Читать книгу Toni der Hüttenwirt Staffel 16 – Heimatroman - Friederike von Buchner - Страница 9

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Es war kurz vor Ladenschluss. Veronika Boller räumte die Körbe vor dem großen Schaufenster fort. Bürgermeister Fritz Fellbacher und sein Freund, Pfarrer Zandler, kamen über den Marktplatz.

»Komm, lass uns dir helfen, Veronika!«

»Mei, des ist schön, Fellbacher! Ich bin allein, mein guter Franz ist noch in Kirchwalden. Es gibt viel beim Großhandel zu holen. Der Laden läuft besser denn je. Die Touristen kurbeln des Geschäft mächtig an.«

Die beiden Männer packten an.

»Vergelt’s Gott!«, sagte Veronika. »Wenn des so weitergeht, dann müssen wir dauerhaft eine Verkäuferin einstellen. Wir schaffen diesen Ansturm nicht mehr. Davon konnte ich auch Franz überzeugen.«

»Darüber wollen wir mit dir reden, Veronika.«

»So, kennt ihr jemanden, der Arbeit sucht? Es freut einen immer, wenn jemand Anteil nimmt. Sicher gibt es auch viele Neider. Sagen tun sie nix, aber ich kann es ihnen ansehen, wenn sie zum Einkaufen kommen.«

Veronika Boller schloss die Ladentür ab.

»So, jetzt kann ich mich endlich mal hinsetzen. Ich bin den ganzen Tag auf den Beinen. Der Kaffee steht noch in der Thermoskanne von heute Morgen. Ich mache natürlich frischen Kaffee, falls jemand mittrinken will?«

Die beiden Männer nickten. Sie gingen mit Veronika in den großen Lagerraum, der hinter dem Laden lag.

Dort stand ein Tisch.

Sie setzten sich. Veronika schaltete die Kaffeemaschine ein und schnitt Kuchen auf. Bald saßen sie gemütlich zusammen.

Veronika sieht wirklich erschöpft aus, dachte Pfarrer Zandler. Er warf Bürgermeister Fellbacher einen Blick zu. Dann sagte er:

»Veronika, wir sind nicht zufällig vorbeigekommen. Es gibt etwas zu bereden.«

»Dann nur zu«, sagte sie. »Was ist es denn?«

Pfarrer Zandler rührte in seiner Kaffeetasse.

»Veronika, die Sachen, die du da als Andenken verkaufst, die gefallen mir nicht.«

»Mei, jeder hat eben einen anderen Geschmack. Vielen Kunden gefallen sie. Die Sachen, die mit dem ›Engelssteig‹ zu tun haben, die gehen weg wie warme Semmeln. Aber vielleicht haben Sie eine Anregung, wie ich des Warenangebot verbessern kann, Herr Pfarrer? Für Anregungen bin ich immer offen. Als Beteiligte ist man oft betriebsblind. Da sieht ein Außenstehender mehr.«

Pfarrer Heiner Zandler schüttelte den Kopf.

»Du verkaufst kleine Steinchen mit Engeln drauf. Lässt du die bedrucken oder bemalen?«

»Naa, des war die Idee von meinem Mann. Er hat einen Stempel machen lassen, mit dem Engelmotiv. Wir drücken den auf die Steine.«

»So, so! Des ist wirklich Bauernschläue. Wo hast die Steine her? Die sind doch net wirklich vom Hang des ›Engelssteig‹ oder?«

Veronika Boller errötete bis zu den Haarspitzen.

Pfarrer Zandler wurde ungeduldig, er schlug mit der Hand auf die Tischplatte.

»Veronika, wir lassen uns net für dumm verkaufen. Red’ schon!«

»Dann hat es sich schon herumgesprochen? Dabei waren wir so vorsichtig!«

Veronika trank schnell einen Schluck Kaffee.

»Na gut, ich gestehe es. Mein Franz und ich, wir gehen jede Nacht den Weg in Richtung ›Höllentor‹ und sammeln dort flache kleine Steine.«

»Du weißt, dass der Weg gesperrt ist. Sich dort aufzuhalten, ist lebensgefährlich. Es kann jederzeit einen Bergrutsch geben.«

»Ja, aber deshalb ist es ja auch so einfach, schöne flache Steine zu finden, weil der Berg so bröcklig ist.«

Pfarrer Zandler schüttelte den Kopf.

»Veronika, des ist Betrug. Du kannst doch den Leuten nicht weismachen, sie kaufen einen Brocken vom ›Engelssteig‹ und dabei stammt des Steinchen vom ›Höllentor‹. Des ist Lug’ und Betrug. Damit hörst sofort auf, hast du mich gehört?«

»Des ist leicht gesagt, Herr Pfarrer. Wir sind froh, dass wir damit einen guten Umsatz machen. Es ist nicht leicht, so einen Laden zu halten. Und diese Pilgertouristen, die kamen gerade recht. Die bringen uns ein gutes finanzielles Polster für den Winter, wenn weniger Touristen kommen. Im Winter fahren die Urlauber alle in Orte, in denen es Skilifte gibt. Ich sage ja schon seit Jahren, dass es net schaden würde, wenn es in Waldkogel auch einen Lift gäbe.«

Das war Kritik an der Politik des Gemeinderats und besonders an Bürgermeister Fellbacher, der sich seit Jahren gegen einen Skilift aussprach. Waldkogel sollte bleiben, wie es ist. Die Berge sollten nicht technisiert werden, wie Fellbacher es nannte. Er war der Meinung, wer abfahren will, der sollte vorher die Mühe auf sich nehmen und hinauflaufen. Veronikas Vorwurf erzürnte Fellbacher.

Fellbacher ergriff das Wort:

»Veronika, ihr hört damit auf! Sonst bekommt ihr eine Anzeige.«

Veronika Boller bekam große Augen.

»Des würdest doch net wirklich machen, Fellbacher«, sagte sie.

»Ich würde dir nicht raten, es darauf ankommen zu lassen«, zischte Fellbacher mit scharfem Unterton in der Stimme zurück.

»Mei, die Läden in den anderen Pilgerorten, die verkaufen auch Andenken, die am Fließband hergestellt werden. Bei uns stammen die Steinchen wenigstens noch aus der Gegend.«

Pfarrer Zandler schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Schluss jetzt damit! Veronika, des ist Betrug.«

Veronika schwieg.

»Mei, ich sehe ja ein, dass des net so ganz richtig ist. Aber …«

»Nix aber«, unterbrach sie der Geistliche. »Des hat ein Ende. Hast mich verstanden?«

»Wenn es dann sein muss«, murmelte Veronika leise.

Sie war jetzt doch sehr betroffen, dass sie den Zorn des Pfarrers erregt hatte.

»Gut, dass du es einsiehst. Der Himmel freut sich über jeden reuigen Sünder«, sagte er.

Bürgermeister Fellbacher trank einen Schluck Kaffee.

»Des war aber net der einzige Grund unseres Besuches, Veronika. Wir haben da eine Idee, wie wir bald wieder Ruhe in unser schönes Waldkogel bringen können. Auf Empfehlung der Bergwacht hat die obere Behörde des Landkreises sämtliche Wanderwege in Richtung ›Engelssteig‹ gesperrt. Des wirst schon wissen. Aber der gewünschte Erfolg blieb teilweise aus. Die Busse kommen noch immer und bringen Scharen von Touristen. Deshalb haben wir uns im Gemeinderat überlegt, wie wir unser schönes Dorf so verändern, dass es nimmer zum Touristenmagnet wird, jedenfalls nicht für die Sorte, die morgens hier einfallen und abends abreisen, diese speziellen ›Engelssteigtouristen‹. Zandler und ich waren bei Tonis Eltern, in der Metzgerei, im Friseurladen, im Café und in den anderen Läden. Auch drüben sind wir gewesen, im Hotel ›Zum Ochsen‹. Alle machen mit und schließen sich unserem Vorschlag an. Du bist die Letzte auf unserer Liste.«

Veronika sah den Bürgermeister verständnislos an.

»Des verstehe ich net. Was meinst damit?«

»Veronika, des ist ganz einfach. Die Baumbergers hängen ein Schild hinaus, dass ihr Wirtshaus ausgebucht ist: ›Geschlossene Gesellschaft‹, verstehst? Des gilt auch für des Café. Die anderen Läden machen drei Wochen Urlaub.«

»Um Himmels willen, dann sind wir pleite!«, schrie Veronika aufgebracht, denn sie ahnte, auf was Fellbacher hinauswollte.

»Schmarrn, der Betrieb geht weiter, aber nur für Einheimische am Hintereingang, verstehst?«

»Des können wir uns net leisten! Des ist unmöglich!«, schrie Veronika auf. »Bei dem guten Umsatz! Naa, naa, des ist wirklich undenkbar!«

Fellbacher blieb hart.

»Veronika, entweder du machst freiwillig den Laden dicht, jedenfalls nach außen hin, oder mir fallen Möglichkeiten ein, dir den Laden dicht zu machen. Wenn ich dir des Gewerbeaufsichtsamt auf den Hals hetze, dann verspreche ich dir schon jetzt, dass sie Gründe finden, die ausreichen, den Laden zu schließen. Außerdem wird des ganz schön teuer werden für euch, zusätzlich zum Umsatzausfall.«

»Fellbacher, du drohst? Des ist ja, des grenzt ja an Erpressung! Ist Erpressung nicht eine Straftat? Des kann dich des Amt kosten, Fellbacher.«

Er lachte.

»Mir kannst keine Angst machen, Veronika. Du bist die Einzige, die des net einsieht. Es sieht schlecht für dich aus, wenn du dich der Allgemeinheit nicht anschließt. Kannst du das nicht verstehen? Ich bin sicher, du wirst Kunden verlieren. Wir sind hier eine intakte Gemeinde und halten normalerweise zusammen wie Pech und Schwefel. Wenn du dich dagegenstemmst, gegen den Strom schwimmst, dann hast du die Folgen selbst zu tragen, so oder so. Also, denke darüber nach und berede dich mit deinem Mann. Wir erwarten von dir, dass morgen die Schaufenster abgehängt sind und ein Schild an der Tür hängt mit der Aufschrift ›Urlaub‹.«

Veronika hatte einen hochroten Kopf.

»Des ist unser Ruin!«

»Schmarrn! Spiel dich net so auf! Es geht um die Ruhe in Waldkogel. Waldkogel ist unser aller Heimat. Für die Heimat muss man etwas tun, verstehst?«

Bürgermeister Fellbacher und Pfarrer Zandler tranken den Kaffee aus und gingen durch die Hintertür hinaus.

Veronika Boller blieb am Tisch sitzen. Sie war wie vom Donner gerührt. Sie war hin und her gerissen. Auf der einen Seite war ihr der Trubel mit den Reisebussen und den Pilgern auch zu viel. Auf der anderen Seite brachten sie Geld in die Kasse. Es stimmte schon, dass die Touren nach Waldkogel eingestellt würden, wenn niemand mehr im Dorf etwas essen oder trinken und auch nichts einkaufen könnte. Waldkogels Gütesiegel war nun mal die Ruhe, die hier herrschte. Mit der war es seit einigen Wochen vorbei.

Schweren Herzens ging Veronika in die Wohnung und holte vorsorglich schon mal weiße Betttücher. Sie schrieb ein Schild mit der Aufschrift: Urlaub.

Dann wartete sie auf ihren Mann.

Am nächsten Tag waren die großen Schaufenster des Trachten-und Andenkenladens Boller blickdicht verhängt und das Schild klebte an der Ladentür. Bürgermeister Fellbacher stand hinter dem Vorhang in seinem Büro am Rathaus und beobachtete die Touristen, wie sie ratlos die Straße auf und abgingen.

Er rieb sich die Hände und sagte leise vor sich hin: »Des wird schon! Wir Waldkogeler, wir halten zusammen. Wir lassen unser schönes Dorf net überrennen. Noch ein paar Tage, dann kommt niemand mehr. Dann ist dieser Spuk vorbei.«

Und so geschah es auch. Am ers­ten Tag fuhren die Reisebusse schon am frühen Nachmittag wieder ab. Am zweiten Tag kamen weniger und fuhren auch früher ab. So ging das weiter. Am Stammtisch bei Tonis Eltern wurden Wetten abgeschlossen, wie viele Tage es dauern würde, bis keine Busse mehr kämen. Die Wetteinsätze und Prognosen gingen weit auseinander. Alle waren gespannt. Derweilen blühte das gemütliche, friedliche und freundliche Dorfleben im Verborgenen weiter.

*

Doktor Martin Engler verabschiedete den letzten Patienten an diesem Tag. Er zog den Arztkittel aus und ging von der Praxis hinüber in seinen Wohntrakt auf dem Schwanniger Hof.

»So, des war es für heute. Tut mir leid, dass es länger gedauert hat. Die Abendsprechstunde war heute sehr voll.«

»Das kann ich verstehen, Martin. Als Arzt auf dem Land hast du keine festen Arbeitszeiten.«

Martin setzte sich zu Bernhard an den Tisch.

»Katja hat mir Gesellschaft geleistet.« Er warf einen Blick auf die Armbanduhr. »Wir können gern morgen reden, Martin, wenn du schlafen gehen willst.«

»Ach was, so früh gehe ich nicht ins Bett.«

»Aber ich«, sagte Katja. »Gute Nacht, Bernhard! Schlaf gut!«

»Gute Nacht, Katja! Danke für die Aufnahme und eure Gastfreundschaft. Es tut mir gut, hier zu sein. Ich hoffe, dass sich Ruth auch etwas erholt.«

Katja gab ihrem Mann einen Gutenachtkuss und ließ ihn mit dem Freund allein.

»Sehr diskret, deine Frau, Martin!«

»Ja, sie weiß, dass es sich besser unter Freunden reden lässt, wenn sie unter sich sind. Sie wäre nur Zuhörerin, weil sie unsere gemeinsame Zeit nicht kennt.«

Doktor Martin Engler holte zwei Flaschen Bier und schenkte ein. Die Freunde prosteten sich zu und tranken.

»Nochmals willkommen, Bernhard. Du und dein Madl, ihr könnt so lange bleiben, wie ihr wollt. Wenn es dir langweilig wird, dann kannst du mich in der Sprechstunde unterstützen.«

»Nein, Martin! Ich werde wahrscheinlich sogar meinen Beruf als Arzt an den Nagel hängen und in die Forschung gehen.«

»Des ist doch Unsinn, Bernhard. Du warst ein guter Arzt.«

»Ich habe kläglich versagt. Liane ist mir unter den Händen weggestorben.«

»Ich weiß. Du hast mir auf der Beerdigung vor drei Monaten alle Details erzählt. Das mit der Selbstanzeige bei der Ärztekammer war auch Unsinn. Die Kollegen haben die Anzeige abgeschmettert. Das war auch gut und richtig so.«

»Niemand kann mich von der Schuld freisprechen, Martin. Ich werde damit leben müssen. Jedenfalls will ich keine Patienten mehr behandeln. Ich habe etwas übersehen, deshalb ist Liane tot.«

»Sie wird auch nicht wieder lebendig, wenn du dich so bestrafst. Sie hatte dir nicht alles gesagt. Sie hat dir einige Symptome verschwiegen. Sie war deine Frau und du hast ihr vertraut. Sie hätte mit dir reden müssen. Wenn jemand Verantwortung für ihren Tod trägt, dann ist sie es selbst, nicht du.«

»Trotzdem, Martin, ich hätte es merken müssen, sie gründlicher untersuchen müssen.«

»Müssen – müssen – müssen! Höre endlich auf, zu grübeln.«

»Das sagt sich leicht.«

»Das weiß ich. Aber Mitleid hilft dir nicht, Bernhard. Das Leben geht weiter. Geburt und Tod gehören nun einmal zu unserem Beruf. Wir sind nicht allwissend. Du bist ein guter Arzt. Lass etwas Zeit vergehen. Deine Trauer ist noch zu frisch. Es hat schon seinen Sinn, dass man sagt, es dauert mindestens ein Jahr nach einem Todesfall, bis die Hinterbliebenen wieder sich neu im Alltag eingerichtet haben.«

»Mein Leben wird nie wieder so sein, wie es war. Liane war die Traumfrau meines Lebens.«

»Jeder Mann hat eine Traumfrau. Für mich ist es Katharina, meine Katja.«

Bernhard starrte auf seine Hände, die das Bierglas umklammert hielten.

»Martin, ich habe Ruth die Mutter genommen. Das verzeihe ich mir nie, niemals.«

»Himmelsakrament, Bernhard! Du hast Ruth nicht die Mutter genommen. Es war der Himmel, der entschieden hat, dass er sie bei sich haben will. Dagegen sind selbst die besten Ärzte machtlos. Wenn der Himmel so entscheidet, dann kannst du dich als Arzt nur demütig unterordnen.«

Bernhard schwieg.

»Du weißt, dass ich keine Kinder zeugen kann. Ich war noch ein kleiner Bub, da hatte ich diese Krankheit. Deshalb vermied ich es, eine feste Beziehung einzugehen. Dann lernte ich Liane kennen, eine alleinstehende Mutter mit einer zehnjährigen Tochter. Sie bewarb sich als Krankenschwester im Krankenhaus, in Nürnberg. Es war Liebe auf den ersten Blick bei uns beiden. Ruth, die ihren Vater nicht kannte, akzeptierte mich sofort. Liane und ich heirateten noch während ihrer Probezeit. Sie hörte auf zu arbeiten und war nur noch Mutter und Ehefrau. Die zwei Jahre, die uns blieben, waren eine herrliche Zeit. Trotzdem sage ich mir, dass ich zu viele Dienste gemacht habe. Ich hätte öfter daheim sein müssen. Dann wäre mir sicher etwas aufgefallen.«

»Hör auf, hör endlich auf damit, Bernhard! Es bringt doch nichts.«

»Du bist hart, Martin.«

»Das muss ich sein. Wir sind beide Profis. Soll ich dir etwas vormachen? Damit helfe ich dir nicht. Du verrennst dich da in etwas, was mir Sorgen macht. Nimm dein Schicksal an! Du kannst nichts daran ändern. Es lag nicht in deiner Hand.«

»Jetzt sprichst du schon wie ein Pfarrer.«

»Mag sein, aber ein Landarzt muss auch Psychologe sein und Seelsorger. Übrigens, wir haben hier in Waldkogel einen sehr guten Geistlichen. Pfarrer Zandler ist ein ganz besonderer Mensch. Wenn du willst, lade ich ihn gelegentlich zum Abendessen ein. Dann kannst du ganz zwanglos mit ihm reden.«

Bernhard schüttelte den Kopf. Er trank einen Schluck Bier.

»Danke, Martin, aber Pfaffen sind im Augenblick die letzte Sorte Mensch, mit denen ich reden möchte. Ihre Sprüche kenne ich auswendig. Außerdem wissen sie nicht, wie es ist, seine Frau zu verlieren.«

»Das stimmt. Bernhard, ich will dich nicht weiter bedrängen. Das würde nur Druck bedeuten und Druck machst du dir selbst am meisten. Also, ich bin für dich da, wenn du reden willst. Wenn du Hilfe brauchst, dann sage es mir. Du und Ruth, ihr könnt so lange bleiben, wie ihr wollt.«

»Danke, damit hilfst du uns sehr. Wir waren daheim im Haus sehr unglücklich. Alles erinnerte uns an Liane. Ruth hat schon immer für die Berge geschwärmt. Als ich ihr den Vorschlag machte, einige Wochen zu dir zu fahren, stimmte sie sofort zu. Wir werden täglich wandern gehen.«

»Das ist eine gute Idee. Ich werde mit Katja sprechen. Sie wird euch jeden Morgen Proviant bereitstellen. Ich lege euch morgen früh einige Wanderkarten dazu und zeichne euch einige schöne einsame Routen ein.«

»Danke, das ist sicherlich hilfreich.«

Sie tranken ihr Bier aus und gingen schlafen.

Katja schlief schon fest, als Martin ins Schlafzimmer kam. Er legte sich hin, fand aber keinen Schlaf. Er musste an Bernhard denken. Dessen Schicksal berührte ihn sehr. Er erinnerte sich an Bernhards und Lianes Hochzeit. Sie waren so ein schönes und glückliches Paar gewesen. Jetzt war Bernhard Witwer, und sein Leben ein einziger Scherbenhaufen.

Doktor Martin Engler sprach in dieser Nacht stumm mit den Engeln auf dem ›Engelssteig‹ und vertraute ihnen den Freund an. ›Menschen vermögen Bernhard nicht zu helfen, vielleicht schafft ihr es. Als Engel habt ihr andere Möglichkeiten, in sein versteinertes Herz vorzudringen‹. Diese Bitte trug er den Engeln vor, dann schlief er ein.

*

Es war noch ganz früh, als Doktor Martin Engler aufwachte. Er schaute im Dunkeln auf die Uhr, deren Leuchtziffern die frühe Stunde anzeigten. In einer halben Stunde würde der neue Tag anbrechen. Er stand auf.

Katja wachte auf.

»Martin, mach doch Licht an! Musst du zu einem Patienten?«

»Mir kam ein Einfall, wie ich vielleicht verhindern kann, dass sich Bernhard immer tiefer in sein Leid eingräbt. Ihm kannst du sagen, ich sei wegen eines Notfalls gerufen worden. Es könnte später Vormittag werden, bis ich zurück bin. Falls hier unterdessen ein Notfall auftritt, dann musst du ihn dazu bringen, dass er meinen Arztkittel anzieht und mich vertritt.«

»Du meinst, das würde er tun, Martin? Da habe ich erhebliche Zweifel.«

»Ich auch, aber ein Versuch ist es wert, denke ich!«

Martin gab seiner Frau einen Kuss und verabschiedete sich. Dann ging er hinaus. In der Küche machte er sich eine Tasse Kaffee und aß ein Stück Kuchen. Er gab Mira ihr Futter. Als die Hündin gegessen hatte, setzte er sie in den Kofferraum des Geländewagens und fuhr los.

Inzwischen war es heller geworden. Tau lag auf den Almwiesen. Der wolkenlose Himmel färbte sich langsam in allen Farben des aufkommenden Sonnenlichts. Ein frischer würziger Geruch lag in der Luft.

Doktor Martin Engler fuhr langsam den Milchpfad hinauf. Als er hinter der Almhütte der Oberländer Alm hielt, stieg Rauch aus dem Kamin auf. Die Tür war geschlossen. Martin nahm die Pointerhündin an die Leine und ging unbemerkt vorbei. Er lächelte vor sich hin, Hilda und Wenzel waren liebe alte Leute. Hätten sie Martin aufgehalten, dann wäre er die nächsten Stunden nicht weitergekommen. Die beiden waren für ihr Alter sehr gesund, bis auf wenige Zipperlein. Bei Besuchen auf der Oberländer Alm musste er nur Zeit und Geduld mitbringen und die Bereitschaft, sich stundenlang die alten Geschichten immer wieder anzuhören. Das war die beste Therapie für die beiden.

Doktor Martin Engler wanderte mit Mira den Bergpfad hinauf. Auf halber Strecke ließ er die Hündin von der Leine. Sie schoss davon. Es dauerte nicht lange, dann erfüllte Hundegebell die Bergwelt und kam als Echo zurück. Bello, der junge Neufundländerrüde von der Berghütte, freute sich über Miras Besuch. Die beiden Hunde würden bald übermütig über das Geröllfeld vor der Berghütte stürmen und im nahen Gebirgsbach plantschen.

