblick an in dich verliebt.«

»Ja, es war ein ganz besonderer Moment. Ich habe es gespürt.«

»Claudia, ich liebe dich!«

Sie sah ihn an. Ihr Herz klopfte.

»Ich hege die gleichen Gefühle für dich, Mark!«

»Du kannst es nicht anders sagen?«

Claudia errötete.

»Mark, es ist ein großer Schritt für mich. Versteh es nicht falsch. Es hat nichts mit dir zu tun. Ich trage wunderbare Gefühle für dich in meinem Herzen, sonst wäre ich nicht hier.«

Er streichelte ihre Wange. Es gab für ihn jetzt zwei Möglichkeiten. Er konnte geduldig darauf warten, bis sie eines Tages aus eigenem Antrieb zu ihm sprechen würde oder er könnte etwas nachhelfen. Doch das musste geschehen, ohne sie zu bedrängen. Er wartete einen Augenblick. Dann sagte er zärtlich: »Damit wolltest du mir sagen, dass du mich liebst. Ich habe dich schon verstanden.«

Claudia nickte eifrig und drückte seine Hand.

»Claudia, lass mich es so sagen. Der einzige Mann, dem du bisher gesagt hast, dass du ihn liebst, war Monikas Vater. Es fällt dir schwer, die magischen drei Worte zu mir zu sagen. Ich weiß, dass es nichts mit mir zu tun hat. Ich liebe dich, Claudia. Doch meine Liebe ist anders als Rudis Liebe, weil ich nicht Rudi bin. Ich bin Mark. Ich liebe dich sehr und ich liebe Monika. Ich kann warten, bis du es sagen kannst. Die Liebe hat dich einfach überrollt. Du wolltest dich nicht verlieben, genau wie ich mich nicht verlieben wollte. Aber wir wurden einfach als Paar zusammengebracht. Das hat einen Sinn, denke ich. Wir müssen nichts überstürzen. Ich liebe dich so sehr, dass ich weiß, welchen inneren Konflikt du noch zu bewältigen hast. Nimm einfach meine Liebe entgegen. Lass dir sagen, dass ich alles für dich tun möchte, damit du glücklich wirst und wieder glücklich und fröhlich bist. Du bist so ein wunderbares Madl! Du bist eine großartige Mutter. Ich biete dir für den Rest meines Lebens meine starke Schulter. Du sollst niemals mehr allein sein, nicht einsam, nicht traurig. Komm her!«

Mark legte den Arm um Claudias Schulter. Er zog sie an seine Seite. So saßen sie eine Weile eng nebeneinander und schwiegen. Irgendwann legte Claudia ihren Kopf an seine Schulter und schloss die Augen. Er betrachtete ihr Gesicht und streichelte ihr Haar. Mark verstand, wie groß der Schritt für Claudia war, diese körperliche Annäherung.

Langsam versank die Sonne hinter den Bergen im Westen. Von Osten her schob sich die Nacht über das Tal. Die Sterne wurden sichtbar. Der Mond stand groß und silbern am Himmel wie eine riesige Laterne.

»Mark, wir haben vergessen, ein Foto von uns beiden zu machen«, sagte Claudia leise.

»Es ist nur kein Bild auf dem Film. Aber wie haben doch beide die Bilder im Herzen.«

»Es sind schöne Bilder. Ich hatte vergessen, wie schön solche Bilder sein können. Jetzt weiß ich es wieder.«

»Das freut mich!«

»Mark, ich habe mir etwas überlegt. Würde es dich stören, wenn ich den drei magischen Worten stets ein viertes Wort hinzufüge? Es ist eine Art Eselsbrücke, zumindest zu Beginn unseres Zusammenseins.«

»Du darfst den drei schönsten Wörtern auf Erden, so viele Wörter hinzufügen, wie du willst, wenn es dich nur glücklich macht.«

Claudia zögerte etwas, dann sagte sie leise: »Ich werde deinen Vornamen immer hinzufügen.«

»Das ist eine sehr gute Idee und eigentlich ganz natürlich. Ich weiß, dass es für dich mehr ist, eine Unterscheidung, die du brauchst.«

Claudia schlug die Augen auf. Sie sah Mark an. Das Mondlicht spiegelte sich in ihren Augen. Er sah ihre Liebe zu ihm darin und hörte, wie sie leise flüsterte: »Ich liebe dich, Mark!«

»Ich liebe dich, Claudia!«

Langsam näherten sich ihre Lippen und verschmolzen in einem unendlich zärtlichen und behutsamen Kuss. Die Liebe erfüllte ihre Herzen. Claudia ließ sich langsam fallen in die Geborgenheit von Marks Liebe zu ihr.

