Читать книгу Die Abenteuer der Missis Jö - Friedhelm Kändler - Страница 6

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Der verweigerte Korb

Die Nacht kam, aber der Schlaf wollte nicht folgen. Pierre hatte lange nicht mehr derart tief in eine Kaffeetasse geschaut. Gewöhnlich vertrug er ein oder auch zwei Tassen Kaffee zur Nacht, aber bei den Sonnenbeins hatte er eindeutig übertrieben. Er hatte auf Vorrat getrunken.

Doch die Zeiten waren besonders, entsprechend verlangten sie besondere Maßnahmen. Kein Geld, ein leerer Kühlschrank, schon über Tage. Weitere Bewerbungsabsagen, entweder weil er kein Foto beigelegt hatte oder weil er es tat. So mutmaßte er zumindest, natürlich gingen die Absagen nicht so weit, ihre wahren Gründe zu nennen. Die musste er selber finden.

Es war eine Kunst, die er beherrschte. Keine hilfreiche Kunst, aber wer will so was von Kunst erwarten?

»Würden Sie Ihren Bart abrasieren?« Einer hatte es gewagt, die Frage zu stellen. Immerhin. Und Pierre tat alles, um nett zu sein, um zu gefallen, nur... der Bart! Er war die letzte Bastion seines Selbstbewusstseins. Die Frage »Arbeit oder Bart« – sie war grundsätzlich!

Erneut wälzte er sich, todmüde und hellwach zugleich. Nein... Er war bereit, sich auf Schlimmstes einzulassen, und sei es eine Aushilfstätigkeit bei der Post, nur – keine Rasur! Den Bart töten, damit er seine diplompädagogischen Fähigkeiten anwenden darf, als Glattgesicht, niemals!

»Man muss doch das Gesicht sehen können.« Die Frau vom Amt, zuständig für »M bis P« – sie hatte nicht gewollt, dass Pierre es hörte. Aber sie hatte gedacht, er sei schon fort. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Pierre begabt war! Er konnte Büroküchen erriechen. Wo der Kaffee stand...

Was hatte sie gezetert, als sie Pierre in der Küche erwischte. »Die Ohren sollte man Ihnen lang ziehen«, hatte sie gesagt, aber dann gemerkt, dass ihre Arme zu kurz waren.

Ja... Sie besaß eine Anstellung. Weil sie adrett war und klug. Weil sie sich rasiert hatte, darum! Warum kam der Schlaf nicht? Dabei hatte Pierre schon die Nacht zuvor kaum geschlafen.

Zu viele Gedanken, zu wenig Nahrung.

Pierre hatte nichts zu essen im Haus. Nur noch Knäckebrot, das letzte Paket. Er bewahrte es im Kühlschrank auf. Die letzte Stromrechnung hatte Pierre noch bezahlen können, also brannte im Kühlschrank Licht. Aber was nutzt Licht, wenn es nichts zu sehen gibt, nur gähnende Leere?

Auch hatte er sein Diplom neben das Knäckebrot gelegt. Stolz eingerahmt, eine weitere Gabe für das Licht, zugleich eine Erinnerung an einen Sieg, dessen Nutzen zwar noch fehlte, aber er war vorhanden und mochte Zukunft bedeuten.

Ein schmaler Trost.

Du öffnest den Kühlschrank und besitzt ein Diplom.

Der Hunger war schlimm, doch Pierre hatte Reserven. Er war groß, musste mehr essen als andere, doch er hatte gut angesammelt. Schlimmer war, dass sich seit Tagen keine einzige Bohne Kaffee mehr im Haus befand, egal, wie oft Pierre nachschaute. Und das, obwohl er zu den Menschen gehörte, die behaupteten, ohne Kaffee nicht zu Bewusstsein zu gelangen. Zu dem dünnen Rest Bewusstsein seines Selbst, so viel, wie er noch vermochte wahrzunehmen...

Stopp!

Und Ruhe. Nicht wehleiden, später wieder, jetzt nicht. Jetzt schlafen! Nur wo damit anfangen? Es war klar, dass es nicht ohne Folgen bleiben würde, das Gelage bei den Sonnenbeins. Mit einer nachschenkenden Hausdame, die zur Mitternacht noch ein weiteres Kleid für die Reise vorführte, mit Karos, genügend wild für West-Afrika.

