Читать книгу Mitterfirmiansreut - Friedrich Haugg - Страница 7
Eins
ОглавлениеWerner konnte sich am Signalton erfreuen. Treffer. Die Gegenstelle gab es wirklich. Er versenkte sich ins Grübeln darüber, dass er noch nie begriffen hatte, wie das funktionierte. Ein Knistern. Dann hörte er etwas, was so klang:
„I waars.“
Stille.
„Ich würde gerne mit Herrn Loibl sprechen.“
„Ha?“
„Mit Herrn Loibl.“
„I waars. Aba mia gengand itz. Wos mechats?“
„Ist da Herr Loibl?“
„Wannst oiwei desoibe schmatzsd, nochad häng i glei wieda auf.“
„Ich verstehe nicht.“
„A wennsd des oiwai hean dadsd, dadsd das eh ned vasteh, hosd mi. Pfiad di.“
Klack. Stille.
Hier muss eine Bemerkung eingefügt werden. Waidlerdialekt lässt sich nicht Wort für Wort übersetzen. Er wird in der Gegend zur verbalen Kommunikation verwendet, die man hochnäsig 'hinterwäldlerisch' nennt. Dieses abschätzige Wort wird mittlerweile global genutzt. Es stammt aber – nicht ohne Grund – aus der Gegend, die offiziell Bayerischer Wald heißt. Also dort, wo lange Zeit kaum Fremdes anzutreffen war. Weil das Leben dort nicht ganz komfortabel ist. Mittlerweile ist die wilde Natur jedoch erschlossen für den Tourismus. Die Bauern geben auf, weil sie an der modernen Zivilisation Gefallen gefunden haben. Ihre Höfe mit den riesigen Grundstücken sind Opfer von Leuten, die sich, der Luxuswelt überdrüssig, mit Kräutern und dem lieben Vieh selbst verwirklichen wollen.
Weil Sie das Buch ganz sicher gleich voll des Unverstehens weglegen müssten, außer, se sand vo do (ungefähr wie 'sie sind da geboren'), werde ich die Reden der Einheimischen im folgenden hochdeutsch wiedergeben – so weit das möglich und sinnvoll ist.
Also, noch einmal von vorne:
Das Telefon…
„Ich wäre es.“ Das ist die wörtliche Übersetzung. Das heißt so etwas wie 'Hallo?'.
Stille.
„Ich würde gerne mit Herrn Loibl sprechen.“
„Ha?“ Übersetzung: „Wie bitte? Wen wollen sie denn gerne sprechen?“
„Mit Herrn Loibl.“
„Ich wäre es (diesmal: 'Ich bin es'). Aber ich muss jetzt leider gehen. Was wollen sie überhaupt?“
„Ist da Herr Loibl?“
„Wenn sie immer dasselbe sagen, hänge ich gleich wieder auf.“
„Ich verstehe nicht.“
„Auch wenn Sie das immer wieder hören, werden sie es nicht verstehen. Machen Sie's gut.“
Werner war nicht zufrieden. Herr Loibl wäre wichtig gewesen. Aber übers Telefon? Auch SMS oder What's App erschien nicht vielversprechend. Könnte ja sein, dass Mitterfirmiansreut zu den Gemeinden zählt, in denen die Leute glauben, dass Funkwellen alles Leben vernichten. Wie in Graswang, kurz vor Schloss Linderhof. Könnte ja sein.
Also hinfahren. Sehr altmodisch. Kontaktaufnahme durch materielle Anwesenheit in physikalisch unmittelbarer Reichweite zur Zielperson.
„Hallo Oskar. Wo bist Du? Ich müsste Dich sprechen.“
„Tust du doch schon.“
„Nein, richtig.“
„Das ist richtiges Sprechen.“
„Ich meine von Angesicht zu Angesicht.“
„Bist du verliebt?“
„Nein. Ja. Vielleicht. Ich weiß nicht. Was hat das damit zu tun?“
„Weil du dich nach meinem Anblick sehnst.“
„Idiot. Es ist ernst. Wo bist du?“
„Ich fleze gemütlich in einem Liegestuhl am Strand bei einer Bloody Mary und höre dem Rauschen der Wellen zu.“
„Scheiße. Ich dachte, ich könnte dich sprechen.“
„Dann komm halt vorbei.“
„Scherzbold. Wieso bist du eigentlich weg?“
„Ich gehe da oft hin mittags.“
„Hä?“
„Undosa, du Depp.“
„Ach so. Wie schrecklich.“
„Komm einfach und stör' mich nicht in meiner verdienten Beschaulichkeit.“
„Okay. 5 Minuten. Bestell mir einen Kaffee.“
„Macchiato, Lungo, Capuccino, Espresso, caffé latte, café au lait, Mokka, kleiner Schwarzer, Melange, Kapuziner, Brauner, Einspänner, Verlängerter, french press, american press, cold press, dip, full immersion, pour over oder was?“
„Ich glaub', ich spinne. Kaffee. Ein Kännchen Kaffee.“
„Meine Güte. Ich frag' mal, ob die so etwas Altmodisches haben.“
„Probier doch mal die Bloody Mary.“ Oskar bot Werner sein Glas an.
„Das ist altmodisch. Ich habe gehört, jetzt trinkt man Hugo.“ Werner schüttete Sahne in seine Tasse. „Mmm. Der Kaffee ist aber ausgezeichnet.“ Er legte sich zurück und schloss die Augen.
„Die haben ja auch einen preisgekrönten Barista.“
„Sag bloß.“
„Was willst Du eigentlich? Ich habe einen Termin.“
„Man sieht es. Wann und wo?“
„Geht dich einen Scheißdreck an.“
„Woher kommt eigentlich dieser feine Sand? Vom See wohl nicht?“ Werner ließ die feinen Körner durch die Finger rieseln.