Genauso war es, als Martin die Berghütte erreichte. Toni bediente die ersten Frühaufsteher auf der Terrasse. Anna stand in der Küche. Sebastian und Franziska schliefen noch. Sie mussten an diesem Tag nicht zur Schule. Der alte Alois schlief auch noch.

Martin setzte sich an einen freien Tisch. Anna brachte ihm einen Kaffee. Toni setzte sich kurz zu ihm.

»Ich bin überrascht, dich am frühen Morgen hier zu sehen. Was gibt es? Ich stelle nur fest, dass du deine Arzttasche nicht dabei hast, also bist du net auf Hausbesuch. Zweitens hast du keine Ausrüstung dabei, also gehst auch net Wandern oder Klettern.«

»Du bist ein guter Beobachter, Toni.«

»Das muss ich auch sein. Also, was ist? Ich habe nicht viel Zeit. Erst später wird es ruhiger, so gegen neun Uhr, wenn alle zu ihren Bergtouren aufgebrochen sind.«

»Wir haben Besuch bekommen. Es handelt sich um einen alten Freund. Über den will ich mit dir reden. Aber ich warte gern, bis es hier ruhiger ist. Kannst du mir ein großes Frühstück bringen?«

»Des kannst haben!«

Toni eilte in die Küche und kam bald mit einem voll beladenen Ta­blett zurück.

»Hier, unser ›Berghüttenfrühstück Spezial‹, Eier mit Speck, Wurst, Käse, Butter, Brot von Anna gebacken, Marmelade von meiner Mutter.«

»Danach kannst du mich rollen«, lachte Martin und begann zu essen. Es schmeckte ihm sehr gut.

Der alte Alois stand bald auf. Er freute sich über Martins Besuch und setzte sich zu ihm. Sie plauderten, bis Toni alle Hüttengäste auf den Weg gebracht hatte.

»So, Martin, jetzt habe ich Zeit für dich. Setzen wir uns raus auf die Terrasse?«

Martin nickte. Toni nahm sich auch einen Kaffee. Die Freunde zogen sich an einen der hinteren Tische auf der Terrasse zurück.

»So, jetzt sagst, was du auf dem Herzen hast. Es muss dich nicht schlafen gelassen haben, dass du so früh raufgekommen bist.«

Martin schmunzelte.

«Geschlafen habe ich schon, Toni, aber das Schicksal meines Freundes hat mir keine Ruhe gelassen. Deshalb bin ich jetzt hier. Ich habe zusammen mit Bernhard studiert. Eine Zeitlang wohnten wir im Studentenwohnheim auf dem gleichen Flur. Er ist ein Typ, mit dem man Pferde stehlen kann, zuverlässig, ruhig, freundlich, hilfsbereit. Er erschien mir oft fast zu ernst, zu solide. Bis ich dahinterkam, warum er so still war. Er fühlte sich nur als halber Mann, weil er nach einer schweren Kinderkrankheit zeugungsunfähig war. Daran waren schon mehrere Beziehungen gleich am Anfang gescheitert.«

Martin trank einen Schluck Bier.

»Er ist eben ein ehrlicher Typ und sagte es den Madln, danach zogen sich die meisten von ihm zurück. So wurde er immer mehr zum einsamen Wolf, der nur noch das Ziel kannte, ein besonders guter Arzt zu werden.«

»Ah, ich verstehe. Du willst ihn verkuppeln. Darin haben wir beide Erfahrung. Es wäre nicht die erste Ehe, die wir stiften«, lachte Toni.

Martin hob die Hand.

»Stopp, lass mich ausreden! Deine Idee ist zwar gut, aber im Augenblick völlig abwegig. Hör mir zu!«

Doktor Martin Engler erzählte Toni die ganze Lebensgeschichte seines Freundes Bernhard. Er hatte miterlebt, wie sich dieser in Liane verliebte und endlich auf die langersehnte Gegenliebe stieß. Bernhards Liebe zu Liane und das Verhältnis zu deren Tochter rührten Toni. Da er aus eigener Erfahrung mit den beiden Adoptivkindern wusste, welche engen Bande zwischen Herzen entstehen konnten.

»Ruth kann sich an ihren leiblichen Vater nicht mehr erinnern. Sie war noch zu klein, als er starb. Sie sehnte sich nach einem Vater, Bernhard füllte diese Lücke aus. Die beiden verstehen sich gut. Doch jetzt macht sich Bernhard schwere Vorwürfe, dass er durch seine Unachtsamkeit dem Madl die Mutter genommen hat.«

»Mei, des ist doch hirnrissig, Martin.«

»Das habe ich ihm auch gesagt, Toni. Aber Bernhard steigert sich da in etwas hinein.«

»Es ist jedenfalls schon mal gut, dass er zu dir zu Besuch gekommen ist«, bemerkte Toni. »So bekommen er und des Madl vielleicht Abstand. Die Berge geben Ruhe und senken Frieden ins Herz. Es wird den beiden gut tun. In ein paar Wochen werden sie gestärkt abreisen.«

»Das hoffe ich auch, Toni. Es wäre schade, wenn Bernhard den Platz am Bett eines Kranken gegen den Platz im Forschungslabor eintauschen würde.«

Toni rieb sich das Kinn. Er dachte nach.

»Wer einen solchen Schicksalsschlag nicht erlebt hat, Martin, weiß nicht, wie er sich anfühlt. Man glaubt, man könne sich das vorstellen, aber das ist eine Selbsttäuschung.«

»Des stimmt, Toni. Doch ich will ihm helfen. Was kann ich tun?«

»Martin, helfen kannst du ihm wenig, des weißt du. Du kannst ihm zuhören und für ihn da sein. Aber als Mann, der in einer glücklichen Ehe lebt, kannst du net wirklich nachempfinden, wie es in seinem Herzen aussieht.«

Toni dachte nach.

»Warte, da fällt mir etwas ein!«

Toni eilte in die Küche der Berghütte und kam mit der Belegungsliste der Berghütte zurück.

»Hier ist es! Heute, ich vermute, so gegen Abend, kommt Christl mit ihrem Buben zu Besuch. Sie kommen schon seit Jahren hierher. Wir sind gute Freunde geworden. Jens ist zwölf Jahre alt. Sebastian freut sich unbändig auf ihn. Und jetzt kommt es, der Grund, warum es mir eingefallen ist. Christl ist auch alleinstehend. Sie sprach nie über Jens’ Vater. Ich weiß nur von Sebastian und Franziska, was ihnen der Bub erzählt hat. Sein Vater sei gestorben, als er noch ein Baby war. Er wisse wenig über ihn, weil ihm seine Mutter nichts erzählen würde. Jens hat sich damit abgefunden und ist ein recht glücklicher Junge. Er liebt seine Mutter und will sie mit Fragen nach seinem Vater nicht verletzen. Wenn du es schaffst, Bernhard zu überreden, auf die Berghütte zu kommen, wäre das sehr gut. Franzi und Basti freuen sich sehr auf Jens. Wenn dann noch ein Madl dabei ist, diese Ruth, dann werden es bestimmt schöne Tage.«

»Das ist eine gute Idee, Toni. Franzi und Basti haben den Tod ihrer Eltern gut überwunden und sind richtig glückliche Kinder. Ich bin sicher, dass sie Ruth einfach mitreißen und sie sich ihnen anvertraut. Das wird dem Madl gut tun.«

»Und vielleicht ergibt es sich, dass sich die Christl und der Bernhard auch näher kennenlernen. Beide haben einen Partner verloren. Sie haben die gleiche Erfahrung gemacht. Bei Christl ist es schon länger her, sie könnte Bernhard vielleicht helfen, in dem sie ihm sagt, wie es ihr damals ergangen ist.«

Martin lächelte. Er drehte sich um und sah hinauf zum Gipfel des ›Engelsteig‹.

»Ja, und ich hoffe, die Engel werden auch dieses Mal ihren Job gut tun, Toni.«

»Ganz sicher, die Engel kümmern sich um jeden, der bei uns in Waldkogel ist.«

»Gut, dann werde ich mit Katja reden. Sie hat immer gute Einfälle. Sie wird schon eine Idee haben, wie wir Bernhard und Ruth herauf auf die Berghütte bekommen. Dann ist es deine Aufgabe, ihn und das Madl hier festzuhalten.«

»Des ist eine einfache Übung, Martin. Dabei kann ich mich auf Franzi und Basti verlassen. Franzi wird die Ruth sofort mit in ihr Zimmer nehmen und zum Spielen einladen. Es ist immer etwas Besonderes, wenn ein kleines Madl auf der Berghütte zu Besuch ist.«

Toni und Martin lächelten.

»Was wir uns da wieder ausdenken, Toni?«, lachte Martin. »Des ist eigentlich Manipulation, vielleicht sogar Kuppelei.«

»Ja, aber es dient einem guten Zweck. Wir leben doch alle in einer Gemeinschaft. Die funktioniert nur, wenn jeder dem anderen hilft und für ihn da ist. Wir zeigen doch nur Wege auf und stellen ein bisserl die Weichen. Gehen muss jeder seinen Weg allein. Freunde können nur stützen und anschieben.«

»Darin bist du ein Experte, Toni!«

»Da magst nicht ganz Unrecht haben, Martin. Weißt, ich bin so glücklich im Leben. Ich habe die Berghütte, von der ich schon als kleiner Bub geträumt habe. Ich bin meiner Anna begegnet, und dann hat uns der Himmel Franziska und Sebastian anvertraut, nach dem Unfalltod ihrer Eltern. Die beiden sind ein wirkliches Himmelsgeschenk. Ich bin rundherum glücklich. Deshalb ist es mir ein Herzensbedürfnis, zu helfen, wo ich helfen kann. Oft gehört doch nur ein ganz klein wenig Hilfe dazu, damit das Glück die Herzen erfüllt. Weißt, Martin, ich sehe es so. Es muss jemand da sein, der einfach ein bisserl die Tür aufhält, damit das Glück durchschlüpfen kann, in die Herzen der Menschen.«

»Das hast du schön gesagt. Das werde ich mir merken. So kann man es zusammenfassen: ›Die besten Freunde halten die Türen zum Herzen auf, damit das Glück einziehen kann.‹ Sehr schön!«

»Mach mich nicht verlegen, Martin! Also, ich erwarte die beiden. Ich werde so tun, als wüsste ich von nichts.«

»Genau! Danke dir, Toni! Dann mache ich mich auf den Rückweg.«

»Grüß Katja von uns allen!«

»Das werde ich.«

Doktor Martin Engler verabschiedete sich von Anna und dem alten Alois. Er pfiff nach der Pointerhündin Mira und ging den Bergpfad hinunter zur Oberländer Alm, auf der sein Auto stand. Er winkte Hilda und Wenzel Oberländer von Weitem zu und stieg in sein Auto.

*

Als Martin heimkam, waren Bernhard und Ruth nicht da.

»Sind sie schon fort?«, fragte er.

»Sie sind nach Kirchwalden gefahren. Ruth braucht feste Schuhe für die Wanderungen und auch etwas zum Anziehen. Sie ist aus allen Sachen herausgewachsen. Das ist eben bei Kindern so. Sie wollen bis zum Mittagessen wieder zurück sein«, erzählte Katja. »Wo bist du gewesen? Du hast ja sehr geheimnisvoll getan, Martin.«

»Ich war bei Toni auf der Berghütte.«

Katja lachte.

»Das habe ich mir fast gedacht. Heckt ihr beiden wieder was aus? Wollt ihr Bernhard kurieren?«

»Mei, Katja, den Bernhard kann niemand kurieren. Wenn des so einfach wäre … «

Martin konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Verlegen rieb er sich das Kinn.

»Aber es wäre sehr gut, wenn er und Ruth einige Tage auf der Berghütte verbringen würden. Zufälligerweise kommt dort heute eine Frau ein, sie ist wohl Witwe und hat einen Buben von zwölf Jahren. Toni meint, es würde Bernhard gut tun, mit jemanden zu reden, der auch Trauerarbeit leisten musste und alleinstehend mit einem Kind ist.«

Katja, die Pellkartoffeln pellte, ließ das Messer sinken. Sie sah Martin an.

»Mm, das ist an sich keine schlechte Idee. Aber ich glaube, dass Bernhard im Augenblick keine andere Frau ansieht.«

»Da magst recht haben, Katja. Doch wir müssen Schritt für Schritt vorgehen. Zuerst müssen wir Bernhard dazu bringen, auf die Berghütte zu gehen. Toni wird ihn dann schon irgendwie dazu bringen, dass er bleibt. Er setzt dabei auf die Franzi. Wahrscheinlich freunden sich die Mädchen gleich an. Und ich frage dich, welcher Vater dann nicht bleiben würde, wenn es seinem Madl gut geht und es bleiben will?«

»Diese Rechnung könnte aufgehen, Martin.«

»Das hoffen wir. Doch nun stellt sich die Frage, wie bekommen wir Bernhard auf die Berghütte. Ihn zu bitten, dort eine Brotzeit zu nehmen, ist mir zu unsicher. Er igelt sich so in seiner Trauer ein, dass es sein kann, dass er die Berghütte meidet. Hast du eine Idee? «

Katja überlegte kurz.

»Martin, du packst einige Medikamente zusammen, ein paar Stärkungsmittel für den alten Alois. Verpacke sie gut, damit Bernhard sie nicht sehen kann. Du informierst Toni. Alois muss so tun, als seien es sehr wichtige Medikamente, die er unbedingt braucht. Bernhard ist Arzt, er wird das Päckchen auf der Berghütte abliefern. Was hältst du von meinem Plan?«

Martin nahm seine Frau in den Arm und küsste sie.

»Mei, was bist du für ein gescheites Madl? Was würde ich ohne dich machen?«

»Einsam wärst du«, lachte sie.

Draußen hielt Bernhards Wagen.

»Schnell, verschwinde, Martin!«

»Ich muss ohnehin Sprechstunde abhalten. Sind viele Patienten da?«

»Nein!«

Martin hauchte ihr noch einen Kuss auf die Wange und verschwand in der Praxis.

Bernhard kam mit der kleinen Ruth herein.

»Habt ihr schön eingekauft?«, fragte Katja.

»Oh ja! Nicht wahr, Ruth? Wir haben schöne Sachen gekauft.«

Ruth nickte. Sie packte schweigend die Tüten aus und zeigte Katja die neuen Hosen und Jacken, die Schuhe, Socken und Westen und den kleinen Rucksack.

»Das sind wunderbare Sachen, Ruth. Darin siehst du aus wie eine richtige kleine Bergsteigerin. Lauf in dein Zimmer und ziehe dich um! Ich würde dich so gern in den Sachen sehen.«

Das Mädchen nickte und rannte davon.

Als Ruth draußen war, seufzte Bernhard tief.

»Sie ist immer noch sehr schweigsam. Seit dem Tod ihrer Mutter, spricht sie sehr wenig. Sie ist sehr ernst geworden.«

»Das ist doch verständlich, Bernhard. Habe Geduld!«

»Das habe ich. Ich habe sie vom Unterricht befreien lassen. Ruth ist eine sehr gute Schülerin. In drei Wochen gibt es ohnehin Ferien. Nach den Sommerferien geht es ihr seelisch hoffentlich besser. Es ist schwer für mich, sie zu trösten. Ich denke, ich werde ihr nicht gerecht. Sie spricht auch nie über ihre Mutter. Ich weiß nicht, was in ihr vor sich geht.«

»Mag sein, dass sie dir ihre Trauer nicht zeigen will, um dich nicht noch mehr zu belasten. Jetzt verbringt ihr eine schöne Zeit hier, dann wird alles besser werden. Setz dich und Ruth nicht unter Druck. Hast du dir schon die Landkarten angesehen?«

»Ja, heute Mittag machen wir nur einen kleinen Spaziergang zum Bergsee. Morgen gehen wir richtig Wandern.«

Ruth kam in die Küche. Sie trug rote Kniebundhosen aus Baumwollcord. Die helle Bluse und die grüne Strickjacke passten gut dazu. Grün waren auch die Socken in den roten Wanderschuhen. Besonders stolz zeigte Ruth den Rucksack aus Wildleder.

»Jetzt schaust du aus wie eine richtige Bergsteigerin«, sagte Katja.

Ruth strahlte.

»Willst du mir helfen, den Tisch zu decken?«

Ruth nickte. Sie ging Martins Frau geschickt zur Hand.

Bald saßen alle am Tisch. Martin sprach das Tischgebet und sie fingen an, zu essen.

»Wollt ihr heute Nachmittag noch eine kleine Wanderung machen?«, fragte Martin.

»Ja, wir wollen zum Bergsee.«

»So, zum Bergsee wollt ihr? Na ja, ich dachte, ihr geht auf die Berghütte, weil man von dort oben einen sehr schönen Blick über das ganze Tal hat. Ihr könnt mit dem Auto bis zur Oberländer Alm fahren. Dann ist es nicht mehr weit.«

»Martin, rede nicht um den heißen Brei herum!«, griff Katja in das Gespräch ein. Sie erklärte, der Hüttenwirt habe angerufen, er könne die Medikamente für den alten Alois nicht abholen. Es sei zu viel zu tun.

»Da hatte Martin die Hoffnung, dass du die Arznei hinaufbringen könntest, Bernhard.«

»Ist er sehr krank?«, fragte Ruth.

Das Mädchen griff nach Bernhards Hand.

»Papa, wir können die Medizin hinbringen. An den Bergsee gehen wir dann ein anderes Mal.«

Martin lächelte. Er war froh, dass sich Ruth in das Gespräch eingemischt hatte.

»Wenn du willst, dann gehen wir zur Berghütte, Ruth«, sagte da auch schon Bernhard.

Ruth nickt eifrig und aß weiter.

Nach dem Essen drängte Ruth zum Aufbruch.

»Papa, wir müssen gehen. Der Mann wartet auf seine Medizin.«

Sie rannte zum Auto.

»Ganz wie ihre Mutter«, sagte Bernhard leise. »Sie war auch immer für andere da.«

Martin holte die Schuhschachtel, die er sorgfältig mit dickem braunen Klebeband zugeklebt hatte.

»Bis heute Abend, Martin! Danke für das Mittagessen, Katja. Es hat gut geschmeckt.«

Katja und Martin standen auf dem Hof und sahen dem Auto nach.

»Sie sind auf dem Weg, Katja. Wollen wir das Beste hoffen.«

»Es wird schon werden. Franzi wird Ruth auf jeden Fall aufmuntern, da bin ich mir ganz sicher.«

Sie gingen wieder ins Haus und tranken noch eine Tasse Kaffee, bevor Martin zu den Hausbesuchen aufbrach.

*

Bernhard und Ruth erreichten das Geröllfeld. Franziska sah sie zuerst. Sie rannte los. Bello stürmte hinterher und überholte sie mit großen Sprüngen.

»Bello, aus!«, schrie Franzi. »Mach sitz!«

Franzi nahm Bello am Halsband und hielt ihn fest.

Sie wartete, bis Bernhard und Ruth bei ihr waren.

»Grüß Gott, ich bin Franziska Baumberger. Gerufen werde ich Franzi. Des ist der Bello, unser Hund. Er tut nix. Er ist ganz lieb. Seid ihr die Leut’, die die Medizin für den Alois bringen? Toni hat gesagt, dass der Martin jemanden schickt mit der Medizin, einen Mann und ein Madl.«

Bernhard reichte Franzi die Hand.

»Grüß Gott! Ja, das sind wir. Ich bin Bernhard und das ist meine Tochter Ruth.«

»Des ist gut! Der alte Alois muss gesund bleiben und noch recht lange leben. Wir haben ihn alle lieb. Ich will nicht, dass er stirbt.«

Ruth griff nach der Hand ihres Vaters.

»Wir wünschen uns alle, dass die Menschen, die wir lieben, lange leben, Franzi«, sagte Bernhard.

Franzi schob sich eine Locke hinter das Ohr. Sie legte den Kopf leicht schief und sagte:

»Aber es kann auch geschehen, dass ein Unfall passiert, ein Bergrutsch und dann sind sie im Himmel. So war das bei mir und meinem Bruder Basti. Aber jetzt haben wir Toni und Anna als Eltern und den Alois als Großvater.«

Ruth starrte sie an. Franzi wusste nicht, was sie mit ihren sorglos dahergeplapperten Worten bei Ruth angerichtet hatte. So dachte sie, Ruth hätte Angst vor Bello.

»Du kannst Bello streicheln, Ruth. Er tut dir nichts, ganz bestimmt.«

»Ruth mag lieber Katzen, Franzi«, erklärte Bernhard.

»Mei, ich habe Katzen auch gern. Ich habe einen Kater. Max heißt er. Er ist sogar von unserem alten Hof. Er ist in meinem Zimmer. Magst ihn sehen?«

Ruth lächelte. Sie ließ die Hand von Bernhard los und stürmte mit Franzi davon. Bernhard seufzte erleichtert und ging weiter.

Auf der Terrasse der Berghütte kam ihm Toni entgegen.

»Grüß dich, du musst der Bernhard sein. Danke, dass du die Medizin bringst. Ich bin der Toni!«

»Grüß Gott, Toni!«

Bernhard ließ den Rucksack von den Schultern gleiten und holte die Schachtel heraus.

»Bitte! Ich bin ein Studienfreund von Martin. Hoffentlich geht es dem alten Alois nicht allzu schlecht? Ich kann gern nach ihm sehen.«

»Danke, des ist net nötig. Mei, der Alois geht auf die Neunzig zu. In dem Alter darf der Mensch schon ein paar Zipperlein haben. Er hat ein Leben lang schwer gearbeitet und jetzt braucht er eben ein bisserl Chemie. Er mag es net, wenn man großes Aufhebens davon macht.«

Bernhard schmunzelte. Er folgte Toni in die Berghütte. Toni zapfte ihm ein Bier.

»Ihr habt es schön hier«, sagte Bernhard. »Martin hat mir schon oft von der Berghütte erzählt. Hier fühlt man sich gleich willkommen.«

»Des ist schön, dass es dir gefällt. Setz dich draußen auf die Terrasse und genieße den Ausblick.«

»Erst will ich nach Ruth sehen.«

»Um die musst du dir keine Sorgen machen. Sie sind in Franzis Zimmer. Aber wenn du willst, kannst du selbst nachsehen.«

Toni führte Bernhard in den angebauten Teil der Berghütte. Die Tür zu Franzis Zimmer stand offen. Die beiden Mädchen knieten vor dem Bett und streichelten Max, den Kater, der sich wie ein Pascha auf der Decke ausstreckte und die Aufmerksamkeit der beiden Mädchen sichtlich genoss. Franzi und Ruth waren so beschäftigt, dass sie Toni und Bernhard nicht hörten.

Diese zogen sich auch wieder leise zurück.

Den ganzen Nachmittag saß Bernhard auf der Terrasse der Berghütte und sonnte sich. Er hing dabei seinen Gedanken nach. Toni lud ihn zum Abendessen ein.

»Wir müssen gehen. Martin und Katja warten. Aber danke für die Einladung. Es war keine Mühe, die Medizin heraufzubringen. Ruth und ich wollten ohnehin wandern gehen. Aber jetzt wird es Zeit, zu gehen.«

Toni lachte.

»Bernhard, da wirst du schlechte Karten haben. Franzi hat Ruth eingeladen, bei ihr zu übernachten. Die Madln sind so glücklich. Bleib doch auch über die Nacht! Wir haben noch eine Kammer frei.«

Bernhard überlegte kurz. Er ging zu Ruth.

»Magst eine Nacht hierbleiben?«, fragte er.

