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Die Uhr der nahen Kirche schlug elf Mal, als die letzten Reisenden in den Interregio nach Nürnberg einstiegen, dessen Abfahrt mit 23.04 Uhr angeschrieben stand. Den ganzen Tag hatte es ununterbrochen geregnet, und auch jetzt noch klatschte es monoton auf das gläserne Dach der Bahnsteighallen. Schon begannen die Räder der Waggons zu rollen, der Zug gewann an Fahrt und fuhr schließlich in den Tunnel der schwarzen Nacht hinein. Die Lichter wanden sich durch den Schleier, bis nur noch zwei rote Schlusslaternen zu sehen waren, die sich allmählich in der Dunkelheit verloren. Selbst das immer lächelnde Mädchen auf dem Werbeplakat, das sich genüsslich ein Stück Schokolade in den rotgerahmten Mund schob, sah an diesem Tag alt und griesgrämig aus.

Auch die Rufe des Zeitungsjungen, der müde über den Bahnsteig ging, nachdem er die letzten und neuesten Nachrichten preisgegeben hatte, sich dabei lediglich der Schlagzeilen bedienend, verstummten nun und unbestimmbare Geräusche schwangen noch einige Sekunden im weiten Rechteck der riesigen Halle nach. Jeden Tag fuhren einige hundert Züge verschiedener Kategorie in diesen Bahnknotenpunkt ein und aus. Frühmorgens spuckten die Blechwagen in Reih und Glied ein Meer von Menschen aus, die alle zu den Aus- und Abgängen des Gebäudes drängten, ein unüberschaubares fleischgewordenes Pflichtbewusstsein, das sich abends willig wieder aufschlucken und abtransportieren ließ. Erst in der Nacht bot sich das Bild scheinbarer Stille. Dann gönnte der Fahrplan dem Jungen mit der heiseren Stimme eine Stunde lang Erholung. Auf einer Bank streckte er die Beine aus und wollte seine Ruhe haben.

Manchmal, in der übrigen Zeit, wenn gerade kein Passant oder Reisender nach Neuigkeiten verlangte, fand er Zeit zum Nachdenken. Jetzt war er zu müde. Eine Stunde gönnte ihm der Fahrplan, eine Stunde Entspannung für die gequälte Stimme. Er hasste diese Tätigkeit, an den gerade eingefahrenen Zügen entlang zu gehen, bei mehreren Minuten Aufenthalt sich auch in die Abteile zu begeben. Die Durchreisenden schätzten es, bedient zu werden, und manches zusätzliche Trinkgeld für seine Dienste sprang auf diese Weise heraus. Aber er hasste auch die Hände, aus denen er das Geld entgegen nehmen musste, harte, knochige, zarte, gepflegte Hände, er hasste das Aufklappen von Handtaschen, das Kramen in Hosentaschen und Geldbörsen. Das müde Lächeln auf den grauen Gesichtern, der neblig feuchte Schimmer in ihren Augen begleiteten seinen Tagesablauf ab der Mittagszeit und vom Morgen an während der Schulferien.

Seit zwei Jahren besuchte der Fünfzehnjährige eines der städtischen Gymnasien, und um etwas eigenes Geld zu verdienen war es sein Entschluss gewesen, dass seine Stimme das Aktuellste durch die offenen Fenster der Züge rief. Viele, eigentlich konnte er zufrieden sein, verlangten seine Zeitungen, überflogen Klatschnachrichten und die blutigsten Schlagzeilen mit gierigen Augen und fanden sich danach restlos aufgeklärt über die Begebenheiten der letzten vierundzwanzig Stunden und zugleich mit Genugtuung versichert, dass sie selbst wieder einmal davongekommen waren.

Der Junge wusste die Momente der Einsamkeit zu schätzen, diese merkwürdig tote Ruhe, die weich wie ein Luftballon einfach da war, aber - wie dieser von einer kleinen Nadel - durch irgendeine dumme Störung umso lauter zerplatzen konnte. Er dachte an seine Mutter, mit der er zusammen in den engen Räumen dieses Altbaus in der Stadt wohnte. Dennoch bekam er seine Mutter kaum zu Gesicht. Tagsüber bediente sie in einem Café, abends stand sie als Bardame hinter der Theke eines anderen, nicht besonders vornehmen Lokals. Genau genommen kannte er das Gesicht seiner Mutter überhaupt nicht mehr bei Tageslicht. Fünf Jahre seiner Kindheit hatte er auf dem Land bei den Großeltern verbracht, nachdem deren Sohn, sein Vater, umgekommen war. Als ihn dann seine Mutter in ihre neue Wohnung holen kam, durfte er sie nicht küssen, weil sie dies verwehrte. Er hatte sich damit getröstet: Sie weint noch und möchte nicht fröhlich sein. Aber seine Mutter wurde auch nie froh und lachte nie an den Tagen, an denen sie mit dem Bus zu den Großeltern fuhren.

