Читать книгу Die rosarote Brille - Friedhelm Decher - Страница 6
Einleitung
Оглавление„Der Geist ist willig und das Fleisch ist schwach“ behauptet eine gern zitierte, der Bibel entlehnte Sentenz. Doch ist dem tatsächlich so? Verhält es sich nicht eher umgekehrt? Ist nicht oft das Fleisch willig und der Geist schwach? Sind wir Menschen wirklich so autonom, wie wir gerne glauben? Sind wir nicht vielmehr durch Manipulationen der unterschiedlichsten Art getäuschte und verführte Wesen, deren Handlungen oftmals eher irrationalen als rationalen Beweggründen folgen? Richten wir uns zum Beispiel bei unserem Konsumverhalten oder der politischen Meinungsbildung nach eigenen Einsichten oder nach dem, was uns heimliche – und unheimliche – Verführer zuflüstern? Sehen wir nicht oftmals – vielleicht gar allzu oft? – die Dinge durch eine rosarote Brille, durch eine Brille also, die unsere Wahrnehmung notwendigerweise verzerrt? Und wenn festzustellen wäre, dass es mit unserer unvoreingenommenen Wahrnehmung und unserer Autonomie oftmals nicht allzu weit her ist, welche Mechanismen und Prinzipien unseres Erkenntnisapparats und unseres Geistes wären dafür verantwortlich zu machen?
Psychologie und Philosophie können mit einer Fülle bemerkenswerter Befunde aufwarten, die vor Augen führen, wie leicht und gern wir Menschen uns manipulieren lassen, in wie erstaunlich vielfältiger Weise wir Täuschungen unterliegen und wie bereitwillig wir uns Illusionen unterschiedlichster Art hingeben. Das lässt sich bereits auf der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung feststellen. Einer gängigen und verbreiteten Überzeugung zufolge brauchen wir nur unsere Augen und Ohren offen zu halten und schon spaziert die Welt in unseren Kopf herein und erzeugt dort ein detailgetreues Abbild ihrer selbst. Nichts indessen trifft weniger zu als eine solche Vorstellung. Wahrnehmungspsychologie und Sinnesphysiologie nämlich belehren uns darüber, dass unsere Wahrnehmung häufig von sinnesspezifischen Täuschungen und Illusionen heimgesucht wird und in unsere Sinne Filter und Verarbeitungsmechanismen eingebaut sind, die uns die Welt auf eine ganz bestimmte Art und Weise erscheinen lassen. In Anbetracht der sinnesphysiologischen Befunde kann man sich nicht länger der Einsicht verschließen, dass unser Bild der Welt das Ergebnis perspektivischer, selektiver und konstruktiver Wahrnehmung ist. Dieser Thematik ist das erste Kapitel im ersten Teil des Buches gewidmet, der unter dem Titel Wie wir uns täuschen und manipulieren lassen den Mechanismen nachspürt, die nachhaltigen Einfluss auf unsere Wahrnehmungen, Entscheidungen und unser Verhalten ausüben.
Gemeinhin halten wir uns auf unsere kognitiven Fähigkeiten einiges zugute. Aber auch hier ist – ähnlich wie bei der sinnlichen Wahrnehmung – Vorsicht geboten. Denn, so kurios es zunächst vielleicht klingen mag, allzu oft spielen uns unsere kognitiven Fähigkeiten insofern einen Streich, als wir uns mit ihrer Hilfe und trotz besseren Wissens selbst manipulieren. Der Variationsbreite solcher Selbstmanipulationen geht das zweite Kapitel nach. Im Zentrum stehen hier neben den Illusionen der Unverwundbarkeit und Überdurchschnittlichkeit, denen Menschen sich häufiger hingeben, als ihnen lieb sein dürfte, auch selbsterfüllende Prophezeiungen, das rasch zur Selbstmanipulation führende Bestreben, in kognitiver Hinsicht einig mit sich selbst zu sein, die trügerische Macht des Gedächtnisses, die Wirkung sogenannter subliminaler Botschaften – das heißt Botschaften, die unterhalb der Bewusstseinsschwelle liegen – und die unbewusste Informationsverarbeitung, die unsere Ansichten und Einstellungen entscheidend mitsteuert.