„Nein. Natürlich nicht vom See. Die Schlösser- und Seenverwaltung hat's nach etlichen Gutachten vom Bund Naturschutz und jahrelangem Hin und Her dem Betreiber des Undosa genehmigt. Da hat ein Anwalt viel verdient. Leider war ich das nicht. Das Ufer gehört nämlich uns, dem Staat, wenn du das verstehst.“
„Tu ich nicht. Teurer Sand. Nicht aus unserem Land, oder?“
„Nein. Nicht von hier. Komm zur Sache. Oder ich trinke noch eine Bloody Mary, aber auf deine Kosten. Kannst du aber nicht vom Honorar abziehen.“
„Alkohol ist Gift. Zigarette?“
„Hier ist Rauchverbot, Mann. Was treibt dich in die schützenden Arme des geplagten Anwalts für dein persönliches Gerechtigkeitswohlempfinden?“
„Also der Loibl. Du erinnerst dich? Der mir den Bauernhof verkaufen will.“
„Ich mache ja nichts mehr anderes.“
„Der ist nicht zu erreichen.“
„Kein Wunder. Im nordischen Urwald geht man schon mal verloren.“
„Ich glaube, ich muss da mal selber hinfahren. Hast du den Vertrag fertig?“
„Der hat ihn schon.“
„Und kann ihn bestimmt nicht lesen und schon gar nicht verstehen.“
„Der unterschreibt doch nicht ohne Rechtsauskunft. Die sind ja nicht blöd da.“
„Sind die nicht? Nun gut, ich rechne besser nicht damit. Ich will da ja leben und ich will jetzt das Haus.“
„Und 30.000 Quadratmeter Grund dazu. Für 180.000 Euro. Würde hier etwa 25 Millionen kosten. Ist dir schon klar, oder?“
„39.562 Quadratmeter. Das ist Marktwirtschaft. Das verstehst du nicht. Für den ist es ein Haufen Geld. Und für mich ist es der Tausch einer Zweizimmerwohnung mit einem Anwesen, das vier Gebäude hat. Verrückt, oder?“
„Was machst du eigentlich mit dem ganzen Geld? Deine Wohnung hat doch viel mehr gebracht.“
„Ein bisschen Renovierung wird schon nötig sein. Man will ja nicht ganz auf die Zivilisation verzichten.“
„Und was willst du da bloß? Da gibt es niemanden außer Wölfen, Schakalen, Schlangen, Bären und Pumas.“
„Pumas nicht. Kannst jederzeit bei mir wohnen.“
„Igitt. Mittelwaldräude. Das Letzte.“
„Es heißt Mitterfirmiansreut und den Ort gibt es wirklich.“
„Ist ja gut, Alter.“
„Kommst du mit?“
„Nö.“
„Nach St. Tropez würdest du mitkommen.“
„Klar. Ist allerdings auch nicht mehr das, was es mal war. Nur noch exhibitionistische Schicki – Mickis und Schwärme von Proleten, ausgespuckt von den Kreuzfahrtschiffen, die die Promenade verstopfen und die Schicki – Mickis begaffen. Im Senequier findest du keinen Platz mehr, obwohl der Cappuccino 8 Euro kostet.“
„Beinahe wie hier.“
„Keine Kreuzfahrtschiffe.“
„Aber S-Bahn und Bus.“
„Fortbewegungsmittel für Proleten. Früher haben solche ordentlich arbeiten müssen und keine Zeit gehabt für etwas, was sie sowieso nicht verstehen.“
„Genug geplappert. Kommst du jetzt mit.“
„Nö.“
„Allein in der Wildnis. Da fürchte ich mich.“
„Nimm doch Claudia mit.“
„Die fürchtet sich auch.“
„Die wandert also nicht aus mit dir?“
„Tut sie wohl nicht.“
„Flucht vor Claudia?“
„Quatsch. Ich wollte schon immer einen Bauernhof. Das hat sie nie verstanden. Verstanden schon, aber für eine vorübergehende kindische Schwärmerei gehalten. Nur hier kosten Bauernhöfe 10 Millionen. So viel hab' ich nicht.“
„Lage. Lage. Lage.“
„Dort ist die Lage perfekt für ein vernünftiges Leben.“
„Hundert Meter vor dem Eisernen Vorhang. Dahinter noch mehr Urwald, 15.000 Kilometer und hässliche, grausame Gestalten aus Sibirien und der Mongolei. Und die wollen alle zu uns. Hatten wir schon mal. Attila, du erinnerst dich?“
„Tschechien ist EU. Polier' mal deine Kenntnisse auf.“
„Deswegen sind die Menschen auch nicht anders geworden. Sie können uns jetzt nur leichter überfallen.“
„Der Bayerische Wald heißt eigentlich Böhmerwald und ein Teil davon ist in Tschechien und in Österreich. Er bildet ein einmaliges, zusammenhängendes Naturreservat. Jetzt. Und außerdem ist er ein uraltes Mittelgebirge.“
„Brav gelernt. Geht da Handy?“
„Ja. Geht. Weiß ich noch vom letzten kurzen Skiurlaub.“
„Langlaufen.“
„Nein. Richtig. Schön da.“
„Du lügst.“
„Schluss jetzt. Ich kann dich anrufen, wenn ich verloren gehe?“
„Wenn's sein muss.“
„Servus, Kameradenschwein.“
„Faules Kameradenschwein. Ich geh' doch nicht freiwillig in die Einöde. Außerdem habe ich keinen Geländewagen.“
„SUV ist kein Geländewagen?“
„Mein Gott bist du naiv. Meiner hat nur Frontantrieb.“
„Ach so. Stadtgeländewagen. Zur Angeberei.“
„Mathilde wollte so etwas.“
„Klar. Mehr Sicherheit für das edle Kind beim In-die- Schule-bringen und zum Reiten wieder abholen. Und dann Tennis. Nicht zu schaffen ohne SUV. Der Friseurtermin ist ja noch dazwischen.“
„Beleidige Mathilde nicht. Außerdem haben wir kein Kind.“
Links rum um München, die Staus erträglich. Autobahn Deggendorf. Ah, Landshut. Burg Trausnitz. Schöne Stadt. Sieht man aber nicht von der Straße aus. Atommeiler. Isar 1 wird schon zurückgebaut, Isar 2 bald auch. Aussterbende Technik. Hat nicht lange gelebt. Ziemlich umweltfreundlich. Ach so, der Restmüll. Blöd. Claudia habe ich gar nichts gesagt. Die war ja auch nicht da. Am Genfer See oder Gardasee? Keine Ahnung. Ist auch nicht wichtig. Überhaupt, Claudia. Sieht schon gut aus. Mehr so durchgestyltes Schicki – Micki. Nicht meine Welt. Keine Liebe. Nur die heiße Braut zum Angeben. Der Sex ist nicht besonders. Shopping, Body shaping und Partying ist ihr wichtiger.
Dingolfing. Ha. Hier versuchen sie jetzt an Elon Musk heranzukommen. BMW - Werk für E-Autos. Schaffen die nicht. Viel zu schwerfällig so eine alteingesessene Firma. Batterieautos sind sowieso der falsche Weg. Aber alle springen auf, die Deppen. Auch Mainstream muss nicht richtig sein.Elon Musk ist schon zu bewundern. Aber mit so viel Geld hätte ich das auch gekonnt. Oder vielleicht auch nicht. Elon Musk hat immerhin das viele Geld selbst verdient, nicht durch spekulieren. Oder Glück gehabt mit Paypal. Keine Ahnung. Das Andocken an die ISS war schon Klasse. Fast so interessant wie 1969. Jetzt NASA – TV mit dem Amazon – Fire Stick. Was es alles gibt. Er erinnerte sich noch an den winzigen, rundlichen Kathodenstrahlbildschirm seiner Eltern aus dem schwarzweiß nur das kam, was man sehen und hören sollte. Später waren es immerhin zwei Sender und bei uns noch ORF mit den besseren Filmen. Um Mitternacht war Schluss. Noch die bayerische Nationalhymne, dann das Testbild.Das war interessant, weil man mit Knöpfen den Testkreis zu einem Ei oder kreisrund machen konnte. Meine Güte bin ich alt.