Ruth nickt eifrig, dann fügte sie leise hinzu:

»Können wir auch länger bleiben? Hier ist es viel schöner, als beim Martin.«

»Gefällt es dir beim Martin nicht?«

»Doch, Papa, aber hier ist es viel schöner. Franzi hat einen Kater.«

»Wir bleiben, solange es dir gefällt. Einverstanden?«

Ruth nickte eifrig.

Bernhard ging wieder in die Wirtsstube der Berghütte und besprach seinen Aufenthalt mit Toni.

»Mei, Ruth kann bei Franzi schlafen, das haben die Madln schon so beschlossen. Für dich finden wir immer eine Schlafgelegenheit. Jetzt kannst du erst einmal für die nächsten Tage die Kammer haben, dann sehen wir weiter. Also, willkommen auf der Berghütte! Ich freue mich, dass ihr hier seid. Unserer Franzi tut es gut. Sie hat selten gleichaltrige Madln als Spielkameradinnen hier oben. Sie freut sich sehr und wir freuen uns, wenn die Franzi glücklich ist.«

»Welcher Vater freut sich net, wenn sein Madl glücklich ist?«

»Du sagst es, Bernhard! Besonders da wir einen Buben zu Gast haben, der mit Franzis Bruder, dem Basti, befreundet ist. Die beiden sind allein rauf zum Pilgerpfad. Da hat sich Franzi etwas einsam und ausgeschlossen gefühlt. Aber jetzt seid ihr zum Glück hier. Mei, was bin ich froh. Die Franzi kann ganz schön grantig sein, wenn sie allein sein muss.«

Toni übertrieb sehr, aber der Zweck heiligt die Mittel, dachte er. Bernhard blieb, nur das war wichtig.

*

Toni und Anna waren schlafen gegangen.

»Toni, hörst du das?«, fragte Anna leise.

»Ja, es ist aber nicht beunruhigend. Bello hat nicht angeschlagen. Ich vermute, es sind die Kinder. Ich bin sehr froh, dass sich Franzi gleich so gut mit Ruth angefreundet hat. Sie war ein wenig einsam, seit Jens zu Besuch ist. Basti und er hängen viel zusammen. Die Buben haben in dem Alter andere Interessen als kleine Madln.«

»Meinst du nicht, wir sollten nachsehen?«

»Mache dir keine Sorgen. Bello liegt vor den Türen der Kinderzimmer. Da passiert nix. Wir sollten schlafen. Es wird morgen wieder ein anstrengender Tag.«

Toni nahm Anna in die Arme. Sie kuschelten sich aneinander und schliefen bald ein.

Bello lag nicht mehr vor den Kinderzimmern. Er war Ruth gefolgt, die sich vorsichtig mit ihrer Taschenlampe durch die Räumlichkeiten der Berghütte getastet hatte und jetzt draußen auf der Terrasse stand. Bello saß neben ihr. Inzwischen hatte Ruth ihre anfängliche Furcht vor dem großen Hund überwunden.

Sie hörte Schritte hinter sich und drehte sich um. Es war Jens. Er stellte sich neben sie.

»Kannst du auch nicht schlafen?«, fragte er.

Ruth nickte.

»Ich gehe jede Nacht heraus auf die Terrasse und schaue in die Sterne«, sagte er leise.

Ruth nickte wieder.

»Kannst du nicht sprechen? Oder willst du nur nicht mit mir reden?«

Ruth schüttelte sich. Sie fror. Jens ging in die Berghütte, griff sich einen Stapel Wolldecken, die hinter der Tür lagen, und brachte sie heraus.

»Komm mit! Wir nehmen die Liegestühle da hinten. Das mache ich jede Nacht so.«

Ruth folgte ihm. Jens polsterte einen der Liegesessel dick mit Decken und gab Ruth ein Zeichen, sich zu setzen. Er deckte sie mit zwei Decken zu.

»Jetzt hast du keine Decken mehr«, sagte Ruth leise.

»Ah, du kannst doch reden. Das freut mich sehr. Keine Sorge, ich hole mir noch weitere Wolldecken. Es sind genügend da. Nachts braucht sie niemand.«

Bald lagen die beiden Kinder nebeneinander auf zwei Liegestühlen und schauten in den Sternenhimmel.

»Interessierst du dich für Astronomie, Ruth?«

»Nein, damit kenne ich mich nicht aus. Aber sie sind toll! Hier kann man sie besser sehen, als bei uns daheim in der Stadt.«

»Das stimmt. Hier ist die Luft so klar und es gibt kein Streulicht, das die Städte wie unter einer Glocke einhüllt.«

Sie schwiegen eine Weile. Jens warf Ruth immer wieder Blicke zu.

»Wie lange bleibst du mit deinem Vater auf der Berghütte?«, fragte Jens.

»Ich bin drei Wochen vom Unterricht befreit worden. Danach fangen die großen Sommerferien an. Papa hat sich unbezahlten Urlaub genommen. Wir können lange bleiben, wenn wir wollen.«

»Ist deine Mutter dann nicht traurig, wenn sie allein ist?«

»Meine Mama ist tot. Sie ist vor einigen Monaten plötzlich gestorben.«

»Oh, das tut mir leid. Das wusste ich nicht. Blöd von mir, zu fragen.«

»Es muss dir nicht leid tun. Du konntest es nicht wissen.« Ruth kuschelte sich tiefer in die Decken. »Mama und ich saßen oft nachts auf unserer Terrasse und schauten in die Sterne, wenn Papa Nachtdienst hatte. Er ist Arzt und arbeitet im Krankenhaus. Mama sagte, dass es dem Menschen gut tut, in die Sterne zu schauen. Ich frage mich, ob sie ahnte, dass sie so schwer krank war.«

»Was sagt dein Papa dazu? Er ist doch Arzt. Weiß er es nicht?«

»Ich kann mit Papa nicht darüber reden. Es würde ihn sehr traurig machen, denke ich mir. Er ist ohnehin schon so traurig und macht sich Vorwürfe, weil er ihr nicht helfen konnte. Aber es war einfach zu spät, das sagen auch seine Kollegen.« Ruth seufzte tief. »Wir sprechen wenig über Mama. Eigentlich reden wir gar nicht über sie.«

»Meine Mama redet auch nicht über meinen Papa.«

»Warum? Ist er auch tot?«

»Mama sagt, er sei mit dem Auto verunglückt, als ich noch ein Baby war. Sie will auch nicht darüber reden, das spüre ich deutlich. Ich habe mich damit abgefunden. Christl ist als Mama ganz okay. Sie hat immer Zeit für mich und ist da, wenn ich sie brauche. Für mich würde sie sich mit jedem Menschen anlegen, denke ich. Aber manchmal beneide ich meine Mitschüler. Ich gehe auf eine reine Jungenschule. Dort gibt es zweimal im Jahr den ›Vater-Sohn-Tag‹. Da bin ich immer außen vor. Für die Spiele springt dann ein Lehrer ein, aber das ist nicht dasselbe, verstehst du?«

Ruth hörte aufmerksam zu.

»Hat deine Mutter keinen Freund?«

»Nein, sie hat nie einen anderen Mann angesehen. Jedenfalls weiß ich von keinem.«

»Papa sagt, dass es Schicksal sei, sich in den Richtigen zu verlieben. Mama und Papa hatten erst vor zwei Jahren geheiratet.«

Jens schaute Ruth erstaunt an.

»Ja, genau genommen ist Bernhard nicht mein richtiger Vater. Meinen richtigen Vater kenne ich nicht und weiß auch nichts von ihm. Mama sagte, er sei ein Hallodri gewesen. Wir könnten froh sein, dass wir ihn los sind. Ich wollte auch immer einen Vater haben wie alle meine Freundinnen. Bernhard wurde dann mein Vater. Als er Mama heiratete, hat er mich adoptiert. Jetzt ist Mama tot und er hat nur noch mich, sagt er. Sonst sagt er nichts. Er spricht nie von Liane. So hieß meine Mama.«

»Vielleicht denkt er, er würde dir weh tun, wenn er von ihr spricht.«

»Aber es ist doch auch nicht richtig, nichts zu sagen. Er tut so, als hätte es sie nie gegeben. Nur in seinen traurigen Augen kann ich sehen, wie schlimm es für ihn ist. Außerdem hat er seine ganzen Sachen ins Gästezimmer geräumt und das Schlafzimmer abgeschlossen. Er schläft seit Mamas Tod im Gästezimmer.«

»Er will nicht an sie erinnert werden, weil er den Schmerz nicht ertragen kann, denke ich mir.«

»Er muss ihn aber ertragen. Alles daheim erinnert an Mama. Sie hat das Haus eingerichtet. Wenn ich von der Schule heimkomme, dann ist es so, als würde sie gleich aus dem Garten hereinkommen. Oder sie wäre nur zum Einkaufen in der Stadt, verstehst du?«

Ruth seufzte wieder.

»Deshalb bin ich froh, dass wir hier sind. Hier oben auf der Berghütte ist es auch besser als beim Martin unten in Waldkogel. Doktor Martin Engler ist ein Studienfreund von Papa. Martins Frau ist nett. Aber ich spüre, dass sie nur heimlich über Mama reden. Sie sagen nie etwas, wenn ich im Zimmer bin.«

»Gemein!«

»Ja! Martin und Katja sind so lieb, dass es schon fast peinlich ist. Ich bin doch nicht krank, ich bin nur …«

Ruth brach den Satz ab. Ihr versagte die Stimme. Dicke Tränen rollten aus ihren Augen. Jens suchte unter der Decke in seinen Hosentaschen nach einem Taschentuch.

»Bitte, es ist etwas zerknautscht, aber es ist sauber.«

»Danke!«, schluchzte Ruth.

»Entschuldige, dass ich heule. Mädchen heulen nun mal mehr als Buben.«

»Unsinn, Ruth! Weine ruhig, wenn es dir gut tut. Musst dich deswegen nicht schämen.«

»Du darfst niemand etwas davon sagen. Papa würde traurig sein, wenn er es wüsste und alle würden wieder Mitleid mit mir haben.«

»Ich schwöre dir, niemand wird etwas erfahren. Großes Indianerehrenwort!«, sagte Jens.

Ruth wischte sich die Tränen ab und schnäuzte sich die Nase.

»Wie lange machst du mit deiner Mutter Urlaub?«

»Bei uns haben die Schulferien schon begonnen. Wir kommen jedes Jahr hierher und bleiben, solange Ferien sind. Wäre schön, wenn ihr auch bleiben würdet«, sagte Jens leise. Er war sehr verlegen. »Ich meine damit, ich würde mich wirklich sehr freuen, wenn ihr bleiben würdet. Wir könnten wandern und allerlei unternehmen.«

»Du bist doch mit Basti unterwegs.«

»Klar, Basti ist mein Freund. Wir sehen uns nur in den Ferien. Aber das bedeutet doch nicht, dass ich nur mit ihm zusammenhängen muss. Wir könnten zu viert Wandern gehen. Magst du?«

»Warum würdest du das tun? Wahrscheinlich hast du nur Mitleid mit mir wie die andern in der Schule auch. Seit Mama gestorben ist, werde ich fast jeden Tag von einer anderen Mitschülerin eingeladen.«

Jens stöhnte.

»Du bist wirklich schwer von Begriff, Ruth. Okay, okay, dann sage ich es dir, damit du es weißt. Sicher tust du mir leid. Aber das ist es nicht allein. Du bist anders als die anderen Mädchen, die ich kenne, die aus der Nachbarmädchenschule. Mit dir kann man sich richtig gut unterhalten. Du bist toll, Ruth, verstehst du?«

Ein Lächeln huschte über Ruths Gesicht. Sie warf ihm einen kurzen Seitenblick zu.

»Du bist auch toll, Jens.«

»Heißt das, du versuchst deinen Vater zu überreden, dass ihr auf der Berghütte bleibt?«

»Versuchen kann ich es ja mal.«

»Mama sagt immer, ›Probieren geht über Studieren‹. Das wird schon.«

Ruth gähnte.

»Wir sollten wieder hineingehen, Ruth, und noch eine Mütze Schlaf nehmen, wie man bei uns daheim sagt.«

»Ja, das sollten wir. Du kannst ruhig gehen. Ich bleibe noch einen Augenblick hier und will nachdenken!«

»Okay, dann bis morgen, Ruth!«

»Bis morgen, Jens!«

Jens schlich leise zurück in Sebastians Zimmer.

»Hast du wieder in die Sterne geguckt?«, fragte Sebastian in die Dunkelheit.

»Du bist wach? Ich wollte dich nicht wecken.«

Jens kroch in den Schlafsack auf dem Matratzenlager in der Ecke von Sebastians Zimmer.

»Du hast mich nicht geweckt. Bello kam hereingetappt und hat mich aufgeweckt. Ich war rausgegangen auf die Terrasse.«

»Ich habe dich nicht bemerkt.«

Sebastian kicherte.

»Klar doch, hast dich ja auch mit Ruth unterhalten. Die gefällt dir, wie? Mir musst nix vormachen. Ich habe schon beim Abendessen in der Wirtsstube gesehen, wie du ständig quer durch den Raum geschielt hast, in ihre Richtung. Die Ruth ist auch ein fesches Madl.«

»Gefällt sie dir auch?«

»Schon, aber nicht so, wie sie dir gefällt. Ich mag die kleine Schwester meines besten Freundes.«

Sie schwiegen einen Augenblick.

»Basti, hast du etwas dagegen, wenn wir Ruth morgen mit zum Wandern nehmen?«

»Dann will Franzi bestimmt auch mitkommen. Franzi geht nicht so schnell. Sie bummelt oft, schaut sich jedes Blümchen und Hälmchen an und jeden Schmetterling und kann stundenlang an einem Fleck verharren und den Salamandern zusehen. Aber es ist schon okay, dann gehen wir eben zu viert los, morgen Mittag, nach der Schule. Blöd, dass wir noch Unterricht haben und du schon Ferien!«

»Ach, die paar Tage gehen auch noch vorbei. Ich warte dann mit Ruth, bis ihr kommt. Dann gehen wir los. Wir werden bestimmt viel Spaß haben, Basti.«

»Kann schon sein.«

»Hab dich nicht so, Basti. Kannst froh sein, dass du eine Schwester hast.«

»Bin ich auch! Aber jetzt schlafen wir. Gute Nacht!«

Jens wünschte Sebastian auch noch eine gute Nacht und drehte sich zur Seite.

Ruth kuschelte sich auf dem Liegestuhl tief in die Decken und zog sie bis zum Kinn herauf. Sie schaute hinauf in den nächtlichen Sternenhimmel. Sie dachte an ihre Mutter. Sie fühlte sich ihr ganz nahe. In Gedanken erzählte sie ihr von Jens und dass sie ihn für einen lieben Jungen hielt. Sie überlegte, wie ihre Mutter ihn finden würde. Und plötzlich fielen ihr all die Gespräche mit ihrer Mutter wieder ein, die sie in den letzten Monaten vor ihrem Tod geführt hatten und an die sie sich bisher nicht hatte erinnern können.

Sie hatten über das Leben gesprochen. Es gäbe in einem Leben immer Höhen und Tiefen. Aus jeder Tiefe gehe der Mensch gestärkt hervor, mit vielen neuen Erfahrungen. Ihre Mutter hatte gesagt, dass es Schicksalsschläge geben könnte, die einen Mensch aus seiner Mitte reißen. Dann wäre es sinnlos, dagegen zu kämpfen und zu hadern. Schicksalsschläge, die nicht zu ändern sind, muss man annehmen. Wenn man sie angenommen hat, dann sind sie nicht nur leichter zu ertragen, sondern das Leben geht auch wieder geordneter weiter. Oft kommt etwas Schönes und Wunderbares danach.

»Weißt du, Ruth, es ist wie bei einer Autobahn, die gesperrt ist. Du weißt doch, wie das ist. Erinnerst du dich, als wir unterwegs waren, die Großeltern zu besuchen und von der Autobahn runter mussten? Wir fuhren einen großen Umweg durch viele kleine Dörfer. Auf den holprigen Landstraßen kamen wir nur langsam vorwärts. Aber die Landschaft begeisterte uns so, dass wir eine lange Pause einlegten und die Aussicht genossen«, hörte Ruth ihre Mutter sagen. »So ist das auch mit dem Leben. Es geht immer weiter, gelegentlich mit Hindernissen und dann wieder schnell auf glatter Straße. Wichtig dabei ist nur, dass man sein Ziel nicht aus den Augen verliert und die Menschen, die man liebt.«

Ruth trieb es die Tränen in die Augen, als sie sich weiter daran erinnerte, was ihre Mutter gesagt hatte.

»Eine Generation kommt nach der anderen. Kinder werden geboren und die ältere Generation macht Platz. Du wirst größer werden, einen Beruf ergreifen, dich verlieben und heiraten, selbst Kinder bekommen. All das wird nicht ohne Erfahrungen abgehen, gute und weniger gute. Denk nur daran, was du alles mitmachen musstest, bis du das Inline-Skating beherrschtest. Wie oft bist du hingefallen und hast dir Schrammen geholt! Das war nicht schlimm. Schlimm ist nur, wenn man liegenbleibt und nicht aufsteht oder sich aus Angst von etwas abbringen lässt.«

Plötzlich, unter dem nächtlichen Sternenhimmel von Waldkogel, auf der Terrasse der Berghütte, wusste Ruth, dass sie sich wieder dem Leben zuwenden konnte. Sie durfte fröhlich sein, lachen und sich freuen wie alle Mädchen in ihrem Alter und albern sein. Ruth schaute in den Sternenhimmel. Der Mond stand groß und silberhell in der Mitte. Es war ihr, als lächele er ihr tröstlich zu.

Mama will nicht, dass ich mich so einigele, dachte sie. Sie sagte immer, sie sei stolz auf mich, weil ich so fröhlich sei. Wenn sie doch irgendwo dort oben im Himmel ist, wie Papa sagt, und herunterschaut, dann will sie gewiss nicht, dass ich traurig bin, dachte Ruth.

Ruth hatte mit dieser Erkenntnis einen großen Schritt gemacht. Es war auch Jens, der ihr dabei geholfen hat. Sie war sich sicher, dass sie sich mit Jens gut verstehen und herrliche Ferien haben würde.

Sie stand auf, legte die Wolldecken zurück und ging zu Franziska ins Zimmer, um endlich zu schlafen.

*

Jens saß mit seiner Mutter schon auf der Terrasse, als Ruth mit ihrem Vater aus der Berghütte kam. Bernhard steuerte einen freien Tisch an. Jens stand auf und winkte Ruth zu.

»Papa, können wir uns zu Jens und seiner Mutter setzen?«

»Ruth, die beiden wollen sicher ungestört sein.«

»Ruth«, rief Jens und winkte erneut.

Jens’ Mutter drehte sich um und machte eine einladende Handbewegung auf die freien Stühle an ihrem Tisch.

»Das können wir nicht ablehnen, Papa. Das wäre unhöflich«, flüsterte Ruth leise.

Ihr Vater unterdrückte ein Schmunzeln. Er ging mit Ruth zu dem Tisch, an dem Jens und seine Mutter saßen.

»Guten Morgen oder Grüß Gott, wie man hier in den Bergen sagt. Ich darf mich vorstellen, Bernhard Groll.«

»Doktor Bernhard Groll«, rief Ruth sofort dazwischen. »Papa ist Arzt.«

Alle lachten.

»Christl Helminger, das ist mein Sohn Jens. Angenehm!«

»Guten Tag, Frau Helminger!«

»Nun setzt euch schon!«, sagte Jens ungeduldig. »Wir sind hier nicht in der Stadt, sondern auf der Berghütte. Wir sind alle Bergkameraden. Warum siezt ihr euch eigentlich? Also, ich bin der Jens!«

Er streckte Bernhard die Hand hin.

»Ich bin der Bernhard! Ruth kennst du ja schon.«

»Dann bin ich die Christl.«

»Aber nicht die Christl von der Post?«, lachte Ruths Vater.

Christl lachte ebenfalls.

»Den Spruch bekomme ich oft zu hören. Nein, ich arbeite nicht bei der Post. Aber genug der Vorrede, setzt euch.«

Ruth setzte sich Jens gegenüber, ihr Vater nahm den Stuhl Christl gegenüber.

Toni kam und brachte das Frühstück für Bernhard und Ruth.

»Wie habt ihr geschlafen?«, fragte Toni.

»Herrlich!«, schwärmte Ruth. Sie breitete die Arme weit aus und seufzte. »Hier ist es so schön! Es ist wunderbar. Hier möchte ich am liebsten für immer bleiben.«

Bernhard sah Ruth erstaunt an. So lebhaft und gesprächig hatte er sie schon lange nicht mehr erlebt. Der Aufenthalt auf der Berghütte schien bei ihr Wunder zu bewirken.

»Also, wenn du länger bleiben willst, Ruth, dann hoffe ich, dass Toni einen Platz für uns hat.«

Er schaute Toni an.

»Toni, du hast es gehört«, sagte Bernhard. »Ruth hat sich in die Berghütte verliebt.«

»Des ist schön. Da ist die Ruth nicht die Erste, der es so ergeht. Ihr könnt bleiben, solange ihr wollt.«

»Prima! Super!«, jubelte Ruth. »Und jetzt habe ich Hunger.«

»Dann iss dich satt, Ruth. Bei uns ist noch niemand verhungert.«

Bernhard sah mit viel Vergnügen, dass Ruth aß. Sie aß sich jetzt richtig satt, während sie in den letzten Wochen zu Hause sehr wenig gegessen hatte. Das freute ihn sehr.

»Toni hat mich gefragt«, sagte Jens, »ob ich mit Bello zur Oberländer Alm hinuntergehen möchte. Anna will backen und braucht noch Butter und Sahne. Du kannst mitkommen, wenn du willst, Ruth.«

»Papa, darf ich?«, fragte Ruth.

»Sicher, wenn es dir Spaß macht. Ich werde hierbleiben und die Aussicht genießen.«

Ruth sprang auf. Sie rannte mit Jens zu Anna in die Küche. Dort holte Jens die Packtaschen und schnallte sie Bello um. Dann liefen die Kinder los übers Geröllfeld zum Pfad, der hinunter zur Oberländer Alm führte.

Bernhard und Christl sahen ihnen nach und lächelten.

»Ich bin froh, dass Ruth so schnell Anschluss gefunden hat. Sie scheint zum ersten Mal wieder etwas fröhlicher zu sein«, bemerkte Bernhard.

»Ich habe Ruth gestern beobachtet. Sie kam mir sehr ernst vor.«

Bernhard trank einen Schluck Kaffee.

»Ja, es gab vor einiger Zeit eine gravierende Veränderung in ihrem Leben. Das hat sie sehr mitgenommen«, sagte er leise.

Jens hatte seiner Mutter längst alles berichtet. Aber Christl schwieg. Wenn er nicht vom Tode seiner Frau spricht, dann werde ich ihn nicht darauf ansprechen, dachte sie. Ich will keine Wunden aufreißen. Er will offenbar nicht davon sprechen.

»Jens mag Ruth gut leiden, denke ich mir. Bisher fand er Mädchen immer doof. Das scheint sich plötzlich geändert zu haben. Nun, er wird erwachsener.«

»Ja, das stimmt. Jedenfalls scheint Jens eine gute Therapie für sie zu sein. Er hat in den paar Stunden, seit wir hier sind, mehr bewirkt, als ich hätte tun können. Ruth hat zum ersten Mal wieder richtig gefrühstückt. Ich war echt ins Sorge, dass sie in die Magersucht abrutscht.«

»Da kannst du unbesorgt sein, Bernhard. Das wird nicht geschehen. Jens hat nämlich außer der Astronomie noch ein leidenschaftliches Hobby. Er kocht gern. Er hat schon mit Anna gesprochen, dass er in ihrer Küche dann und wann brutzeln darf. Ich gehe jede Wette ein, dass er und Ruth bald zusammen am Herd stehen werden.«

»Ein ungewöhnliches Hobby für einen Jungen, denke ich«, sagte Bernhard.