»Wie wird es Monika aufnehmen, Claudia? Wie sagt man es einem Kind, dass man ein Paar ist?«

Claudia streichelte Marks Wange.

»Darüber musst du dir keine Sorgen machen. Ich habe mit Monika schon andeutungsweise darüber gesprochen, nachdem ich deinen lieben Brief gelesen hatte. Sie ist ein erstaunliches Mädchen. Es hat mir mal wieder bewiesen, dass die Kinder in ihren Gedanken oft weiter sind, als wir Erwachsene vermuten. Monika weiß, dass Franzis und Bastis Eltern beide verunglückt sind. Franzi hat Monika wohl einiges erzählt. Monika meinte, dann würdest du ihr Papa, so wie Toni der neue Papa von Franzi und Basti ist. Außerdem hast du längst einen festen Platz in ihrem Herzen.«

Mark küsste Claudia.

»Und ich habe einen Platz in deinem Herzen?«

»Ja, den hast du, Mark!«

Sie blieben noch eine ganze Weile beim »Erkerchen«. Der Wind wehte gelegentlich Fetzen Musik von der Berghütte herüber. Aber beide verspürten keinen Drang aufzubrechen. Sie erzählten sich einander ihr Leben, wie es alle Verliebten tun. Mark sprach von Miriam und seinen Plänen, nach Wien zu gehen.

»Wien ist eine wunderschöne Stadt. Während ich mit Monika schwanger war, hatte Rudi mehrere Wochen in Wien zu tun. Während er tagsüber arbeitete, schlenderte ich durch die Stadt oder ließ mich an heißen Tagen mit dem Fiaker fahren. Ich überlegte damals sogar, wie schön es wäre, immer in Wien zu leben.«

»Du könntest dir also vorstellen, dass wir in Wien leben?«

»Sicher! Warum nicht? Die Ferien verbringen wir in Waldkogel auf der Enzian Alm.«

»Ich muss nächste Woche nach Wien. Hättest du Lust, mit mir zu kommen? Ich habe eine möblierte Wohnung gemietet. Sie ist nicht sehr groß. Ich dachte, ich nehme erst mal eine kleine Bude, dann kann ich mich in Ruhe nach einer größeren Wohnung umschauen und sie einrichten.«

»Mark, mach dir keine Gedanken! Wie heißt es? ›Raum ist in der kleinsten Hütte für ein glücklich liebend Paar‹, du hast es doch mit Zitaten. Das hat Friedrich Schiller geschrieben.«

»Ich weiß! Ach, Claudia, ich bin so glücklich.«

»Ich bin auch glücklich! Und Monika wird glücklich sein. Wir sollten jetzt gehen, Mark.«

»Ja, das sollten wir! Ich will auch noch tanzen mit dir.«

»Tanzen? Oh, es kommt mir vor, als sei es eine Ewigkeit her, dass ich getanzt habe. Ich warne dich, vielleicht trete ich dir auf die Füße.«

»Ich bin sicher, du bist eine ganz wunderbare Tänzerin.«

Sie küssten sich.

Dann räumte Mark den Rucksack ein und sie gingen zusammen zurück zur Berghütte.

Als sie oben am Geröllfeld waren, sahen sie, dass das Feuer heruntergebrannt war und nur noch wenige Leute an den Tischen herumstanden.

»Mark, der Hüttenabend scheint schon vorbei zu sein. Wie spät ist es? Ich habe keine Uhr.«

Mark sah auf die Uhr und lachte.

»Bald zwei Uhr nachts!«

»Himmel, wir haben die Zeit vergessen«, stieß Claudia aus.

Sie ließ Marks Hand los und rannte. Sie stürmte auf der Suche nach Anna in die Küche der Berghütte.

»Anna, Anna, es tut mir so leid. Wir haben einfach die Zeit vergessen. Du musst denken, dass ich eine schlechte Mutter bin. Wo ist Monika?«

Sie warf Claudia einen prüfenden Blick zu.

»Du bist keine schlechte Mutter, höchstens eine verliebte Mutter.«

»Sieht man es mir an?«

»Schau mal in den Spiegel!«, lachte Anna.

Mark kam, stellte sich neben Claudia und legte den Arm um sie.