Werner wurde müde. Immer die gleiche, hügelige Kulturlandschaft, bei der mehr und mehr die schon lange abgeernteten Weizenfelder überwogen. Er war im fruchtbaren Gebiet des Gäubodens.
Endlich Deggendorf. Über die Donau. Keine Schiffe. Langweilig. Außerdem ist der Inn viel breiter als die Donau, wenn sie sich in Passau vereinigen. Passau. Ja, das ist schön. Muss ich bald mal wieder hin. Jetzt nicht. Navi sagt links ab nach Waldkirchen und dann nach Freyung. Es wird noch hügeliger und waldiger. Bayerischer Wald eben.
Da. Philippsreut. Gut. Dann ist es nicht mehr weit. Berge gibt’s hier nicht wirklich. Aber hohe Hügel.
Angekommen. Sieht aus wie jedes andere Dorf in Bayern. Enttäuschend. Die bewaldeten Hänge gibt es daheim auch. Vielleicht sind sie hier nicht so einfach zu begehen. Sie sind schon einen Tick höher. Man wird sehen.
Den Loibl finden? Im Laden. 'Nah und gut', hieß der. Nah ist er ja, nämlich hier. Aber nichts anderes als ein kleiner EDEKA. Oder lieber hochoffiziell fragen. Da ist nämlich ein ebenfalls durchaus normales Haus, aber mit einer Fahne davor, weißblau versteht sich. Den Fremden erkennt man übrigens daran, dass er blauweiß sagt. Haha, alter Witz. 'Rathaus' stand da.
Werner ging hinein.
„Grüß Gott“, wurde er begrüßt. Von einer hellblonden, sehr hellblonden Dame mittleren Alters mit bunter Bluse, sehr bunter Bluse und einer Perlenkette um den zugegebenermaßen makellosen Hals.
„Grüß Gott“, antwortete Werner anständig. „Ist der Herr Bürgermeister zu sprechen?“
„Ja, gleich. Der hat gerade noch Besuch. Ist aber fast fertig.
Das stimmte. Denn die große Türe hinter der Dame schwang auf und heraus kam ein bestimmt 1,90 großer, stattlicher Mann in Lederjacke und Jeans und braungebrannter Gesichtshaut mit vielen Lachfalten. Sympathischer Bürgermeister, fand Werner.
Im Türrahmen stand der Gegenentwurf. Dick, rote zufriedene Bäckchen, Schnauzbart, breites Grinsen, ordentlicher Trachtenanzug und die oben fehlenden Haare von der Seite her bedeckt.
„Also, Pfiad di, Kommissar. Bis nächste Woche.“ Die Stimme war mädchenhaft hoch und teigig.
„Servus, Konrad“, sagte der schöne Mann und war weg.
„Womit kann ich dienen, der Herr?“
„Ich suche den Herrn Bürgermeister. Eigentlich suche ich den Herrn Loibl.“
„Ah. Sie sind das. Kommen sie nur herein. Kaffee? Emerenz, zwei Kaffee bitte.“
Werner nahm auf Zeichen des Bürgermeisters den Büßerstuhl am opulenten Eichenschreibtisch ein, dessen Ensemble ein Viertel des Raums einnahm. Der Herr Ministerpräsident an der Rückwand schaute wohlwollend auf seinen Statthalter herab.
„Darf ich erst einmal was fragen, Herr Bürgermeister?“
„Müller. Herr Müller genügt, Herr äh.“ Er kramte in Papieren auf dem Schreibtisch. „Lorenz. Richtig. Lorenz. Nur zu, fragen sie.“
„Die Häuser hier. Also, die sehen so normal aus. Wie überall in Bayern.“
„Wir sind in Bayern. Ja, ja, ich weiß schon, was sie meinen. Die Touristen fragen dauernd. Man erwartet mehr so Holzhäuser und Natursteinmauern und kleine Fenster und weit überhängende Dächer mit einem Hahn darauf und Hühnern davor. Gibt es. Da müssen sie nur ins Bauernhofmuseum bei Finsterau gehen. Das ist wirklich schön romantisch. Und lehrreich.“
„Ich verstehe. Nun gut. Dann komme ich zur Sache.“
Emerenz störte mit einem scheppernden Tablett. Als wieder Ruhe einkehrte, fuhr Werner fort. „Ich wollte zu Herrn Loibl, weil ich ihn telefonisch nicht erreichen konnte. Er hat den Vertrag noch nicht unterzeichnet und ich will den Hof jetzt haben.“
„Ist schon alles in Ordnung, Herr Lorenz. Hier ist der Vertrag. Sie können das Geld sofort überweisen und dann gehört alles ihnen. Sie machen ein gutes Geschäft. Alles, was da steht und rumliegt gehört ihnen auch.“
„Ja, wo ist er denn, der Herr Loibl?“
„Der ist verreist. Ich glaube nach Florida. Da wollte er schon immer mal hin und mit einer Harley nach Key West fahren. Hat er im Kino gesehen und seitdem träumt er davon.“
„Ja, aber dann kann ich ja nicht...“
„Können sie. Ist alles geregelt. Ich mach' das für ihn.“
„Die Unterschrift?“
„Hat er noch draufgesetzt. Muss ja alles seine Ordnung haben.“
„Ach ja? Hat er den Vertrag denn richtig verstanden?“
„Hat er. Natürlich. Wir haben ihn gemeinsam gelesen. Ich bin nämlich im früheren Leben Jurist gewesen. Ihr Jurist hat gut gearbeitet, wenn ich das so sagen darf. Hier.“ Der Bürgermeister reichte ihm das Papier. „Eine kleine Änderung gibt es noch. Ist aber nicht von Bedeutung für sie.“
„Eine Änderung? Was wurde geändert? Das muss ich aber dann mit meinem Anwalt besprechen.“
„Seid schon sehr umständlich, ihr Großstädter.“
Werner war gar kein Großstädter. Aber er wollte das wichtige Gespräch nicht durch eine kleinliche Bemerkung unterbrechen.
„Es muss doch alles seine Ordnung haben.“
„Aber natürlich. Die Änderung betrifft nur das Recht der Kriminalpolizei, das Grundstück und die Scheunen ohne richterlichen Durchsuchungsbeschluss bei Verdacht zu betreten.“
„Wie bitte?“
„Nur im Falle des Falles.“
„Da war ein Kommissar bei ihnen? Hängt es damit zusammen?“
„Gut beobachtet, Herr Lorenz. Ja, tut es. Wir haben gerade ein kleines Problem mit Schmuggel. Zigarettenschmuggel, um genau zu sein. Sind in der Tschechei eben viel billiger. Und ihr neues Haus liegt so nahe an der Grenze und ist seit einiger Zeit unbewohnt. Eine große Versuchung.“
„Das heißt, wenn ich da wohne, könnte ich unliebsamen Besuch von Schmugglern haben.“
„Wenn es bewohnt ist, suchen die sich ziemlich sicher was anderes als Zwischenlager. Außer, wenn sie mal längere Zeit weg sind.“
„Hoffentlich sind die so zurückhaltend.“
„Die sind nicht gefährlich. Die wollen nur nicht beobachtet werden. Kann man verstehen.“
„Prima, dann kann ich mir direkt günstig meine Zigaretten kaufen.“
„Aber nur zum Eigenbedarf.“ Müller grinste und drohte mit dem Finger.