»Mein Vater ist Koch. Er hat Jens schon als kleinen Jungen mit in die Küche genommen. So wie andere Jungs Bücher über Technik und Computer lesen, sammelt Jens Kochbücher.«

»Vielleicht macht er eines Tages einmal einen Beruf daraus«, sagte Bernhard.

»Koch ist ein schöner Beruf. Mein Vater ging ganz darin auf. Bis zu seiner Rente hatte er ein eigenes Gasthaus. Er hat es danach verkauft. Es war gut, dass er einen eigenen Betrieb hatte. Dort war er den ganzen Tag bis spät in die Nacht mit meiner Mutter zusammen. Aber bei einem angestellten Koch bleibt die Familie oft auf der Strecke. Er arbeitet so gut wie jeden Abend, denn an Sonn- und Feiertagen wollen die Leute ins Restaurant gehen. So schön, wie der Beruf auch ist, er ist nicht sehr familienfreundlich. Jens ist ein Familienmensch. Ich kann mir nicht denken, dass er auf Dauer damit glücklich werden würde.« Christl seufzte. »Aber es ist seine Entscheidung. Ich sage mir immer, dass man Kindern nur Wege aufzeigen kann, gehen müssen sie sie allein.«

»Das stimmt. Es kommt der Zeitpunkt, da sind Eltern nur noch so etwas wie der ›Gelbe Engel‹ und hoffen, dass sie zu wenig Pannen gerufen werden.«

»Das ist eine gute Beschreibung, Bernhard. Die werde ich mir merken.«

Christl trank einen Schluck Kaffee.

»Ich bin Lehrerin und Vertrauenslehrerin an unserer Schule. Da gilt es auch oft, zwischen Eltern, Kindern und Lehrerkollegen zu vermitteln. Da kann es vorkommen, dass alle zu viel tun und dann ein Druck aufgebaut wird, sei es auch unbewusst, der zu Konflikten führt. ›Eltern sollen wie Gelbe Engel sein, die für Notfälle da sind.‹ Gefällt mir, gefällt mir sehr!«

»Darf ich fragen, was du unterrichtest?«

»Ich bin Lehrerin an einem Voll- und Tagesinternat und unterrichte Kunst und Sport. Vor den Ferien habe ich auch Vertretung gemacht für unsere Hauswirtschaftslehrerin. Sie bekam ein Baby. Aber nach den Sommerferien kommt sie wieder.«

Bernhard sah Christl noch einmal genauer an.

Er schmunzelte.

»Jetzt weiß ich, warum mir der Name so bekannt vorkam. Du bist die Eiskunstläuferin, richtig?«

»Ja, ich war es. Das ist lange her, fast fünfzehn Jahre. Dass du dich daran erinnerst? Das ist selten.«

»Oh, und wie ich mich erinnere! Ich habe keine Übertragung im Fernsehen ausgelassen, wenn du dabei warst.«

Christl lachte laut.

»Dann hast du auch meine Stürze gesehen. Der letzte Sturz, beim Wettkampf um die Meisterschaft, war dann das endgültige Aus. Schon auf dem Eis beschloss ich, die Schlittschuhe an den Nagel zu hängen. Ich entwickelte mich zu stark für diesen Sport. Das liegt bei mir in der Familie, meine Mutter ist auch etwas kräftig. Auf dem Eis sind Püppchen gefragt. Da konnte ich nicht mithalten.«

»Du hast ganz damit Schluss gemacht? Das ist doch schade, finde ich.«

»Privat laufe ich natürlich noch. Aber ich wollte damals nicht mehr und habe es nie bereut. Heute sage ich immer, das war alles in einem anderen Leben.«

Bernhard schenkte Christl und sich frischen Kaffee aus der Thermoskanne nach. Während er umrührte, sagte er leise:

»Das verstehe ich gut. Ich denke, jeder Mensch durchläuft verschiedene Abschnitte in seinem Leben. Wenn einer vorbei ist, ist er vorbei. Dann muss man etwas Neues machen.«

»Stimmt, Bernhard! Als Ex-Sportlerin habe ich es da gut. Es macht mir Freude, Sport zu unterrichten. Das bedeutet für mich die Chance, Freude an der Bewegung zu vermitteln, ohne den Leistungsdruck, wie er bei Wettbewerben herrscht. Ich selbst genieße meine sportlichen Aktivitäten sehr. Sicher steckt der Ehrgeiz noch irgendwie in mir. Es fällt mir gelegentlich schwer, Sport nur um der Freude willen zu machen. Dann pfeift mich Jens zurück. Gut, wenn man so einen Jungen hat.«

»Was für Sport machst du?«

»Im Winter gehe ich noch immer aufs Eis. Aber im Sommer klettere ich gerne. Toni hat mich dafür begeistert. Bist du auch Bergsteiger?«

Bernhard lachte.

»Ich bin der unsportlichste Mensch, den du dir vorstellen kannst. Ich nehme mir zwar immer wieder vor, mehr Sport zu treiben, aber mein Beruf stand immer im Vordergrund.«

»Ein Arzt zu sein ist eben mehr als ein Bürojob und so lange Ferien wie eine Lehrerin hast du auch nicht.«

»Das stimmt, dazu kommen die Nacht-, Sonn- und Feiertagsdienste, dazu noch die Sonderschichten, wenn der Dienstplan mal wieder ins Chaos abgleitet. Als Oberarzt habe ich ständig einen Pieper dabei und bin auf Abruf. Trotzdem hatte ich meinen Beruf geliebt.«

Christl sah ihn verwundert an.

»Habe ich mich jetzt verhört oder hast du wirklich in der Vergangenheit gesprochen?«

»Du hast schon richtig gehört, Christl. Ich stehe vor einer Neuorientierung in meinen Leben. Ich bin im Augenblick nicht im Dienst und feiere meine Überstunden ab. Ich überlege mir, ob es vielleicht besser ist, in die Forschung zu gehen. Da gibt es geregelte Arbeitszeiten und weniger Stress. Ich habe mehr Freizeit, kann besser planen und für Ruth ist das auch gut, denke ich mir.«

Er vermeidet es, über den Tod seiner Frau zu sprechen, dachte Christl.

Sie sprach den Punkt aber nicht an.

»Dann hast du auch Zeit für Sport. Du wirst selbst erleben, wie gut dir das tun wird. Du wirst im Kopf frei. Alles andere tritt zurück. Jedenfalls ist das bei mir so. Das kann dir zum Beispiel jeder Bergsteiger bestätigen. Wenn man am Berg ist, dann gibt es nur einen selbst und den Berg.«

»Klingt verlockend, so alles hinter sich zu lassen.« Bernhard überlegte kurz. »Meinst du ich könnte das auch noch erlernen?«

»Warum solltest du nicht?«

»Nun, ich bin vierzig, völlig untrainiert, habe Muskeln wie Pudding«, lachte er.

»Du wirst morgen nicht den Gipfel vom ›Engelssteig‹ erklimmen können. Aber mit der entsprechenden Vorbereitung kannst auch du in deinem sogenannten fortgeschrittenen Alter noch Bergsteigen. Warum nicht?«

»Was muss ich tun? Kannst du mir das sagen? Du bist die Fachfrau.«

»Das klingt, als wolltest du mich als Trainerin anheuern?«

»Das habe ich nicht zu fragen gewagt. Aber vielleicht könnte ich die Zeit hier auf der Berghütte für ein Fitnessprogramm nutzen.« Bernhard lächelte. »Um Ruth muss ich wohl nicht sorgen. Sie wird ihre Zeit mit Sebastian und Franziska verbringen und am meisten wohl mit Jens.«

Bernhard trank einen Schluck Kaffee.

»Da kam mir der Gedanke, dass ich etwas für mich tun könnte. Die Idee, dass man dabei den Kopf frei bekommt, das reizt mich sehr.«

»Also, wenn du willst, dann stelle ich dir gern einen Trainingsplan auf. Ich denke, du solltest mit leichtem Konditionstraining anfangen und dich dann steigern. Erwarte nicht, dass das schnell geht. Es kann sein, dass du erst im nächsten Jahr den Gipfel erklimmen kannst.«

»Das verstehe ich. Ich will nicht wie ein nasser Sack am Seil hängen und mich von den Bergkameraden auf den Gipfel ziehen lassen.«

»Das verstehe ich. Eine Seilschaft ist immer so stark wie der Ungeübteste unter ihnen.«

»Genau! Also, was kann ich tun?«

»Nun, wir können hinter die Berghütte gehen und ich mache mit dir ein Muskelaufbauprogramm. Dann könnte jeden Tag Ausdauertraining dazukommen, in Form von Wanderungen. Kennst du die Wanderstrecken in der Umgebung?«

»Nein, wenn ich Waldkogel besuchte, dann war ich nur einige Stunden bei meinem Freund im Dorf. Vielleicht hast du schon etwas von ihm gehört. Doktor Martin Engler ist Arzt in Waldkogel und ein sehr guter Freund von Toni.«

»Ich habe ihn und seine Frau auf einem von Tonis herrlichen Hüttenabenden gesehen. Zum Glück mussten Jens und ich noch nie seine Dienste in Anspruch nehmen.«

»Also, was die Strecken angeht, verlasse ich mich auf dich, Christl. Ich hoffe, dass ich nicht zur Belastung für dich werde.«

»Unsinn, dann läge die Schuld bei mir. Denn dann hätte ich dich überfordert. Wir fangen mit leichten Strecken an, kurze Strecken, mit geringer Steigung. Du wirst dich selbst an die nächste Herausforderung herantasten. Außerdem sage ich meinen Schützlingen immer, dass sie mir nichts beweisen müssen und sich selbst auch nicht. Ein stufenweises Training ist besser als maßloser Ehrgeiz.«

»Das stimmt!«

»Hast du Wanderzeug? Du brauchst feste, aber bequeme Wanderschuhe. Das richtige Schuhwerk ist entscheidend. Wenn dir bei jedem Schritt die Füße schmerzen, dann ermüdest du schneller und verkrampfst dich am ganzen Körper. Das kann sogar zu einseitiger Belastung führen und Schäden verursachen.«

»Hier, sieh selbst!«

Bernhard lehnte sich auf dem Stuhl zurück und hob den Fuß so hoch, dass Christl seinen Schuh sah.

»Das sind gute feste Schuhe, aber mehr für die gepflasterten Wege in der Stadt. Außerdem umschließen sie nicht den Knöchel.«

»Dann kaufe ich mir in Waldkogel Schuhe. Auf was muss ich genau achten?«

»Also, bevor ich dir jetzt einen langen Vortrag über richtiges Schuhwerk halte, biete ich an mitzukommen, falls du es nicht als zu aufdringlich ansiehst?«

»Keineswegs, ganz im Gegenteil, ich freue mich! Wann wollen wir zum Einkaufen nach Kirchwalden?«

»Wann immer du willst«, antwortete Christl.

Sie konnte die Augen nicht von ihm lassen.

»Wir müssen auf die Kinder warten. Lange kann es nicht mehr dauern, bis sie von der Oberländer Alm zurück sind.«

»Du willst Ruth mit nach Kirchwalden nehmen?«

»Ja, ich kann sie doch nicht hier allein lassen.«

Christl lächelte. »Da mache dir mal keine Sorgen. Außerdem bezweifele ich, dass sie mitkommen will. Jens macht sich absolut nichts aus Shoppingtouren. Er würde nur mitkommen, wenn Ruth mitgeht. Ich denke, wir können die beiden gut allein lassen. Jens wird auf Ruth aufpassen, da bin ich sicher.«

Bernhard überlegte eine Weile. Er trank seinen Kaffee aus.

»Du hast recht. Wahrscheinlich behüte ich Ruth zu sehr. Es fällt mir nicht leicht, ihr mehr Freiheit zu lassen. Es sind eben die schwierigen Umstände, in denen wir beide im Augenblick stecken. Nur so viel will ich sagen.«

Christl ahnte die Gründe. Sie schwieg aber wie bei den vorherigen Andeutungen.

»Ich kann zu den Umständen nichts sagen. Ich weiß nur, dass viele Väter dazu neigen, ihre Töchter zu sehr zu behüten. Dadurch können sie viel zerstören.«

»Ich verstehe, was du damit sagen willst, Christl. Wahrscheinlich klammere ich zu viel. Ich muss loslassen, das weiß ich, aber es gelingt mir nicht.«

»Du wirst schon einen Weg finden, Bernhard. Jetzt stellst du dich mal in den Mittelpunkt und tust etwas für dich. Das ist nicht nur gut für dich, sondern auch für Ruth.«

»Dann lass uns gehen. Vielleicht treffen wir die Kinder unterwegs.«

»Gut, ich ziehe mich um. Bis gleich!«

Christl stand auf. Bernhard sah ihr nach. Er nahm sie plötzlich als das wahr, was sie war. Sie war eine Frau mit einer guten Figur und sie war sehr hübsch und natürlich.

Sofort machte sich bei Bernhard das schlechte Gewissen bemerkbar. Er spürte sogar, wie ihm die Röte in die Wangen stieg. Er fühlte so, als würde er seine Liane betrügen. Nein, das darf nicht sein, nahm er sich vor. Christl ist eine nette Urlaubsbekanntschaft und nicht mehr. Ich werde meiner Liane immer treu bleiben. Das kann ich auch Ruth nicht antun. Ich bin ohnehin nicht ihr leiblicher Vater. Ruth würde sich noch verlorener vorkommen, wenn ich eine andere Frau ansehen würde. Außerdem ist niemand so wie Liane. Keine wird mich so glücklich machen wie sie.

Es kostete ihn viel Mühe, sein aufgeregtes Herz zu beruhigen. Es schlug schneller. Er atmete tief durch. Er stellte sich für einen Augenblick ans Geländer der Terrasse und sah über das Tal von Waldkogel und die Berge. Er saugte diese schöne Aussicht tief in sich ein und wollte damit die Bilder von Christl löschen, die sich immer und immer wieder in sein Bewusstsein drängten. Fast war er geneigt, die Verabredung abzusagen. Er spürte, dass etwas mit ihm geschehen war. Etwas, gegen das er sich mit aller Kraft stemmte. Nein, es durfte nicht sein. Er wollte es nicht.

Eine andere Frau darf niemals Lianes Platz in seinem Herzen einnehmen.

Noch während der so dastand, kamen Ruth und Jens mit Bello von der Oberländer Alm zurück. In dem Augenblick, als sie vor der Terrasse der Berghütte Bello die Packtaschen abnahmen, kam Christl heraus und sprach mit Jens.

Ruth kam auf Bernhard zugelaufen.

»Super, dass du mit Christl einkaufen gehst. Ich habe es doch gewusst, du brauchst auch Wanderschuhe. So kannst du wirklich nicht gehen. Also, beeile dich! Dann gehen wir zu viert oder auch zu sechst wandern, wenn Sebastian und Franziska mitkommen. Das wird schön!«

Ruth gab ihrem Vater einen flüchtigen Kuss auf die Wange und sagte Tschüss. Sie erklärte, dass sie keine Zeit habe. Sie wollte, zusammen mit Jens, Anna beim Kuchen backen

helfen.

Bernhard lächelte, als er Ruth davonlaufen sah. Sie war auf dem besten Weg, ihr inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Nur das zählte. Diese neue Fröhlichkeit wollte er bewahren. Er wollte Ruth immer das Gefühl geben, dass sie die Person war, die ihm am wichtigsten war und er ihrer Mutter die Treue hielt.

Christl kam.

»Du bist ja noch nicht fertig.«

»Ich hole nur schnell meine Jacke. Der Anblick der Berge hat mich einfach hier festgehalten.«

»Verständlich! Aber es gibt noch schönere Plätze in den Bergen. Ich werde sie dir alle zeigen.«

Bernhard holte seine Jacke. Er ging in die Küche der Berghütte und verabschiedete sich von Ruth. Diese hatte eine von Annas Schürzen umgebunden und knetete Teig in einer großen Schüssel.

»Nun geh schon, Papa«, sagte sie und rollte mit den Augen.

Bernhard schmunzelte und ging hinaus.

Toni sprach ihn an.

»Dein Madl ist hier gut aufgehoben. Musst dir keine Sorgen machen. Außerdem kommen bald Franzi und Basti aus der Schule. Sie haben heute früher Schluss. Die vier werden sich sicher einen schönen Tag machen. Mach dir auch einen schönen Tag. Pfüat di, Bernhard.«

Christl stand schon auf dem Geröllfeld und wartete. So ging Bernhard los, obwohl er das Gefühl hatte, er würde seine Vaterpflichten grob vernachlässigen.

*

Unter Christls Fittichen verwandelte sich Bernhard zumindest äußerlich in einen zünftigen Bergliebhaber. Als er am späten Nachmittag mit ihr das letzte Geschäft in Kirchwalden verließ und sich im Schaufenster betrachtete, musste er schmunzeln.

»Ich komme mir schon wie ein richtiger Bergler vor«, lachte er. »Jetzt bist du nicht nur Sporttrainerin für mich, sondern hast auch die Rolle der Einkaufsberaterin übernommen. Danke!«

»Gehört zum Job, sozusagen! Die richtige Sportkleidung ist wichtig. Das kannst du mir glauben. Ein Fußballer trainiert auch besser im richtigen Trikot.«

»Da mag etwas dran sein.«

»Jetzt hätte ich Lust, etwas zu essen. Bist du auch hungrig?«

Statt einer Antwort zu geben, sah Bernhard auf die Uhr.

»Du sorgst dich um Ruth?«

»Ja! Aber wir könnten noch schnell in ein Café gehen.«

Christl zückte ihr Handy. Sie drückt einige Tasten. Es läutete.

»He, Jens, ich bin’s! Wie geht es dir?«

Sie lauschte.

»Das ist ja toll! Dann wünsche ich euch viel Spaß. Gibst du mir mal Ruth? Ihr Vater möchte mit ihr sprechen.«

Christl reichte Bernhard das Handy.

»Hallo, Papa!«

»Hallo, Ruth! Tut mir leid, dass ich so lange fort war. Ich gehe jetzt noch kurz mit Christl in ein Café. Sie hat Hunger. Aber dann komme ich sofort. Bis es dunkel wird, bin ich wieder bei dir.«

»Musst dich nicht beeilen, Papa! Außerdem habe ich keine Zeit. Basti und Franzi, Jens und ich, wir bauen ein Biwakzelt hinter der Berghütte auf. Wir schlafen heute Nacht draußen. Wir tun so, als würden wir in den Bergen biwakieren. Das ist cool, findest du nicht auch?«

Bernhard schmunzelte. Ruth war ganz locker drauf, genauso, wie sie es vor dem Tod ihrer Mutter gewesen war, locker und immer einen flotten Spruch auf den Lippen.

»Papa, bist du noch da? Du sagst nichts.«

»Doch ich bin noch da. Warum wollt ihr draußen schlafen? Ist es nicht zu kalt?«

»Papa, hör auf! Mit dem Biwakzeug kannst du in großer Höhe übernachten, auf dem Gletscher und im tiefsten Schnee. Das ist einfach megacool. Aber jetzt habe ich keine Zeit mehr. Ich muss Jens helfen. Also, lass dir Zeit! Wenn du später kommst und ich schon schlafe, musst du mich nicht wecken, okay?«

»Okay, Ruth! Dann viel Spaß!«

»Danke, Papa, dir auch!«

Sie legte einfach auf. Bernhard gab Christl das Handy zurück. Er sah nicht sehr glücklich aus und rieb sich das Kinn.

»Nun, was hat Ruth gesagt?«

»Sie hat nicht viel gesagt, irgendetwas von Biwakieren.«

»Ach so, das machen Franzi, Basti und Jens jeden Sommer, wenn wir zu Besuch sind.«

»Ich habe nichts dagegen, aber irgendwie war ihr mein Anruf lästig. Sie sagte zwar nichts, aber ich habe es gespürt.«

»Klingt, als wärst du enttäuscht, dass sie nicht nach dir gejammert hat.«

»Du bist eine gute Menschenkennerin, Christl«, sagte Bernhard und schaute sie an.

»Grüble nicht so viel! Ich habe Hunger. Ich könnte einen Bären verschlingen. Wie wäre es, wir gehen nicht in ein Café, sondern in den Biergarten. Hier in Kirchwalden gibt es einen tollen Biergarten. Kennst du ihn?«

»Nein, aber ich lasse mich gern überraschen.«

»Gut, dann schlüpfe ich eine weitere Rolle. Jetzt bin ich Fremdenführerin in Kirchwalden. Auf geht’s, immer mir nach!«

Sie brachten die Tüten zum Auto und fuhren zum Biergarten. Dort stellten sie es auf dem Parkplatz ab.

»Sehr voll«, bemerkte Bernhard.

»Nur hier vorne sind alle Tische besetzt. Lauf einfach hinter mir her. Ich kenne mich aus und weiß, wo es ruhiger ist.«

Bernhard folgte Christl durch die engen Reihen der Biertische und Bänke. Sie lief um die Schenke herum. Auf der anderen Seite des Hauses standen, unter alten Bäumen, kleinere Einzeltische und Klappstühle. Sie setzten sich. Christl bot an, zu bestellen.

»Es gibt hier Spezialitäten, die stehen nicht auf der Speisekarte.«

Es dauerte nicht lange, dann kam eine ältere Frau im Dirndl, mit schwarzer Schürze, an den Tisch.

»Mei, du bist es wirklich, Christl. Gerade gestern habe ich an dich gedacht. Ich dachte, es sind wieder Ferien und dann kommen die Christl und der Jens. Wo ist der Bub?«

»Dürfen sich Eltern nicht auch mal einen schönen Tag machen?«

»Oh, dann gehört der fesche Bursche zu dir?«

»Nein, er ist nur Ruths Vater. Jens und Ruth haben sich auf der Berghütte angefreundet.«

»Ach so, ich dachte schon … Naja, ich will ja nix sagen, aber wenn man euch so zusammen sieht, dann kann man schon denken, was für ein schönes Paar ihr seid. Ich hatte schon die Hoffnung, dass du endlich einen Burschen gefunden hast, Christl.«

»Hör auf, du wirst es nicht schaffen, mich zu verkuppeln! Bring uns lieber zwei Bier und diese Spezialbrotzeit, die du so wundervoll machst.«

»Die sollt ihr haben. Aber des dauert ein bisserl. Du weißt, dass wir die net auf der Speisekarte haben. Die ist unseren ganz besonderen Gästen vorbehalten.«

»Wir warten gern.«

Sie ging davon. Bald brachte sie den beiden ihr Bier. Dabei betrachtete sie Christl und Bernhard eindringlich. Es stand ihr ins Gesicht geschrieben, was sie dachte, aber die alte Frau schwieg.

»Prosit«, sagte Christl.

»Zum Wohl«, wünschte Bernhard.

Sie tranken.

Christl schmunzelte und sagte:

»Die alte Eva-Maria hat den Biergarten vor über fünfzig Jahren mit ihrem Mann aufgemacht. Inzwischen ist sie Witwe und der Biergarten liegt in den Händen ihrer Kinder und Enkel. Trotzdem arbeitet sie noch jeden Tag. Sie hat eine große Familie und will jeden unter die Haube bringen. Das ist eine fixe Idee von ihr. Das überhöre ich.«

»Du bist alleinstehend?«

»Ja«, sagte sie leise. Sie sah ihn dabei erwartungsvoll an.