»Anna, danke, dass du dich um ...«, und mit einem Seitenblick zu Claudia sagte er mit Stolz in der Stimme, »dass du dich um Monika, um unser Kind, gekümmert hast. Schläft sie schon?«

»Ja, sie schläft tief und fest. Sie schläft bei Franzi.«

Toni kam in die Küche der Berghütte.

»Was sehe ich da? Ihr habt euch gefunden. Das freut mich. Ihr seid ein richtig schönes Paar.«

Toni lachte.

»Monika hat dich nicht vermisst. Sie meinte, Hauptsache, du bringst Mark mit und er wird ihr neuer Papa. Wenn das so wäre, dann solltest du dir Zeit lassen.«

»Wie bitte?«, staunte Claudia. »Ich wusste nicht, dass sie so altklug ist.«

»Ja, Monika wurde irgendwann ungeduldig. Dann hat Anna ihr gesagt, dass du Mark suchen gegangen bist, weil du ihn lieb hast. Sie scheint sich viele Gedanken gemacht zu haben. Aber Kinder sind oft weiter, als man denkt, mit ihren Überlegungen. Das erkennen Anna und ich oft bei Basti und Franzi. Außerdem gehört der sechseinhalbjährige Freddy zur Spielgruppe. Er lebte eine Weile bei seinem Vater und dann wieder bei seiner Mutter. Die Eltern hatten sich vorrübergehend getrennt, sind aber jetzt wieder zusammen. Ich vermute, dass die Kinder mehr über uns Große wissen und über uns reden, als wir vermuten.«

»Wenn wir das geahnt hätten, wären wir noch geblieben oder hätten in einer Schutzhütte übernachtet«, sagte Mark leise mit einem verliebten Seitenblick zu seiner Claudia.

Toni und Anna hatten es gehört. Sie flüsterten kurz miteinander. Dann sagte Anna: »Wir haben euch einen Vorschlag zu machen. Lasst die Monika doch einige Tage hier bei uns auf der Berghütte. Sie verträgt sich gut mit Franziska. Auch Sebastian nimmt sich ihrer an wie ein großer fürsorglicher Bruder. Dann habt ihr einige Tage für euch. Das wird euch guttun. Ihr könnt dann ungezwungener miteinander umgehen, wenn Monika nicht an deinem Rockzipfel hängt, Claudia.«

Mark schaute Claudia an. Seine Augen signalisierten ihr seine Begeisterung.

»Das ist eine wunderbare Idee! Gern nehme ich euer Angebot an. Aber es müssen nicht mehrere Tage sein. Bis morgen Abend, das genügt! Kann Basti Monika zur Oberländer Alm bringen, sagen wir um zwanzig Uhr?«, fragte Claudia. »Wir holen sie dann dort ab.«

Mark brauchte einen Augenblick, es wirklich zu begreifen.

»Claudia, das hört sich für mich an, als würdest du mich einladen, mit dir auf die Enzian Alm zu kommen?«

Claudia gab Mark einen Kuss. Sie griff nach seinem Handgelenk und schaute auf seine Uhr.

»Ja, das heißt es! Wenn du zustimmst, dann sollten wir uns beeilen, sonst ist die Nacht um.«

»Toni, Anna! Wir gehen! Pfüat di!«, rief Mark begeistert, wie es nur ein verliebter Bursche vermag.

Claudia lachte. Während Mark sie fortzog, rief sie Anna und Toni noch einmal ein Dankeschön zu für die Betreuung von Monika und einen Gutenachtgruß.

Toni rannte den beiden hinterher.

»Hier, nehmt die Stablampen, damit ihr sicher zur Oberländer Alm hinunterkommt.«

Toni blieb noch einen Augenblick auf dem Geröllfeld stehen und schaute hinauf zum Gipfel des »Engelssteigs«.

»Also, wenn ihr Engel heute Nacht aufsteigt, dann sagt droben im Himmel, dass des gut ist mit den beiden und wir uns alle mit ihnen freuen. Unsere Herzen sind voller Dankbarkeit, dass die beiden sich haben finden dürfen.«

*

Monika gab am nächsten Tag auf der Berghütte keine Ruhe. Sie wollte unbedingt zu ihrer Mutter und zu Mark.

»Ich muss ihm doch sein Geschenk geben, den Rucksack!«, schmollte Monika.

Am späten Nachmittag dachte Toni, dass er jetzt die Kleine auf die Enzian Alm bringen könnte.

So geschah es auch.

Als er mit Monika ankam, saßen Mark und Claudia vor der Almhütte und frühstückten. Sie sahen sehr glücklich aus. Monika rannte auf Mark zu, der sie auffing.