„Klar. Aber im großen Stil wäre das ja sehr lohnend.“
„Eben. Und?“
„Und was?“
„Haben sie etwas gegen die Änderung?“
„Nein, ich denke nicht. Meine Wohnräume müssen allerdings ausgeschlossen sein. Die sperr' ich natürlich ordentlich ab. Wenn ich dem Staat helfen kann, dass ihm keine Einnahmen entgehen, bin ich doch dabei.“
„Brav. So mögen wir das hier. Willkommen in Mitterdorf. So nennen wir hier Mitterfirmiansreut.“
„Prima. Ich schicke den Vertrag dann unterschrieben, sagen wir morgen, ja wohin?“
„Bringen Sie ihn doch einfach bei mir vorbei.“
„Gut. Klingt einfach.“
„Überweisen können Sie auf das Konto, das im Vertrag steht. Sie zahlen ja gleich alles. Unsere Bankfiliale hatte schon gehofft, mit ihnen ins Geschäft zu kommen. Sei's drum. Übrigens: Es gibt ja einiges zu tun am Hof. Sie werden es sehen. Da kann ich ihnen eine Firma empfehlen, die das wunderbar und günstig macht. Damit sie ihr Leben genießen können und sich nicht um jeden Mist kümmern müssen. Die vielen, verschiedenen Handwerker, sie verstehen.“
„Ich komme darauf zurück.“ Bei Werner klingelten einige Alarmglocken. „Jetzt sollte ich mir mal meine neue Unterkunft anschauen. Es wird ja schon bald Abend.“
„Übernachten können sie da aber nicht.“
„Wieso denn das?“
„Kein Strom, kein Wasser.“
„Der Hof hat keinen Strom und kein fließendes Wasser?“
„Doch, doch. Wurde nur alles abgeschaltet. War ja keiner mehr da, der es bezahlen würde.“
„Ach so.“ Werner war erleichtert. „Gibt es denn ein Hotel hier?“
„Eine Gästepension. Ich habe schon für sie reserviert. Bei der Brunner Zenzi.“
„Wie umsichtig. Danke, Herr Bürgermeister. Woher haben sie gewusst, dass...“
Er winkte großzügig ab. „Gerne geschehen. Wir halten hier zusammen. Wenn sie etwas brauchen, können sie sich immer an mich wenden. Dafür bin ich ja da.“
Ich habe einen persönlichen Bürgermeister, dachte Werner amüsiert. Das hatte ich bisher noch nie.
Bei Zenzi war es gemütlich. Außerdem bot sie ein Abendessen an. In der Stube zählte er 10 Stühle. Also hat sie 5 Doppelzimmer zu vermieten, schloss Werner haarscharf. Bis zum Essen waren es noch vier Stunden. Im Auto gesessen war er lange genug. Zeit, um schon mal den Bayerischen Wald zu genießen. Ein Prospekt lag auf dem Tresen – der Sommerprospekt empfahl hauptsächlich Wanderungen. Was soll man hier sonst auch machen im Sommer.
Der Weg um den Almberg bot sich an mit drei Stunden. Er tippte Google Earth an. WLAN hatte Zenzi nicht, aber es war ein deutliches 4G zu sehen. Ganz schön fortschrittlich hier. Und genug speed für den Blick auf die Erde.
Ah ja, hier. Der Almberg. Nach Nordwesten aus dem Dorf, an dem großen Hotel vorbei. Das konnte man finden. Wanderschuhe und Regenjacke holte er als erfahrener Berggeher aus dem Auto. Das Wetter war wunderschön, nur ein paar Kumuli zierten den Himmel. Am Abend würden sie verschwinden.
In einem großen Bogen führte der Weg um den Almberg und querte dann nicht nur eine Skiabfahrt, die mit einem Sessellift erschlossen war, sondern verlief auch ziemlich nahe an der Grenze. Ich könnte doch hier gleich links hinaufgehen. Abkürzung sozusagen. Google Earth sagt, dass der Höhenunterschied nur etwa 100 Meter ist. Machbar.
Nach ein paar Schritten auf dem offiziellen Wanderweg ein Steig links abgehend. Benutzten wohl Jäger oder Hirsche oder beide. Der führt bestimmt auf den Gipfel. Und Felsschluchten, Steilhänge oder Abstürze sind ja hier wohl kaum zu erwarten.
Als Erstes fiel ihm die unglaubliche Stille auf. Nirgends kreischten Menschen, kein Fahrzeug war zu hören, vor allem keines, das der Welt mitteilte, wieviel PS und Auspuffsound den Besitzer zum richtigen Mann machten. Diesbezüglich sollte er sich sehr täuschen.
Werner blieb stehen und hielt die Luft an. Sein Tinnitus meldete sich ungewöhnlich laut. Aber den würde sein Gehirn ja gleich wieder ausblenden. Tat es auch. Ein Rauschen blieb. Ein schönes Rauschen. Ein wunderbares Rauschen. An- und abschwellend. Ein paar Blätter tanzten herunter und sortierten sich zu den anderen auf dem Waldboden. Ungepflegt dieser Boden. Keine ordentliche Bewirtschaftung. Ganz früher war ein Waldboden leer gewesen. Da hatten alle Leute Zweige, Zapfen und Äste gesammelt zum Einheizen. Das war mittlerweile verboten. Weil der Wald und alles, was darin ist, einem Eigentümer gehört. Die neue Generation der Waldbesitzer sieht das anders als die früheren. Aus der Sicht der Armen ist das schändlich. Aber Arme gibt es ja gar nicht mehr. So richtig Arme wie früher. Hartz IV löst alle diesbezüglichen Probleme und schützt die Waldbesitzer vor dem Raub ihres Eigentums. Jetzt musste der sich selber einen Weg bahnen, wenn er an das gewinnbringende Holz will. Kann er, weil die Traktoren und Maschinen riesig geworden sind. Und Waldarbeiter braucht er auch noch kaum. Macht ja nichts, die werden von Hartz IV versorgt. Außerdem, wer will schon freiwillig diesen mühsamen Beruf ausüben.
Moment. Halt. Warum bin ich hierhergekommen? Weil ich von dem ganzen Irrsinn gesellschaftlicher Probleme genug hatte und die reine Natur genießen wollte.
Das augenblickliche Problem war, dass ein umgestürzter Baum den Steig verdeckte. Werner musste ein wenig klettern und fand den Weg gleich wieder. Problem gelöst.