»Da haben wir etwas gemeinsam.«

Bernhard trank einen Schluck Bier. Er nahm einige Bierdeckel, die auf dem Tisch lagen, und spielte damit.

»Ich bin auch ein Alleinerziehender. Ich bin nicht geschieden, ich bin Witwer. Zu Beginn des Jahres ist Liane verstorben. Es ging ganz schnell. Ich konnte nichts mehr für sie tun.«

»Du musst nicht darüber sprechen, wenn du nicht willst, Bernhard. Erinnerungen schmerzen, wenn man sie sich ins Bewusstsein ruft, gleichgültig, wie lange es her ist.«

»Klingt, als hättest du auch schlimme Erfahrungen gemacht.«

»Das habe ich«, seufzte Christl. »Es bleiben immer Fragen, auf die einem nie mehr jemand eine Antwort geben kann.«

»Das stimmt. Man fragt sich im Nachhinein, warum habe ich damals so gehandelt, warum habe ich das oder jenes gesagt, warum habe ich etwas nicht gesehen, warum, warum, warum.«

»Ja, genau so ist es.«

Die alte Eva-Maria kam und brachte ein riesiges Holzbrett mit regionalen Köstlichkeiten.

»Wohl bekomm’s«, sagte sie.

Bernhard und Christl dankten und fingen an zu essen.

»Zurück zum Thema, Bernhard. Diese Gedanken, die einem immer wieder beschäftigen, die sind auch dafür verantwortlich, dass man sich mehr Sorgen macht. Jedenfalls ist es bei mir so. Es ist nicht einfach, in Bezug auf Jens Entscheidungen zu treffen. Dabei merke ich schon, dass in unserer Familie jemand fehlt.«

»Ich verstehe dich. Früher, als Liane noch da war, sprachen wir über Ruth. Heute denke ich hundertmal über jede Kleinigkeit nach. Es ist schwerer, wenn die Verantwortung nicht von mehreren Schultern getragen wird.«

Christl nickte. Sie aß ein Brot mit Wurst.

Bernhard verspürte plötzlich das Bedürfnis, sich mit Christl auszutauschen, ja noch mehr, sich ihr anzuvertrauen. »Wenn ich zu viel rede oder dich mit meinen Sorgen zu sehr belaste, dann sage es bitte, Christl.«

»Das tust du nicht. Ganz im Gegenteil, es ist gut für mich zu reden und zu erfahren, dass du dich auch quälst und alles richtig machen willst. Ich bin zwar Lehrerin. Die Schulleitung meint, ich sei eine sehr gute Pädagogin. Aber beim eigenen Kind zweifelt man immer.«

»Ich denke, das ist normal. Bei mir kommt noch etwas hinzu. Ruth ist nicht mein leibliches Kind. Liane hat sie vor drei Jahren mit in unsere Beziehung gebracht. Ich habe sie adoptiert. Wie verstehen uns großartig. Wer es nicht weiß, wird es nicht vermuten.«

»Du hast Angst, dass dir Ruth eines Tages ins Gesicht sagt, dass du ihr nichts zu sagen hast, weil du doch nicht ihr richtiger Vater bist?«

»Ja, das ist auch ein Teil meiner Angst. Über Ruths leiblichen Vater weiß ich sehr wenig. Ruth stammt aus einer Beziehung, die sehr tragisch endete. Liane sprach nie darüber. Ich habe sie nie bedrängt, mir alles zu erzählen. Nach ihrem Tod fand ich im Kleiderschrank Papiere und einen Brief an Ruth. Den soll sie bekommen, wenn sie erwachsen ist. Ich weiß nicht, was drin steht.«

»Dann hat deine Liana alles mit ins Grab genommen, bis auf das, was im Brief steht.«

»Ja, so ist es!«

»Das ist ein schweres Erbe. Du hast auch Angst, dass Ruth dich nach ihrem leiblichen Vater fragen könnte? Das verstehe ich gut. Es gab eine Zeit, da hat Jens fast täglich gefragt. Es war schlimm für mich. Doch seit Jahren ist das kein Thema mehr. Das ist beunruhigend.«

»Sicher hast du Jens die richtige Antwort gegeben. Sie genügt ihm.«

Christl schüttelte den Kopf.

»Ich weiß, dass Jens sich im Stillen nach einem Vater sehnt. Er empfindet es als Mangel. In der Schule haben sie zweimal im Jahr einen Vater-Sohn-Tag. Es werden Spiele gemacht und so weiter. Einige Jahre lang ließ es Jens zu, dass Lehrer einsprangen. Seit dem letzten Jahr klagt er an diesem Tag über Bauchschmerzen. Ich schreibe ihm dann eine Entschuldigung. Du verstehst?«

»Ja, ich verstehe. Er wird schon damit fertig werden, Christl.«

»Das hoffe ich auch. Ich habe Jens gesagt, dass sein Vater bei einem Unfall ums Leben gekommen sei. Damals sei er noch ganz klein gewesen. Das ist nur die halbe Wahrheit.«

»Willst du mir die ganze Wahrheit anvertrauen? Es bleibt unter uns.«

Christl überlegte.

»Ja, warum nicht? Ich stand kurz vor meiner Hochzeit mit Jens’ Vater. Er war auch Sportler. Da ertappte ich ihn mit einer anderen. Ich stellte ihn zur Rede. Wir stritten heftig und brüllten uns an. Wütend verließ er die Wohnung, stieg ins Auto und fuhr davon.«

Sie trank einen Schluck Bier.

»Stunden später standen meine Eltern und seine Eltern bei mir vor der Tür. Alle hatten Tränen in den Augen. Er war mit dem Sportwagen an einen Baum gefahren. Für mich brach eine Welt zusammen. Natürlich sprach ich darüber, dass wir uns gestritten hatten. Seine Eltern gaben mir die Schuld an seinem Tod. Dabei wussten sie genau, dass er ein Hallodri war. Ich wusste es auch, aber ich dachte, er bessert sich. Er war mir wohl eine Weile treu gewesen. Jedenfalls stellte ich fest, dass ich schwanger war. Ich zog in eine andere Stadt und fand dort Arbeit, nachdem Jens geboren war. Weder meine Familie, noch die Familie meines damaligen Verlobten weiß, wer Jens’ Vater ist. Nirgends habe ich Angaben über den Vater gemacht. Ich zog meinen Jungen allein groß.«

»Das war sicher nicht einfach«, sagte Bernhard mit echter Anteilnahme in der Stimme.

»Nicht, dass es Jens mir schwer macht. Er ist ein wunderbarer Junge. Es sind die Vorwürfe, die ich mir selbst mache, wegen dem Streit in der Nacht.«

»Ich frage mich immer, warum ich Liane nicht angesehen habe, dass sie krank war, bis es bereits zu spät war. Ich konnte ihr nicht mehr helfen.«

Christl schaute Bernhard an.

»Du trauerst um sie. Doch gleichzeitig hast du Gewissensbisse, weil du auch irgendwie wütend bist, weil sie euch alleine gelassen hat.«

»Christl, das hast du schön erkannt. Genau so ist es, genau so. Und dann ist da noch Ruth. Sie spricht nicht über Liane. Sie war wie erstarrt – bis gestern.«

»Freue dich einfach, dass es Ruth auf der Berghütte gut geht.«

»Das tue ich.«

»Bernhard, Kinder bekommen viel mehr mit, als wir Erwachsenen denken. Ruth ahnt oder weiß, wie schwer dir alles ist. Sie will stark sein für dich. Das schafft sie nur, weil sie sich still in sich zurückzieht. Sei gewiss, irgendwann kommt in eurem Leben der Augenblick, in dem ihr offen über alles reden könnt, auch wenn es noch einige Jahre dauern kann. Grüble nicht so viel. Treibe Sport! Glaub mir, das Bergsteigen wird dir den Kopf freimachen.«

»Dir glaube ich alles«, sagte Bernhard.

»Dann ist es gut, das soll auch so sein. Der Sportler muss seinem Coach vertrauen.«

Sie aßen weiter und schwiegen. Jeder spürte, wie nahe sie sich gekommen waren. Unausgesprochen war jedem klar, dass sich der andere noch nie vorher so weit geöffnet hatte.

Es knisterte zwischen ihnen. Bernhard dachte an das Versprechen, das Liane ihm vor ihrem Tode abverlangt hatte. Sie wollte nicht, dass er für den Rest seines Lebens allein bleibe.

›Wenn dir einmal jemand begegnet, der dir gefällt, Bernhard, dann verschließe nicht dein Herz. Ich will sterben mit dem Gedanken, dass du eines Tages wieder einen Menschen an deiner Seite haben wirst, der dich liebt. Du bist ein wunderbarer Mann und wirst für Ruth ein sehr guter Vater sein. Mache Ruth nicht zu deinem einzigen Lebensinhalt. Du hast auch ein Recht auf Leben und Glück. Denke nicht nur an Ruth, denke auch an dich‹, hatte Liane gesagt.

Bernhard hatte Lianes Hand gehalten und es ihr versprochen. Sie hatte gelächelt. Sie kannten sich gut. Er wusste, dass sie ihm nicht ganz glaubte, sondern nur so tat. An ihrem Grab hatte er sich selbst geschworen, ihr die Treue zu halten, bis sie sich eines Tages in der anderen Welt wiedersähen.

Und jetzt saß ihm Christl gegenüber. Sie war jung, hübsch und sportlich, und auf ihre Art weise. Ruth und Jens waren Freunde geworden und Ruth war aufgeblüht. Würde sie das auch bleiben, wenn sie wüsste, dass er sich für Christl interessiere? Dass er bei ihr anders hinsah als bei anderen Frauen, das war ihm bewusst. Trotzdem, ich kann niemals eine andere Frau so lieben wie Liane. Ich kann einer anderen Frau niemals sagen, dass ich sie liebe, dachte er.

Christl dachte auch darüber nach, wie es sein würde, wenn sie und Bernhard sich näher kämen. Nach der Sache mit Jens’ Vater hatte sie sich geschworen, nie mehr einem Mann zu vertrauen. Doch Bernhard brachte ihren Entschluss ins Wanken. Christl wusste nicht, warum in ihr plötzlich Gefühle waren, von denen sie angenommen hatte, sie könnte sie nie mehr empfinden. Sie sehnte sich nach ihm. Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug. In ihrem Kopf purzelten die Gedanken durcheinander.

Ihre Sorge war groß, dass Jens es nicht verkraften könnte, wenn ein anderer Mann, überhaupt ein Mann, in ihr Leben treten würde. Bisher war das ihre größte Sorge gewesen. Aber jetzt war alles anders. Jens erlebte mit Ruth eine erste zarte Teenagerliebe.

Vielleicht war es Jens noch nicht bewusst, dass sich zarte Bande für Ruth in seinem Herzen regten. Aber er würde es irgendwann erkennen und damit eine Ahnung haben, was Liebe sein kann oder sein sollte. Bis er erwachsen ist, vergehen noch einige Jahre, aber schließlich wird ihm eines Tages die wahre Liebe begegnen und ihn reifen lassen. Das konnte aber noch dauern. Bis dorthin hatte sie sich vorgenommen, das Thema Liebe aus ihrem Leben zu verbannen. Sie bildete sich ein, dass Jens eifersüchtig sein würde. Jetzt war er ihr Mittelpunkt.

Wenn ich mein Herz verschenke oder jemand erlaube, mir nahe zu kommen, dann wird Jens sich zurückgesetzt sehen, dachte Christl.

Sie bedauerte, sich darauf eingelassen zu haben, Bernhard zu trainieren. Es war seine Ausstrahlung, die sie angezogen hatte. Sie wollte bei ihm sein, einen Grund haben, um in seiner Nähe zu sein.

Sie seufzte, ohne dass sie es bemerkte.

»Gibt es etwas, was dir Sorgen macht?«, fragte Bernhard.

Christl errötete.

»Ich dachte nur so im ganz Allgemeinen, wie schwierig das Leben sein kann und dass diese Schwierigkeiten Spuren hinterlassen, Spuren, die tief eingegraben sind wie Fahrrinnen auf alten Straßen.«

»Das hast du schön gesagt, Christl. Ja, so ist es. Die Fahrrinnen sorgen dafür, dass man auf dem Weg bleibt, immer schön in der Mitte. Das ist auch gut so. So läuft man weniger Gefahr, in einen Abgrund zu stürzen.«

»Stimmt!«, sagte Christl und sah Bernhard in die Augen.

Kam es ihm nur so vor, als widersprächen ihre Augen oder täuschte er sich. Christl lächelte verlegen.

»Leider sind deine ›Gelben Engel‹ nicht immer in der Nähe, um bei einem Notfall ausrücken zu können. Man muss schon selbst auf sich aufpassen und Weg und Ziel kennen.«

»Das stimmt, Christl!« Er lächelte sie an. »Es ist schön, mit dir zu sprechen. Ich bin mir sicher, dass dich Liane als Freundin sehr geschätzt hätte.«

»Das freut mich. Ich weiß, dass das ein großes Kompliment ist. Es ist auch schön für mich, mit dir zu reden. Ich muss gestehen, dass ich noch nie mit einem Mann über meine Vergangenheit gesprochen habe. Ich habe mir sorgfältig eine Scheinwelt aufgebaut und daran eisern festgehalten. Ich ließ, wenn es mal dazu kam, jeden Mann wissen, dass ich Witwe sei und keinen Wert darauf lege, näher mit ihm bekannt zu werden. Du verstehst?«

»Ja, ich verstehe. Ich werde das, was du mir anvertraut hast, auch niemandem erzählen. Wollen wir es damit bewenden lassen?«

»Gute Idee, es ist ohnehin alles gesagt. Wir haben uns jetzt etwas kennengelernt und wissen, dass wir uns vertrauen können. Am Berg ist das wichtig. Lass uns morgen mit dem Training beginnen. Du wirst sehen, am Ende der Ferien bist du ein neuer Mensch.«

Nachdem sie mit dem Essen fertig waren, saßen sie noch eine Weile zusammen und tranken ihr Bier. Dabei sprachen sie über Ruth und Jens und über Kinder im Allgemeinen. Christl erzählte von dem Sommer, als der Hang oberhalb des Waldes am ›Höllentor‹ nachgegeben und ein Bergrutsch Sebastian und Franziska binnen Minuten zu Vollwaisen gemacht hatte.

»Es muss schrecklich für die Kinder gewesen sein, Augenzeugen zu sein und nicht helfen zu können.«

»Ja, das war es. Es ist für Toni und Anna noch jeden Tag ein Wunder, wie gut sich die Kinder entwickeln, wie fröhlich sie sind und wie wunderbar alle zu einer Familie zusammengewachsen sind.«

»Ja, das ist schön und muss jedem Hoffnung geben, der es sehen und miterleben kann«, sagt Bernhard nachdenklich.

»Anna nennt die beiden ›Geschenke des Himmels‹, weil ihre Ehe bisher kinderlos ist. Ich bin eng mit ihnen befreundet. Aber sie behalten es für sich, warum sie keine Kinder bekommen, falls sie es wissen. Toni sagt, wir haben Franzi und Basti. Damit ist unser Kinderwunsch erfüllt worden. Alles was die Zukunft bringt, nehmen wir an.«

»Das ist eine gute Einstellung«, sagte Bernhard nachdenklich.

Inzwischen war die Sonne untergegangen. Die bunten Glühbirnen, die zwischen den Bäumen hingen, leuchteten. Sie zahlten und gingen zum Auto.

Auf der Landstraße nach Waldkogel war wenig Verkehr. Sie stellten das Auto leise auf der Wiese hinter der Oberländer Alm ab und wanderten hinauf auf die Berghütte.

*

Vier Wochen vergingen. Christl nahm Bernhard jeden Morgen unter ihre Fittiche. Hinter der Berghütte absolvierte er ein Muskelaufbauprogramm und spezielle Trainingseinheiten, wie sie für Bergsteiger nützlich waren. Nachmittags wanderten er und Christl durch die Berge. Dabei führte ihn Christl weiter in den sportlichen Bereich des Bergsteigens ein. Abseits in stillen Seitentälern, ließ sie ihn seine Kenntnisse und sein Geschick an Felswänden ausprobieren.

»Bernhard, du machst das sehr gut«, rief ihm Jens zu.

»Danke für das Kompliment, Jens.«

Jens und Ruth begleiteten Christl und Bernhard fast jeden Tag.

»Wenn du so weitermachst, dann kannst bald einen Gipfel anpeilen«, sagte Jens.

»Mein Junge, das ist gut gemeint, aber ich bin noch lang nicht so weit.«

Jens grinste.

»Ich bin kein Experte wie Mama. Aber du bist ziemlich gut. Also ich würde mit dir in die Wand gehen«, sagte Jens und lächelte ihn an.

Bernhard, der ungefähr sechs Meter über dem Boden am Felshang hing, seilte sich ab.

Er klinkte das Seil aus seinem Hüftgurt und trat zu Jens.

»Also, das ist ein Wort, Jens! Das bedeutet, dass du mir dein Leben anvertrauen würdest. Das ist schön. Wenn deine Mutter nichts dagegen hat, dann gehörst du zu der ersten Seilschaft, die mich auf den Gipfel führt.«

»Cool! Wer ist noch dabei?«, fragte Jens und warf seiner Mutter einen Seitenblick zu.

»Toni kommt mit und sein Freund Doktor Martin Engler und ich sind dabei. Also, wenn du willst, dann bist du auch dabei, Jens.«

»Wirklich?«, strahlte Jens und schaute Bernhard an.

Bernhard lächelte und streckte Jens die Hand entgegen.

»Du gehörst zu der Seilschaft, Hand drauf!«

Bernhard und Jens gaben sich die Hand.

»Das wird super werden, Bernhard. Auf dem Gipfel will ich ein Fo­to nur von dir und mir«, rief Jens begeistert aus.

Dann schoss ihm die Röte in das Gesicht. Er rieb sich das Kinn. Verlegen schaute er Ruth an.

»Entschuldige, Ruth, das war ziemlich egoistisch von mir. Was wirst du in der Zeit machen? Wenn du willst, dann verzichte ich und bleibe bei dir.«

»Jens Helminger, du spinnst«, lachte Ruth. »Oder wie Franzi und Basti sagen würden: so ein Schmarrn! Du kletterst mit meinem Vater auf den Berg und passt auf, dass er sich nicht übernimmt. Er ist nämlich ganz schön ehrgeizig. Ich lege mich auf der Terrasse der Berghütte in den Liegestuhl und beobachte euch mit dem Fernglas. Wehe wenn ihr nicht winkt, wenn ihr auf dem Gipfel seid! Außerdem warte ab, Jens. Aus mir wird auch noch eine Bergsteigerin. Wir haben in der Schule genauso eine Kletterwand wie hier in Waldkogel. Ich werde bis zum nächsten Jahr alle Schwierigkeitsgrade üben und in den nächsten Ferien, wirst du schon sehen.«

»Das heißt …, das heißt, du willst im nächsten Jahr wieder zusammen mit mir die Ferien verbringen?«

Ruth rollte die Augen, stemmte die Arme in die Seite und warf ihrem Papa einen Blick zu.

»Papa, du bist Arzt. Kannst du bitte Jens’ Ohren untersuchen? Ich diagnostiziere schweren Hörverlust.«

Bernhard und Christl lachten laut.

»Jens hat dich genau verstanden, Ruth«, sagte Bernhard. Er schaute Christl an.

»Christl, du hast zwar gesagt, dass ich am Ende der Ferien so weit sei, dass ich mit einer guten Seilschaft den Gipfel des ›Engelssteigs‹ erreichen könnte. Aber ich habe es mir überlegt. Ich möchte meinen ersten Aufstieg verschieben, bis nächstes Jahr. Dann könnten wir vielleicht alle zusammen hinauf, wir vier und Toni mit dem Martin. Wie denkst du darüber?«

»Das ist ein schöner Gedanke, Bernhard.«

»Papa, du musst wegen mir nicht auf das diesjährige Gipfelerlebnis verzichten«, protestierte Ruth. »Wie blöd, dass ich etwas gesagt habe. Hätte ich nur den Mund gehalten!«, jammerte Ruth.

Christl legte mütterlich den Arm um Ruths Schultern. Es war eine ganz spontane Geste, die ihr erst bewusst wurde, als sich Ruth an sie kuschelte.

»Christl, rede es Papa aus. Du hast doch Einfluss auf ihn. Ich will nicht, dass er verzichtet.«

Christl drückte Ruth an sich.

»Meine liebe Ruth, es ist kein Verzicht. Wir schieben den gemeinsamen Aufstieg nur um ein Jahr hinaus. Ich bin sicher, dass er zusammen mit dir ein unvergessliches Erlebnis wird.«

»Das wird er! Wir lassen uns beide vor dem Gipfelkreuz fotografieren, Ruth! Das Bild heben wir dann immer auf. Wir können uns bis zum nächsten Sommer auch so treffen und trainieren«, schlug Jens vor. »Das ist doch eine gute Idee, nicht wahr Mama?«

»Je besser eine Seilschaft sich kennt und aufeinander abgestimmt ist, desto sicherer ist sie.«

»Du hast es gehört, Ruth«, sagte Jens. »Also, bist du einverstanden?«

Ruth nickte und kuschelte sich weiter an Christl.

»Dann tust mit mir auch trainieren?«

»Aber sicher, meine liebe Ruth. Warum hast du nicht schon früher etwas gesagt?«

Ruth zuckte mit den Schultern. Dann sagte sie leise:

»Papa war so traurig nach Mamas Tod. Ich sah, wie viel Freude es ihm machte und dachte, er soll seinen Spaß haben. Ich war froh, dass er etwas für sich machte.«

Bernhard streichelte ihr übers Haar.

»Du bist ein wunderbares Mädchen, Ruth! Deine Mutter wäre stolz auf dich gewesen.«

Ruth sah den traurigen Schimmer in seinen Augen und ergriff die Hand ihres Vaters.

»Papa, ich werde Mama nie vergessen. Aber sie kommt nicht wie­der. Wenn wir immer nur traurig sind, dann ist das nicht richtig. Sie wollte bestimmt nicht, dass wir traurig sind.«

Bernhard sah Ruth lange an.

»Vielleicht hast du recht, Ruth. Vielleicht ist es wirklich so, dass sie es nicht wollte. Deine Mutter wird immer ein Teil von uns sein. Sie war ein fröhlicher Mensch und brachte immer alle zum Lachen.«

»Das war sie«, sagte Ruth. »Sie konnte immer über alles lachen.«

Und plötzlich sprudelten aus Ruth all die Erlebnisse heraus. Sie erinnerte sich plötzlich wieder an so vieles und sie konnte darüber reden. Sie erzählte, wie sie eine große Glasschüssel voller Schlagsahne hatte fallen lassen und die Küche aussah, als hätte es geschneit, weil überall Kleckse von Schlagsahne hingen.

»Christl, Mama lachte nur und meinte, das sehe aus wie auf einem Happening von Beuys.«

Ruth schüttelte sich vor Lachen.

»Papa meinte, der Vergleich stimme nicht ganz. Der große Künstler hätte Butter genommen oder Fett und keine Sahne«, kicherte Ruth.

»Wenn ich euch besuche, dann bringe ich einige Dosen Margarine mit, Ruth. Wir können ja mal sehen, ob wir das auch hinbekommen«, lachte Jens.

»Jens!«, sagte seine Mutter. Ein tadelnder Unterton lag in ihrer Stimme.