Pierre drehte sich, es half nicht. »Nette Leute«, murmelte er, »aber nichts für länger.« Erneut flogen seine Gedanken hin zu der geheimnisvollen Frau. Zu Missis Jö, sie besitzt keinen Vornamen... Wenn Verrückte von einer Verrückten erzählen, kann man sich nicht allzu sicher sein. Wie spät? Zu früh, noch immer.

Gewöhnlich schlief Pierre bis zum Mittag, ein Tribut an die Aussichtslosigkeit seines Lebens. Er hatte sein Diplom geschafft, ihm wurde eine außergewöhnliche Intelligenz bescheinigt, zugleich ein gewisses Ungeschick, diese auch umzusetzen – so erinnerte Pierre seinen Erfolg, die Rückmeldungen seiner Dozenten, ihre Versuche, ihm Mut zuzusprechen und dabei das Wort »eigentlich« zu vermeiden.

Wie hatte es Uschi ausgedrückt? Die Frau, die beinahe vollkommen war, einzig störte ihr Name und... Nun ja, er, Pierre, er störte auch. »Du liebst dich nicht«, hatte sie gesagt, »das hängt tief in dir drin. Das ist deine Größe, geh mal zu einem Psychologen.«

Nachts haben Psychologen nicht auf. Also erst mal schlafen. Mit dem Wissen im Kopf, gleich aufstehen zu müssen, sinnlos. Warum anfangen, was sowieso gleich ein Ende hat?

Lucky war zufrieden. Pierres bester Freund, sein Magen. Er war seit langem mal wieder satt. Kekse und Schnittchen, dann nach dem Kleid mit Karos noch eine Suppe aus der Konserve. Dazu Geschichten aus dem Eheleben der Sonnenbeins, aus dem Bezirk des Postboten und von den Reisen der Gattin – wenn Pierre ansetzte und sagen wollte, dass er nun gehen müsse, waren entweder Frau oder Herr Sonnenbein schneller und erzählten, erzählten...

Warum Europa auch schön sei. Und wie die Zeit sich ändere. Dass es bald nur noch Rechnungen und Werbung seien, die Herr Sonnenbein austeilte, kaum Briefe, richtige Briefe. Frau Sonnenbein war kinderlos, und er natürlich auch, aber das habe sich so ergeben. Wie kommt man raus aus einer Couch, die so nachgiebig ist, dass einem die Knie unter das Kinn reichen?

Noch Kaffee? Ja, gerne, für die nächste Woche gleich mit.

Kein Schlaf. Er kam nicht.

Endlich klingelte der Wecker. Nach Art einer hämischen Erlösung. Pierre erhob sich, zog sich an. Gebückt, wegen der Schräge in seinem Zimmer. Vermietet von einer älteren Dame, die darauf wartete, dass er endlich die Miete bezahlte. Eine freundliche, ältere Dame, sie hat selber nicht viel – verdammt! Zwölf Quadratmeter unter dem Dach, eines von sechs Pferchzimmern, mit Gemeinschaftsdusche auf dem Flur.

Pierre griff sich Unterwäsche, machte sich auf den Weg. Die Dusche war nicht besetzt, gut... Ausziehen, die Strümpfe anbehalten, so ist es sicherer. Duschen. Dann hinsetzen, die Füße waschen, dann anziehen. »Ja«, redete er mit sich selbst, »ich liebe mich nicht. Ich habe keine Vorbilder.«

Das kalte Wasser hatte geholfen. Aus einer Ecke kroch Mut. Der Tag fügte sich. Pierre kehrte zurück in sein Zimmer, ein Blick aus der Dachluke: Grauer Morgen, auf den Straßen erste Menschen. Also los, die Post abholen... Und: Halt! Beinahe hätte Pierre vergessen, den Plan des Sonnenbein einzustecken. Kurz überlegte er, es absichtlich nicht zu tun. Aber wer sich nicht liebt, sollte zumindest tun, was von ihm verlangt wird, oder?

Auch Lucky war aufgewacht. Er wirkte irritiert, weil er noch satt war, zumindest annähernd.

»Gehen wir?«, fragte Pierre.