Der Anstieg war gleichmäßig und nicht unangenehm steil. Er musste mehr schnaufen, als er erwartet hatte. Aber nach dem langen Sitzen und Reden, kein Wunder. Er fühlte sich gut, schwitzte ein bisschen und bewunderte immer mehr diesen Wald. Keine ausgerichteten Fichtenplantagen, wie er sie kannte. Wilder Urwald, der der Natur überlassen war. Aus den umgestürzten Bäumen wuchsen Spezies, die er noch nie gesehen hatte. Ein Eldorado für die Forscher. Allerdings wäre ihm Pflanzen sammeln und kategorisieren zu mühsam und ohne Reiz. Anschauen, Riechen, Hören und Bewundern, was die Natur so alles kann. Mich hat sie ja auch gemacht. Eine Maschine, die riechen, hören, sehen kann. Sonst würde ja niemand die Natur bewundern können. Wahrscheinlich war es der Natur scheißegal. Sie macht einfach ihr Ding. Manche nennen es Schöpfung durch den Lieben Gott. Der hat sich das einfach gemacht. Die Mechanismen erfinden und dann schauen, was so passiert. Wäre ja sonst viel zu aufwändig. Dauernd und überall einzugreifen. Das werde ich mal dem Pfarrer erzählen. Mal sehen, was der dazu meint. Werner grinste, obwohl es keiner sehen konnte.
Da waren doch tatsächlich jede Menge Felsbrocken eingestreut. Das hatte er von unten nicht erwartet. Aber schön. Auf einigen wuchsen sogar Bäume. Sie zwangen zum Umgehen, stellten sich aber nicht grundsätzlich in den Weg, wie das in den Alpen so üblich ist.
Jetzt wurde der Wald auch lichter. So hoch bin ich schon? Über der Baumgrenze? Quatsch. Wir haben hier gerade mal 1100 Meter. Das macht wohl mehr das wilde Wetter hier. Niedergeduckte Pflanzen zwischen einem Meer von Steinbrocken. Wunderschön hier. Er umrundete gut gelaunt die freundlichen Hindernisse und erreichte ein Plateau. Rechts ein paar Häuschen, vermutlich ein Kiosk. Aha, da muss eine Sehenswürdigkeit sein. Ein größerer Felsen, eingerahmt von einem Holzzaun. Es gab auch ein Schild. Er konnte es nicht lesen, weil es schon zu dämmrig war und er seine Brille im Auto gelassen hatte. Egal. Ich wohne ja jetzt hier. Da werde ich es im Laufe der Zeit schon erfahren. Der Zaun war sicher nach einer Gefahrenverordnung errichtet worden. Der Felsen ragte nämlich bestimmt eineinhalb Meter über den Boden.
Da war es. Das Meer mit einer riesigen dunkelgrünen Dünung, ruhig und unbeirrbar. Werner bekam Gänsehaut. Ganz anders als die Alpen. Still, ohne gefährliche Ecken und Kanten und trotzdem irgendwie unheimlich. Am Horizont gegen Westen müsste die Sonne untergehen oder schon untergegangen sein. Komisch. Ein grauer, unscharfer Balken hatte sich vor der Sonne ausgebreitet. Eine plötzliche Bö störte das angenehme Klima und verwischte die vielfältigen Abendgerüche des Waldes.
Sie wurde schnell kräftiger und bald umschwirrten graue Wolkenfetzen Werners Aussichtspunkt. In wenigen Minuten war er vollständig eingehüllt.
Hmm, dachte er. Das kenne ich doch aus den Bergen. Ein blitzschneller Wetterumschwung. Sichtweite nur noch zwanzig Meter, höchstens. Die nächsten Bäume nur noch schemenhaft. Und dunkel wird es zusehends. Keine ideale Situation. Er verließ seinen Aussichtsturm und dachte kurz nach. Wenn ich mich an Google Earth richtig erinnere, war da ostwärts ein baumloser Streifen bis hinunter ins Dorf. Besser jetzt nicht mehr in den fremden Wald gehen.
Vorsichtig, Schritt für Schritt. Der Wind pfiff kalt und brachte jetzt auch noch Sprühregen mit. Zu spät hatte er den Anorak angezogen. Er fror erbärmlich. Außerdem war es ziemlich unheimlich. Die Bäume rauschten unsichtbar, nur unterbrochen vom Todesschrei eines nächtlichen Gejagten. Der Untergrund wurde glitschig. 'Wer jetzt kein Haus hat, findet keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben...“ Das Gedicht, das ihm gerade einfiel, machte alles noch unheimlicher.
Es ging und rutschte bergab nah am Schatten des Waldrands. Eine schnurgerade Doppelspur kreuzte seinen Weg. Von einem Traktor? Nein, so sah es nicht aus. Mehr so gründlich hinein gefurcht, obwohl jetzt Gras darüber gewachsen war. Ah. Das war die Spur eines Schlepplifts. Bald schon erreichte er das metallene Trapez einer Liftstütze. Jetzt kann mir nichts mehr passieren. Die Spur führt auf geradem und vermutlich risikolosem Weg nach unten. Schon war er wieder aus den Wolken heraus und sah die Lichter von Häusern.
Als er bei Zenzi ankam, sah diese ihn ungnädig an. „Das Essen war um hoibe acht und jetzt ist es schon nach acht. Ich mach' ihnen noch was warm.“
„Danke. Entschuldigung. Aber es war einfach zu schön.“
„Gut, dass ned weiter in Annathaler Wald gangen sind. Da hätten sie sich bestimmt verlaufen. Da sind schon einigen ned wiedergekommen.“
„Nicht wiedergekommen? Das gibt es doch nicht. Irgendwann findet man doch wieder hinaus.“
„Manche nicht.“
„Heutzutage? Mit GPS und so?“
„Das kenn' ich nicht. Aber mein Urgroßvater hat viel davon erzählt. Hat mein Großvater erzählt.“
„Ach so.“
Er hatte ordentlich geschlafen, konnte sich nicht an seine Träume erinnern, nur daran, dass er etwas geträumt hatte. Komisches Gehirn. Das Frühstück war köstlich wegen der großen frischen Semmeln, der würzigen Butter, der wohl selbst eingemachten Marmelade, des weichen Eis mit tiefgelbem Dotter und einem trinkbaren Kaffee. Orangensaft war für Zenzi neu, also nicht der Saft an sich, aber zum Frühstück? Nein, solche ausländischen Sitten wolle sie nicht hier einführen. Nach Wurst, Käse oder einem Schinken wollte Werner gar nicht fragen. Das würden die Touristen auf Dauer für ihn erledigen.
„Wann's no länger bleiben wollen, könnens das gerne machen. Jetzt im Herbst habe i no einiges frei.“ Zenzi sprach fast hochdeutsch, daher die fehlende Übersetzung.