»Mama, was hast du? Warum sollte ich das nicht sagen? Es war doch nur ein Scherz. Außerdem war doch eh klar, dass wir uns regelmäßig gegenseitig besuchen oder? Wir müssen doch trainieren.«

Christl errötete leicht.

»Das stimmt schon, Jens. Aber man lädt sich nicht einfach bei jemandem daheim ein.«

»Ist schon okay, nicht wahr, Papa?«, fragte Ruth.

»Um es mit deinen Worten zu sagen, Ruth. Es ist ganz okay!«

Ruth und Jens fielen sich in die Arme und hüpften herum.

Bernhard schmunzelte. Er nahm den Gurt ab und wickelte das Seil auf. Er verstaute alles in seinem Rucksack.

»Leute, ich mache den Vorschlag, wir gehen zurück zur Berghütte und essen alle zusammen Käsefondue.«

Jens flüsterte Ruth etwas ins Ohr. Sie nickte eifrig.

»Klasse Idee! Papa, Jens und ich laufen vor.«

Die beiden warteten eine Antwort der Erwachsenen nicht ab, sie nahmen sich bei den Händen und rannten davon.

Bernhard und Christl sahen ihnen nach.

»Sie sind Freunde fürs Leben geworden, Christl.«

»Das stimmt, Bernhard. Das ist schön. Freunde sind wichtig im Leben. Kinder haben es dabei einfacher als wir Erwachsene.«

»Das stimmt. Sie sind um ihre Unbefangenheit zu beneiden«, sagte er leise.

Sie gingen schweigend zur Berghütte zurück. Keiner verspürte das Bedürfnis nach einem Gespräch. Jeder kämpfte mit den Gefühlen in seinem Inneren. Bernhard und Christl schwiegen aus Angst, wenn sie sprächen, würden sie sich vielleicht dazu hinreißen lassen, Dinge zu sagen, die sie nicht wollten. ›Wenn das Herz voll ist, läuft der Mund über‹, heißt es in einem alten Sprichwort.

So stand ein Schweigen zwischen ihnen, das aber so viel sagte. Sie waren beide aufgewühlt und vermieden es sogar, sich anzusehen.

*

Die Sonne stand schon tief über den Bergen im Westen, als Christl und Bernhard auf der Berghütte ankamen. Toni begrüßte sie schon auf der Terrasse.

»Ich habe den Auftrag, euch hier festzuhalten. Jens und Ruth haben sich etwas ausgedacht. Die Kinder sind noch mit den Vorbereitungen beschäftigt. Setzt euch dort an den Tisch. Ich bringe euch ein Bier«, blinzelte ihnen Toni zu.

»Da bin ich gespannt«, sagte Bernhard. »Christl, da müssen wir uns wohl fügen oder wir verderben den beiden die Freude.«

»Was wir nicht verantworten können«, lachte Christl.

Sie setzten sich. Toni brachte ihnen das Bier.

Sie hoben die Gläser.

»Trinken wir auf die gelungenen Ferien, Christl! Ich bin mit ziemlich bangem Herzen hier in Waldkogel angekommen. Ruth hat sich so positiv verändert. Das ist dein und Jens’ Verdienst. Danke!«

»Vor allem Jens’ Verdienst ist es«, sagte Christl.

Sie tranken.

»Ich hoffe, wir sehen uns oft«, sagte Bernhard. »Es waren wirklich unbeschreiblich schöne Wochen.«

»Ja, das waren sie auch für mich. Ich werde sie immer in Erinnerung bewahren.«

Sie sahen sich an und lächelten verlegen. Jeder ahnte, was in dem anderen vor sich ging. Aber keiner wagte einen weiteren Schritt. Die Spuren des Lebens hatten tiefe Gräben in ihrer Seele hinterlassen und sie scheuten sich neue Wege zu gehen. Sie achteten sich auch zu sehr. Keiner wollte etwas sagen, von dem er nicht wusste, wie es der andere aufnehmen würde. So saßen sie nur da und sahen zu, wie die Sonne hinter den Bergen versank und die letzten zarten Strahlen den Horizont im Westen erleuchtete. Über dem Gipfel des ›Engelssteigs‹ war der Vollmond zu sehen. Die Sterne traten in der aufkommenden Dunkelheit deutlich am Nachhimmel hervor. Nach und nach zogen sich die Hüttengäste in ihre Kammern und auf den Hüttenboden zurück.

Endlich kamen Jens und Ruth.

»Wenn die Herrschaften uns bitte folgen wollen«, sagte Jens mit einer gespielt steifen Verbeugung.

»Da bin ich aber gespannt«, bemerkte Bernhard.

Um es stilgerecht aussehen zu lassen, bot er Christl den Arm.

»Liebe Frau Helminger, liebe Christl! Darf ich dich zu Tisch führen?«

»O ja, mein lieber Doktor Groll, mein lieber Bernhard, du darfst!«

Sie lachten wie zwei Kinder und gingen hinter Jens und Ruth her, die sich auch untergehakt hatten.

Die beiden führten Christl und Bernhard in das Wohnzimmer von Toni und seiner Familie. Dort war liebevoll der Tisch gedeckt. Mitten darauf stand ein großes Fonduegefäß mit duftendem Käsefondue.

»Papa, das hat Jens gemacht! Er kann toll kochen«, erklärte Ruth. »Ich habe abgeschmeckt. Es ist köstlich. Das beste Käsefondue aller Zeiten.«

»Dann lasst uns essen«, sagte Bernhard und bot Christl einen Stuhl an.

Sie aßen. Jens’ Kochkünste hielten, was Ruth versprochen hatte. Es war köstlich. Die nächste Stunde ließen sie es sich gut schmecken, bis der Topf ganz leer war. Dann räumten die Kinder den Tisch ab. Sie servierten Christl und Bernhard zum Abschluss noch einen Obstler von Alois köstlichem Selbstgebrannten.

Dann fingen die Kinder an zu gähnen und zogen sich zurück. Christl und Bernhard entging nicht, dass die beiden sie mit Absicht allein ließen. Aber keiner sagte ein Wort darüber. Sie unterhielten sich noch eine Weile über das Bergsteigen und den Sport im Allgemeinen, dann endete auch für sie ein wunderschöner Tag.

Bernhard zog sich sofort in seine Kammer zurück. Christl ging noch zu Anna in die Küche. Sie war damit beschäftigt, Vorbereitungen für den nächsten Tag zu treffen. Christl griff nach einem Küchenmesser und schälte Pellkartoffeln.

»Bist du noch nicht müde, Christl?«, fragt Anna.

»Müde schon, aber ich bin auch ein bisserl aufgekratzt, Anna. Ich habe Herzklopfen und es dreht sich alles in meinem Kopf.«

»Oh, das kommt sicher nicht von der dünnen Gebirgsluft und auch nicht von Alois selbstgebranntem Obstler«, lachte Anna.

Christl errötete.

»Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist, Anna. Ich bin ganz durcheinander.«

Anna schmunzelte. Sie nahm ein Küchenmesser und setzte sich zu Christl an den Tisch.

Zusammen schälten sie Pellkartoffeln.

»Jeder hat im Leben Zeiten, in denen er verwirrt ist. Je älter man wird, desto mehr Gedanken macht man sich. Auf der einen Seite ist das nützlich, auf der anderen Seite kompliziert es die Beurteilung von Ereignissen. Da sind Kinder zu beneiden. Sie leben ihre Gefühle ohne Wenn und Aber aus. Sie scheuen sich auch nicht, sprunghaft zu sein.« Anna lachte. »Dazu fällt mir ein Spruch aus der Bibel ein, Christl. Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.«

Christl seufzte.

»Anna, mir geht es nicht ums Himmelreich. Ich wäre schon glücklich, wenn mein Leben hier auf Erden ruhiger wäre.«

»Was macht es so unruhig?« Anna schaute Christl an. »Du musst es aussprechen, Christl. Oft hilft es schon, die Dinge beim Namen zu nennen, dann verlieren sie ihren Schrecken.«

»Damit hast du nicht unrecht, Anna. Es geht um ihn. Er hat einen Namen. Ich habe Gefühle für ihn, obwohl ich mir geschworen habe, nie mehr, niemals mehr, nie und nimmer, Gefühle für einen Mann zuzulassen. Mein Leben war wohlgeordnet. Ich habe einen Beruf, den ich liebe und habe meinen Buben, meinen Sonnenschein, meinen Jens. Er ist ein braver Junge. Ich habe meine kleine Wohnung. Ich habe nichts vermisst, verstehst du?«

Anna verstand. Sie zog weiter die Pelle an den Kartoffeln ab und vermied es, Christl anzuschauen, damit es ihr leichter fiel, zu reden.

»Anna, du sagst nichts? Belästige, ich dich mit meinem Gequatsche?«

»Schmarrn!«, sagte Anna und ahmte dabei Tonis Tonfall nach.

Christl musste lächeln.

»Ich komme mir selbst irgendwie blöd vor, Anna. Also ich gebe es dir gegenüber zu. Bernhard hat es mir angetan. Er hat in mir etwas in Schwingung gebracht, dagegen bin ich einfach machtlos. Ich kann diese Gefühle nicht unterdrücken. Es gelingt mir einfach nicht, sie zu zum Schweigen zu bringen. Bisher konnte ich in meinem Leben Empfindungen dieser Art immer aus dem Weg gehen. Ich habe einfach das Weite gesucht und mich abgeschottet. Ich habe mich an meine Prinzipien erinnert und die Vernunft siegte. Jetzt ist nichts damit. Es ist so, als würde ich zu ihm hingeschoben, gedrängt. Ich lebe nur noch, wenn ich in seiner Nähe bin. Er ist so wunderbar.«

»Du bist verliebt, Christl. Das sind die Schmetterlinge im Bauch, die dich abheben lassen. Dagegen kannst du nicht mit dem Verstand ankämpfen. Du kannst alle deine Kraft einsetzen, aber du weißt, dass es vergeblich ist.«

»Wahrscheinlich hast du recht Anna. Dazu kommt noch, dass sich Jens so gut mit Ruth versteht und dass er Bernhard anhimmelt.«

»Das ist Toni und mir nicht entgangen. Was willst du tun?«

Christl zuckte mit den Schultern.

»Das weiß ich nicht, Anna. Bernhard ist Witwer. Ich stehe im Vergleich mit seiner verstorbenen Liane.«

»Ich weiß. Doktor Martin Engler ist ein sehr guter Freund von Bernhard. Martin hat mit Toni über Bernhard gesprochen. Er hat natürlich auch gesehen, wie schlecht es Ruth ging und wie niedergeschlagen Bernhard war. Es tat ihm in der Seele weh, dass er dem Freund nicht helfen konnte. So kam es, dass er Toni sein Herz ausschüttete, wie man es eben unter Freunden tut, und Toni erzählte es mir. Wir haben uns natürlich nichts anmerken lassen. Ich glaube, das Letzte, was Bernhard und vor allem Ruth gut tun würde, ist Mitleid.«

»Das stimmt sicher.«

»Sicher machte es das für dich nicht gerade leicht. Aber vielleicht wartet er nur auf ein Signal von dir? Aber zuerst musst du dir selbst darüber klar werden, was du willst. Wie stark sind die Gefühle gegen einen Mann in dir? Hast du wirklich abgeschlossen mit der Geschichte um Jens’ Vater? Das musst du erst einmal ganz für dich allein klären. Kannst du einem anderen Mann wieder vertrauen?«

»Da gibt es auch noch Jens. Ich frage mich, wie würde es der Junge aufnehmen, wenn es plötzlich jemanden wie Bernhard in meiner Nähe gibt.«

»Nicht jemanden wie Bernhard, sondern Bernhard. Das kannst du ganz leicht feststellen. Sprich mit Jens! Kinder haben feine Antennen. Wahrscheinlich weiß er längst, dass dir Bernhard etwas bedeutet. Du machst dir zu viele Sorgen, Christl. Du bist so ein lieber Mensch und wirst den Mann, den du liebst, glücklich machen. Du hast ein Recht darauf, glücklich zu sein. Für sein eigenes Glück muss man kämpfen. Oft geht das Glück an der Tür vorbei oder es klopft an die Herzenstür, wie bei dir. Das Glück muss man festhalten und hereinlassen. Habe Mut und schlage einfach ein neues Kapitel in dem Buch deines Lebens auf.«

Christl ließ das Schälmesser sinken. Sie schaute Anna an.

»Anna, ich habe Angst, in Konkurrenz zu Bernhards Liane zu treten. Er liebt sie noch sehr.«

»Es wird auch immer so sein, denke ich mir, dass ihn viel mit ihr verbindet. Das muss aber nicht bedeuten, dass er dich nicht lieben könnte. Auch für ihn würde eine neue Zeitrechnung beginnen. Du kannst ihm einige Signale geben, Christl. Ich nehme nicht an, dass du nicht weißt, wie man einen Mann ermuntert? Entweder er reagiert oder er zieht sich zurück. In beiden Fällen weißt du, woran du bist. Das ist wichtig, denke ich mir. Damit hat diese Ungewissheit ein Ende. Führe einfach eine Entscheidung herbei.«

Christl schwieg. Sie war in Gedanken weit fort. Anna ließ ihr Zeit.

»Weißt du, Anna, ich bräuchte jemanden, der herausbekommt, wie Bernhard zu mir steht. Es gab doch mal sogenannte Hochzeiter, habe ich gelesen. Die sprachen bei den jungen Leuten vor und fanden heraus, ob sie willig waren, zu heiraten. Es wäre schön, wenn es heute noch Hochzeiter gäbe. Aber diese Hoffnung ist wohl vergeblich.«

Anna schmunzelte.

»Dafür ist der Umgang zwischen den Geschlechtern viel freier. Das ist eine entscheidende Verbesserung. Du machst dir viel zu viele Gedanken, Christl. Was kann geschehen? Nehmen wir einmal an, du sagst ihm einfach, dass du dich in ihn verliebt hast. Dann bekommst du eine Reaktion. Entweder schließt er dich in die Arme oder er reist ab. So oder so, du hast eine Antwort. Jede Antwort ist besser, als die Ungewissheit, die an deinem Herzen nagt. Du schmachtest vor dich hin und leidest. Führe die Entscheidung herbei, dann siehst du klarer. Nehmen wir mal an, er will dich nicht oder noch nicht, dann hast du Liebeskummer. Das ist doch kein anderer Zustand als jetzt. Jetzt hast du auch Liebeskummer, aber aus Ungewissheit. Denk mal darüber nach. Das ist der Rat, den ich dir geben kann. Du bist eine starke Persönlichkeit, die mit beiden Beinen im Leben steht. Du hast viele Entscheidungen getroffen, die bedeutender waren, als herauszufinden, ob Bernhard dich liebt und will, denke ich. Also, du musst das jetzt nicht sofort machen. Schlaf eine Nacht darüber.«

Sie waren fertig mit den Kartoffeln. Anna deckte die große Schüssel mit einem Tuch ab und stellte sie in die Speisekammer.

»So, jetzt gehen wir ins Bett, Christl! Schlaf gut und träume von Bernhard.«

»Danke, Anna, dass du mir zugehört hast.«

Anna drängte Christl aus der Küche und löschte das Licht. Christl ging in ihre Kammer. Anna schaute nach Toni, der wie gewohnt seine nächtliche Runde um die Berghütte machte, um zu sehen, ob alles in Ordnung war. Dann gingen sie schlafen.

*

Draußen dämmerte der Morgen, als Toni hochschreckte.

»Anna, hast du das gehört? Bello hat angeschlagen.«

»Sieh nach!«, murmelte sie leise und kuschelte sich in die Federn.

Toni zog sich an und ging hinaus.

Bello saß im Wirtsraum der Berghütte hinter der verschlossenen Tür.

»Was gibt es, Bello? Ist jemand draußen auf der Terrasse der Berghütte? Das wäre ein früher Besuch.«

Dann sah Toni den Zettel auf dem Tresen liegen. Er las. Da stand:

Lieber Toni, liebe Anna!

Ich bin hinunter nach Waldkogel zu Martin. Ich hoffe, dass ich bis zum Mittag zurück bin. Könnt ihr euch bitte um Ruth kümmern? Und sagt Christl, dass ich unterwegs bin.

Danke, und liebe Grüße

Bernhard

Toni schmunzelte.

»Bello, der Bernhard will mit seinem Freund reden. Ich denke, dass es dabei um Liebe geht. Die Christl hat gestern Abend mit der Anna geredet. Bello, da tut sich etwas. Da sind zwei Herzen unruhig geworden.«

Toni schaute auf die Uhr. Es war noch eine Stunde, bis der Wecker klingeln würde. Er entschloss sich dafür, gleich aufzubleiben. Er ging in die Küche und machte sich einen Kaffee.

Bernhard nahm nicht sein Auto, das auf der Oberländer Alm parkte. Er wanderte zu Fuß nach Waldkogel. So hatte er unterwegs viel Zeit zum Nachdenken und die Bewegung tat ihm gut.

In der großen Wohnküche auf dem alten Schwanniger Hof brannte Licht. Mira, Martins Pointerhündin, schlug an, als Bernhard über den Hof ging. Martin öffnete die Haustür.

»Mei, grüß Gott, Bernhard! Du bist früh dran. Komm rein! Katja schläft noch. Ich habe gerade Kaffee getrunken und wollte mit Mira einen Morgenspaziergang machen.«

»Da schließe ich mich gern an, wenn es dir nichts ausmacht.«

Martin musterte den Freund.

»Siehst besser aus als die Tage, bevor du auf die Berghütte bist. Aber ganz zufrieden bin ich noch nicht mit dir. Du hast etwas auf dem Herzen. Ich vermute, dein Herz rast.«

»Das stimmt und dazu musst du nicht einmal ein EKG schreiben.«

Martin schloss leise die Haustür. Die Männer gingen durch den Garten und traten durch die hintere Gartentür auf die Felder hinaus. Mira schoss bellend davon.

»So, Bernhard, wo drückt dich der Schuh?«, fragte Martin. »Es muss etwas Ernstes sein, dass du mich so früh besuchst.«

»Wie man es nimmt. Eigentlich ist es etwas Schönes, vielmehr es könnte schön sein. In meinem Fall ist das noch nicht so ganz entschieden. Jedenfalls drängte es mich, mit einem Freund zu sprechen.«

»Wie sind die Krankheitsanzeichen?«

»Unruhe, Schlaflosigkeit, unregelmäßige Herztätigkeit, enorme Stimmungsschwankungen.«

»So, so, was du nicht sagst? Klingt interessant, Bernhard.«

»Martin, mach dich bitte nicht lustig über mich. Ich befinde mich in einer Konfliktsituation. Da gibt es auf der Berghütte eine junge Frau, so Mitte dreißig. Sie heißt Christl Helminger. Du kennst sie sicher. Es ist die ehemalige Eiskunstläuferin.«

»Ich kenne die Christl flüchtig. Sie ist ein wirklich liebes und fesches Madl. Sie hat einen Buben, den Jens.«

»Richtig! Ich habe entdeckt, dass mir die Christl gefällt«, sagte Bernhard leise.

Martin bemerkte nichts dazu. Er war von Toni längst informiert worden, dass die vier von Tag zu Tag enger zusammenhingen.

»Du sagst nichts dazu, Martin. Verstehst du nicht?«

»Was soll ich nicht verstehen? Du bist ein Mann und sie ist ein fesches Madl. Also hast du Gefühle für sie, na und?«

»Das ›und‹, das ist es, Martin. Ich habe ein schlechtes Gewissen. Es kommt mir vor, als betrüge ich Liane.«

»Ja, sag mal, bist denn wirklich so hirnrissig oder ist des bereits pathologisch? Im letzteren Fall sollte ich dich in eine Klinik für seelische Erkrankungen einweisen, Bernhard. Wo liegt das Problem? Deine Liane ist tot. Jetzt hast du eine andere Frau getroffen. Wolltest du bis ans Ende deiner Tage allein bleiben?«

Bernhard zuckte mit den Schultern. »Liane ist noch nicht einmal ein Jahr unter der Erde. Wie kann ich mich verlieben?«

»Himmel, Bernhard, warum nicht? Fragt die Liebe nach Zeit und Umständen? Nein, sage ich dir. Darauf, wann und wie uns die Liebe ereilt, haben wir keinen Einfluss und das ist auch gut so. Ich denke, ich sage dir damit nichts Neues, oder?«

»Nein, das tust du nicht. Ich habe nur so ein Gefühl, dass ich Unrecht tue, wenn ich meinen Gefühlen für Christl nachgebe, verstehst? Ich komme mir vor, als würde ich Liane betrügen. Da ist tief in mir ein schlechtes Gewissen. Ich schäme mich, wegen meiner Gefühle für Christl. Auf der einen Seite kann ich sie nicht abstellen. Es gelingt mir nicht. Andererseits kommt es mir vor, als trete ich meine Liebe zu Liane mit Füßen.«

Doktor Martin Engler blieb stehen. Er schaute dem Freund in die Augen und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Bernhard, du bist Arzt. Du weißt, was du selbst einem Patienten sagen würdest. Das lasse ich jetzt aus. Ich rede jetzt als Freund zu dir, der Liane auch kannte. Sie ging zum Herrgott in der Gewissheit, dass du dein Leben glücklich leben wirst. Sie war eine tapfere Frau, die den Tatsachen ins Auge sah. Sie kannte nur ein Ziel. Sie wollte dich und Ruth glücklich wissen und fröhlich. Du betrügst sie nicht, wenn du dich zu deiner Liebe zu Christl bekennst. Ich denke, dass Liane sich freuen würde, wenn du wieder jemanden zum Kuscheln hättest.«

»Vor ihrem Tod musste ich ihr in die Hand versprechen, dass ich offen sei für eine neue Liebe. Ich versprach es ihr, damit sie glücklich war. Aber die Praxis ist anders, Martin. Es ist noch kein Jahr vergangen.«

»Das weiß ich alles. Vielleicht haben die Engel vom ›Engelssteig‹ mitgemischt, dass du dich wieder verliebt hast? Vielleicht hat sie deine Liane geschickt, weil sie im Himmel nicht mehr mit ansehen konnte, wie traurig und verzweifelt du warst. Liane war Liane, Christl ist Christl! Sie ist eine andere Frau. Ihr habt andere Gemeinsamkeiten. Es ist und wird eine andere Liebe sein. Du wirst Liane nie vergessen, dessen bin ich mir sicher. Das sollst du auch nicht. Aber du könntest ein neues, ein völlig anderes Leben mit Christl führen. Du kannst Äpfel nicht mit Birnen vergleichen, Bernhard. Das ist nun mal so.«

Sie gingen eine Weile still nebeneinander her. Martin ließ dem Freund Zeit, den inneren Kampf auszufechten. Schließlich dauerte Martin das Schweigen des Freundes zu lange.

»Was sagt Ruth dazu?«, fragte Martin.

»Ich habe mit Ruth noch nicht darüber gesprochen. Es gibt aber Anzeichen, dass sie Christl mag. Sie ist auch sehr glücklich mit Christls Buben. Ruth versteht sich sehr gut mit Jens. Er hat es irgendwie geschafft, dass Ruth wieder fröhlich ist.«

»Mei, das ist doch wunderbar! Das sind doch sehr gute Vorzeichen. Du magst Ruth. Ihr habt ein sehr gutes Verhältnis. Sie ist Lianes Tochter. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr drängt sich mir ein Gedanke auf. Du hast Angst, Ruth könnte dir die Liebe zu Christl als Verrat an ihrer Mutter ankreiden. Ist es so?«

»Ja, das spielt auch eine Rolle, Martin.«

»Warum sprichst du nicht mit ihr? Ruth ist für ihr Alter sehr reif. Ich denke, es könnte dir helfen, Bernhard. Dann hättest du eine Sorge weniger, wenn du weißt, wie sie dazu steht. Mei, des Madl liebt dich wie einen eigenen Vater. Sie wird dich verstehen.«

Martin rieb sich das Kinn.