»Mein kleines Madl!«, sagte er. »Willst du mich als deinen neuen Papa haben?«

Monika warf ihrer Mutter einen Blick zu. Als diese nickte, sagte sie: »Das geht schon! Aber den Rucksack von meinen Papa, den bekommst du nicht, das hat Mama gesagt. Du musst den neuen Rucksack nehmen. Ich habe ihn für dich ausgesucht.«

Claudia, Mark und Toni lachten. Monika riss sich von Mark los. Sie holte den Rucksack aus Tonis Geländewagen und gab ihn Mark.

»Danke, Moni! Der ist wunderschön.«

Mark ging vor Monika in die Hocke. Er nahm ihre Hand.

»Monika, ich verspreche dir etwas. Wenn du größer bist, dann steige ich mit dir auf den Gipfel des ›Engelsteigs‹.«

Monika strahlte.

»Wann bin ich größer?«

Mark überlegte einen Augenblick, dann sagte er: »Du bist für die Gipfeltour groß genug, wenn du den Rucksack von deinem Papa Rudi schultern kannst. Jetzt holst du ihn dir und nimmst ihn mit in deine Kammer.«

Monika rannte davon. Claudia streichelte zärtlich Marks Wange. Ihre Augen waren voller Wärme und Zuneigung.

»Das hast du wunderbar gemacht, Mark. Du wirst ein sehr guter Vater«, und leise fügte sie hinzu. »Rudi wäre froh gewesen, dich zum Freund zu bekommen. Ich bin sicher, dass er vom Himmel herabschaut und sich an unserem Glück freut.«

Mark sah Claudia in die Augen und drückte ihre Hand. Er wusste, dass Claudia Frieden mit ihrem Schicksal gemacht hatte.

Toni verabschiedete sich und fuhr zurück. Er wollte noch kurz bei seinen Eltern vorbeifahren.

Auf dem Weg dorthin sah er Gina am Marktplatz stehen. Er hielt an.

»Grüß Gott, Gina!

»Grüß Gott, Toni! Schön, dass wir uns treffen. Dann muss ich dich net anrufen. Ich habe Violetta-Tosca Bertani gefunden. Sie hat geheiratet. Sie lebt in Amerika und hat eine Praxis für Tiere mit Verhaltensstörungen. Praktisch könnte man sie als Tierflüsterin bezeichnen.«

»Kennt sie jemand, den sie uns empfehlen kann?«

»Nein, aber sie kommt. Sie besucht demnächst ihre Eltern, die mit ihrem Zirkus in München gastieren. Sie kommt schon bald und wird uns helfen. Es reizt sie, mit den Kühen zu arbeiten.«

»Mei, das ist ja fantastisch! Gina, das hast du gut gemacht. Ein herzliches Vergelt’s Gott. Was sagt der Fellbacher dazu?«

»Der freut sich. Vor allem, weil Gina kein Honorar verlangt, nur ein echtes Dirndl. Damit kann sie in Amerika angeben, sagt sie.«

»Des ist doch ein Wort.«

Toni freute sich. Gina zog ihre Stirn in Falten.

»Allerdings gibt es jetzt neue Schwierigkeiten.«

»Welche? Red schon, Gina!«

Sie schüttelte den Kopf.

»Toni, das kann ich nicht. Du musst selbst mit dem Bürgermeister reden. Er ist noch im Rathaus.«

Toni warf Gina einen Gruß zu, wendete und fuhr die wenigen Meter zurück zum Marktplatz. Bürgermeister Fellbacher stand am offenen Fenster. Als er Toni anhalten sah, rief er ihn herbei.

»Was gibt es, Fellbacher? Ich habe gerade die Gina getroffen. Sie hat eine Andeutung gemacht, es gäbe Schwierigkeiten. Ich dachte, jetzt, da wir eine Tiertrainerin haben, sei alles in Ordnung.«

»Nix ist in Ordnung, Toni! Rein gar nichts ist in Ordnung! Da will uns mal wieder jemand den Ruhm nicht gönnen. Hier, lies selbst!«

Bürgermeister Fellbacher gab Toni ein amtliches Schreiben der übergeordneten Behörde in Kirchwalden zu lesen.

»Fellbacher, diese Amtssprache verstehe ich net. Kannst mir das mal übersetzen?«

»Gern!«

Bürgermeister Fellbacher erklärte es Toni. Dabei verwendete er zur Ausschmückung seines Kommentars jeden Fluch, der ihm einfiel.