Hmmm, dachte Werner. Die weiß es sicher. „Können Sie mir sagen, wo der Hof vom Loibl ist?“
„Am Johann sei Hof? Natürlich. Da vorne gleich rechts ist die Unterlichtbuchetstraße. Da am Ende ist er.“
„Ach. So einfach?“
„Ja. Da biegns rechts ab, fahren um den Tennisplatz rum links, dann kommen sie auf eine Kreuzung von vier Straßerln. Aber da wieder rechts abbiegen, sonst kommens ganz woanders hin. Links is a Hof, aber des ist er nicht. Die Straße geht weit nach rechts rum und macht dann irgendwann eine Haarnadelkurvn. Da fahrns nach links, Haarnadel eben. Und dann no so an hoiben Kilometer ziemlich gradaus. Aber nirgends rechts abbiegen. Hinter dem Wald da ist schon die Tschechoslowakei.“
„Ich folge einfach dem Straßennamen.“
„Der steht da aber ned.“
„In meinem Google Maps schon.“
„Und wo hams des?“
„In meinem Smartphone.“
„Ach so. Damit will ich nix zu tun haben. Wenns meinen.“
Es war wirklich einfach mit dem Navi. Was es nicht mitteilte, war, dass es kontinuierlich bergab ging. Wenn man etwas vergessen hatte und das Auto war kaputt, ganz schön mühsam. Bayerischer Wald eben.
Von Ferne schon zu sehen: Ein großer Viereckhof. Genauso hatte er sich das vorgestellt. Die Bildergalerie in der Immobilienanzeige hatte es treffend gezeigt. Als er näherkam, stellte er die Lügen der Bilder fest. Vor allem die Dächer waren ziemlich marode. Der bröckelnde Putz an den Außenwänden war ihm egal. Im Gegenteil, man sah das wunderbare zyklopische Mauerwerk darunter. Das sollte man freilegen, nicht zuschmieren.
Das Wohnhaus neben dem Kuhstall, im rechten Winkel das Gebäude fürs Gesinde mit dem Kleinviehstall, dann weiter der große Schuppen für die landwirtschaftlichen Geräte und der Heustadl, der das Quadrat abschloss. Genau wie es sich für einen bayerischen Viereckhof gehörte. Er stellte sein Auto mitten auf seinem Platz ab, der sehr trocken war, inklusive der Goldgrube. Lange nicht benutzt. Das sollte auch so bleiben. Eine Odelgrube im Zentrum entsprach dann doch nicht seiner Vorstellung vom neuen ländlichen Leben.
Er ging zuerst zum Schuppen. Zu dem riesigen Schuppen mit einer Galerie im Inneren, die über eine steile Holztreppe erreichbar war. Nach vorne war er offen, wie es sich gehörte. Keine Fernbedienung für das Garagentor nötig.
Wow, dachte er. Jetzt habe ich sogar einen Porsche. Alles was da ist, gehört ja mir, hat mein Bürgermeister gesagt. Es war ein alter Porsche, ein wunderschöner Porsche. Wer von den jungen Leuten wusste schon, dass Porsche auch einmal Traktoren gebaut hatte. Ursprünglich hieß das Konzept ja Volkstraktor. Aber das war zu einer Zeit, in der Deutschland ganz anders war.
Der Traktor war rot, wie es sich gehörte. Und er sah erstaunlich gepflegt aus. So, als ob er gerade noch benutzt worden war. Echte Wertarbeit. Made in Germany. Oder gab's das damals noch gar nicht. Doch. Das war gleich nach dem Krieg. Damit wollten die Engländer Ware aus Deutschland als minderwertig kennzeichnen. Ging ordentlich schief. Haha.
Den herrlichen Duft alten Dieselöls vermischt mit Stroh in der Nase schlenderte er gut gelaunt weiter zum großen Heustadel. Die riesige Schiebetür, die auf Rollen an einer rostigen Schiene unter dem Dach aufgehängt war, stand einen Spalt offen.
Die Rollen quietschten und der Spalt wurde wie von Geisterhand langsam breiter. Hervor trat ein Wesen, das den überlieferten Vorstellungen einer bäuerlichen Magd komplett widersprach. Als Erstes fielen ihm die braunen Knöchel auf. Die dunkelblauen Nike – Sneakers lenkten den Blick automatisch dahin. Dann begann eine enge, blaue Stretchjeans, die unter einem lässigen, seidigen und schulterfreien olivfarbenen Top endete. Braune, schlanke Arme, am Handgelenk eine weiße, riesige Armbanduhr. Feingliedrige Hände. Sein Blick ging anständigerweise zügig nach oben, nicht ohne zu erkennen, dass sie wohl keinen lästigen BH trug und endete bei schmalen, blauen Augen, die ihn abschätzig ansahen. Das Gesicht eingerahmt von kräftigen, dunkelblonden und schulterlangen Haaren. Nicht hübsch, fand Werner. Sondern schön. Ob sie diese Unterscheidung wohl schätzte? So sahen Waldelfen also heute aus.
„Grüß Gott. Ist ihnen nicht kalt? Es ist schon Ende September“, sagte er mangels spontaner Einfälle.
Sie grinste. „Nein. Da drinnen ist es angenehm warm. Die Sonne macht das, sie wissen? Und der Geruch von Heu ist unwiderstehlich.“
„Dann lassen sie uns hineingehen. Ich möchte nicht verantworten, dass sie sich erkälten.“
„Kommen sie. Ist schön da drinnen.“
Es war 'da drinnen' so, wie es sich für einen Heustadl gehörte. Ein trockener, gestampfter Boden, einige ihm weniger bekannte, recht verstaubte Gerätschaften und Heu in zwei Stockwerken aufgeschichtet. Durchgetrocknet und äußerst wohlriechend. „Hmm. Prima. Bloß keine Kühe mehr da, die sich daran erfreuen könnten.“
„Das ist fürs Erste ganz gut. Nämlich für mich“, sagte sie und deutete nach oben.
„Ach ja?“
„Da oben habe ich mein Refugium. Wenn ich meine Ruhe haben will.“
„Ach ja?“
„Klar. Hier wohnt ja keiner mehr. Irgendein reicher Schnösel soll's gekauft haben. Bis dahin, so what.“
„Und der bringt Kühe mit?“
„Was weiß ich, was der will. Sich selbst verwirklichen oder so. Bestimmt hat der keine Ahnung von irgend etwas.“
„Bestimmt.“
„Ich such' mir etwas anderes, wenn er kommt.“
„Zum Beispiel eine Hütte im Wald bauen.“
„Daran hab ich auch schon gedacht.“
„Klingt romantisch. Haben sie da keine Angst? Allein?“
„Und noch dazu weiblich. Das meinen sie doch. Ich habe höchstens Angst vor ihnen, weil ich sie nicht kenne und weil sie hier sind. Wer ohne böse Absichten verirrt sich schon hierher?“
„Reiche Schnösel.“
Sie drehte ein wenig den Kopf hin und her, wie es Hunde machen, wenn sie etwas genauer erkennen wollen. Die Pause war jedoch nur kurz. „Okay. Dann such' ich mehr ab jetzt schon was Neues. Muss nur noch meine Sachen holen.“
„Gemach, gemach, mein schönes Fräulein. Nur nichts überhasten.“ Werner rieb sich das Kinn. „Es ist so. Hier wird bald eine Menge umhergebaut werden. Mit Lärm und Staub und Menschen und so. Aber die Garage für den Porsche und den Heustadl werde ich nicht verändern. Wenn sie es nicht stört, können sie gerne ihr Refugium behalten.“
„Und wenn es sie stört?“
„Tut es nicht. Ich wünsche mir nur, dass sie bei ihren Partys einen besseren Musikgeschmack haben als elektronisches, geist- und gefühlloses Bumm bumm bumm, das die heutige Jugend als Musik bezeichnet“, sagte Werner.