»Denken wir uns Folgendes, Bernhard. Stell dir vor, Ruth ist zehn Jahre älter und hat einen netten feschen Burschen kennengelernt. Ihr Herz steht in Flammen. Sie weiß, dass diese Liebe sie vor den Traualtar führen würde. Was tut sie? Eines Tages sagt sie dir, dass sie sich von ihrem Liebsten getrennt habe. Sie spricht aber nicht über die Gründe, sondern gibt sich vage. Du tröstet sie. Wiederum Jahre später findest du heraus, dass Ruth auf ihr Liebesglück, auf eine Familie und Kinder, verzichtet hatte, weil sie dich nicht allein lassen wollte. Wäre dir das recht?«

Bernhard stand das Entsetzen in den Augen.

»Martin, wie kannst du dir nur solche Geschichten ausdenken?«, stieß er hervor.

Martin grinste.

»Warum nicht? Du willst auf ein neues Liebesglück verzichten. Genauso gut könnte es sein, dass Ruth sich eines Tages nicht überwinden kann, ihren Papa allein zu lassen, der so viel für sie getan hat und sonst niemanden auf der Welt hat, der ihm nahesteht. Gib zu, dass dieser Gedanke durchaus im Bereich der Möglichkeit liegt.«

»Es wäre schrecklich, Martin, wenn Ruth so handeln würde. Mir läuft es kalt den Rücken herunter, allein bei der Vorstellung.«

Martin wusste, dass er ins Schwarze getroffen hatte.

Dass Ruth eines Tages auf ihr eigenes Glück verzichten könnte, das hatte den Freund getroffen. Martin sprach weiter.

»Weißt, Bernhard, dieser Gedanke, dass es so kommen könnte, der ist nicht so abwegig. Ich bin hier Hausarzt in Waldkogel und kenne einige Familien, in denen es so geschehen ist. Die Mutter starb früh. Der Mann und Vater der Kinder heiratete nicht mehr. Eine Tochter nahm sich der jüngeren Geschwister an und sorgte für den Vater und den Hof. Sie stellte ihre persönlichen Bedürfnisse immer hinten an. Irgendwann waren die besten Jahre der Frau vorbei und die jüngeren Geschwister alle aus dem Haus. Der Vater starb. Heute sitzen sie und andere Töchter, die es ebenso getan hatten, einsam und teilweise verbittert auf den Höfen. Das kam alles, weil die Väter nicht eingeschritten sind. Mir erzählt man viel. Bei den meisten kam einmal der Tag der Entscheidung, wieder heiraten oder Witwer bleiben? Was auch immer die Gründe gegen eine neue Liebe waren, die Gründe haben in der nächsten Generation ebenfalls Liebe verhindert, jedenfalls bei der Tochter, die für den Vater sorgte.«

Martin schaute Bernhard ernst an.

»Das sollte dich nachdenklich machen, Bernhard. Also, es gibt zwei Wege. Du kannst zuerst mit Ruth reden oder du zeigst Christl, was du für sie empfindest. Wenn sie dir zugetan ist, dann wird sie dich bei dem Gespräch mit Ruth unterstützen.«

»Ruth scheint Christl zu mögen«, sagte Bernhard leise.

Martin legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Folge deinem Herzen, Bernhard! Wenn es um Liebe geht, werden Entscheidungen mit dem Herzen gefällt und nicht mit dem Gehirn. Liebe ist eine Sache des Herzens und nicht des Verstandes. Also, spring über deinen Schatten und bring Klarheit in dein Leben.«

Bernhard seufzte tief.

»Es wird schwer werden, aber es muss sein. So kann es nicht mehr weitergehen. Die Ferien sind bald zu Ende. Ich bin schon jetzt traurig darüber, wenn ich daran denke, dass wir Abschied nehmen müssen.«

»Dann ist die Entscheidung in deinem Herzen längst gefallen, Bernhard. Dir fehlt nur der Mut, dazu zu stehen. Ich bin sicher, nach einem Gespräch mit Ruth, wirst du den nötigen Mut finden. So, mehr gibt es nicht zu sagen. Außerdem ist es Zeit. Katja wird aufgestanden sein und auf mich warten. Wir frühstücken zusammen, danach gehe ich auf Hausbesuche, bis die Morgensprechstunde anfängt. Du machst jetzt, dass du zurück auf die Berghütte kommst!«

Bernhard sah Martin lange an.

»Ja, ich muss eine Entscheidung herbeiführen. Danke, dass du mir zugehört hast, Martin. Vergelt’s Gott!«

Sie kehrten um und gingen den Weg zurück zum alten Schwanninger Hof, wo Martins Praxis auf ihn wartete.

*

Christl hatte noch stundenlang wach gelegen und über sich und Bernhard, über ihr Leben, über sein Leben, über Jens und Ruth nachgedacht. Endlich, als draußen sich schon langsam der Morgen ankündigte, war sie eingeschlafen. So war es nicht verwunderlich, dass sie an diesem Morgen verschlief.

Ihr stand noch die kurze Nacht im Gesicht, als sie aus der Kammer kam und den Wirtsraum betrat.

Toni und Anna lächelten. Christl rieb sich die Augen.

»Ich habe verschlafen«, murmelte sie. »Wo sind die Kinder?«

Toni und Anna warfen sich Blicke zu. Beiden war aufgefallen, dass sie sich nicht nur nach ihrem Jens erkundigte, sondern bereits von den Kindern sprach. Dass sie damit nur Ruth und Jens meinen konnte, war den Baumbergers klar, denn Franzi und Basti waren nicht da.

»Ruth ist in Franziskas Zimmer und spielt. Jens ist hinter dem Haus«, erklärte Toni. »Der Jens war heute Morgen nicht bester Laune. Da dachte ich, es tut ihm gut, wenn er etwas zu tun hat. Deshalb habe ich ihn gebeten, das Holz zu stapeln.«

»Hat er sich mit Ruth gestritten?«, fragte Christl.

»Naa, des denke ich net, Christl. Was in dem Buben vor sich geht, des musst ihn selbst fragen. Aber zuerst tust frühstücken.«

Christl wollte zur Tür hinauseilen, aber Toni stellte sich ihr in den Weg.

»Nix da, erst wird gegessen!«

»Ich wollte doch nur auf die Terrasse und nach Bernhard sehen.«

»Der ist nicht da. Er ist ins Dorf, seinen Freund Martin besuchen. Bis zum Mittag wird er wieder zurück sein, denke ich«, sagte Toni.

Anna legte den Arm um Christls Schultern.

»Setz dich, ich bringe dir einen starken Kaffee!«

Bald darauf aß Christl ein herzhaftes Frühstück und trank starken Kaffee. Danach fühlte sie sich besser.

Sie ging zu Jens auf den Holzplatz hinter der Berghütte. Sie grüßte ihn. Er warf ihr unfreundliche Blicke zu.

»Jens, was hast du? Was ist mit dir? Hattest du Streit mit Ruth?«

»Nein! Ich bin nur sauer!«

»So, warum bist du sauer? Komm, setz sich auf den Hackklotz und sprich mit mir. Wir können doch über alles sprechen, oder? Haben wir das nicht immer getan?«

Jens setzte sich. Erst schaute er unter sich, vergrub die Hände in den Lederhosen, die er nur in den Ferien trug.

Plötzlich brach es aus ihm hervor:

»Das stimmt nicht, Mama! Wir können nicht über alles reden. Du redest mit mir nicht über Sachen, die mich interessieren. Da sagst du nichts oder nicht alles. Deshalb bin ich sauer.«

Christl gefror das Blut in den Adern. Sie errötete tief.

»Von was sprichst du, Jens? Sag es mir!«

»Tu nicht so, Mama. Du weißt es genau! Ich will wissen, was mit meinem Vater ist. Das war damals nicht so, wie du es mich hast glauben lassen, oder?«

»Wie kommst du darauf?«

»Weil ich es irgendwie spüre. Du erzählst nie von ihm. Du hast mir nie ein Bild von ihm gezeigt. Du musst schrecklich böse auf ihn sein. Was hat er dir getan, dass du ihn nicht leiden kannst und alle Männer nicht leiden kannst?«

»Wieso soll ich alle Männer nicht leiden können? Wie kommst du auf solch einen Unsinn?«

»Ich bin schon zwölf, fast dreizehn Jahre und weiß, wie es so ist mit der Liebe und so. Ich sehe auch, dass dich Bernhard interessiert ansieht und du ihn auch. Aber du tust, als würdest du es nicht sehen. Also dachte ich mir, dass dir mein Vater etwas angetan hat.«

Christl rollte einen Holzblock neben den von Jens und setzte sich darauf.

»Du bist ein kluger Junge, Jens. Ja, mir gefällt Ruths Vater. Was deinen Vater betrifft, ist es nicht einfach. Er hat mir das schönste Geschenk gemacht, das man einer Frau machen kann, dich. Das Tragische daran ist, dass er es nicht wusste, Jens. Dein Vater war ein bisserl ein Hallodri, so nennt man in den Bergen Burschen, die gern mit Madln anbändeln. Ihnen ist es dabei nicht ernst, sie wollen nur ihren Spaß haben. Ich wusste es und verliebte mich doch in ihn und er in mich. Er schwor mir, von nun an treu zu sein. Wir verlobten uns. Die Hochzeit stand bevor. Ich glaubte seinem Treueschwur, aber ich hatte auch Angst, dass er etwas mit anderen Madln haben könnte. Einige Tage vor der Hochzeit traf er sich mit Freunden. Er blieb die ganze Nacht fort. Wir wohnten damals schon zusammen. Gegen Morgen hielt ein Auto vor dem Haus. Darin saßen Freunde deines Vaters und Madln. Eines saß auf dem Schoß deines Vaters und busselte ihn ab. Sie fraß ihn fast auf. Ich stand hinter dem Vorhang und habe es gesehen. Als er in die Wohnung kam, überschüttete ich ihn mit Vorwürfen. Er stritt alles ab, nahm die Autoschlüssel und rannte hinaus. Gegen Morgen kam die Polizei mit meinen Eltern und den Eltern deines Vaters. Er hatte einen Autounfall und war dabei ums Leben gekommen. Ich machte mir Vorwürfe. Die Eltern deines Vaters gaben mir die Schuld an seinem Unfall. Ich erlitt einen Nervenzusammenbruch und verbrachte die nächsten Tage im Krankenhaus. Kaum daheim, stellte ich fest, dass ich schwanger war. Ich kündigte die Wohnung und zog weit fort. Durch einen Studienfreund bekam ich sofort Arbeit. Du wurdest geboren. Den Rest kennst du.«

Christl seufzte.

»Wenn wir wieder daheim sind, werde ich dir Bilder von deinem Vater zeigen.«

Jens schwieg eine Weile.

Dann griff er nach der Hand seiner Mutter.

»Du musst dir keine Vorwürfe machen, Mama. Es war seine Schuld. Warum hat er sich betrunken ans Steuer gesetzt?« Er schaute seine Mutter liebevoll an. »Du musst dir wirklich keine Vorwürfe machen.«

»Das hast du lieb gesagt, Jens«, Christl versagte fast die Stimme.

»Hast du deshalb keinen anderen Mann mehr angeschaut? Ich weiß, dass es einige gab, die dich mochten.«

»Du bist ein schlauer Junge. Was soll ich mit einem Mann? Ich habe dich und meine Arbeit.«

»Und was ist mit Bernhard? Sag schon! Ihn magst du doch, oder?«

»Ja, ich mag Bernhard. Er gefällt mir. Aber er ist in Trauer. Warten wir es ab, wie es sich entwickelt.«

»Ruth sagt, er mag dich auch.«

»So, du hast mit Ruth über Bernhard und mich gesprochen?«

»Ja, deshalb gaben wir uns so viel Mühe gestern mit dem Abendessen und haben euch allein gelassen.«

Christl streichelte Jens über das Haar.

»Du magst Bernhard sehr, wie?«

»Ja, ich mag ihn. Ich könnte mir Ruth gut als meine Stiefschwester vorstellen. Ruth meinte, ihr Vater habe Hemmungen.«

»So?«

»Ja! Mama, du sagst immer, dass man über alles reden sollte. Warum redest du mit Bernhard nicht über …«, er brach den Satz ab.

»Über Liebe, willst du sagen?«

»Genau! Wenn du Angst hast, dann kann ich mit Bernhard reden. Soll ich?«

Christl musste herzlich lachen.

»Es ist wunderbar, dass du das für mich tun würdest, Jens. Aber ich werde selbst mit Bernhard sprechen.«

»Wann?«

»Irgendwann, wenn es sich ergibt!«

»Nein, nicht irgendwann, Mama, sondern bald!«

»Du kannst eine ganz schöne Nervensäge sein, Jens.«

Er schaute seine Mutter ernst an.

»Mama, das mit Papa hättest du mir schon viel früher sagen können. Das musst du doch zugeben. Deshalb habe ich jetzt einen Wunsch frei. Ich wünsche mir, dass du noch heute mit Bernhard sprichst.«

»Jens, was verlangst du da von mir?« Sie seufzte. »Na gut, ich will es probieren.«

»Was, mit ihm zu reden oder heute mit ihm zu reden?«

»Bernhard ist nicht da. Er ist bei Martin.«

»Ich weiß. Wenn er wiederkommt, macht ihr eine schöne Wanderung und redet miteinander. Ruth und ich bleiben hier. Dann seid ihr ungestört.«

»Das kommt mir vor wie ein Komplott, eingefädelt von dir und Ruth?«

Jens grinste. Seine Mutter streichelte ihm die Wange.

»Bist ein guter Junge, ein toller Bursche, Jens! Du bist das Beste, was mir im Leben passiert ist.«

»Das will ich aber nicht mehr sein. Das ist mir zu viel Verantwortung. Nimm dir Bernhard, das wird mich entlasten.«

»Du bist ganz schön altklug.«

»Das kommt davon, wenn man keinen Vater hat und keine Geschwister.« Jens grinste. »Jetzt kannst du gehen. Ich will hier noch den Holzplatz aufräumen. Dabei kann ich kein Madl gebrauchen.«

Sie lachten beide. Christl gab ihrem Jungen einen Kuss und ließ ihn allein.

*

Bernhard war nach dem Gespräch mit Martin noch nach Kirchwalden zum Einkaufen gefahren. Er kam erst um die Mittagsstunde auf die Berghütte zurück.

»Da bist du ja wieder, Bernhard«, sagte Toni.

Bernhard schaute sich auf der Terrasse um. Dann ging er in die Wirtsstube.

»Wo ist Ruth? Wo sind Christl und Jens?«, fragte er.

Toni trat ganz ruhig hinter den Tresen und zapfte Bier.

»Ruth ist in Franziskas Zimmer. Jens stapelt Holz. Christl ist wandern. Ruth sagte mir, ich soll dir sagen, du sollst gleich zu ihr kommen.«

Bernhard bedankte sich.

Er ging in Franziskas Zimmer.

»Oh, Papa, da bist du ja. Schau mal, wie lieb Max ist. Er lässt sich von mir kämmen und bürsten.«

Ruth warf ihrem Vater einen Seitenblick zu.

»Warum hast du ohne mich Martin und Katja besucht? Du hättest warten können, bis ich wach bin.«

»Sicher, Ruth, aber weißt du, Martin ist mein Freund. Ich wollte etwas mit ihm bereden.«

»Etwas mit ihm bereden, was du nicht mit mir bereden kannst?«, sagte Ruth leise.

»Jetzt denkst du, ich hätte kein Vertrauen zu dir? Das ist nicht so. Es gibt Themen, die bereden Erwachsene gern unter sich. Ich wollte mit Martin ein Gespräch von Mann zu Mann führen.«

Ruth kicherte.

»Ah, dann ging es um Frauen!«

»Wie kommst du auf so etwas?«

»Mama hat mit mir gesprochen über alles, bevor sie krank wurde. Wenn du Nachtdienst hattest, saßen wir abends lange draußen und schauten in die Sterne und redeten, Frauengespräche eben. Du verstehst?«

Bernhard setzte sich aufs Bett. Er streichelte den Kater.

»Worüber habt ihr denn geredet? Oder soll ich das nicht fragen?«

»Wir sprachen übers Kinderkriegen, über die Liebe, einfach über alles. Damals fand ich das manchmal ganz schön nervig. Aber später, als sie dann ernsthaft krank war, wusste ich, dass sie es mit Absicht getan hatte. Ich habe mit ihr darüber gesprochen. Sie sagte mir auch, dass ich gut auf dich aufpassen soll. Falls du dich wieder verlieben solltest, dann sollte ich dir sagen, dass das ganz okay sei. Kapiert?«

Bernhard errötete und starrte Ruth an.

»Papa, tu nicht so! Ich habe längst bemerkt, wie du Christl ansiehst. Du magst sie doch. Gib es zu! Du hast dich in sie verliebt.«

Bernhard seufzte. Er verspürte einen Kloß im Hals.

»Zur Liebe gehören immer zwei Herzen, Ruth.«

»Mensch, Papa, rede nicht so! Ich weiß alles. Oder denkst du, Christl mag dich nicht?«

»Ich weiß nicht.«

»Aber ich weiß es! Jens sagt, sie mag dich.«

Bernhard errötete wieder.

»So, Jens meint das?«

»Ja, und ich denke auch, sie mag dich.«

»Wie steht es mit dir?«

»Papa, was fragst du? Christl ist okay. Sie ist nicht Mama. Sie wird es nie sein. Ich werde auch nie Mama zu ihr sagen, sondern Christl. Aber ich mag sie. Frage sie einfach, ob sie dich mag. Außerdem wäre es praktisch. Dann könnte ich immer mit Jens zusammen sein. Er wäre dann mein Bruder, vielmehr Stiefbruder, du weißt schon.«

»Ich werde bei Gelegenheit einmal mit Christl sprechen«, sagte Bernhard.

Ruth stand auf.

»Nein, Papa! Das wirst du nicht.«

Sie zeigte in die Ecke von Franzis Zimmer. Dort stand Bernhards Rucksack.

»Ich habe dir von Anna Proviant einpacken lassen. Ich habe etwas geflunkert. Ich sagte, wir wollten Wandern gehen. Aber ich bleibe hier. Ich habe herausgefunden, dass Christl allein zum ›Erkerchen‹ gewandert ist.« Sie grinste und kicherte. »Jens hat sie dorthin geschickt.«

»Kann es sein, dass Jens mit Christl über mich gesprochen hat?«

»Papa, nun geh schon! Du musst nicht alles wissen. Außerdem kann ich es nicht genau wissen, weil ich nicht dabei war.«

Bernhard nahm Ruth in den Arm und gab ihr einen Kuss. Dann hob er den Rucksack auf die Schultern und ging hinaus.

Toni schmunzelte, als Bernhard auf der Terrasse an ihm vorbeiging. Anna kam heraus. Toni legte den Arm um sie und flüsterte:

»Da scheint sich etwas zu tun, Anna.«

»Das denke ich auch. Normalerweise gibt es einen kleinen Amor, der die Liebespfeile abschießt. Er hat Hilfe bekommen, denke ich mir, von Ruth und Jens. Mögen die Engel vom ›Engelssteig‹ dafür sorgen, dass aus den vier eine glückliche Familie wird.«

»Das hoffe ich auch, Anna.«

Sie sahen Bernhard nach, wie er mit großen eiligen Schritten übers Geröllfeld ging und dem kleinen Pfad zustrebte, der an der Felswand entlang zum ›Erkerchen‹ führte.

*

Christl saß auf der Bank beim ›Erkerchen‹. Sie nippte an einem Becher mit Kräutertee. Sie drehte sich um, als sie Schritte hörte.

»Hallo, Bernhard«, sagte sie.

»Hallo, Christl!«

Er ließ den großen Rucksack von den Schultern gleiten.

»Weiß der Teufel, was Ruth mir da hat einpacken lassen. Sie sagte, es sei nur etwas Proviant drin, aber mir kommt es vor, als habe sie Steine einfüllen lassen.«

»Schau nach!«, lachte Christl.

Bernhard packte den Rucksack aus. Er enthielt mehrere Sorten Käse, Landjäger, ein Glas Gewürzgurken, süßen und scharfen Senf, Brot, Brötchen und ein Paket mit Kuchen. Dazu mehrere Flaschen Bier, eine Flasche Wein, zwei Thermoskannen mit Tee und Kaffee, eine Glasflasche mit Milch, ein Schraubglas mit Zucker. Aber das war nicht alles. Sorgfältig im Rucksack verpackt, fand Bernhard feine Porzellanteller und Bestecke. Sogar ein Kerzenhalter mit einer Kerze war dabei und Stoffservietten, ganz unten lag eine Decke.

»Gütiger Himmel, was hat sich Anna nur dabei gedacht«, lachte Bernhard.

»Es ist doch herzig, wenn ich mir das alles anschaue. Das ist eine Ausstattung für ein Gala-Picknick in den Bergen.« Sie brach in Lachen aus. »Es fehlt nur noch der Sektkübel, mit dem Champagner.«

»So etwas gibt es auf der Berghütte nicht, vermute ich, sonst wäre er auch dabei.«

»Das denke ich auch, Bernhard«, lachte Christl.

»Mit diesem Proviant kann man tagelang biwakieren«, sagte Bernhard, der immer noch die Sachen anstarrte.

»Vielleicht wollte Ruth dich loswerden? Vielleicht steckt Jens mit dahinter?«

»Ja, das kann hinkommen, Christl.«

Christl stieg eine leichte Röte in die Wangen.

»Bernhard, unsere Kinder mögen sich.«

»Ja, das stimmt. Darüber bin ich froh.«

»Ich auch, allerdings …«

»Was allerdings?«, fragte Bernhard.

Er spürte, wie sein Herz schneller klopfte.

»Nun, wie soll ich es sagen?«, bemerkte Christl leise.

Bernhard stellte die Sachen zur Seite und setzte sich neben Christl.

»Lass mich es sagen!«

»Gut!«

»Christl, die Kinder hoffen, dass wir uns auch mögen. Ruth hat mit mir gesprochen.«

»Das ist ein Komplott, Bernhard. Jens hat nicht nur mit mir gesprochen, er hat gefordert, dass wir beide miteinander reden. Du hättest ihn hören sollen. Wahrscheinlich denken sie, dass wir länger dazu brauchen. Deshalb der ganze Proviant!«

»Wie in einem Drehbuch«, lachte Bernhard. »Was wollen wir zuerst tun? Reden oder essen?«

»Wir könnten beim Essen reden.«

»Gute Idee, Christl! Ich muss dir gestehen, dass ich sehr hungrig bin. Erst war ich ganz früh drunten in Waldkogel und habe Martin besucht. Danach war ich zum Einkaufen in Kirchwalden. Als ich zurück auf die Berghütte kam, sprach Ruth mit mir und warf mich hinaus. Nimm den Rucksack und ab mit dir!, das ist verkürzte Version.«

»Du armer Mann! Du musst ja völlig von Kräften sein. Lass uns essen!«

Sie breiteten die Decke auf dem Boden aus. Während Christl Geschirr und Besteck verteilte, stellte Bernhard das Essen hin. Bald waren sie damit fertig. Mitten auf der Decke stand der Kerzenhalter mit der Kerze. Es sah richtig festlich aus.

»Dann wollen wir unser Glück versuchen. Hoffentlich bläst der Wind die Kerze nicht aus«, sagte Bernhard und zündete sie an.