Der Plan half tatsächlich. Die Müdigkeit kam zurück. Doch mit dem Plan war es erlaubt. Kein Suchen, nur ein Abarbeiten. Der alten Frau aus der Herzogstrasse muss die Milch mit hochgebracht werden, der Kiosk am Werderplatz nimmt die Post für den Sentaweg 24 an, so wird der Kontakt mit den zwei Dobermännern vermieden, ein Herr Rheinsheimer steht an der Straßenbahnhaltestelle und wartet – alles wie beschrieben, der Bezirk des Herrn Sonnenbein war bestens organisiert. Es war Zeit eingeplant für ein Gespräch hier und da, eine Erklärung, dass Pierre nicht Herr Sonnenbein sei, nein, tatsächlich, und die Frikadelle in der Gunsthofer Allee gab es umsonst, weil Pierre kein Geld hatte. »Sie ist reserviert, also nehmen Sie schon«, sagte der Mann hinter dem Tresen, früh morgens bestens gelaunt.

An sich ein guter Tag. Ohne Regen. Ein Tag für getupfte Kleider. Lucky darf eine Frikadelle essen. Die Tasche mit der Post wird leichter, es ist so gut wie geschafft, nur noch die erste Hälfte der Besenstrasse bis zur Hausnummer 12, danach umkehren, die Straße zurück und um den Block rum bis hin zur letzten Auslieferung im zweiten Straßenteil...

»Huhu!«

Pierre sah nach oben. Ein Haus weiter, eine Frau schaute aus dem Fenster im obersten Stock, sie winkte, eine Frau mittleren Alters, eher klein, viel war nicht zu erkennen. Das war sie also, das musste sie sein.

»Warten Sie kurz!«

Es wäre unhöflich gewesen, jetzt umzudrehen und weiter zu gehen. »Ich bin schüchtern«, murmelte Pierre, »ich neige nicht dazu, mich zu widersetzen.« Außerdem war er neugierig. Wenn er jetzt für die kurze, letzte Strecke den Plan des Sonnenbein nicht mehr erfüllte...

Die Frau war wieder zu sehen. Sie wuchtete einen Korb über die Fensterbank, ließ ihn an einem Seil herunter. »Alles wird gut«, rief sie. Pierre vermutete, dass er die Post, die er nicht besaß, in den Korb legen sollte. »Sie bekommt so gut wie nie Post«, erinnerte er die Worte Sonnenbeins, »aber sie ist ganz wild darauf.«

Vorsichtig näherte sich Pierre. Der Korb erreichte seine Augenhöhe. Lucky knurrte. Im Korb lag eine dicke Fleischwurst, sie dampfte. Daneben eine Semmel, ein Ei, eine kleine Flasche Saft und... Es roch nach Kaffee! Ein Pappbecher, geschlossen, aufgestellt im Korb, in der Mitte, zentral, bedeutend und verführerisch. Dazu eingepackter Zucker, Kondensmilch und – richtige Milch! Vollmilch, halbfett, die Frau war eine Wissende, ja!

»Huhu!«, winkte es erneut von oben.

Jetzt wusste Pierre, warum ihn die Sonnenbeins derart gefüttert hatten. Damit er Widerstandskräfte besaß! Auch die Sonnenbeins waren Wissende, würdige Gegner, nun war es klar! Er, Pierre, war das Opfer im Kampf zweier Parteien, einer noch unbekannten Missis Jö, jener Frau, die oben aus dem Fenster hing, und eines Postboten mit Gattin, die von Anfang an Pierres Schwächen erkannt hatten: Wurstsemmel und Kaffee!

Wobei Missis Jö präziser war, bei den Sonnenbeins hatte es Gebäck, dann Schnittchen und Suppe gegeben, zweite Wahl. Doch darum hatten sie ihn abgefüllt! Damit er seinen Widerstand zeigen konnte, damit er satt und gewappnet war!

»Nehmen Sie den Korb ruhig mit«, schrie es von oben, »und bringen Sie ihn später hoch, keine Sorge!«

Pierre nahm alle Kraft zusammen. »Danke«, rief er zurück, »vielen Dank, aber jetzt nicht.« Dann drehte er, als gäbe es weder den Korb noch Luckys Entsetzen, und ging, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, die Straße zurück, ohne Eile, ohne Wurstsemmel und Kaffee, scheinbar unbekümmert. Es verlangte alle Kraft. Aber es wäre schlimmer gewesen, hätte Pierre zugegriffen. Oder...?

Nein, kein Zögern. Weiter gehen.