„Hier gibt es keine Partys. Refugium heißt für mich, alleine sein.“
„Außerordentlich. Übrigens, ich heiße Werner Lorenz.“
„Angenehm. Susi Müller. Für beides kann ich nichts.“
„Wohnen sie hier?“
„Nein. In Philippsreut.“
„Zu Fuß von da hierher?“
„Fahrrad. Das ist das, was sie wahrscheinlich Bike nennen. Ist um die Ecke.“
„Sind alle Frauen hier so… Blöder Beginn einer Frage. Entschuldigung.“
„Nein. Sind sie nicht. Soll ich ihnen mein Refugium zeigen?“
„Nein. Das könnte absolut falsch verstanden werden.“
„Meine Güte. Aber ja. Ich verstehe. Da, wo sie herkommen, hat alles eine vorschriftsmäßige Bedeutung. Erstes date und dann zweites und spätestens beim dritten muss man miteinander vögeln. Was für eine bescheuerte Welt da draußen.“ Sie schüttelte sich.
„Mit dem Letzteren haben sie wohl recht. Aber da, wo ich herkomme, gibt es wenigstens das mit den dates noch nicht. Dann gehe ich jetzt meiner Wege.“
„Wissen sie, was mir an ihnen gefällt?“
„Mein glänzendes Aussehen?“
Sie grinste hinterhältig. „Na, das ist wohl schon ein bisschen her. Nein, ihre mittelalterliche Sprache.“
„Oh. Und ich dachte, ich wäre ein moderner Mensch.“
„Aus der Sicht der Weltgeschichte, vielleicht. Durchaus. Auf Wiedersehen, Herr Lorenz. Hat mich gefreut, sie kennenzulernen, reicher Schnösel.“
„Und mich noch mehr, mein wertes Fräulein.“
„Haha. Sie kennen mich ja gar nicht. Das ist der Fluch der weiblichen Schönheit. Aber damit kann ich leben.“
Ganz gut sogar, mutmaßte Werner und winkte ihr zu. Aber sie war schon weg.
Mit dieser Susi was anfangen. Es kribbelte ihn bei dieser Vorstellung. Claudia. Ach was, Claudia. Die war weit weg. Susi ist ganz anders. Frei und sicher auch freizügig. Und gerne alleine. Ausgesprochen attraktiv und dabei unkonventionell. Hier in seinem neuen Refugium so ein toller, neuer Anfang, das wäre schon was. Den Gedanken an Sex mit ihr hebe ich mir für eine ruhige Stunde auf. Oh, meldet sich da gerade mein Unterbewusstsein, das bessere Ich? Ihr Alter ist schwer zu schätzen. Zwischen 16 (schluck) und 20 vielleicht. Sie hat schon eine gewisse Reife im Denken, also eher 20. Das macht dann – Moment mal - 45 Jahre Altersunterschied. Auweia. Wenn sie 16 ist, wären das sogar fast 50 Jahre. Nein, nein und nochmals nein. Das geht beim besten Willen nicht. Oskar würde schnöde sagen, er könne so eine Junge doch gar nicht zufriedenstellen. Oskar ist so profan. Von wegen. Das könnte ich schon. Aber 50 Jahre sind ein schrecklich großer Unterschied. Das stünde immer vor mir oder besser zwischen uns. Mit 40 wäre sie auf dem Höhepunkt ihrer Möglichkeiten und würde genauso attraktiv aussehen wie jetzt. Und ich wäre dann – oh Gott – 89 Jahre. Nein. Lolita muss auf mich verzichten. Sehr, sehr schade. Aber man darf ja mal träumen.
Jetzt muss ich langsam daran denken, wie ich mit der Renovierung vorwärtskomme, fand Werner beim Abendessen in Zenzis Stube. Er war nicht der einzige Gast. Das eine Paar mittleren Alters schreckte ihn durch die Kostümierung ab. Er hatte Cordkniebundhose, rote Knie-strümpfe und ein rot – weiß kariertes Hemd, darüber eine weiße, dick gestrickte Weste mit Hirschhornknöpfen natürlich. Sie ein Dirndl mit zum Mann passender Farbgebung und ein üppiges Charivari, bestimmt vom Tegernsee. Sie waren glänzend gelaunt und laut. Ihr Dialekt wies sie als Rheinländer aus. Das Klischee war zu hundert Prozent erfüllt. Zwei jüngere Männer waren unauffälliger, sie benutzten keinen Dialekt, sondern eine andere Sprache. Rauh und überladen mit Konsonanten. Werner ahnte ihre Herkunft. Wilde Wesen aus den Weiten Sibiriens. 'Von da' sind die alle nicht.
Zenzi kam mit offiziellem Gesichtsausdruck an seinen Tisch.
„Ich soll ihnen was vom Bürgermeister ausrichten.“ Sie räusperte sich und wischte sich mit ihrem Serviertuch den Mund ab. „Morgen Abend ist der Bürgerempfang des Bürgermeisters. Und sie sollen da hin. Das ist eine große Ehre, Herr Lorenz. Zuagroaste sind da sonst nie eingeladen.“
„Danke, Frau Zenzi“, sagte Werner amüsiert. „Das ist doch eine gute Nachricht. Muss ich da irgend etwas tun? Etwas vorführen? Eine Rede halten?“
„Davon hat er nix gsagt, der Bürgermeister. Seien sie bloß pünktlich um acht. In der Post. Essen brauchen's vorher nix. Da gibt es ein Buffet.“
Es war nicht so, wie Werner es erwartet hatte, nämlich Bierbänke und selig Grinsende oder bereits Streitende unter Trachtenhüten. Nein, es war ein Stehempfang. Von der gleichen idiotischen und ungemütlichen Sorte wie er es aus seinem früheren Leben gewohnt war. Damit die Leute öfter die Lage wechseln und auch mit anderen ins Gespräch kommen. Zum Smalltalk. Er hatte es immer besser gefunden, länger bei derselben Gruppe zu sein, damit sich ein lustiges oder ernstes Gespräch entwickelte und die Zeit egal war.
„So, Herr Lorenz, schon eingelebt?“
„Danke. Es ist noch ein bisschen früh dafür.“ Werner wusste nicht, wer ihn da ansprach.
Es war der Wirt, wie er schnell erkannte. „Hier kann man gut leben. Das werden sie schon noch merken. Jetzt, wo so viele Touristen kommen, da geht’s aufwärts.“
„Ein Bierzapf ist ein gutes Gewerbe.“
„Was meinen sie? Aber es stimmt schon. Bier wollen die Menschen immer. Auch die Preissn.“
Ein anderer trat hinzu. „Sie werden es schon merken. Die hier haben nicht immer die gleiche Meinung. Aber man verträgt sich.“
„Menschen deuten oft nach ihrer Weise die Dinge, weit entfernt vom wahren Sinn“, sagte Werner.