Die Kerze flammte auf und erlosch sofort wieder.

»Wir müssen uns den romantischen Kerzenschein eben denken«, sagte Christl.

Sie lachten.

Dann fingen sie an zu essen. Es lag Spannung in der Luft. Christls Herz schlug für Bernhard und sein Herz schlug für Christl.

»Ich war bei Martin, um mit ihm über etwas zu reden. Manchmal wird einem eine Sache selbst klarer, wenn man mit einem Freund darüber spricht. Indem man ihm erzählt, was einen bewegt, und es für ihn in Worte packen muss, ordnen sich die Dinge für einen selbst neu.«

»Ja, so ist es. Ich weiß genau, wie du das meinst. Ich saß gestern Abend noch mit Anna in der Küche. Sie pellte die Kartoffeln für heute, und ich half ihr dabei. Dabei kamen wir ins Plaudern. Anna ist eine wunderbare, kluge Frau. Ich mag sie sehr.«

»Ich habe Toni, Anna, die Kinder und den alten Alois eigentlich jetzt erst richtig kennengelernt. Ich wusste, dass Toni ein Jugendfreund von Martin ist. Er war auch Trauzeuge bei Martins Hochzeit. Da habe ich ihn gesehen. Aber auf so einem Fest kann man sich nicht richtig kennenlernen.«

»Das stimmt! Aber dafür sind Feste auch nicht da. Sie sind zum Feiern da und zum Tanzen.«

»Das stimmt. Tanzt du gern, Christl? Mir fällt auf, dass ich wenig von dir weiß. Wir haben immer nur über Sport gesprochen und über die Kinder.«

»Kinder, das ist ein unerschöpfliches Thema. Den Kindern verdanken wir auch diese Luxusbrotzeit.«

»Das stimmt.«

»Ja, ich tanze gern.«

»Dann sollten wir mal Tanzen gehen, was meinst du?«

»Gern, Bernhard! Ich war seit meiner Jugendzeit nicht mehr tanzen.«

»Wirklich?« Er sah sie überrascht an.

Christl errötete.

»Ja, so ist es. Schau nicht so verwundert! Kannst du dir nicht den Grund dafür denken?«

»Mm, lass mich raten. Du hast dich gescheut, dich mit jemanden zu verabreden.«

»Ja, so war es. Es war mir schon allein die Vorstellung unheimlich, jemandem zu nahe zu sein. An Einladungen hat es nicht gemangelt. Aber ich ging immer allen Einladungen aus dem Weg, gleich ob man mich zum Tanzen, ins Kino oder zu sonst etwas einlud. Meistens waren es Kollegen aus der Schule. Sie waren sehr ausdauernd, die ersten Jahre. Dann gaben sie auf. Sie sind inzwischen glücklich verheiratet und ich habe weitgehend meine Ruhe.«

»Dann kann ich mich richtig glücklich schätzen, dass du mir zugesagt hast.«

»Ja, das kannst du!« Christl errötete leicht. Schnell trank sie einen Schluck Bier. »Wann und wo gehen wir tanzen?«, fragte sie schnell.

»In Kirchwalden soll es eine Disco geben. Ich werde Martin oder Toni fragen.«

»Gut, und wann gehen wir? Morgen Abend?«

»Gern, wenn du willst, Christl!«

»Ich will, und ich freue mich darauf.«

»Also, wenn du dann nicht tanzen willst, dann sagst du es mir, bitte!«

»Ich werde es dir nicht sagen, Bernhard.«

Er schaute sie an.

»Warum? Ich möchte, dass es für dich ein schöner Abend wird. Du sagtest doch vorhin, dass du Probleme hattest, eng zu tanzen.«

»›Hatte‹, ich sprach von der Vergangenheit, Bernhard.«

»Oh, das freut mich.«

»Das dachte ich mir. Ich freue mich auch, Bernhard. Weißt du, als Frau sollte man sich schon entscheiden, mit wem man gewillt ist, engumschlungen zu tanzen.«

»Ich verstehe. Du meinst, so ein Tanz könnte zu Weiterem führen?«

»Ja, das denke ich. Früher wollte ich das nicht.«

»Heißt das, dass du bereit wärst, es mit mir zu riskieren?«

»Ich riskiere nichts, Bernhard. Ich habe mich entschieden.«

Er lächelte. Sie lächelte.

Sie schwiegen eine Weile.

»Bernhard, das Leben ist in vieler Hinsicht sehr viel komplizierter, wenn man kein Teenager mehr ist, obwohl man damals glaubte, Erwachsene hätten es leichter.«

»Das stimmt, man ist nicht mehr spontan, und die Leichtigkeit wird gebremst durch zu viele Gedanken. Im Augenblick wollte ich, ich wäre jünger und hätte weniger Hemmungen.«

»Simsalabim, ich verzaubere dich jetzt! Wie alt möchtest du sein, Bernhard?«

Er lächelte.

»So alt, wie du mich möchtest.«

»Dann lasse ich dich so, wie du bist. Ich bin ganz zufrieden mit dir. Würde ich sonst mit dir tanzen gehen?«

»Nein, das würdest du sicher nicht, Christl.«

Bernhard atmete tief durch.

»Ruth meinte, ich würde dich gern ansehen.«

»Genau dasselbe sagte Jens zu mir in Bezug auf dich.«

»Ruth hat recht, Christl.«

»Jens, ebenso.«

»Wollen wir weiter die Kinder als Alibi benutzen, Christl?«

Christl seufzte.

»Es macht die Sache einfacher, Bernhard. Es ist ein großer Schritt für mich. Ich denke mir, dass er für dich noch größer ist, nach Lianes Tod.«

»Ja, das ist er. Aber Ruth hat mir Mut gemacht. Sie sagte, dass sie dich nett findet und Jens auch und dass sie euch beide gern in ihrer Nähe hätte.«

Christl schoss die Röte ins Gesicht. Ihr Herz fing an zu rasen. Sie wagte kaum zu atmen.

»Darf ich annehmen, das gilt auch für dich, Bernhard?«

Bernhard schluckte. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und sagt mit fester Stimme:

»Christl, ich weiß nicht, wie es geschah. Ich habe dich gesehen und Gefühle überwältigten mich. Ich dachte, ich könnte mich nie mehr zu einer Frau hingezogen fühlen. Aber es geschah einfach. Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll. Ich verstehe es selbst noch nicht ganz.«

Christl stand auf. Sie reichte Bernhard die Hand und zog ihn vom Boden auf zu ihr.

»Bernhard, ich verstehe dich. Ich bin alleinstehend, seit Jens’ Vater damals die Wohnung verließ und nicht wiederkam. Ich habe vor dir alle Männer auf Abstand gehalten und wollte mich nie mehr einem Mann hingeben. Dann sind wir uns begegnet. Ich musste einsehen, dass die Mauer um mich herum, die ich selbst errichtet hatte, augenblicklich zu Staub zerfallen war. Ich hatte gehofft, du wärst geschieden, dann wäre es leichter für mich gewesen. Als ich hörte, dass du Witwer bist, setzten sich die Steine um mich herum wieder zusammen. Aber viele Bruchstücke meiner Mauer ließen sich nicht wieder zusammenfügen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. So igelte ich mich ein. Trotzdem schlug mein Herz schneller, sobald du in meiner Nähe warst oder ich an dich dachte.«

Bernhard wollte etwas sagen.

»Pst, lass mich zuerst ausreden. Bernhard, ich muss es dir sagen: Ich habe mich in dich verliebt. Ich spüre die Schmetterlinge im Bauch. Der Himmel ist rosarot und himmelblau und voller Geigen. Ich liebe dich! Ich kann mir denken, dass dieses Geständnis dich vielleicht überrumpelt und in Bedrängnis bringt. Schließlich ist das mit Liane noch nicht lange her. So will ich dir nur sagen, dass ich auf dich warten kann. Ich warte gern, bis du mit dir selbst im Reinen bist. Ich liebe dich. Du sollst dich zu nichts gedrängt fühlen.«

Bernhard sah Christl tief in die Augen und las darin Verständnis und ihre Liebe zu ihm. Er legte die Arme um ihre Taille und zog sie an sich.

»Ruth hat es mir so erklärt. Sie wird ihre Mama immer lieben. Sie hat auch dich sehr gern. Sie wird aber immer Christl zu dir sagen. So geht es mir auch. Liane war Liane. Sie wird als wunderbare Erinnerung in meinem Herzen fortleben. Sie ist ein Teil meines Lebens. Aber du bist du! Du bist Christl. Du bist nicht sie. Wenn ich dir sage, ich liebe dich, dann ist es eine andere Liebe, als die, die mich mit Liane verband. Es ist meine Liebe zu dir. Es war nicht leicht für mich, bis ich das erkannte. Ich bin Ruth so dankbar, dass sie mir Mut zusprach.«

»Kinder haben ein unschuldiges Herz und schämen sich ihrer Gefühle nicht. Nehmen wir sie uns als Vorbild.«

»Ja, das wollen wir tun, Christl. Du bist meine neue Liebe. Mit dir schlage ich im Buch meines Lebens ein neues Kapitel auf. Christl, ich liebe dich! Ich bin auch bereit für dich.«

»Und ich bin bereit für dich!«

Sie schauten sich tief in die Augen. Langsam näherten sich ihre Lippen. Endlich wurde ihre Sehnsucht nach einem Kuss erfüllt. Sie zitterten leicht und hielten sich ganz fest.

»Ich liebe dich so, Christl!«

»Ich liebe dich, Bernhard!«

Er griff in die Hosentasche und holte eine kleine Schachtel heraus.

»Das habe ich heute Morgen gekauft. Ich dachte, irgendwann bringe ich den Mut auf, mit dir zu sprechen. Dann wollte ich nicht mit leeren Händen dastehen.«

Er öffnete die kleine Schachtel. Im Samtkissen steckte ein Ring mit einem Stein, wie ein Mann ihn seiner Liebsten schenkt, wenn er es ernst meint, mit einer gemeinsamen Zukunft.

Christl gab ihm einen Kuss und streckte ihm die Hand hin. Mit zitternden Fingern schob er ihr den Ring über.

Dann küssten sie sich lange und innig. Sie hielten sich ganz fest und ihre Herzen verschmolzen.

»Jetzt könnten wir doch mit Champagner anstoßen«, sagte Bernhard.

»Ach, wir sind hier in den Bergen. Da ist bayrisches Bier angesagt. Mach noch zwei Flaschen auf!«

So geschah es. Dann setzten sie sich auf die Bank, kuschelten sich eng aneinander. Sie fühlten sich so nahe und waren so glücklich.

Den Rest des Tages küssten sie sich und redeten und küssten sich wieder. Und immer mehr fielen die Vergangenheit und die Hemmungen von ihnen ab. Sie hatten sich gefunden und waren so glücklich.

Die Sonne sank über den Bergen. Sie blieben auf der Bank beim ›Erkerchen‹ und schauten in die Sterne. Es kam ihnen vor, als leuchteten diese nur für sie am Himmel.

Als die Turmuhr der schönen Barockkirche von Waldkogel Mitternacht schlug, packten sie zusammen und wanderten im Mondlicht zurück zur Berghütte.

*

Christl und Bernhard saßen auf der Terrasse und frühstückten, als Jens und Ruth kamen.

»Guten Morgen, ihr Langschläfer«, lachte Christl. »Seid wohl erst spät eingeschlafen, wie?«

»Nicht so spät wie ihr, Mama«, grinste Jens. »Ihr seid erst nach Mitternacht von eurer Wanderung zurückgekommen. Dann seid ihr noch bis Sonnenaufgang auf der Terrasse gewesen.«

»Papa, ihr habt geknutscht. Jens und ich haben es gesehen«, sagte Ruth und blinzelte ihrem Vater zu. »Also, ihr müsst uns nichts vormachen.«

»Das wollen wir auch nicht, Ruth. Christl und ich, wir haben uns verlobt.«

»Super!«, schrien Jens und Ruth wie aus einem Mund.

Die Kinder fielen sich in die Arme.

Christl zeigte Jens den Ring, den ihr Bernhard geschenkt hatte als Zeichen seiner Liebe.

»Wow, der muss ganz schön teuer gewesen sein. So ein großer Stein«, sagte Jens. »Du musst meine Mama sehr lieb haben, Bernhard.«

»Ja, ich habe sie sehr lieb, Jens!«

Ruth legte die Stirn in Falten. Sie sah ihren Vater ernst an.

»Papa, wann hast du den Ring gekauft? Beim ›Erkerchen‹ gibt es kein Schmuckgeschäft. Warst du mit Christl gestern noch in Kirchwalden?«

»Du kleine Detektivin«, lachte Bernhard. »Ich habe den Ring gestern Morgen schon gekauft.«

»Du Geheimniskrämer! Das ist unfair. Du hättest ihn mir zeigen können. Wenn du mich mitgenommen hättest, hätte ich dir beim Aussuchen geholfen.«

»Gefällt er dir nicht, Ruth?«

»Doch, er ist schon in Ordnung.«

Christl lächelte Ruth an.

»Ruth, einen Ring für die Liebste zu kaufen, das macht ein Bursche allein. Das ist so üblich und richtet sich nicht gegen dich. Eines Tages wird dich jemand lieben und dir einen Ring schenken. Dann wird es genau so sein.«

Ruth errötete kurz und warf Jens einen Seitenblick zu. Christl und Bernhard taten, als bemerkten sie es nicht.

»Wollt ihr uns nicht endlich gratulieren?«, fragte Bernhard.

»Doch, doch!«, rief Ruth aus.

Sie umarmte zuerst ihren Vater und dann Christl. Jens’ Glückwünsche fielen etwas bescheidener aus, aber das verstanden die beiden, er war eben ein Junge. Aber sie sahen die Freude in seinen Augen.

»Wie geht es jetzt weiter? Wann werdet ihr heiraten?«, fragte Jens.

Bernhard rieb sich das Kinn.

»Das ist die Frage, Jens. Ihr müsst mit entscheiden. Wir wohnen in verschiedenen Städten. Entweder zieht ihr zu uns, oder Ruth und ich ziehen zu euch. Ich finde sicher eine Stelle als Arzt, dort, wo ihr wohnt. Oder ich mache eine Praxis auf und lasse mich als Hausarzt nieder, wie Martin hier in Waldkogel.«

»Dann müssen wir aus dem Haus ausziehen, das du mit Mama gekauft hast und das Mama eingerichtet hat«, schoss es aus Ruth hervor.

»Ruth, wir müssen das Haus nicht verkaufen. Es kann so bleiben. Vielleicht willst du später darin wohnen?«

Ruth schob sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. Sie dachte nach und griff nach Bernhards Hand.

»Papa, auch darüber hat Mama mit mir gesprochen. Sie war einverstanden, dass wir vielleicht eines Tages fortziehen. Das sollte ich dir sagen und ich bin es auch. Hauptsache, Jens und ich sind zusammen.«

Christl und Bernhard schmunzelten.

»Wir werden das alles gemeinsam in Ruhe bereden, Ruth«, sagte Christl.

»Nix da, Mama«, schaltete sich Jens dazwischen.

»Wann werdet ihr heiraten? Wann läuten die Hochzeitsglocken für euch?«

»Darüber haben wir noch nicht gesprochen, Jens. Das sind alles Fragen, die das Paar in der Verlobungszeit beredet.«

»Mama, so geht das nicht«, sagte Jens mit ernsthaftem Unterton. »Ruth und ich haben schon darüber gesprochen. Wir wollen, dass ihr sofort heiratet. Dann hat Ruth wieder eine Mutter und ich endlich einen Vater. Ihr liebt euch doch. Ihr seid euch doch ganz sicher oder nicht?«

Bernhard legte den Arm um Christls Schulter.

»Haben wir noch etwas zu sagen, Christl?«, fragte er.

Sie schaute ihm in die Augen, lächelte und schmiegte sich an ihn.

»Dann müssen wir wohl die Angelegenheit beschleunigen, Christl. Wir könnten hier in Waldkogel heiraten. Willst du?«

»Super Idee«, jubelten Jens und Ruth.

»Toni, Toni! Anna!«, schrie Ruth. »Kommt schnell!«

Die beiden kamen eiligst angelaufen.

»Was schreist du so, Ruth?«, fragte Toni. »Willst du die Berge erzittern lassen?«

»Toni, Bernhard und Mama wollen heiraten, hier in Waldkogel. Du hast uns doch erzählt, du kennst den Bürgermeister gut. Was muss man tun, damit sie schnell heiraten können?«

Toni und Anna lachten.

»Mei, habt ihr ein Tempo drauf! Jetzt überrascht ihr uns doch sehr«, sagte Toni zu Bernhard und Christl.

Sie lächelten und erklärten, dass sie sich völlig sicher seien, dass sie zusammengehören. Wenn dies der Wunsch der Kinder sei, dann hätten sie gegen einen schnellen Hochzeitstermin keine Einwände, ganz im Gegenteil.

»Des haben wir gleich«, sagte Toni.

Er zückte sein Handy und sprach mit Bürgermeister Fellbacher. Das Gespräch dauerte nicht lange.

»Ihr könnt heute Nachmittag zu ihm aufs Rathaus kommen. Außer eurem Personalausweis habt ihr sicher keine Papiere dabei. Fellbacher versprach, sich mit den Behörden in euren Heimatorten in Verbindung zu setzen. Er wird alles in die Wege leiten, sobald ihr das Aufgebot bestellt habt.«

»Dann soll es sein, Christl«, sagte Bernhard leise.

Christl nickte und sie küssten sich.

»Danke, Toni! Ihr seid alle zur Hochzeit eingeladen«, sagte Christl.

»Ihr müsst auch in der Kirche heiraten«, bemerkt Jens. »Sonst ist das keine richtige Hochzeit.«

»Genau«, stimmte Ruth zu. »Ich gehe mit dir das Brautkleid kaufen, Christl. Papa darf nicht mit. Es bringt Unglück, wenn der Bräutigam das Brautkleid vor der Hochzeit sieht.«

»Stimmt«, mischte sich Jens ein. »Aber ich komme mit!«

Christl und Bernhard lachten.

»Merkst du, Bernhard, wie sich die Kinder verbündet haben. Wir werden uns ganz schön durchsetzen müssen«, sagte sie.

»Das wird schon. Hauptsache, die beiden sind glücklich.«

Sie stimmte Bernhard zu.

»Los!«, ermahnte sie Jens. »Wir essen schnell. Dann gehen wir runter nach Waldkogel. Du musst dir ein Kleid kaufen. Das kannst du in dem Laden am Marktplatz machen. Wenn ihr das Aufgebot bestellt und mit dem Pfarrer redet, sieht es nicht gut aus, wenn du in Bergsteigerklamotten bist.«

»Gut mitgedacht, Jens!«, lobte ihn Bernhard.

Sie frühstückten alle vier zu Ende. Dann wanderten sie hinunter zur Oberländer Alm und fuhren in Bernhards Auto nach Waldkogel. Sie parkten auf dem Marktplatz und gingen in den Trachten- und Andenkenladen.

Veronika Boller, die sich gern mit ihren Kunden unterhielt und sich gern einmischte, hatte gegen die Kinder keine Chance. Jens und Ruth hatten genaue Vorstellungen, was Christl und was Bernhard anziehen sollten. Die beiden mischten Veronikas Geschäft ganz schön auf und hielten mit ihren Meinungen nicht zurück.

Endlich nach zwei Stunden verließen alle das Geschäft.

Veronika sank hinter der Kasse auf einen Stuhl.

»Mei, ich bin ganz erschöpft. Himmel, war das anstrengend! Da wünschte ich mir die Tage zurück, an denen der Laden geschlossen war«, stöhnte sie.

Ihr Mann lachte.

»Beklage dich nicht, Veronika. Des war ein guter Umsatz. Damit ist der Umsatzverlust, den wir hatten, wieder ausgeglichen. Jetzt müssen wir wieder aufräumen. Fangen wir an!«

Jens und Ruth hatten ganze Regale und Kleiderständer geplündert und sich jedes Teil genau angesehen. Auf den Stühlen im Laden lagen Berge von Kleidern, Anzügen und vor dem Schuhregal türmten sich die Schuhe auf einem Haufen.

»Hast recht, was zählt, ist der Umsatz, Franz«, sagte Veronika leise und ging an die Arbeit. »Jetzt, da diese Reisegesellschaft Waldkogel nicht mehr mit ihren Busen anfährt, werden wir wieder weniger Umsatz machen. Aber schlecht ist das auch nicht. Mir ist es sogar lieber so. Es ist wieder ruhig und friedlich hier in unserem schönen Waldkogel.«

*

Drei Tage später heirateten Bernhard und Christl im Rathaus von Waldkogel. Ruth und Jens waren fast genauso aufgeregt wie das Brautpaar. Anschließend gingen sie hinüber in die Kirche. Es waren nur Toni und Anna, Sebastian und Franziska, sowie Doktor Martin Engler mit seiner Katja anwesend.

Christl trug ein knöchellanges cremefarbenes Kleid im Landhausstil mit Jäckchen und Bernhard einen dunkelblauen gediegenen Lodenanzug. Jens und Ruth waren ebenfalls schön anzusehen, Jens in neuen ledernen Kniebundhosen und weißem besticktem Hemd, Ruth in einem Dirndl.

Nachdem Pfarrer Zandler den Segen gesprochen hatte, küsste sich das Brautpaar.

»Jetzt sind wir eine Familie, Ruth«, flüsterte Jens seiner Stiefschwester ins Ohr.

»Ja, das sind wir. Ich finde es prima!«

»Ich auch!«

Nach der Trauung feierten alle im Hinterzimmer bei Tonis Eltern bis spät in die Nacht. Das Brautpaar und Jens und Ruth übernachteten bei den Baumbergers. Die Autos standen mit dem Gepäck vor dem Haus. Die Ferien waren zu Ende.

Am nächsten Tag fuhren sie ab. Sie fuhren zu Christl. Tage später wollten sie aus Bernhards Haus die wichtigsten Sachen holen und alles andere einlagern. Das Haus sollte vermietet werden.

Bernhard und Christl kauften ein Haus. Bernhard eröffnete dort eine Hausarztpraxis. Christl arbeitete weiter an der Schule. Jens und Ruth freuten sich auf die nächsten Ferien in Waldkogel. Dann würden sie alle zusammen auf den Gipfel des ›Engelssteigs‹ klettern und ein Foto machen. Auf diesem Bild wären sie aber alle drauf, die ganze glückliche Patchwork-Familie, der niemand ansah, dass sie bunt zusammengewürfelt war. Sie waren eine richtig glückliche Familie.

So blieb es auch.

Nach dem Abitur studierte Jens Medizin, um später in Bernhards Fußstapfen zu treten. Ruth entschied sich nach Christls Vorbild für eine Karriere als Lehrerin.

Ruth und Jens hatten während des Studiums verschiedene Freundschaften und waren auch verliebt. Aber tief in ihren Herzen spürten sie, dass sie etwas anderes suchten. Irgendwann sprachen sie Bernhard und Christl darauf an.

»Es kommt vor, dass aus einer Jugendfreundschaft und Jugendliebe die Liebe des Lebens wird«, sagte Christl.

»Ihr solltet den gleichen Mut aufbringen wie wir damals.«

So kam es, dass es bald eine Familie Jens und Ruth Groll gab und Bernhard und Christl in der Folge davon stolze Großeltern von zwei liebreizenden Enkeln wurden, einem Buben und einem Madl.

Das Herzensglück der vier war vollkommen.

Toni der Hüttenwirt Staffel 16 – Heimatroman

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