»So ist des also, Fellbacher! Kurz gesagt, der Gemeinde Waldkogel wird im Interesse des Tierschutzes und der allgemeinen Sicherheit untersagt, die schöne Tradition des Kuhritts durchzuführen«, sagte Toni. »Sind die alle deppert?«

»Genau! Du siehst doch, Toni, sie haben alle Paragraphen draufgeschrieben, dahinter verschanzen sie sich. Aber des ist die pure Böswilligkeit! Mei, ich sehe ja ein, dass ich dem Sachbearbeiter keinen Vorwurf machen kann. Der musste nur ausführen, was ihm gesagt wurde von oben. Toni, mein Gefühl sagt mir, dass da jemand querschießt. Wir beide wissen, wer das sein könnte. Wenn ich den Ruppert Schwarzer in die Finger bekomme, dann binde ich ihn verkehrt herum auf einen Ochsen und treibe ihn durchs Dorf, diesen …, diesen …« Fellbacher rang nach Atem, so regte er sich auf.

Fellbacher erklärte, dass sie sich im Gemeinderat auf den Termin geeinigt hatten. Veranstaltungen, die von einer Gemeinde durchgeführt werden, müssen gemeldet werden, wegen der Versicherungsdeckung, falls etwas geschehen sollte.

»Ich dachte, es wäre nur eine Formsache. Doch dann kam dieser Wisch. So ein Schmarrn!«

»Dann müssen wir uns etwas einfallen lassen, Fellbacher.«

»Toni, ich weiß nicht, wie wir die Gesetzeslage umgehen können.«

»Wann kam das Schreiben?«

»Heute!«

»Fellbacher, nun mal ganz ruhig! Ich werde mit dem Wenzel reden. Diese Vorschriften gibt es doch nicht erst seit heute. Vielleicht kann er sich daran erinnern, wie das früher war. Sobald ich etwas weiß, rufe ich dich an. Und jetzt tust dich abregen, Fellbacher! Du hast einen so hochroten Kopf, dass ich denke, wenn du so weitermachst, dann landest beim Martin in einem Krankenbett.«

»Behüte, Toni! Aber du hast Recht. Ich mache Schluss für heute. Mir reicht es! Mir steht die Wut bis zum Halskragen. Bis hier oben«, sagte Fellbacher und zeigte mit der flachen Hand unter sein Kinn.

Bürgermeister Fellbacher und Toni verließen zusammen das Rathaus. Fellbacher ging heim. Toni besuchte noch kurz seine Eltern.

*

Claudia und Monika fuhren mit Mark nach Wien. Sie blieben vier Wochen. Dann kamen sie zurück nach Waldkogel. Claudia wollte in Waldkogel heiraten und von Pfarrer Zandler in der schönen Barockkirche getraut werden.

Das Brautkleid hatte Claudia in Wien gekauft. Es war ein Traum aus Spitze. Sie sah wunderschön darin aus. Es war ein Kleid im Biedermeierstil.

Mark trug einen Anzug der gleichen Stilepoche. Monika streute Blumen und jeder sah, wie glücklich das kleine Mädchen war.

Nach der Hochzeit verbrachte die junge Familie einige Zeit auf der Enzian Alm. Mark stellte den Gartenzaun auf und strich ihn grün an. Claudia hängte Blumenkästen auf und bepflanzte sie.

Ihre alte Wohnung in München hatte Janet gekauft, die bald heiraten wollte.

Es dauerte nicht lange und Claudia sah wieder Mutterfreuden entgegen. Es war eine harte Zeit bis zur Niederkunft, nicht weil sie sich schlecht fühlte, sondern weil die kleine Monika so ungeduldig war und sich so auf das Geschwisterchen freute.

Mark und Claudia wurden glückliche Eltern. Es war ein Junge. Sie gaben ihm den Namen Felix, das bedeutet der Glückliche. Er erhielt auf Marks Wunsch hin den zweiten Vornamen Rudolf. Damit wollte er Claudia eine Freude machen. Sie hatte ihm einmal erzählt, dass ihr Rudi gern noch einen Buben gehabt hätte, dem er seinen Namen geben konnte. Mit Claudias Einverständnis adoptierte Mark die kleine Monika, damit sie auch den Namen Strasser bekam und sie wirklich eine Familie waren. Monika wuchs auf in dem Gedanken, dass sie zwei liebende Väter besaß, einen im Himmel und einen Wahlvater auf Erden.

Toni der Hüttenwirt Staffel 14 – Heimatroman

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