Unsere Erkenntnisse formulieren wir in der Regel sprachlich. Und auch unsere Kommunikation ist zu einem großen, wenn nicht gar zum überwiegenden Teil sprachlich vermittelt. Nun steht Sprache im Rahmen des zwischenmenschlichen Miteinanders beileibe nicht immer nur im Dienst von Erkenntnisvermittlung und gelingender Kommunikation. Oftmals zielt ihr Einsatz primär darauf ab, jemand anderen in spezifischer Weise dahingehend zu manipulieren, dass der oder die Betreffende zu einem Handeln oder Verhalten veranlasst wird, dem er oder sie aus freien Stücken wohl kaum zugestimmt hätte. Diese Problematik steht im Zentrum des dritten Kapitels, in dem anhand einiger Beispiele dargestellt wird, wie man mit Worten handeln und in welch vertrackte Situationen man andere damit bringen kann.
Im darauffolgenden Kapitel wird dieses Thema von einer anderen Seite beleuchtet. Insbesondere die Sozialpsychologie vermag mit einer ganzen Reihe von experimentell gewonnenen und überprüften Befunden aufzuwarten, die eindringlich vor Augen führen, wie wir von anderen – in manchmal erschreckendem Ausmaß – manipuliert werden. Sei es die sogenannte Ankerfalle, in die wir als Konsumenten immer wieder tappen, oder der Konformitätsdruck, der durch Gruppen erzeugt wird, sei es der Mechanismus der sozialen Bestätigung, das vorsätzliche Färben von Wahlmöglichkeiten oder eine Autorität, der wir bereitwillig gehorchen – in all dem kommt vor allem eines zum Vorschein: die große Beeinflussbarkeit des Menschen.
Insbesondere die neuzeitliche Philosophie und Anthropologie haben solche Tatbestände reflektiert und analysiert, um zu erklären, warum wir Wesen sind, die in weit höherem Maße, als es den meisten von uns bewusst ist, mehr oder weniger ungeschützt den vielfältigsten Formen von Täuschungen, Manipulationen und Verführungen erliegen. Diesen Erklärungsansätzen geht der zweite Teil des Buches nach. Dabei wird zunächst die anthropologische Grundsituation erhellt. Vornehmlich die philosophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts hat die sogenannte „Weltoffenheit“ sowie die Instinktreduktion des Menschen als Grundbedingungen für seine Täusch- und Verführbarkeit herausgestellt. Aber schon im 18. Jahrhundert konnten anthropologische Entwürfe überzeugend darlegen, dass und wie Weltbilder und Irrtümer durch die Sprache tradiert werden.
Eine besondere Rolle für den Zusammenhang zwischen Erkenntnis und Täusch- und Verführbarkeit spielt der Umstand, dass im Grunde alle unsere Vorstellungen und Erkenntnisse perspektivisch gebrochen sind, dass, mit anderen Worten, unsere Erkenntnisse, Einstellungen und Überzeugungen von einem je individuellen Standpunkt abhängen und zudem immer schon „theoriegetränkt“ sind. Darin sind sich, wie das zweite Kapitel belegt, selbst so unterschiedliche Autoren wie Leibniz, Nietzsche, Popper und Watzlawick einig.