„Das habe ich jetzt nicht richtig verstanden. Aber es ist schon wahr. Was da letztens so alles abgeht im Dorf. Ist nimmer so wie früher.“
„Ja, weil die Großkopferten mit ihrem Geld alles verderben.“ Ein Dritter war hinzugetreten.
„Wo Geld voran geht, sind alle Wege offen“, sagte Werner.
„Leider ist es so“, meinte der Zweite. „Aber die ewige Streiterei, die hat scho zuagnomma. Und die bsoffenen Deppen wissen oft gar ned, was sie alles sagen.“
„Nimmer hat die Wut sich gut verteidigt“, sagte Werner.
„Du kennst dich aus.“
„Lasst doch den Neuen in Ruhe. Der muss doch erst noch kapieren, wie es hier so geht.“
„Aneignen nennt es der Gebildete“, ergänzte Werner
„Du bist ziemlich schlau, oder? Was hältst du eigentlich von der Idee mit dem neuen Kiosk am Kirchenlift, Hubert?“
Werner wurde es langweilig. Außerdem fühlte er sich beobachtet. Die Dame war ungefähr Mitte 40, sportlich und elegant. Sie passte irgendwie nicht hierher. Wie er übrigens auch nicht. Vor allem aber irritierte ihn der spöttische Mundwinkel. Sie hatte ihn wohl schon länger beobachtet. Er holte sich ein frisches Bier, weil sein Glas fast leer war und weil ihn das in die Nähe der Dame brachte. Ohne sie anzusehen, ging er an ihr vorbei. Sehr langsam.
„So, so. Shakespeare.“
„Wie bitte?“ Er drehte sich abrupt um. „Entschuldigen sie, gnädige Frau. Lorenz mein Name. Was meinten Sie?“ Die Behelfsbrücke war geschlagen.
„Alle ihre Beiträge, die ich seit ein paar Minuten von ihnen gehört habe, waren Zitate. Von Shakespeare.“
Jetzt war Werner baff.
„Ich fülle die Zeit ihres erstauntes Schweigen, um mich vorzustellen. Angelika Kellein. Wohnhaft in Philippsreut. Aber arbeitet in Passau. Und sie, Herr Lorenz? Arbeiten sie hier?“
„Ich arbeite eigentlich gar nicht mehr. Ich werde ab jetzt meiner Leidenschaft frönen und malen.“
„Kunst ist schön, aber macht viel Arbeit. Sie Glücklicher.“
„Selber ausgedacht?“
„Nein, nein. Aphorismen erfinden überfordert meine Fähigkeiten. Ist von Karl Valentin.“
„Sie arbeiten? Als frei schaffende Literatin?“
„Weil ich Shakespeare gelesen habe? Nein. Ich vergöttere ihn nur. Ich bin Ärztin und forsche ein bisschen nebenbei.“
„Klingt mehr als interessant.“
„Da haben wir ja schon einige Anknüpfungspunkte. Mit ihren Zitaten haben sie kritische Distanz zum Pöbel bewiesen. Das macht sie attraktiv. Für später einmal. Jetzt will sie nämlich der Bürgermeister in Beschlag nehmen.“
„Haben sie kurz Zeit, Herr Lorenz?“ Konrad Müller war ein wenig rotgesichtiger als in seinem Büro.
„Entschuldigen sie, Frau Kellein. Darf ich?“
„Aber bitte doch. Wenn es bedeutend wird, hat das Weib zu schweigen.“
Werner grinste ihr zu und wandte sich um zum Bürgermeister.
„Haben sie schon Handwerker für ihre Renovierung?“
„Nein, nein. Ich weiß ja noch gar nicht, was ich alles machen will.“
„Ach so. Sie müssen erst die Pläne zeichnen. Das haben sie bestimmt gelernt.“
„Hab ich leider nicht. Ich kann einige Skizzen machen, aber was da alles dazu gehört, davon habe ich keine Ahnung.“
„Wir halten doch hier zusammen. Ich kann ihnen einen guten Tipp geben. Kümmern sie sich doch nicht selbst um jedes Detail. Lassen sie das einen Profi machen und genießen sie ihr neues Leben. Ich kann ihnen sagen, wenn sie das selbst machen, wird es lange dauern, sehr teuer und am Ende ist es Murks.“
Werner hielt inne und dachte über diese Worte nach. Der Bürgermeister schwieg geduldig. Es wusste ja, dass er das richtige Korn gesät hatte.
„Sie haben vermutlich recht. Kennen sie jemanden, der das alles als Verantwortlicher übernehmen könnte? Vor allem so, dass ich mich nicht mit jedem Gewerk selbst auseinandersetzen muss.“ Auf das Wort Gewerk war Werner stolz. Wies es ihn doch als durchaus kompetent aus.
„Ich stelle ihnen Herrn Häberl vor. Den habe ich schon mal erwähnt. Häberl kimm a moi her“, rief er.
„Was gibt’s Bürgermeister.“
„Da, der Herr Lorenz, der braucht di.“
„So. Für was? Ich habe gerade nicht viel frei. Aber redns ruhig, Herr Lorenz.“
Er begrüßte Werner mit Handschlag. Ein trockener, kräftiger Händedruck und kluge Augen. Vorsicht, dachte Werner. Der ist nicht wer, weil er so nett aussieht.
Er schilderte ihm seine Idee. Vor allem, dass er im Gesindehaus im ersten Stock ein großes Studio, etwa wie ein Loft wollte. Mit einem riesigen Fenster. Häberl erkannte die Möglichkeiten.
„Das ist aber schon ein komplizierter Umbau. Sehr interessant. Stilistisch muss man da aufpassen. Aber gut.“
Auf den Busch klopfen. Im Geiste schon mal die Angebotssumme formen. War schon klar.
„Würden sie das als Generalunternehmer für mich machen?“
„General ist gut. Meine Handwerker und die verschiedenen Firmen werden straff geführt. Sie haben sie bestimmt schon aufgesucht?“
Haha. Natürlich nicht. Das wusste Häberl auch. Aber Werner hatte nicht die geringste Lust, sich mit jedem einzeln herumzuärgern.
„Wir machen das so, Herr Häberl. Wie besichtigen das Anwesen vor Ort und besprechen meine Ideen. Dann erarbeiten sie einen ordentlichen Plan und machen mir ein verbindliches Angebot. Festpreis. Ein Konkurrenzangebot hole ich nicht ein. Dafür gäbe es hier ja niemanden. Und es soll schon von ansässigem Personal gemacht werden.“
„Das ist ein Wort. Wir verstehen uns. Machen wir einen Termin?“
Was Häberl nicht wusste und auch nicht wissen sollte, war die Tatsache, dass Werner Geld eigentlich egal war. Er wollte etwas und stellte dann fest, ob er es sich leisten konnte. Wenn das so war, dann machte er es. Ein Traum für einen Anbieter. Wenn der es denn wusste.