In ihrem Arbeitsvertrag hatte die Mutter vereinbaren können, dass sie pünktlich um 22 Uhr abgelöst wurde, und so wusste der Junge, dass sie zu Hause war, wenn auch er heim kam. Auf seiner Bank dachte er daran, dass er nachher leise ihre Schlafzimmertüre öffnen würde wie jeden Abend, oder vielmehr jede Nacht, um ihrem gleichmäßigen Atem zu lauschen. Das war nicht die gespannte Ruhe des nächtlichen Bahnhofs, das war eine wohltuende, schlaffe Ruhe, in die man sich bedenkenlos fallen lassen konnte.

In der großen Halle wurde ihm das Warten lang. Aber er hatte gelernt, das quälende Schlafbedürfnis zu besiegen, und sei es, indem er sich körperlichen Schmerz zufügte. Das Rauschen auf dem Bahnhofsdach erschien ihm wie der Kassiber eines anderen unbekannten Wartenden irgendwo in der Ferne. Zwei Stunden vor Mitternacht fuhr dröhnend der für ihn letzte Zug, ein ICE, ein. Der Regen rann von den Wagendächern, wenige Türen öffneten sich. Aber das Auf- und Eintauchen in die Lichtkegel der Bahnsteigleuchten und wieder ins Dunkel dahinter regte eine ungestillte Phantasie an: In der Ferne funkelnde Punkte leuchteten im Vorüberfahren auf einer Straße kurz auf und verschwanden als geheimnisvolle Rätsel, die nur zu dieser Stunde einen Wachträumenden fesseln und neugierig machen konnten.

Der Junge hängte sich die gefüllte Tasche über und ging auf das erste Abteil zu. Der Zug hatte ungefähr eine Viertelstunde Aufenthalt, und trotz der vorgerückten Zeit waren genügend Fahrgäste noch nicht in ihren Schlafkojen und daher vielleicht bereit, eine letzte Tageslektüre zu sich zu nehmen. Als der Junge nach seinem Weg durch sämtliche Waggons wieder draußen auf dem Bahnsteig stand und sodann am Zug entlang zurück ging, dachte er einen Augenblick daran, durch das Ausrufen der Schlagzeilen ein paar Schläfer zu ärgern: Leere Autobahnen wegen Ölkrise / Vulkanausbruch auf Island ... Aber noch ehe er Atem geholt hatte, sah er seine Stimme ungehört am makellosen Lack der Wagen herab in die schmutzigen Steine zwischen den verrosteten Schienen fließen. So ließ er es sein. Nur ein Pfiff ertönte, und die Maschinen zogen an.

Sein Weg nach Hause führte durch das Vergnügungsviertel des Stadtzentrums, wo er nur darauf achten musste, dass er von keiner Streife aufgegriffen wurde. Gleich danach kam er ein Stück weit durch eine Geschäftsstraße, wo im fahlblauen Licht der Nachtbeleuchtung Schmuck, Kleidung, Teppiche oder Konfekt hinter den Schaufenstern dekoriert lagen. Immer noch waren die fetten Marzipanknaben zu sehen, die aus einem ebenfalls ganz aus Marzipan gefertigten Schubkarren mit widerwärtiger Verbeugung Schokolade anboten. Eine Straße weiter sang ein nicht mehr nüchterner, vielleicht liebeshungriger junger Mann irgendein Lied, das italienisch klang.

Zu Hause trank er langsam den heißen Tee. Seine Kleider hatte er über Stühle gehängt, damit sie bis zum Morgen wieder trocken waren. Er stellte die leere Tasse auf die Spüle und öffnete leise die Tür des Zimmers, in dem seine Mutter schlief. Er hörte auf ihren Atem. Wenn er am nächsten Morgen aufwachte, würde sie bereits wieder weg sein. Sie half vor Öffnung des Tagescafés bei dessen Reinigung. Sein Frühstück stand dann bereit, sodass auch er nach dem Abwaschen des wenigen Geschirrs weggehen konnte.

Noch hielt er die Türe ein wenig offen, und in dem spärlichen Schimmer fühlte er seine Hände feucht werden bei dem Gedanken, einfach das Licht anzuknipsen. Doch er ließ es sein, beugte sich im Dämmrigen über ihr Gesicht, das ihm seltsam jung erschien. Blondes Haar fiel über dessen linke Seite. Hörte er auch ihre meist heisere Stimme selten, kannte er doch diesen Atem, dieses gleichmäßige Ein- und Ausatmen. Er neigte den Kopf hinunter, stützte sich am Bettrahmen auf und nahm das Wissen um ihre weichen vollen Lippen mit in seinen Schlaf, in dem er zu allzu oft träumend auf dem Bahnsteig stand unter dem Spinnennetz der Oberleitungsdrähte, während die Sperlinge an einer stehenden Lokomotive die erschlagenen Insekten von der Frontnase pickten ...

Jenseits von Geborgenheit

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