René Descartes arbeitete bereits im frühen 17. Jahrhundert heraus, dass am Zustandekommen unserer Erkenntnisse Verstand und Wille gleichermaßen beteiligt sind, kann doch unser Wille einem konkreten Bewusstseinsinhalt seine Zustimmung erteilen oder sie ihm versagen. Damit brachte Descartes eine Sichtweise auf den Weg, die sein Zeitgenosse, der englische Naturwissenschaftler, Politiker und Philosoph Francis Bacon, nach einer anderen Seite hin entfaltete. Er nämlich unterzog die von ihm so bezeichneten „Vorurteilsgötzen“, die sich des menschlichen Geistes bemächtigen, einer eingehenden Untersuchung und akzentuierte auf diese Weise die manipulative Kraft von Vorurteilen. In der Folgezeit wurde das Problem des Zusammenspiels von Wille, Intellekt und Vernunft insbesondere von Schopenhauer und Nietzsche aufgegriffen, die weitere erstaunliche Aspekte ins Spiel brachten, die die ganze Komplexität des Themas zeigen und die folgende These illustrieren: Der Umstand, dass wir meinen, wir könnten Täuschungen durchschauen, wir seien weitgehend resistent gegen Manipulationen, hat entscheidend damit zu tun, dass wir uns von einem ganz bestimmten Menschenbild verführen lassen – einem Menschenbild nämlich, das uns als vernünftige Wesen zeigt, die ihre Trieb- und Willensregungen dank ihrer Vernunft souverän beherrschen. Der von Nietzsche in diesem Zusammenhang zur Sprache gebrachte Sachverhalt, unser Geist wolle sich gelegentlich nur zu gern täuschen und betrügen lassen, wird ergänzt durch ein Verfahren der Selbstmanipulation, das der französische Philosoph Clément Rosset Wahrnehmungsverweigerung und Nichtbeachtung des Realen genannt hat. Diese weitgespannte Thematik ist Gegenstand des dritten Kapitels.
Das vierte Kapitel schließlich bringt die Innensteuerung durch die Moral zur Sprache. Einem gängigen Vorverständnis zufolge kommt der Moral die Funktion zu, neben dem geschriebenen Gesetz und über es hinaus das Zusammenleben in menschlichen Gesellschaften zu regulieren und zu stabilisieren. Dieses Vorverständnis ist sicherlich nicht falsch, greift jedoch insofern zu kurz, als es nur die – wie man sagen könnte – „positiven“ Effekte der Moral im Blick hat. Dabei übersieht es, dass moralische Instanzen wie das Gewissen oder Mechanismen wie das Erzeugen von Scham und Schuldgefühlen oder Normen wie die sogenannte Reziprozitätsnorm in manipulativer Absicht eingesetzt werden können, um die Einstellungen und das Verhalten anderer zu steuern.
In diesem Kontext drängt sich möglicherweise dem einen oder anderen die berechtigte Frage auf: Wie frei ist denn dann eigentlich unser Wille? Steht es allein in seiner Macht, sich so oder anders zu entscheiden, die eine oder die andere Handlungsoption zu wählen? Mit dieser Frage betritt man ein Minenfeld, durch das leichtes und sicheres Hindurchmanövrieren beim derzeitigen Stand der Diskussion kaum möglich ist. Zu kontrovers ist das Thema in der Vergangenheit diskutiert worden. Und auch die Ergebnisse der modernen Hirnforschung, die sich seit einiger Zeit auch des Themas Willensfreiheit angenommen hat, erlauben derzeit noch keine eindeutige und einheitliche Interpretation. Dies alles hier zu thematisieren, würde ohne Frage den gesteckten Rahmen überschreiten und den Schwerpunkt auf ein ganz anderes Gebiet verlagern: hin zur Debatte um die Willensfreiheit und weg von der Frage nach der Täusch- und Verführbarkeit des Menschen. (Natürlich soll damit nicht bestritten werden, dass zwischen beidem ein enger Zusammenhang besteht.) Hier jedoch soll es in erster Linie darum gehen, die Schwachstellen unserer Willenssteuerung aufzudecken und durch solcherlei Aufklärung – im besten Fall – eine gewisse Täuschungs- und Verführungsresistenz zu bewirken. Denn auch wenn sich manche Menschen gerne von den vielfältigen Trugbildern, die das Leben zu bieten hat, täuschen und verführen lassen, so ist doch sicherlich der Großteil überzeugt, es sei aufs Ganze gesehen besser, nicht jeder Versuchung gleich nachzugeben und Mechanismen an der Hand zu haben, mit deren Hilfe man sich gegen Täuschung, Trug und Verführung wappnen kann. Dahinter steckt offenbar implizit die Vorstellung, es gebe eine Art geraden Weg, von dem Versucher und Verführer uns abzubringen versuchen.