Ein Mann benötigt Stolz, auch wenn er ihn längst aufgegeben hat, aus Gründen, die nur eine Uschi kennt und vielleicht noch dieser und jener Dozent, egal. Große Aufforderungen gebären große Taten! So absurd es auch sein mochte, Pierre behielt den Plan des Sonnenbein bei, es gab ihm das Gefühl, zumindest ein wenig mehr als ein Niemand zu sein, ein Niemand mit Diplom und pleite, aber mit Stolz! Pierre ging seinen Weg, den des Sonnenbein, und es erfüllte ihn, gab ihm zurück, was er meinte schon lange nicht mehr zu besitzen:

Freiheit, Eigensinn, Größe!

Er bog um die Ecke und als sei nichts geschehen, begann er die letzten Briefe in Postkästen einzuwerfen, Rechnungen, böse Zahlungsaufforderungen, Werbung, sogar eine Postkarte war dabei, ein Urlaubsgruß!

Dann ging es zurück in die Besenstraße. Nun von der anderen Seite.

Vorsichtig trat er an den Rand des Bürgersteigs, um zum Fenster der Missis Jö hoch zu schauen. Niemand zu sehen, gut. Nur noch wenige Häuser. Keine Zwischenfälle. Dann das vorletzte Haus... Pierre verteilte die Post in die Briefkästen, wenige Briefe blieben über, die letzten Briefe für die 13, nur noch sie einwerfen, dann hoch zu Missis Jö, zum Schluss...

Warum...?

Es war eine Anweisung des Sonnenbein, aber es gab keinen Grund, kein Brief, keine Rechnung oder Ähnliches. Pierre kontrollierte die Post, ein weiteres Mal. Keine Post für Missis Jö – so wie es der Sonnenbein vorausgesagt hatte. Und er, Pierre, war eine Aushilfe, nicht mehr. Die Arbeit war erledigt.

Pierre überkam das Elend. Ohne Ankündigung. Ein mächtiges Elend, mit schwarzem Bart und Löchern in den Strümpfen. Seine Knie wurden weich. Pierres Kraft hatte gereicht, den Korb zu verweigern, die Briefe weiter auszuteilen, einmal um den Block herum...

Ihm wurde schwindelig. Er griff nach dem Treppengeländer, kleine Funken tanzten vor seinen Augen. »Einen Moment Ruhe, ich bin völlig überdreht, ich brauche Ruhe.« Er atmete schwer, kämpfte sich vor, sank auf die Stufen der Haustreppe. »Verdammt«, murmelte er, »was ist das?« Auch Lucky war schlecht. Pierre spürte den Reiz sich zu übergeben, es kam aber nur ein Aufstoßen dabei heraus. »Psychisch«, befand er, »es ist psychisch. Wir sind am Ende. Wir haben gesiegt, aber nur ein Gefecht, nicht den Krieg, ja – es ist nur aufgeschoben. Der nächste Korb, der haut uns um.«

Pierre entschied, noch etwas sitzen zu bleiben.

»Weißt du, Lucky«, flüsterte er, »wir zwei sind ziemlich allein. Und weißt du, wann man das merkt? Wenn man mal nicht allein ist, dann.« Lucky schwieg. »Wir waren einfach zu lange nicht mehr im Leben drin«, erklärte Pierre, »das ist es. Das ist wie ein großer, schwarzer Bart. Du versteckst dich dahinter, aber mach ihn mal ab und guck, wie du aussiehst! Das kann dann noch schlimmer sein.«

Stille.

»Ja, du hast recht. Ich drehe durch. Und ich hätte den Korb nehmen sollen. Das war bestimmt ein Kaffee, so wie er sein muss! Die Frau ist eine Wissende, also kann sie Kaffee aufbrühen, oder? Ich mach ziemlich viel verkehrt, besonders wenn ich denke, dass ich grad mal großartig bin.«

Wieder Stille.

»Wie hältst du das aus mit mir?«

Keine Antwort.

»Komm, wir gehen, Wir lernen sie mal kennen, diese Missis Jö. Ich bin völlig kaputt, aber...« Pierre erhob sich. »Ich habe keine Lust, dass wir nach Hause gehen und ich habe es nicht getan.« Er ging zur Tür, trat auf die Straße. Dann, stolz und müde, näherte er sich dem Hauseingang, dem letzten an seinem ersten Vertretungstag.

Besenstraße 13. »Sie ist also eine Hexe?«, murmelte Pierre. »Na, mal sehen.«

* * *

Die Abenteuer der Missis Jö

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