Und in der Tat lässt sich genau diese Vorstellung durch einen Blick auf die Etymologie und Bedeutungsgeschichte des Begriffs „Verführung“ belegen. Jacob und Wilhelm Grimm betonen in ihrem Deutschen Wörterbuch nämlich, die Zusammensetzung mit „ver“ in dem Verb „verführen“ habe ursprünglich die „sinnliche“ Bedeutung besessen: hinwegführen, an einen anderen, falschen Ort führen, in die Irre führen. Analog dazu bezeichne das Substantiv „Verführung“: Ablenkung vom eingeschlagenen Weg; das, was vom richtigen auf den falschen Weg leitet. Diese „sinnliche“ Bedeutung, so die Brüder Grimm weiter, sei zunächst die alleinige gewesen; erst später sei es zu einer Übertragung auf den geistigen Bereich gekommen. „Verführen“ heißt dann: zu etwas verleiten, etwa falschen Schlüssen oder irriger Lehre; vom Weg abbringen. In dieser negativen Bedeutung beziehen sich „verführen“ und „Verführung“ nicht allein auf das Gebiet des Geistigen, sondern darüber hinaus auch auf die Gebiete des Moralischen, Sexuellen und Religiösen.1 Ein Verführer ist demnach jemand, der uns auf all diesen Feldern vom eingeschlagenen Weg abbringt beziehungsweise abzubringen versucht.
Dabei schwingt implizit die Vorstellung mit, es gebe so etwas wie einen oder gar den richtigen Weg. Und dahinter wiederum verbirgt sich eine unausgesprochene Idee vom Richtigen, vom Wahren, von Normalität und Normativität. Derjenige – so die gängige, mit der Vorstellung von Normalität in der Regel gekoppelte Argumentation –, der einer Versuchung nicht zu widerstehen vermag und sich verführen lässt, werde von diesem richtigen Weg abgebracht, weil es ihm an Willensstärke, an Autonomie, an Selbstreflexion und Selbstprüfung mangele.
Mit solcher Rede von Normalität und Normativität betritt man jedoch ein äußerst abschüssiges Gelände, auf dem man rasch ins Rutschen kommen kann. Denn unweigerlich stellt sich die Frage: Wer oder was entscheidet darüber, was als normal und was als nicht normal, was als richtiger und was als falscher Weg zu gelten hat? Und weiter: Im Vergleich womit gilt etwas als normal und als richtiger Weg?
Dieses Problem, so werden wir sehen, stellt sich bereits auf der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung. Die Einsicht in die Perspektivität, Selektivität und Konstruktivität unserer sinnlichen Wahrnehmung lässt Fragen wie die nach der richtigen Wahrnehmung und Weltauffassung als unsinnig erscheinen. Dafür sprechen auch philosophische Analysen, wie sie etwa – wenn auch mit unterschiedlicher Akzentuierung – Leibniz, Schopenhauer, Nietzsche sowie die moderne Erkenntnistheorie und Wissenschaftsphilosophie vorgelegt haben. Ihnen zufolge ist unser Weltverhältnis und Weltverständnis immer schon perspektivisch gebrochen, so dass sich der vermeintlich unverstellte und unvoreingenommene Blick auf „die Wirklichkeit“, auf den „richtigen Weg“ als nichts anderes als eine Illusion erweist.
Das nun aber bleibt nicht ohne Rückwirkungen auf die Begriffe der Täuschung und Manipulierbarkeit, der Verführung und Verführbarkeit: Können sie angesichts solcher Tatbestände überhaupt noch in einem normativen Sinn verwendet werden? Sollte man sie nicht vielmehr nur noch als deskriptive, also beschreibende Begriffe benutzen? Manche Einsichten der Philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts deuten fraglos in diese Richtung. Denn sie stellt heraus, dass uns unsere Weltoffenheit konstitutionell anfällig für Täuschungen und Verführungen macht, und wirft damit die Frage auf, ob es überhaupt möglich ist, sich nicht täuschen und manipulieren zu lassen, die Welt also mit einer Brille ohne eingefärbte Gläser wahrzunehmen.